Der Aufsatz, auf den H. Boventer sich bezieht, wurde zuerst in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 49/79, veröffentlicht und ist inzwischen als Beitrag in einem Taschenbuch erschienen: Ethik und Politik, in: R. v. Voss. (Hrsg.), Ethik und Politik, Köln (Deutscher Instituts-Verlag) 1980.
1. Glaube und Unglaube in der Demokratie
In unserem Lande leben Menschen sehr verschiedenen Glaubens und Unglaubens. Es gibt gläubige Christen als Angehörige der großen Kirchen ebenso wie in vielerlei es gibt Sekten;
sie gewiß auch außerhalb aller Institutionen und Organisationen, aus welchen Gründen immer. Daneben gibt es — leider nur noch wenige — gläubige Juden. Und es gibt Mohammedaner; in der Zukunft werden wir zunehmend mit ihnen als Staatsbürgern zu rechnen haben.
Andererseits dürften viele Angehörige gerade der großen Kirchen wohl allenfalls noch als Traditions-und Milieuchristen anzusehen sein, denen es in erster Linie auf die guten Formen bei Taufe, Hochzeit und Beerdigung ankommt. Von ihnen sind wiederum die Gestalten des „Unglaubens" zu unterscheiden, die zum mindesten vom überkommenen Glaubens-und Religionsverständnis her so bezeichnet werden. Sie mögen sich humanistisch, sozialistisch oder auch gar nicht begründen. Schließlich und nicht zuletzt gibt es viele Stadien und Zwischenstadien des Zweifelns und Fragens, des Suchens und Findens von Lebenssinn.
Dieser ganzen Vielfalt und Verschiedenartigkeit des Glaubens und Unglaubens muß ein freiheitliches Gemeinwesen Toleranz nicht bloß im Sinne des Hinnehmens und Duldens, sondern der wirklichen Aufnahme und Annahme bieten. Jedermann soll in unserer demokratischen Ordnung ein Zuhause, ja: Heimat finden können. Wie es das Grundgesetz in Artikel 3, dem Gleichheits-und Toleranzartikel, ausdrückt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."
Bei Hermann Boventer allerdings stellt sich dies in der Konsequenz seiner Ausführungen als zweifelhaft dar. Oder mehr noch: Dem Unglauben wird seine Würde, seine Chance zur Moralität und damit doch wohl die Gleichwertigkeit, die mehr wäre als eine bloß formelle oder „methodische", abgesprochen. Hieran ändert es nichts, wenn die Ent-Würdigung hinter einem Schutzschild von Prominenten-Zitaten vorgetragen wird: „Wir müssen uns heute von Max Horkheimer sagen lassen, daß eine moralische Politik ohne Theismus nicht möglich sei. Staudinger greift dieses Wort auf und konstruiert daraus seine These, daß sowohl der Atheismus westlicher Prägung wie auch der militante des Ostens ... eine posthumane Gesellschaft hervorbringen.“ Und so fort. Folgerichtig läßt sich der zentrale Grundwert der Menschenwürde ohne einen Bezug auf Transzendenz im religiösen Sinne nicht wahren Und ebenso folgerichtig sieht sich der Ungläubige an oder gar über den Rand unserer Verfassung gedrängt
Um es klar zu sagen: Hier wird massiv undprinzipiell diskriminiert. Boventers „Toleranz" -Verständnis erinnert an das von John Locke, der zwar 1689 in seinem „Brief über Toleranz“ deren Prinzip klassisch begründete, der gleichwohl aber Atheisten grundsätzlich ausschloß, auf alle Fälle sie zu Bürgern zweiter Klasse stempelte. Doch Locke stand in einer ganz anderen geschichtlichen Situation: Wie das Edikt von Potsdam als Antwort auf die Aufhebung des Edikts von Nantes (1685), so war Lockes Schrift ein erster und mutiger Schritt aus dem Zeitalter heraus, in dem das „cuius regio, eius religio" als einzig mögliche Friedensformel erschien. Und schon im 18. Jahrhundert hat Thomas Jefferson aus Lok-kes Ansatz die Schlußfolgerung gezogen, die dann in der Verfassung von Virginia und nach ihrem Modell in der amerikanischen Verfassungsidee wirksam wurde. Für uns heute sollte eigentlich schon die Gleichwertigkeit der Eidesleistungen, die mit religiöser Bekräftigung oder ohne sie erfolgen können, das Unstatthafte jeder wertenden Unterscheidung exemplarisch sichtbar machen. übrigens handelt es sich um Fragen, bei denen es keine Rolle spielt — und keine spielen darf—, wie es um Mehrheiten und Minderheiten, um die Zahlenverhältnisse zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen bestellt ist. So sehr im alltäglichen politischen Entscheidungsprozeß der Demokratie Mehrheitsregeln gelten, so wenig ist es in den letzten Dingen des Glaubens und Unglaubens erlaubt, nach Mehrheiten auch nur zu fragen. Zugespitzt ausgedrückt: Selbst wenn es unter uns nicht einen einzigen Atheisten gäbe, müßten wir dennoch die Möglichkeiten zum Unglauben offenhalten und den Atheisten als gleichberechtigten, gleichwertigen Mitbürger willkommen heißen, wenn er denn käme.
