Einleitung Welcher Trompeter spielt mit den Ohren?
Kinder stellen beim Quizspiel manchmal eine Scherzfrage: „Welcher Trompeter spielt mit den Ohren?" Die richtige Antwort muß lauten: Jeder, denn er kann sie beim Spielen nicht ablegen." Als ich Christian Graf von Krockows Beitrag „Ethik und Demokratie" gelesen hatte, stieß ich auf diesen alten Kalauer, und er schien mir sehr passend zu sein. Demokratische Politik, so lautet eine Grundthese Krockows, sei „nur in einem Horizont des Unglaubens möglich", also im Vorletzten und nicht im Letzten, wo der Glaube beheimatet ist. Ich stellte mir einen gläubigen Protestanten oder Katholiken vor, der in die Rolle eines politischen Bürgers wechselt und nun jedesmal seine Glaubens-und Wertüberzeugungen wie einen Mantel an der Haustür ablegen soll, um ein ganz und gar weltlich gewordenes Ich hervorzukehren. Geht das überhaupt? Der Trompeter, der beim Spielen seine Ohren ablegt? Ein Ungläubiger, der auch „im Letzten" nichts glaubt, wäre dann folglich von vornherein ein Privilegierter in der demokratischen Politik, weil ihn der Rollenwechsel ganz unbelastet läßt und er keine Akrobatik leisten muß, um von seinem Glauben zu abstrahieren.
Krockows Position könnte in den Verdacht geraten, die Politik für den Unglauben reklamieren zu wollen. Das will sie gewiß nicht, und das wäre auch ebenso unstatthaft wie eine Besitzergreifung der Politik durch die Religion, die aber dann nur noch Zerrform ihrer selbst wäre, wenn sie sich zur Politik „entäußert". Die Demokratie kann in einem pluralistischen Zeitalter „aus keiner Art von letzter Wahrheit" begründet werden. Darin ist Krockow beizuPflichten, daß die Verschmelzung von Tugend und Terror ihre dauernde Gefährdung wäre. Aber die Demokratie kann auch nicht am gelebten Christentum ihrer Bürger vorbeiinterpretiert werden, als ließen sich Unglauben und INHALT Einleitung Welcher Trompeter spielt mit den Ohren?
I. Zur These, demokratische Politik sei nur im Horizont des Unglaubens möglich 1. Natur und die Werte 2. Ist die Demokratie relativistisch?
3. Gläubige Politik II. Von den nichtrationalen Voraussetzungen der Politik 4. Das Wehrhafte an der Demokratie 5. Selbstliquidation der Aufklärung 6. Werterziehung im Geist der Verfassung
III. Das Christentum ist keine Ideologie 7. Offenheit und Identität 8. Christlicher Glaube keine Vernunft-religion
9. Muß Glaube dogmatisch-intolerant sein?
IV. Demokratie, als ob es keinen Gott gäbe 10. Der methodische Atheismus des Westens 11. Die Vorentscheidungen des Unglaubens
12. Gott im Grundgesetz V. Von der aktuellen Unentbehrlichkeit der Grundwerte 13. Nicht vom Brot allein 14. Politik und Ethik 15. Zur Freiheitsfähigkeit erziehen Glauben in einem Menschenleben säuberlich trennen.
Der alte Streit könnte wieder aufflammen, ob es eine christliche Politik oder nur Christen gibt, die sich in die Politik begeben. Es geht um das Verhältnis von Demokratie und christlichem Glauben, ja Religion überhaupt. Dazu hat Krockow viel Gutes und Zutreffendes gesagt, aber auch einiges, das mißverständlich ausgelegt werden kann, schließlich anderes, dem widersprochen werden soll. Dabei interessieren uns in dem aufgewiesenen Spannungsfeld von Ethik und Demokratie vor al lern die pädagogischen Folgerungen für eine politische Erziehung zu demokratischer Grundwerten und Tugenden. Krockow ha selbst eine schöne Beschreibung demokrati scher Tugenden in das Zentrum seiner Überle gungen gerückt, und so könnte man von sei nem Plädoyer gegen inhaltlich festgelegte Überzeugungsmuster überrascht sein. Liegt hier bereits ein Mißverständnis vor? Doch wil wollen uns jetzt zuerst den wichtigsten Thesen Krockows zuwenden, um dann im folgenden einige Antworten darauf zu geben.
