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Einheitlichkeit und Vielfalt im Bildungssystem. Zur Aufgabe des Bundes im Bildungsbereich | APuZ 35/1980 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 35/1980 Bildungspolitik im Parteienvergleich. Die bildungsprogrammatischen Konzepte von CDU/CSU, SPD und F. D. P. Einheitlichkeit und Vielfalt im Bildungssystem. Zur Aufgabe des Bundes im Bildungsbereich

Einheitlichkeit und Vielfalt im Bildungssystem. Zur Aufgabe des Bundes im Bildungsbereich

Jürgen Burckhardt

/ 16 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

über den Bildungsföderalismus wird seit 1949 immer wieder diskutiert. Der Bund hat durch die Verfassungsänderung von 1969 neue Zuständigkeiten im Bildungswesen erhalten; der weitaus überwiegende Teil der Bildungskompetenzen liegt aber nach wie vor bei den Ländern. über die Vorzüge eines föderativen Bildungssystems sind sich alle im Bundestag vertretenen Parteien, Bund, Länder und auch die Verbände einig; ebenso aber auch darüber, daß bundeseinheitliche Rahmenbedingungen in der Bildungspolitik notwendig sind. Auch nach der Verfassungsänderung von 1969 reichen die Zuständigkeiten des Bundes, wie der Aufsatz nachweist, nicht aus, diese gesamtstaatlichen Entscheidungen zu treffen. 1978 hat die Bundesregierung einen Bericht über den Bildungsföderalismus vorgelegt, der die Auseinanderentwicklung im Bildungswesen beschreibt. Ein Mindestmaß an Einheitlichkeit hat die Bundesregierung vor allem für die Übergänge und Abschlüsse im Bildungswesen, für die Schul-und Bildungspflicht sowie für die berufliche Bildung in Betrieb und Schule gefordert. Die Länder haben zu dem Bericht Stellung genommen und Verbesserungen durch neue Vereinbarungen angekündigt. An zwei Beispielen (bundesweite Anerkenung von Bildungsabschlüssen, Elternwahlrecht beim Übergang nach der Grundschule) wird gezeigt, daß es hier nicht nur um Probleme bei einem Umzug in ein anderes Bundesland, sondern vor allem um gleiche Rechte und Bildungschancen „vor Ort" geht. Das Einstimmigkeitsprinzip bei der überregionalen Regierungsabstimmung in der Kultusministerkonferenz der Länder erschwert die notwendigen einheitlichen Entscheidungen. Die Stellung der Parlamente wird durch ein umfassendes System von Regierungsvereinbarungen geschwächt. Eine konsequent verfassungspolitische Lösung läge in einer Neuordnung der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen. Der Bund sollte danach die notwendigen einheitlichen Entscheidungen durch Gesetz regeln können. Es geht dabei um wenige, aber wichtige Eckwertentscheidungen, die die Länderzuständigkeit für die meisten Aufgaben im Schul-und Hochschulwesen nicht in Frage stellen. Vorrangig ist jetzt jedoch eine Lösung der Sachprobleme mit den vorhandenen Instrumenten, denn verfassungsändernde Mehrheiten sind derzeit nicht vorhanden. Auch auf längere Sicht kann die verfassungspolitische Debatte nur zum Erfolg führen, wenn sie nicht an tagespolitischen Forderungen ausgerichtet wird. Die verfassungspolitischen Vorschläge müssen danach bewertet werden, ob sie das politische Entscheidungssystem verbessern und für die Bürger durchschaubarer machen. Sie können und dürfen nicht daran gemessen werden, ob sie jetzt vorhandene oder künftige Wählermehrheiten begünstigen oder benachteiligen.

Mit der Debatte über die Fortschreibung des Bildungsgesamtplans ist die Bildungspolitik 1979 in die Schlagzeilen geraten. Inzwischen haben sich die publizistischen Wogen wieder geglättet. Die Sachprobleme bestehen jedoch noch wie vor. Die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung hat im Juni dieses Jahres eine Anhörung der betroffenen Verbände und Institutionen durchgeführt. Es ist aber noch nicht abzusehen, wann sich die zwölf an der gemeinsamen Bildungsplanung beteiligten Regierungen einigen werden. Auch in der besonders umstrittenen Frage der Anerkennung der Gesamt-schulabschlüsse wird es wohl vor der Bundestagswahl nicht zu einer neuen Ländervereinbarung kommen. Eine derartige Vereinbarung hatten die Kultusminister der Länder ursprünglich bereits für 1979 angekündigt, um die gegenseitige Anerkennung der Gesamt-schulabschlüsse nach 1981 zu sichern, denn 1981 wird das jetzt noch geltende Anerkennungsabkommen auslaufen.