Genau hierin gründet ja ein fundamentaler Unterschied zwischen Demokratien und Regimen, die wir gemeinhin „totalitär" nennen. Solche Regime wollen einerseits Weltanschauungen nicht dulden, die nicht die ihren sind. De facto pflegen sie diese aber nach Gesichtspunkten der Opportunität zu behandeln, wie sie sich aus dem praktischen Gewicht der Zahlen ergeben. So wurden im Dritten Reich Angehörige von Sekten — etwa Zeugen Jehovas— anders behandelt als Angehörige der großen Kirchen; ähnlich ergeht es Minderheitskirchen und Sekten in der Sowjetunion im Vergleich zur orthodoxen Kirche. Andererseits beruft man sich im politischen Prozeß der Machtbildung zwar ständig auf die „überwältigende Mehrheit" des Volkes, vermeidet es indessen sorgfältig, demokratische Mehrheitsregeln praktisch anzuwenden.
Der Kontrast macht sichtbar, wie fundamental und buchstäblich lebenswichtig in der Demokratie die Unterscheidung zwischen mehr-heitsfähigen und nicht mehrheitsfähigen Fragen oderBereichen ist. Eben diese Unterscheidung habe ich mit der Gegenüberstellung von Vorletztem und Letztem kennzeichnen wollen.
2. Aufklärung
Im Anschluß an diese allgemeinen Überlegungen sollen im folgenden spezielle Gesichtspunkte behandelt werden. Zum Teil mag es sich dabei um die Aufklärung von Mißverständnissen handeln. Zunächst aber geht es um den Begriff der Aufklärung selbst.
In Boventers zitatenreichen Ausführungen gerät dieser Begriff zunehmend in ein düsteres Licht. Auch darin ist Diskriminierung mindestens dem Ansatz nach enthalten: eine Diskriminierung all jener Menschen, denen Aufklärung — etwa im Sinne Immanuel Kants — als durchaus ehrwürdig und schon deshalb als unverzichtbar erscheint, weil aus dem Geiste der Aufklärung die neuzeitliche Proklamation der Menschen-und Bürgerrechte geboren wurde. . Aufklärung war nicht nur die historische und philosophische Voraussetzung zur Entstehung der Demokratie, sondern bleibt für alle Zukunft ihre Bedingung."
Gewiß gehören zu den geschichtlichen Wegen der Aufklärung auch deren Irrwege, ihre Ent-artungen bis hin zur terroristischen Herrschaft des Schreckens. Aber gibt es Vergleichbares in der Geschichte der Kirchen etwa nicht? Und wie Christen mit Recht erwarten, daß man ihrem Glauben mit Respekt begegnet und daß man seinen Wesensgehalt nicht mit historischen Deformationen gleichsetzt, so sollte dies auch in der Gegenrichtung gelten. In diesem Sinne bildet die Wechselbezüglichkeit, die Reziprozität der Perspektiven, ein Fundament für die Freiheit des Andersdenkenden — also unter modernen Bedingungen für die Freiheit und Würde aller.