I. Zur These, demokratische Politik sei nur im Horizont des Unglaubens möglich
1. Natur und die Werte Krockow liefert in großen Teilen einen kritischen Kommentar zur gegenwärtigen Grundwertediskussion. „Das Auseinanderfallen, also die Ungewißheit, ist dieser Zeit eigen", so zitiert er Nietzsche. „Nichts steht auf festen Füßen und hartem Glauben an sich. Man lebt für morgen, denn das übermorgen ist zweifelhaft. Es ist alles glatt und gefährlich auf unserer Bahn, und dabei ist das Eis, das uns noch trägt, so dünn geworden." Freilich, so meint Krokkow, gerät die Suche nach dem tragenden Grund in das Dilemma, sich entweder mit tönenden Leerformeln wie „Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität" abspeisen zu lassen, die, von allen beschworen, alles und nichts besagten, oder es komme, falls man nicht im Morast des „gesunden Volksempfindens" versinken wolle, zum Rückgriff auf eine vorgesehene und unverrückbare „Natur" des Menschen
Von dieser „Natur" hält er überhaupt nichts; sie ist ihm so katholisch wie suspekt, was er zwar nicht sagt, aber im Hintergrund steht die von ihm selbst zitierte „Schroffheit" Luthers oder auch die neuere Theologie Bonhoeffers, daß „ein letztes, von keinem menschlichen Sein, Tun oder Leiden zu Ergreifendes" jenes zentrale Geschehen darstellt, das die Reformation die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade allein genannt hat Krockow sieht sehr wohl, daß es hier zu Fehlentwicklungen gekommen ist und der Glaube sich oft ins Unpolitische, ins rein Geistige zurückgezogen hat. Die Berufung auf eine überempirische „Natur des Menschen" bleibt Krockow jedoch zutiefst verdächtig, denn wer so verfährt „und in sie hineinlegt, was ihm gut dünkt, der macht sich zwar in dem Sinne unangreifbar, daß er sich aller Diskussion entzieht. Aber der legt zugleich die Axt an die Wurzeln des parlamentarischen Systems und der Parteiendemokratie, weil er gegen das Handlungsrecht von parlamentarischen Mehrheiten und Parteien Tabus errichtet.“
Das ist starker Tobak für alle politischen Naturrechtsdenker, und Krockow gerät — unfreiwillig? — in die Nähe jener Kritik an der Wertphilosophie, die Carl Schmitt bereits 1959 auf einem Symposion in Ebrach in der Aussprache über ein Referat seines Schülers Ernst Forsthoff vortrug und die den Anstoß zu dem Wort von der „Tyrannei der Werte“ gegeben hat Für den evangelischen Theologen Eberhard Jüngel, der an Carl Schmitt anknüpft, ist der Wertbegriff „ein Gegenbegriff zum Begriff der Wahrheit", und weil „aus der Wahrheit leben“ im Evangelium gleichbedeutend ist mit „in der Liebe existieren“, zeigt sich, „daß das christliche Ethos keine Orientierung an einer Wertethik kennt“
Die protestantische Gegenposition zu einer starren Normenethik ist verständlich, und sie wird manchmal mit der evangelischen Ethik schlechthin identifiziert, die sich seit Luther vom naturrechtlichen Denken abgelöst hat, um die Situationsbezogenheit der ethischen Urteile zu betonen. Die Gemeinsame Erklärung der beiden Kirchen „Grundwerte und Gottes Gebot" hat aber verdeutlichen können, daß diese Gegensätzlichkeit nicht mehr gilt. Auch die evangelische Seite nennt in der zweiten Tafel des Dekalogs bestimmende Maßstäbe, die für das Leben jedes Menschen gelten. Der evangelische Theologe Martin Honecker illustriert diesen Sachverhalt, wie die konfessionellen Standpunkte der ethischen Argumentation sich angeglichen haben, an dem berühmten Augustinus-Wort: „Dilige, et fac, quod vis" — „Liebe, und tue, was du willst.“ Oft werde der Satz so gedeutet, als sei es dem jeweiligen Belieben überlassen, was man tut: Tue, was dir beliebt. Gerade so habe das Augustin aber nicht gemeint. Vielmehr zeige der Kontrast eindeutig, daß das „Quod“, das „Was“ des Tuns bei ihm gerade nicht beliebig sei. Das Quod ist das Bonum, das Gute. Richtig zu übersetzen wäre also: „Liebe, und dann tue, was du als das Richtige erkannt hast.“
Zurück zu Krockows Thesen. Er sieht es ungern, daß man sich mit Grundwerten „wie mit Keulen" bewaffnet, um damit auf den parteipolitischen Gegner einzuschlagen und ihn, wenn irgend möglich, an oder sogar über den Rand der Verfassungsordnung zu drängen: „Entsteht dann statt des demokratischen Konflikts und Konsenses nicht das Freund-Feind-Verhältnis eines latenten Bürgerkrieges?“
Auf der vorhergehenden Seite hatte Krockow den Staatsrechtslehrer Carl Schmitt mit seiner — relativistischen! — Rechtfertigung der Mordserie des Röhm-Putsches unter dem Titel „Der Führer schützt das Recht“ zitiert Dieses abschreckende Beispiel aus der nationalsozialistischen Zeit, was mit dem Recht geschieht, wenn es der Beliebigkeit ausgeliefert wird, veranlaßt Krockow dazu, sich für unserere wehrhafte Verfassung auszusprechen. Sie hat dem Rechtspositivismus einen Riegel vorgeschoben und den „Wesensgehalt“ der Grundrechte für unantastbar erklärt. Die Frage ist, ob Krockow dann noch so ohne weiteres die Werteethik in die Nähe des Jakobi-ner-Worts vom Terror rücken kann, wie er das öfter tut, ohne damit die Absichten derer, die für ein öffentliches Bewußtwerden der sittlichen Grund-und Verfassungswerte eintreten, aufs gröbste zu verzeichnen. 2. Ist Demokratie relativistisch?