Eine Reihe von Kommentatoren und Zeitungen hat — nicht zu Unrecht — den Zusammenhang zwischen der Auseinandersetzung über den Bildungsgesamtplan und der allgemeineren Debatte über den Bildungsföderalismus hergestellt.

über den Bildungsföderalismus wird nicht erst seit 1979 diskutiert, oder seit 1978, nachdem die Bundesregierung ihren Bericht über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems ’) vorgelegt hatte. Kritik an der Auseinanderentwicklung im Bildungswesen gibt es seit 1949. Die öffentliche Auseinandersetzung knüpft dabei an unterschiedliche Anlässe an; sie wird auch mit unterschiedlicher Intensität geführt. Im Grunde geht es jedoch überarbeitete Fassung eines Vortrags vom Februar 1980im Bonifatiushaus, Haus der Weiterbildung der Diözese Fulda.

I. Zum Stand der Diskussion

immer wieder um die gleichen Fragen: Wie-viel Einheitlichkeit ist im Bildungswesen eines Landes wie der Bundesrepublik Deutschland notwendig? Und welche Fragen müssen nicht unbedingt — oder sollten nicht — einheitlich geregelt werden?

In diesen Grundfragen — bei der Abgrenzung des notwendigen Mindestmaßes an Einheitlichkeit im föderativen Bildungssystem — besteht weitaus mehr Einigkeit, als die öffentlichen Diskussionen in den letzten zwei Jahren vemuten lassen. Alle im Bundestag vertretenen Parteien und die Regierungen der Länder und des Bundes stimmen darin überein, daß es keinesfalls wünschenswert wäre, wenn alle Bereiche des Bildungswesens einheitlich gestaltet würden, von Flensburg bis Berchtesgaden — mit einem Schulbuch, einem Lehrplan oder mit einem bundesweiten Zentralabitur. Niemand kann einen Vorteil darin erkennen, etwa die Standortentscheidung für eine Schule oder die Einstellung eines Lehrers zentral von Bonn aus zu bestimmen. Bund und Länder und alle Parteien sind sich aber ebenso darüber einig, daß wir in unserem föderativen Bildungswesen bestimmte gesamtstaatliche Rahmenentscheidungen brauchen — Rahmenbedingungen, die erst die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sich Wettbewerb und Vielfalt in den Ländern und in den Bildungsangeboten unbehindert und ohne Nachteile für den Bürger entfalten können.

Es geht dabei nicht um die Alternative „Zentralismus oder Föderalismus“, wie manche behaupten. Die über 000 Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz (und die für die Umsetzung notwendigen Gesetze und Erlasse in elf Ländern) sind „zentralistische“ Entscheidungen. Kein Bundesgesetz könnte so prefektionistisch angelegt sein und so zentralistisch wirken wie dieses Vereinbarungssystem. Die Fragestellung ist vielmehr heute, nach einer fast zweijährigen Debatte: Wie kann das notwendige Mindestmaß an Einheitlichkeit im Bildungswesen gesichert und wie sollen die dafür erforderlichen Entscheidungen getroffen werden ? Und wer soll für die Entscheidungen oder Nicht-Entscheidungen, auch gegenüber dem Wähler, die politische Verantwortung tragen?

II. Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern

Die beiden Fragen schließen eine Feststellung ein: Der Bund, der Deutsche Bundestag als Bundesgesetzgeber und die Bundesregierung als Regierung des Gesamtstaates, hat keine ausreichenden Zuständigkeiten, im Bildungswesen alle diejenigen Fragen für das gesamte Bundesgebiet zu regeln, die nach der übereinstimmenden Auffassung aller Beteiligten, auch der Länder, bundeseinheitlich gestaltet werden müssen. Den Ländern steht nach der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes der weitaus überwiegende Teil der bildungspolitischen Zuständigkeiten in der Gesetzgebung, der Verwaltung und in der Finanzierung zu. Der dafür geprägte Begriff der „Kulturhoheit" der Länder beschreibt diesen Zustand zwar etwas ungenau — ungenau deshalb, weil er den unzutreffenden Eindruck einer den Bund insgesamt ausschließenden, alleinigen Zuständigkeit der Länder erweckt. Er gibt aber in der vereinfachenden Zusammenfassung doch ein plastisches Bild von der tatsächlichen Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern im Bildungswesen.