Ein weiterer Gesichtspunkt erweist sich unter den Bedingungen unserer Politischen Kultur als wichtig: In Deutschland haben Humanismus und Aufklärung nicht in die Tiefe gewirkt, wohl aber Gegenaufklärung und Romantik. Das hat historisch einsichtige Gründe. Reformation, Gegenreformation und die daraus folgenden Religionskämpfe haben Deutschland besonders nachhaltig betroffen; schließlich ging Deutschland aus dem Dreißigjährigen Krieg als ein langfristig ruiniertes, bis tief ins 19. Jahrhundert hinein armes und rückständiges Land hervor. Ein eigenständiges und entB sprechend selbstbewußtes Bürgertum gab es kaum mehr. Die Folge war, daß Deutschland die für die geistige Prägung der bürgerlichen Gesellschaft entscheidend wichtigen Jahrhunderte gleichsam verschlief Damit bahnte sich im Verhältnis zu Westeuropa eine verhängnisvolle Sonderentwicklung an.
Im 19. Jahrhundert führten dann Gegenaufklärung und Romantik dazu, daß auch das Christentum romantisch-nationalistisch mißbraucht und zur Legitimationsbeschaffung für den Staat beschlagnahmt wurde. Und in unserem Jahrhundert kam es vollends zur Gegensatzkonstruktion zwischen „deutschem Geist“ und „Westeuropa" zwischen den „Ideen von 1914“ und „ 1789“, zwischen Gegenaufklärung und Aufklärung. Am Ende sollte aller „Aufkläricht“ zum Kehricht der Geschichte geworfen und mit der Aufklärung der von ihr bestimmte Jahrhundertprozeß der Emanzipation ausdrücklich zurückgenommen werden; mit der „Endlösung" der aus dem Ungeist der Gegen-aufklärung konstruierten . Judenfrage" sollte symbolträchtig die Aufklärung insgesamt liquidiert werden.
Die Bundesrepublik hat sich darum bemüht, die alten Gräben zuzuschütten. Sie hat sich bewußt dem Westen angeschlossen — und dies, so steht zu hoffen, doch nicht nur aus wirtschaftlichem und machtpolitischem Opportunismus. Zum Westen aber gehört das Erbe der Aufklärung ebenso wesentlich und unverlierbar wie das des Christentums.
Alle diese geschichtlichen und aktuellen Zusammenhänge sollten eindringlich davor warnen, uns polemisch und herabsetzend statt in kritischem Respekt auf das Thema Aufklärung einzulassen; dies gilt nicht zuletzt für Politische Bildung im weitesten Sinne.
3. Die Dialektik des Vorletzten und des Letzten — Mehrheitsfällige und nicht mehrheitsfähige Fragen
Es ist ein Mißverständnis, wenn man annimmt, die Gegenüberstellung von Letztem und Vorletztem meine Beziehungslosigkeit. Es handelt sich vielmehr um ein ganz und gar dialektisches Verhältnis. Zum Vorletzten wird etwas ja überhaupt erst vom Letzten her. Entsprechend macht das Vorletzte als Vorletztes das Letzte als Letztes sichtbar. Die Versuchungen zu „gläubiger" Politik — und demgemäß: zu politisierter Theologie — ergeben sich immer dann, wenn dieses dialektische Spannungsverhältnis nicht mehr beachtet wird und kurz-schlüssig gleichsam in sich zusammenstürzt. Solcher Nichtachtung machen sich die „totalitären" Regime unserer Epoche schuldig. Aber schon Fichte schuf dafür das geistige Muster, als er eine innerweltliche Unheils-und Heilsgeschichte konstruierte, welche die Gegenwart als den „Stand der vollendeten Sündhaftigkeit", das Endziel der Geschichte aber als den „Stand der vollendeten Rechtfertigung und Heiligung" beschrieb
In gewissem Sinne war die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus entlaufene, verdorbene Theologie des Luthertums, die dann politisch mit fast beliebigem Inhalt aufgefüllt werden konnte. Die Konsequenzen hat schon Heinrich Heine am Ende seiner „Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland" prophetisch beschrieben; es gibt keinen eindringlicheren Text zum geistig-politischen Problem der Deutschen.
Wenn es aber zwischen Letztem und Vorletztem weder um Beziehungslosigkeit noch um kurzschlüssige Gleichsetzung, sondern um ein dialektisches Spannungsverhältnis geht, dann ist die Meinung abwegig, der Christ müsse — gleichsam schizophren — in der praktischen Politik sich selbst vergessen: ein kurioser „Trompeter ohne Ohren" oder gar ohne Gehör. Keineswegs! Niemand soll und darf den Christen — oder sonst jemanden — daran hindern, praktische Politik so zu gestalten, wie er sie aus seinem Glauben, seinem Gewissen meint verantworten zu müssen, es mag sich um Rüstung und Abrüstung, die Entwicklung der Kernenergie, die Mitbestimmung, Familien-und Bildungspolitik, die Geburtenregelung, die Wehrdienstverweigerung oder worum auch immer handeln.
Nur: Alles kommt darauf an, daß es sich in der praktischen Politik unter demokratischen Bedingungen um mehrheitsfähige, „vorletzte“ Fragen handelt, die grundsätzlich offen und auch revisionsfähig bleiben. Denn einzig unter dieser Bedingung bleibt der Andersdenkende noch ein konsens-und kompromißfähiger Partner und wird der politische Gegner nicht abgründig zum Feind. Alles ändert sich, sobald „Letztes", also nicht Mehrheitsfähiges, unvermittelt in die praktische Politik eingeführt wird. Wo immer man sich auf absolut gesetzte „Grundwerte", auf die überempirische, unverrückbare „Natur" des Menschen beruft, um daraus die praktische Gestaltung des Gemeinwesens abzuleiten, da gibt es in strenger Folgerichtigkeit eben keine Konsens-, Kompromiß-und Mehrheitsfähigkeit mehr. Da wird der Andersdenkende an oder über den Rand der Verfassung gedrängt. In diesem Sinne habe ich gesagt und bleibe dabei: Grundwerte sind verfassungswidrig — sofern sie, vom Staat verbindlich gemacht, inhaltliche Festlegungen meinen, die die Würde des Menschen als Mündigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Offenheit zur Zukunft hin verletzen.
Zugleich sollte man bedenken: Wo immer man das Letzte direkt zum Kampfinstrument im Vorletzten macht, da wird nicht nur das dialektische Spannungsverhältnis zerstört, auf das es ankommt, sondern es wird zugleich und unausweichlich der Glaube zur Ideologie, zur „Weltanschauung" herabgewürdigt.
Sollten uns die Spuren einer nationalistisch verirrten „Gott mit uns" -Theologie nicht schrecken? Gibt es nicht auch heute, unter vielleicht nur modisch und vordergründig wechselnden Vorzeichen, die Versuchungen politisierender Theologie — und eine Art von Gier, sich ihnen anheimzugeben? Zugestanden: Solche Versuchungen und Begierden scheinen mir stärker im protestantischen oder säkularisiert protestantischen als im katholischen Raum angesiedelt zu sein. Insofern können auch meine Bedenken, ja Ängste ihre protestantische Herkunft nicht verleugnen. Aber jeder kehrt zunächst einmal vor der eigenen Tür.
Zur Gier nach politisierter Theologie, nach Weltanschauung — und zur Angst davor — noch ein Zitat: „Politische Parteien sind zu Kompromissen geneigt, Weltanschauungen niemals. Politische Parteien rechnen selbst mit Gegenspielern, Weltanschauungen proklamieren ihre Unfehlbarkeit.“ In der Tat. Das Zitat stammt aus Hitlers „Mein Kampf", und man kann dem Autor vieles vorwerfen, nur nicht, daß er verschwiegen habe, was er wollte, und daß er nicht konsequent — „fanatisch" — den eigenen Vorsätzen gefolgt sei.