Der Bund ist nach dem Grundgesetz nur für diejenigen wenigen Bildungsfragen zuständig, für die ihm ausdrücklich eine Kompetenz zugewiesen ist. Vor der Verfassungsänderung von 1969 war dies im wesentlichen nur die Zuständigkeit für die außerschulische Berufsbildung, eine Zuständigkeit, die aus der Bundes-kompetenz für das Recht der Wirtschaft und für das Arbeitsrecht abgeleitet wird. Auf ihr beruhen das Berufsbildungsgesetz sowie das Ausbildungsplatzförderungsgesetz. Im Rahmen der Finanzverfassungsreform von 1969 hat der Bund durch eine Verfassungsänderung weitere Zuständigkeiten erhalten:

— die Zuständigkeit für die Regelung der Ausbildungsbeihilfen, auf die das Bundesausbildungsförderungsgesetz gestützt wird, — eine Rahmenkompetenz für die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens, die im wesentlichen die Grundlage für das Hochschulrahmengesetz bildet, — und schließlich — durch die beiden bildungsbezogenen Gemeinschaftsaufgaben — die Mitplanungsund Mitfinanzierungszuständigkeit für die Länderaufgaben im Hochschulbau sowie die Möglichkeit, aufgrund von freiwillig abgeschlossenen Verwaltungsabkommen mit den Ländern bei der Bildungsplanung zusammenzuwirken.

Die Zuständigkeitsneuordnung durch die Verfassungsänderung von 1969 verfolgte das Ziel, die bereits früher bestehende, verfassungsrechtlich zweifelhafte Mitfinanzierung des Bundes, z. B. im Hochschulbau oder bei der Studienfinanzierung nach dem „Honnefer Modell", in geordnete Bahnen zu lenken. Ein Teil der neuen Bundeszuständigkeiten, z. B. die Rahmenkompetenz im Hochschulwesen, sollte außerdem den damals aktuellen politischen Forderungen gerecht werden. Die Neuordnung war demnach nicht an dem Grundsatz ausgerichtet, die einheitlich zu gestaltenden Regelungsgebiete dem Bund, alle übrigen Fragen aber den Ländern zu überlassen. Auch die Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe der Bildungsplanung bietet keine geeignete „Ersatz-Lösung" für eine derartige, auch langfristig tragfähige Neuordnungskonzeption. Ein Blick auf das Entscheidungssystem der gemeinsamen Bildungsplanung zeigt dies deutlich.

Bildungsplanung war 1969 als eine langfristige Abstimmungsaufgabe vor allem für die personelle und finanzielle „Versorgung" des Bildungswesens (mit Auswirkungen auf die Sozial-, Wirtschafts-und die Gesellschaftspolitik) begriffen worden: Daher auch die Mitwirkungsmöglichkeit des Bundes. Art. 91b des Grundgesetzes, der die Verfassungsbestim-mung über die Bildungsplanung enthält, geht von einer freiwilligen Zusammenarbeit der Regierungen von Bund und Ländern aus.

Die Parlamente des Bundes und der Länder sind an die Bildungsplanungsentscheidungen der Regierungen in keinem Fall gebunden. Ein Beschluß der Regierungen kommt außerdem nur zustande, wenn ihm mindestens neun von insgesamt zwölf Regierungen zustimmen. In wichtigen bildungspolitischen Streitfragen können daher die Probleme allenfalls durch die Darstellung der unterschiedlichen Auffassungen, durch einen formalen Kompromiß, mit dem die Meinungsunterschiede überdeckt werden, oder durch Ausklammern „gelöst" werden. Damit wird nicht der Wert einer gesamtstaatlichen Regierungsabstimmung in der Bildungsplanung bestritten. Von dieser Abstimmung wird nur zu viel verlangt, wenn man von ihr eine konkrete Entscheidung in umstrittenen Konzeptionsfragen der Bildungspolitik erwartet, z. B. eine einheitliche Entscheidung über die Verlängerung der Schulpflicht von neun auf zehn Jahre.

III. Einheitlichkeit und Vielfalt im Bildungswesen

Die Erfolgschancen der freiwilligen Zusammenarbeit der Regierungen des Bundes und der Länder werden auch dadurch nicht wesentlich erhöht, daß weitgehend Einigkeit über die Abgrenzung der Gebiete besteht, in denen gesamtstaatliche Entscheidungen notwendig sind. Die Bundesregierung hat derartige Entscheidungen in ihrem Föderalismus-bericht von 1978 für die Schulund Bildungspflicht, für die Übergänge und Abschlüsse im Bildungswesen und für die berufliche Bildung in Betrieb und Schule gefordert. Sie hat andererseits betont, daß über Organisationsfragen im Schulwesen oder über die Einzelgestaltung der Bildungsinhalte (die ohnedies von Schule zu Schule vielfach verschieden sind) in aller Regel nicht bundeseinheitlich entschieden werden muß.