4. Die Würde des Menschen und das Prinzip der Offenheit
Boventer bezweifelt, daß man den Eckstein unserer Verfassung und die Legitimationsgrundlage allen politischen Handelns, die Würde des Menschen, als Offenheit beschreiben könne. Er gibt freilich selbst keine nähere Bestimmung. Allerdings beharrt er auf dem Rückbezug auf Transzendenz im religiösen Sinne.
Nun ist gewiß nicht bloß zuzugeben, sondern nachdrücklich zu unterstreichen, daß wir mit den Ohren und mit dem Gehör Trompete spielen. Kein Mensch existiert voraussetzungslos, ohne Überlieferungen — die bereits die Sprache setzt —; jeder ist das Produkt seines Milieus und seiner Erfahrungen, seiner Familie, der sozialen Verhältnisse und so fort und fort.
Eine Welt, in der wir uns nicht von Konventionen und Traditionen leiten lassen und darauf vertrauen könnten, daß auch die anderen sich entsprechend leiten lassen, in der wir sozusagen aus dem Nichts heraus über all unser Tun ständig entscheiden müßten: eine solche Welt wäre unerträglich. Mit Herder zu reden sind und bleiben wir die Invaliden unserer höheren Kräfte.
Aber diese höheren Kräfte gibt es eben doch. Daß wir im Letzten ein Vermögen der Entscheidung besitzen, daß wir deshalb eine letzte Verantwortung tragen auch für unser Handeln im Vorletzten, daß uns Schuld nicht nur zugerechnetwird, sondern daß wir sie ausdrücklich übernehmen-, eben darin gründet unsere Würde. Gäbe es einzig jene pathologischen Grenzfälle der absoluten Zwanghaftigkeit, in denen wir für „mildernde Umstände" plädieren müssen, so wäre die Würde des Menschen in ihrem Kern getroffen. Eben deshalb achten wir noch im Grenzfall das verschüttete Potential der Freiheit; eben deshalb will Erziehung — wie Aufklärung — die Mündigkeit des Menschen. Und Aufgabe wie Legitimationsgrundlage der Politik ist es, sie praktisch zu ermöglichen und zu sichern.
Ralf Dahrendorf hat in seinem vielfach aufgelegten „Homo Sociologicus" den Menschen als Träger von „Rollen" beschrieben. Aber er hat deutlich gemacht, daß wir hinter unseren neun (oder mehr ) „Rollen" -Charakteren noch einen „zehnten" Charakter haben: einen, der in allen anderen, „empirischen" Charakteren nichtaufgeht und sich von ihnen her weder erfassen noch beschreiben läßt. Dieser „zehnte Charakter" verhält sich vielmehr zu allen anderen: er ist ihnen transzendent — ein, mit Kant zu reden, „intelligibler" Charakter.
Man könnte auch von einem „letzten" Charakter des Menschen im Gegensatz und Verhältnis zu seinen „vorletzten" Charakteren sprechen. Dabei kommt es wiederum auf das dialektische Spannungsgefüge an, darauf, daß die „vorletzten" Charaktere als natürlich und gesellschaftlich vor-und aufgegeben erscheinen, während sie zugleich doch vom „letzten" Charakter verantwortet werden. Es gäbe die Verantwortung nicht ohne das empirisch Vor-und Aufgegebene, und ohne die Verantwortung bliebe alles, was uns begegnet, blindes Schicksal — oder ein absurdes Theater des Zufalls, in dem wir selbst als pure Marionette zappelten.
Natürlich kann man die „Rollen" -Transzendenz unseres „zehnten Charakters" transzendent im religiösen Sinne begründen. Das ist schlechthin legitim. Aber ich sehe nicht, daß es unausweichlich ist; es ergibt sich kein Begründungs-Monopol.
Eine rein „immanente", etwa humanistische Begründung — der Analyse durch philosophische Anthropologie zugänglich — ist ebenso möglich und gleich legitim. Denn eben weil unser „zehnter Charakter" über alle empirisch auffindbaren Verhältnisse hinaus ist, in ihnen nicht aufgeht, auch nicht als ihre Summe, darum ergibt sich so etwas wie eine immanente Transzendenz. Schon sie schafft das feste Fundament für die Würde unserer Verantwortung und für ein Menschenbild, in dem der Mensch niemals nur als Mittel für irgendwelche Zwecke verrechnet werden kann.
Ich sehe ferner nicht, wie man den „zehnten Charakter" anders denn als Offenheit überhaupt angemessen beschreiben will. Noch einmal ist an das dialektische Spannungsverhältnis zwischen dem Vorletzten und dem Letzten, an diese Wechselbedingtheit zu erinnern. Aber indem der Mensch als Person in seinen empirisch vorfindbaren Lebensverhältnissen und „Rollen“ -Charakteren nicht aufgeht, sondern zu ihnen sich verhält, läßt sich seine Transzendenz auch nicht empirisch eingrenzen und als Eingrenzung irgendwie inhaltlich festlegen. Sie ist und sie bleibt von aller Empirie her gesehen: Offenheit. Und wie eigentlich sollte es ohne diese Offenheit als Prinzip menschliche Freiheit, die Würde der Gewissensentscheidung und Verantwortung überhaupt geben können?
Schließlich sehe ich nicht, wie man anders als im Prinzip der Offenheit den Maßstab für ein freiheitliches und doch abwehrbereites Gemeinwesen finden will. Das Dilemma, einerseits die Freiheit vor den Feinden der Freiheit zu schützen und sie andererseits davor zu bewahren, daß sie sich in erstarrter Panzerung selbst erwürgt — dieses Dilemma läßt sich ja nicht leichthin abtun.
Offenheit als Prinzip meint einmal praktische Veränderungsoffenheit. Selbstverständlich ist es legitim, konservativ zu sein und Bestehendes gegen alle Veränderungsabsichten zu verteidigen. Aber legitim ist es auch, die Veränderung zu wollen. Wer zum Beispiel ein anderes Wirtschaftssystem und andere Eigentumsverhältnisse im Bereich der Produktionsmittel anstrebt, hat alle Rechte der Meinungsfreiheit und demokratischer Organisationsmöglichkeiten für sich.
Zum anderen meint Offenheit als Prinzip, daß die Demokratie nicht aus einer letzten und für alle verbindlichen Wahrheit leben kann. Letzte und verbindliche Wahrheiten nehmen moderne Gewaltherrscher für sich in Anspruch — mit dem Erfolg, daß sie die Freiheit zerstören, die sie proklamieren. Offenheit ist die Bedingung dafür, daß die verschiedenartigen Anschauungen und Überzeugungen sich in einem Gemeinwesen miteinander einrichten und Heimat finden. Insofern ist der Satz Gustav Radbruchs, des großen demokratischen Juristen der Weimarer Republik, nicht kurzweg abzuweisen: „Die Weltanschauung der Demokratie ist der Relativismus." Wohlgemerkt:
Von der Demokratie insgesamt ist die Rede, nicht von Demokraten, die überzeugte und aktive Christen, Humanisten oder was immer sein mögen.
Der verhängnisvolle Irrtum Radbruchs — und mit ihm der Verfassungsväter von Weimar — lag darin, daß der Unterschied zwischen Vorletztem und Letztem, zwischen mehrheitsfähigen und nicht mehrheitsfähigen Fragen verkannt wurde. Deshalb standen die gesamte freiheitliche Verfassungsordnung und alle Grundrechte zur Disposition, falls sich nur die entsprechenden freiheitsfeindlichen Mehrheiten beschaffen ließen. Hier muß die Kampfbereitschaft, die Verteidigung der Demokratie ansetzen!
Um es am historischen Fall zu demonstrieren: Hitler interessierte sich kaum für Einzelfragen gesellschaftlich-wirtschaftlicher Veränderung. Einschlägige Programmpunkte der NSDAP waren nichts als Augenwischerei. Aber Hitler war ein Todfeind des Prinzips der Offenheit Er duldete keine Andersdenkenden und keine Reziprozität der Perspektiven im Verhältnis zu ihnen. Nur seine eigene Weltanschauung sollte allmächtig sein. Und diese Weltanschauung war in ihrem Kern wiederum nichts anderes als das Prinzip Unduldsamkeit in seinem radikalen, absoluten Gegensatz zum Prinzip Offenheit.