Die Länder haben in ihrer einstimmig beschlossenen Stellungnahme zu dem Bericht der Bundesregierung wörtlich erklärt, „daß in der Bundesrepublik Deutschland ein stärkeres Maß an Einheitlichkeit insbesondere in den von der Bundesregierung angesprochenen Problembereichen angestrebt werden muß". Die Länder haben außerdem ausdrücklich bestätigt, daß „Änderungen und Verbesserungen" in diesen Gebieten „notwendig und durch die Länder mit Vorrang zu realisieren sind“. Mit neuen Vereinbarungen der Landesregierungen soll dieses Ziel erreicht werden.

Zwei Beispiele sollen zeigen, um welche Fragen es dabei im einzelnen geht:

Beispiel 1: Bundesweite Anerkennung von Bildungsabschlüssen Die Bundesregierung hat für die Übergänge und Abschlüsse eine gesamtstaatliche Regelung vorgeschlagen, die insbesondere die bundesweite Anerkennung der Bildungsabschlüsse und der Übergangsberechtigungen sichern soll. Zu diesem Fragenbereich gehört auch die gegenseitige Anerkennung der Gesamtschulabschlüsse. Probleme gibt es aber auch bei anderen Abschlußarten, z. B. bei bestimmten Formen der Hochschulzugangsberechtigung oder der Mittelstufenabschlüsse und bei den Lehramtsabschlüssen.

In der öffentlichen Debatte wird manchmal behauptet, eine gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse der einzelnen Bundesländer könne es nur dann geben, wenn die Bildungsgänge, die zu den Abschlüssen führen, genau übereinstimmten, bis hin zur Stundenzahl in Einzelfächern. Wenn wir diese Forderung ernst nehmen würden, könnten nur noch wenige Bildungsabschlüsse der einzelnen Bundesländer bundesweit anerkannt werden. Unterschiede in der Stundenzahl und im Anforderungsniveau gibt es bekanntlich auch zwischen den Schulen in einem Bundesland, ja manchmal zwischen den Klassen und Jahrgängen einer Schule.

Die Forderung nach einer detaillierten Übereinstimmung steht außerdem im Widerspruch zu der — von allen Parteien mitgetragenen — Politik der Bundesrepublik Deutschland bei der Anerkennung der europäischen Bildungsabschlüsse. Die Bundesrepublik Deutschland fordert für Europa seit Jahren eine liberale Anerkennungspolitik ohne kleinliche Fächerstundenzählerei und ohne gegenseitige Schulformzensur. Können wir aus Gründen, die wir für die europäische Anerkennung ablehnen, innerhalb unseres eigenen Landes den Schülern die Anerkennung ihrer Abschlüsse verweigern? Es darf nicht dahin kommen und nicht dabei bleiben, daß ein Abiturient aus einem deutschen Bundesland eher noch in Belgien das gewünschte Studienfach studieren kann als in dem Bundesland seiner Wahl. Die Auseinandersetzung über den Wert bestimmter Schulformen, z. B.der Gesamtschule oder der Berliner Oberstufenzentren, kann nicht mit dem Mittel der Anerkennungsverweigerung geführt werden. Die gegenseitige Anerkennung darf nicht dazu mißbraucht werden, daß ein Bundesland der Schul-und Bildungspolitik eines anderen Bundeslandes Zensuren erteilt und damit versucht, auf dem Rücken und auf Kosten der Kinder und Eltern seine Vorstellungen von der „richtigen" Bildungspolitik auch außerhalb seiner Landesgrenzen durchzusetzen.