In diesem Sinne hat niemand so brutal, aber auch so genau sichtbar gemacht, worum es im Kampf zwischen Freiheit und Unfreiheit wirklich geht. Daraus gilt es zu lernen; daraus haben die Väter des Grundgesetzes gelernt. Es geht um die Verteidigung des Prinzips der Offenheit gegen alle seine Feinde, unter welchen Vorzeichen und Maskierungen immer sie auftreten mögen. Und es geht um nichts sonst
5. Anmerkungen zur Politischen Erziehung
Politische Erziehung ist, wie Erziehung überhaupt, ohne ihren Bezug auf Werte nicht vorstellbar. „Wertfreie Erziehung": das wäre so etwas wie ein Widerspruch in sich, ein hölzernes Eisen.
Die Frage ist nur, welche Art von Werten eigentlich gemeint ist. Geht es um letzte Werte und Wertanschauungen, um „Grundwerte"? Ich gestehe meine Skepsis ein, besonders im Blick auf alle Erziehung im Bereich des öffentlich-staatlichen Bildungswesens. Wenn wir es ernst meinen mit der Vielfalt und Verschiedenartigkeit der Überzeugungen und Bekenntnisse, dann scheint Zurückhaltung — oder Offenheit — weit eher geboten.
Gewiß: Der Erzieher kann und soll mit seiner persönlichen Überzeugung nicht hinter dem Berge halten. Max Webers Werturteilsverbot funktioniert im pädagogischen Bereich noch weniger als anderswo; es überzeugt nicht nur nicht, sondern es stößt ab. Es macht seine Sklaven verächtlich. Und es läßt junge Menschen hilflos zur Beute selbsternannter Propheten werden, die ihnen hinter jeder Straßenecke auflauern.
Doch Erziehung soll zur Mündigkeit, Selbständigkeit, zum eigenen, unabhängigen Urteil und Werturteil hinführen. Sie soll zugleich Respekt vor dem Andersdenkenden einüben. Der Erzieher muß deshalb immer auch sich zurücknehmen. Er muß Distanz zu sich selbst herstellen, sich gleichsam zunehmend überflüssig machen. Wie Kant es so schön beschrieben hat dürfen wir nicht selbster-nannte Vormünder bleiben wollen, die ihr Hausvieh dumm machen und in Gängelwagen einsperren, sondern wir sollen die uns Anvertrauten durch einigemal Fallen endlich gehen lehren.
In bewußt paradoxer Zuspitzung habe ich vom Ethos engagierter Distanz gesprochen. Ich meine: Es sollte nicht zuletzt ein pädagogisches Ethos sein. Denn jedes Engagement ohne Distanz schafft entweder Rebellen oder — schlimmer — Duckmäuser, die alles Freie und Unabhängige, alles Anderssein desto mehr hassen, je perfekter sie dessen Verdrängung verinnerlicht haben. Zurückhaltung scheint aber auch im Blick auf bittere Erfahrungen geboten. Viel zu sehr, viel zu lange und mit fatalen Konsequenzen hat man in Deutschland den Staat unter seinen jeweiligen politischen Vorzeichen als letzten und absoluten Wert behandelt, um diesen Wert in die Herzen zu senken. „Mit Gott für König und Vaterland!" „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!": In solchen Parolen nistete das Unheil, als Idealismus der Selbstlosigkeit verbrämt, das junge Menschen nicht bloß zum Hausvieh, sondern am Ende zum Schlachtvieh gemacht hat.