Beispiel 2: Elternwahlrecht beim Übergang nach der Grundschule Ein anderes Beispiel: Das übergangsverfahren von der Grundschule in die weiterführenden Schulen der Mittelstufe ist in jedem Bundesland unterschiedlich geregelt. In einigen Bundesländern gehen die Kinder sechs Jahre gemeinsam auf die Schule, z. B. auf die sechsjährige Berliner Grundschule. Danach muß eine Entscheidung zwischen verschiedenen Schulformen getroffen werden. In den anderen Ländern muß die Übergangsentscheidung, wie im herkömmlichen Schulsystem, nach vier Jahren Grundschule erfolgen. Unabhängig von diesen organisatorischen Unterschieden ist aber auch das übergangsverfahren nach der Zeit des gemeinsamen Schulbesuchs, also nach Klasse 4 oder nach Klasse 6, von Land zu Land verschieden ausgestaltet. In einem Teil der Länder wird die Übergangsentscheidung zwischen Gymnasium, Realschule und Hauptschule im wesentlichen nach einer Eignungsfestellung der Schule getroffen (mit Schulgutachten, Probearbeiten oder Aufnahmeprüfung). Andere Bundesländer (insgesamt fünf Länder), darunter z. B. Niedersachsen oder Hamburg, lassen bis zum Übergang in Klasse 7 die Eltern über die Schulartwahl entscheiden. Erst nach einer Probezeit in Klasse 7 kann der Schüler auch gegen den Elternwillen in eine andere Schulform versetzt werden, falls er die Anforderungen nicht erfüllt.

Die Bundesregierung hat sich in ihrem Föderalismusbericht dafür ausgesprochen, unabhängig von den schulorganisatorischen Unterschieden dem Elternwahlrecht nach dem gemeinsamen Schulbesuch der Kinder mindestens bis zum Übergang in Klasse 7 Vorrang einzuräumen. Diesem Vorschlag haben die Landesregierungen zugestimmt und dazu eine neue Vereinbarung angekündigt.

Das Elternwahlrecht hat auch in einer anderen Frage große Bedeutung. Das freie Wahlrecht der Eltern bezieht sich zumeist nur auf die herkömmlichen Schulformen Gymnasium, Realschule und Hauptschule. Ein Teil der Länder hat jetzt das Elternwahlrecht auf die Gesamtschule ausgedehnt (oder hat dies vor), di zusätzlich zu den herkömmlichen Schulfor men als eine Regelschule angeboten wird.

Mit dieser Entscheidung wird im Übrigei deutlich, welchen Nutzen für den Bürger eii vielfältiges Wahlangebot haben kann. Häufi wird in der aktuellen Föderalismusdebatte be hauptet, es gehe darum, die notwendige Viel falt im Bildungswesen zu erhalten. Aus de: Bürgersicht stellt sich das Problem aber it ganz anderer Weise: Für den Bürger hat es keinen Vorteil, wenn Vielfalt im Bildungswe sen durch die Unterschiede der Landesbil dungspolitik in Niedersachsen oder in Bayer hergestellt wird. Der Bürger kann verschie dene Angebote im Bildungswesen nur danr nutzen, wenn er sie im eigenen Land vorfindet und wenn er dazu nicht erst von Bayern nach Hamburg umziehen muß. Diese Wahlvielfall „vor Ort" ist wiederum bedroht, wenn die über, regionale Verwendbarkeit der Bildungsabschlüsse nicht gesichert ist.

Freie Wahlrechte der Bürger mit einer entsprechenden Angebotsvielfalt im Bildungswesen und gesamtstaatliche Rahmenbedingungen, die die bundesweite Anerkennung gewährleisten, sind also keine Gegensätze, sondern setzen vielmehr einandervoraus. Und die Zuständigkeit der Länder gewährleistet umgekehrt für sich allein genommen noch keinesfalls ein vielfältig gegliedertes Bildungswesen das der Bürger auch tatsächlich ohne Umzug in ein anderes Bundesland nutzen kann.

IV. Zum politischen Entscheidungssystem

Die Beispiele zur Anerkennung von Bildungsabschlüssen und zum Elternwahlrecht sollen das Verhältnis von Vielfalt und notwendiger Einheitlichkeit auch für andere Gebiete deutlich machen, über den Grundsatz besteht kaum Streit, daß gesamtstaatliche Rahmenentscheidungen in diesen Fragen notwendig sind, die allen Bürgern ein Mindestmaß an gleichen Rechten und Chancen sichern. Umfrageergebnisse und verschiedene programmatische Beschlüsse der großen Parteien (z. B. das Berliner Programm der CDU von 1971) lassen vielmehr erkennen, daß eher die umgekehrte Frage gestellt wird, ob das von der Bundesregierung vorgeschlagene und auch von den Ländern angestrebte Mindestmaß an Einheitlichkeit ausreichen kann.

Auch die vom Bundestagsausschuß für Bildung und Wissenschaft im. März 1980 durchgeführte Anhörung von Verbänden hat dies bestätigt. Mit großem Nachdruck fordern die Verbände — unter ihnen Eltern-und Schüler-vertretungen, kommunale Spitzenverbände, Arbeitgeber-und Lehrerverbände — nahezu einstimmig ein größeres Maß an Einheitlichkeit, z. B. bei der Entscheidung über die Verlängerung der Bildungspflicht, bei der Stärkung des Elternwahlrechts nach der Grundschule oder bei der Anerkennung von Bildungsabschlüssen. Sie warnen vor einem Rückfall in bildungspolitische Kleinstaaterei und — so ein Verband — vor Zuständen, wie sie in der Wirtschaftspolitik bereits durch den Deutschen Zollverein überwunden wurden. Viele Verbände fordern ein weitaus größeres Maß an Einheitlichkeit im Bildungswesen, als dies die Bundesregierung jemals vorgeschlagen hat (oder für sinnvoll hält).

Worin liegen, bei so weitgehender Überein-stimmung, die Schwierigkeiten bei der Umset zung der Absichtserklärungen? Es sind jetzt bald zwei Jahre seit der Veröffentlichung des Föderalismusberichts vergangen. Keine der von den Ländern 1978 angekündigten neuen Vereinbarungen ist aber bislang abgeschlossen worden.

Zum Teil besteht das Problem darin, daß zwar über die Gebiete einheitlicher Entscheidungen, nicht aber darüber Einigkeit besteht, wie die Sachentscheidungen im einzelnen aussehen sollen. Alle Länder stimmen z. B. darin überein, daß über eine Verlängerung der Schul-und Bildungspflicht von neun auf zehn Jahre bundeseinheitlich entschieden werden sollte. Es gibt aber unterschiedliche Auffassungen, ob die Schulpflicht überhaupt verlängert, ein 10. allgemeinbildendes Schuljahr eingeführt oder die Entscheidung zwischen möglichst vielen Wahlangeboten im 10. Bildungsjahr freigestellt werden soll.

Problematische Stellung der Parlamente Weder durch die Zusammenarbeit bei der gemeinsamen Bildungsplanung noch bei der „Länderselbstkoordination" in der Kultusministerkonferenz können die für diese Fragen zuständigen Länder gezwungen werden, sich zu einigen. In der gemeinsamen Bildungsplanung von Bund und Ländern reicht zwar eine Dreiviertelmehrheit für einen Beschluß aus; gebunden sind aber nur die Regierungen, die zustimmen. In der Kultusministerkonferenz müssen die Landesregierungen einstimmig beschließen.

Mit der Zustimmung der Regierungen ist es zudem in vielen Fällen nicht getan. Häufig, z. B. bei der Schul-und Bildungspflicht und bei den Übergängen und Abschlüssen, sind darüber hinaus elf in der Sache übereinstimmende Landesgesetze erforderlich. Gesetze sind deshalb notwendig, weil über Fragen, die die Grundrechte der Bürger berühren, nur die Volksvertretung entscheiden kann. Damit soll gewährleistet werden, daß die Entscheidungen in einem öffentlichen, durchschaubaren Verfahren zustande kommen und der Wähler das Parlament notfalls in den Wahlen auch zur Rechenschaft ziehen kann. Dieser — an und für sich selbstverständliche — Grundsatz ist für Grundrechtsfragen im Bildungswesen auch mehrfach von den Gerichten bestätigt worden.

Der „Parlamentsoder Gesetzesvorbehalt 11 im Bildungswesen stellt aber die überregionale Regierungskoordination vor besondere Probleme. Eine bundeseinheitliche Entscheidung kann danach nur zustande kommen, wenn die elf Landesregierungen eine Vereinbarung ausarbeiten und anschließend alle elf Landesparlamente dem von den Landesregierungen erreichten Kompromiß zustimmen.

Der eigentliche Zweck des Parlamentsvorbehalts, eine für den Wähler durchschaubare, dem einzelnen Parlament zuzuordnende Entscheidung zu sichern, wird auf diese Weise verfehlt. Die Parlamente stehen vor einer Ratifikationslage. Sie sollen etwas beschließen, was sie nicht selbst gestaltet haben und was auch die dem Parlament jeweils verantwortliche Regierung nicht allein ausgearbeitet hat. Der Anteil der einzelnen Landesregierung an dem Vereinbarungsergebnis ist weder für das einzelne Landesparlament noch für den Bürger genau erkennbar.