In der Demokratie ist dergleichen nicht mehr erlaubt. Demokratie ist kein Tummelplatz für Tugendbolde und nichts Idealisches; jede überzogen idealistische, verklärende Darstellung bereitet nur der Ent-Täuschung, der Abwendung, dem „Ausflippen" den Weg. Demokratie ist die schlechteste aller denkbaren Regierungsformen — ausgenommen alle anderen. Sie ist, als bewußte Veranstaltung des Vorletzten, immer unvollkommen, immer fehl-B bar, immer besserungsbedürftig. Ihr Menschenbild bleibt zwiespältig, skeptisch. Es ist nicht idealistisch, sondern realistisch. In den Worten des Theologen Reinhold Niebuhr: „Des Menschen Sinn für Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, seine Neigung zur Ungerechtigkeit macht Demokratie notwendig." übrigens sollten wir wohl endlich auch lernen, zwischen privaten und öffentlichen Werten und Tugenden besser zu unterscheiden. Das politische Gemeinwesen ist keine ins Unabsehbare aufgeplusterte Familie; eine Demokratie ist nicht „Gemeinschaft" — der Begriff hat lange genug Unheil gestiftet! Und der Staat lebt nicht aus der Liebe. Man sollte den bekannten Ausspruch Gustav Heinemanns, er liebe seine Frau, nicht den Staat, als Maxime verstehen. Das einzig Anstößige an ihm ist, daß er unter deutschen Vorzeichen noch immer so viel Anstoß erregen konnte.
Was aber bleibt dann? Ich meine, es bleiben vor allem praktische Verhaltenstugenden. Sie können unter dem Gesichtspunkt analysiert und begründet werden, daß sie das freiheitliche Gemeinwesen funktionstüchtig machen und funktionstüchtig erhalten: ein Gemeinwesen, in dem die vielen verschiedenartigen, sogar gegensätzlichen Interessen und Anschauungen sich miteinander eingerichtet haben.
Im Hauptteil meines Essays „Ethik und Demokratie" habe ich einige praktische Verhaltenstugenden beschrieben, die mir in der Demokratie wichtig zu sein scheinen. Boventer erteilt diesen Passagen „uneingeschränkte Zustimmung“; er selbst nennt weitere Tugenden: Wahrhaftigkeit, Tapferkeit, Klugheit, Mäßigung. Ich stimme meinerseits dieser Aufzählung ohne Vorbehalt zu. Zum Teil gibt es ohnehin Überschneidungen, so daß keine Rede davon sein kann, ich hielte es für verfassungswidrig, zu solchen Tugenden zu erziehen. Im Gegenteil: Gerade auf die positive, konstitutive Bedeutung dieser Tugenden kommt es mir an. Es handelt sich ja nicht um Letztes, sondern um Abgeleitetes: um sekundäre Tugenden des praktischen Umgangs und Verhaltens. Ihr Wert, ihr Maßstab liegt in dem, was sie für ein demokratisches Miteinander leisten.
Wahrscheinlich gibt es noch weitere Tugenden, die einzubeziehen wären. Auch Vergleiche wären wichtig, etwa mit „typisch preußischen" Tugenden, um zu ermitteln, was diese heute noch bedeuten können und was nicht. Vielleicht sollte man den praktischen Verhaltenstugenden einmal eine Serie von Monographien widmen, die jeweils eine ideengeschichtliche Ableitung, eine Funktionsanalyse, Anwendungsbeispiele und Beispiele von Vorbildern enthalten, zusammen mit Querverweisen auf verwandte Tugenden und konträre Untugenden. Sogar Modelle ließen sich dafür wohl finden, etwa das schon klassisch zu nennende „Traktat über die Klugheit" des katholischen Philosophen Josef Pieper
Die Tatsache, daß Hermann Boventer und ich im Bereich der praktischen Verhaltenstugenden so rasch und offenbar problemlos zu wechselseitiger Zustimmung gelangen können, ungeachtet aller sonstigen Meinungsunterschiede — diese Tatsache könnte übrigens selbst noch einen Hinweis zur Sache enthalten. Denn in diesem Bereich „schweigen die Waffen", weil es sich, schnöde ausgedrückt, um die „Spielregeln" handelt, die das menschliche Miteinander noch bei politischer Gegnerschaft und bei allen Unterschieden letzter Überzeugungen erlauben. Eben darin liegt ja ihr Sinn — und ihr Wert.
Wenn jedoch hier und nur hier Konsens möglich und notwendig ist, dann mag die Schlußfolgerung zwar verwegen, aber nicht ganz abwegig sein, daß eben in diesem Bereich ein oder sogar der Schwerpunkt politischer Erziehung liegen sollte.