Besonders klar zu erkennen ist dieses verfassungspolitische Problem beim Numerus-clausus-Staatsvertrag der Länder. Alle Regierungsparteien in den Landtagen haben dem Staatsvertrag zugestimmt. Alle Oppositionsparteien haben ihn abgelehnt. Der Wähler hat bei dieser Lage kaum noch Möglichkeiten, in irgendeiner Wahl, in einer Landtagswahl oder in einer Bundestagswahl, seinem politischen Willen (Zustimmung oder Ablehnung des Staatsvertrags) wirksam Ausdruck zu geben. Keine Landtagspartei kann ja glaubwürdig behaupten, sie würde alles anders machen: Jeder weiß, daß im Nachbarland die gleiche Partei die Mehrheit stellt und dem Staatsvertrag zugestimmt hat. Eine bundeseinheitliche Landesgesetzgebung schränkt also in der Verfassungspraxis die unmittelbare Wähler-und Parlamentskontrolle weitgehend ein.

Verfassungspolltische Lösungsvorschläge Wenn sowohl das notwendige Mindestmaß an einheitlichen Entscheidungen im Bildungswesen gesichert als auch eine wirksame Parlaments-und Wählerkontrolle gewährleistet werden sollen, gibt es dafür nur eine Lösung: eine Änderung der Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern. Wenn der Bundestag über die bundeseinheitlich zu gestaltenden Fragen entscheiden könnte, wäre damit ein Parlament und eine Regierung für die Eckwertentscheidung verantwortlich. Die Parteien könnten den Wählern klare Alternativ-entscheidungen anbieten. Das letzte Wort würde in Wahlen gesprochen.

Daß für die verfassungspolitischen Probleme bei einer bundeseinheitlichen Ländergesetzgebung nur eine Grundgesetzänderung eine befriedigende Lösung bieten könnte, ist auch die Auffassung der Bundesregierung — übrigens ebenso die der vom Bundestag eingesetz45 ten Enquete-Kommission Verfassungsreform. Die Bundesregierung hat allerdings auch betont, daß eine Neuordnung der Aufgabenverteilung im Bildungswesen nicht in eine Ein-bahnstraße zu mehr Bundeskompetenzei münden darf; sie hat deshalb vorgeschlager bei einer Neuordnung andere Aufgaben wie der an die Länder zurückzugeben.

V. Voraussetzungen für künftige Entscheidungen

Für Grundgesetzänderungen sind Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und im Bundesrat erforderlich. Es gibt im Augenblick keine Anzeichen dafür, daß diese Mehrheiten in absehbarer Zeit zu erreichen sind. Größere Neuordnungsvorhaben zur Aufgabenverteilung von Bund und Länder setzen mehrere Jahre (und auf jeden Fall mehr als eine Legislaturperiode) als „Vorlauf" in der öffentlichen Diskussion voraus. Dies war auch bei der Finanzverfassungsreform von 1969 nicht anders. In der Zwischenzeit kann es keinen Stillstand in der Bildungspolitik geben. Im Interesse der Bürger muß ein Mindestmaß an Freizügigkeitsund an Mobilitätsvoraussetzungen im Bildungswesen mit den Instrumenten gesichert werden, die jetzt zur Verfügung stehen. Die Zusammenarbeit von Bund und Ländern und die Länderselbstkoordination sind daher nach wie vor notwendig. Die verfassungspolitische Debatte darf die Diskussionen über die jetzt erforderlichen einheitlichen Entscheidungen nicht verdrängen.

Eine wesentliche Aufgabe des Bundes muß es dabei sein, immer wieder auf die notwendigen gesamtstaatlichen Entscheidungen, auch im Rahmen seiner Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Bildungsplanung, hinzuweisen. Man kann von der Fortschreibung des Bildungsgesamtplans keine Wunder bei der Lösung der Sachprobleme erwarten. Ohne die gemeinsame Bildungsplanung sind jedoch Fortschritte — auch „kleine" Schritte — bei der gesamtstaatlichen Abstimmung kaum denkbar.

Gleichzeitig muß aber auch die verfassungspolitische Debatte fortgeführt werden. Politische Probleme sind nicht nur dann eine öffentliche Diskussion wert, wenn perfekte Lösungen mit den dafür erforderlichen Mehrheiten bereits heute abzusehen sind. Politik ist auch Tagespolitik. Eine Politik, die sich den notwendigen Entscheidungen ausschließlich kurzfristig, unter tagespolitischen Gesichtspunkten, zuwendet, kann aber auf die Dauer nicht erfolgreich sein.

Ebensowenig überzeugt der Standpunkt — den man in allen Lagern des politischen Spektrums findet —, die föderale Aufgabenverteilung sei in erster Linie danach zu beurteilen, ob die damit vorgezeichnete Verteilung dei Entscheidungbefugnisse der eigenen sachpoli tischen Position schadet oder nützt. Eine ver fassungspolitische, langfristig wirkende Entscheidung darf nicht davon abhängig gemacht werden, ob eine „Reformpolitik" oder eine „konservative" Politik nach den zur Zeit vorhandenen Mehrheitsverhältnissen besser mit einer Bundestagsmehrheit oder über die Bundesländer verwirklicht werden kann. Derartige Spekulationen beruhen ohnedies mehr auf emotionalen Einschätzungen als auf einem einigermaßen nachvollziehbaren und wahrscheinlichen Kalkül. Sie sind aber auch grundsätzlich nicht angemessen. Die föderale Gewaltenteilung der Verfassung ist ebensowenig wie andere Verfassungsgrundsätze dazu da, bestimmte Wählermehrheiten von heute oder morgen zu begünstigen oder zu benachteiligen. Sie soll langfristig, für alle Wählermehrheiten, den Rahmen für demokratische Entscheidungen zur Verfügung stellen. Wer die föderale Gewaltenteilung nur an kurzfristigen, taktischen Zielen mißt, ist übrigens kein Föderalist: Bei veränderten Mehrheiten kommt er ja jeweils zu anderen Entscheidungen.

Ein politisches Engagement darf auch nicht allein davon abhängen, ob durch die Aktivitäten von Verbänden, die Berichterstattung in den Medien oder durch bestimmte aktuelle Anlässe ein Thema gerade „in" zu sein scheint. Zurückgeführt auf einen einfachen Nenner würde das hier heißen: Welche „Bundesgenossen" hat heute die Bundesregierung in der Debatte über den Bildungsföderalismus? Und wieviel Einflußmacht haben diese Verbündeten? — Die Entscheidungsprozesse in einem demokratischen Gemeinwesen setzen zwar häufig eine längere öffentliche Diskussion und zum Teil auch einen akuten Problemdruck voraus, der erst die Entscheidungen „möglich" macht und erzwingt. Es wäre aber wohl kein gutes und erfolgversprechendes politisches Rezept, alle oder nahezu alle Entscheidungen von einem günstigen publizistischen Tages-trend abhängig zu machen.

Und schließlich, als letzte Überlegung: Manche meinen, der Bürger interessiere sich nicht dafür, wie die Entscheidungen zustande kommen; nur das Ergebnis zähle. Ob eine bundes einheitliche Entscheidung in einer einstimmigen Koordination aller Regierungen hinter verschlossenen Türen getroffen werde oder durch eine öffentliche Mehrheitsentscheidung des Bundestages, sei den Eltern und Schülern letztlich gleichgültig. Eine derartige Argumentation verkürzt das Problem zunächst auf unzulässige Weise: Denn die sachlichen Ergebnisse hängen ja durchaus auch davon ab, in welchem Verfahren — öffentlich oder nicht-öffentlich, von Parlament beschlossen oder ohne wirksame Parlamentsverantwortung — eine Entscheidung gefällt wird. Außerdem glaube ich nicht, daß es für die betroffenen Eltern und Schüler gar keine Rolle spielt, wer dafür verantwortlich ist, wenn sich unser Bildungssystem noch weiter auseinanderentwickelt. Wer bundesweite Entscheidungen zur Weiterentwicklung im Bildungswesen will — wie sie jetzt erneut in den Bundestagswahlprogrammen aller im Bundestag vertretenen Parteien gefordert werden —, der muß auch über die Instrumente sprechen, mit denen diese einheitlichen Entscheidungen herbeigeführt werden. Die Diskussion über die Probleme des bundesstaatlichen Entscheidungssystems in der Bildungspolitik muß im Interesse der Bürger weitergeführt werden. Die Vorschläge der Bundesregierung geben dafür eine geeignete Grundlage.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bericht der Bundesregierung über die strukturellen Probleme des föderativen Bildungssystems vom 22. Februar 1978, BT-Drucksache 871551. S. dazu such Schlußfolgerungen der Bundesregierung zu diesem Bericht vom 21. Juni 1978 (BT-Drucksache 8/1956; in der Anlage 3 zu den Schlußfolgerungen, HO, S. 12ff., ist die Stellungnahme der Länder zum Bericht der Bundesregierung abgedruckt).

Weitere Inhalte

Jürgen Burckhardt, Dr. jur., Ministerialdirektor, Leiter der Abteilung Bildungsplanung des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft. Veröffentlichungen u. a.: Kommentierung des Rechts der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau; Mitherausgeber der Reihe Hochschulrecht des Bundes.