Die Attacke gegen die Grundwerte liefert den nötigen Hintergrund für eine weitere These Krockows. Es sei nicht auszuschließen, so meint er, daß die mit ihren Prinzipien gepanzerte, mit dem scharfen Schwert unverrückbarer Grundwerte bewaffnete Demokratie in ein ähnlich auswegloses Dilemma geraten könnte wie ihre wehrlose, schmählich gemordete Weimarer Schwester: „Kann man die Freiheit nicht auch zu Tode schützen, nachdem man sie einst selbstmörderisch preisgegeben hat?“ Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Krokkow darin, „wenn das, was in der Demokratie wehrhaft absolut gesetzt wird, die Offenheit selbst ist“ Diese wehrhafte Absolutsetzung der Offenheit sei unter der Bedingung möglich, daß der Begriff der Menschenwürde zum Fundament gemacht werde, wie es Artikel 1 des Grundgesetzes getan habe.
Nun heißt es in diesem Artikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Es steht nicht dort, die Offenheit sei unantastbar! Krockow wehrt sich immer wieder gegen jede vorgegebene und verordnete „Natur", und Demokratie werde nur dann möglich, sie sei nur dann notwendig, „wenn anerkannt wird, daß es keine inhaltlich bestimmten Sinnkonstruktionen oder Überlieferungen mehr gibt, auf die alle verpflichtet und über die alle einig sind, daß man vielmehr in einer Vielfalt der Wert-und Wahrheitsvorstellungen sich miteinander einzurichten hat, ohne einander zu verfemen, zu verfolgen und zu vernichten". Insofern sei Demokratie in der Tat relativistisch und müsse es sein, als sie nicht aus „der Wahrheit" lebt, sondern aus der Suche nach Wahrheit und der Möglichkeit des Dialogs über sie. Krockow sagt in sarkastischer Zuspitzung, die Grundwerte seien „verfassungswidrig", sofern sie, vom Staat verbindlich gemacht, inhaltliche Festlegungen meinten. Deshalb: Absolute Offenheit als „die Fähigkeit und das Recht jedes einzelnen, selbst über seine grundlegenden Werte und Wahrheiten zu befinden und zu entscheiden, wie und wohin er sein Leben im Letzten führen will“ Dies setzt ein hohes Maß an Vernünftigkeit und Gewissensethik voraus. Ich — ich selbst! — befinde über meine grundlegenden Werte und Wahrheiten und entscheide, wie und wohin ich mein Leben führen will. Wer kann das tatsächlich leisten? Ist das meiste, was wir diesbezüglich vorfinden, nicht längst vorgegeben und somit anzunehmen oder nicht? Sind wir nicht ebenso stets auch Geführte, die sich nicht selbst verdanken? In den Aufruf zur radikalen Liberalität ist ein aufklärerisches Vernunft-und Freiheitspathos eingeflossen, das uns wenig realitätsgerecht vorkommt. Auf das Verhältnis zur Aufklärung wird noch zurückzukommen zu sein. Krockow: „Nur wo im Gebälk der Verfassungsordnung keine Kirchenglocken hängen, die man erst zum Sturm läuten und dann zu Geschützen und Granaten umschmelzen kann, dort und nur dort bleibt die Verfassung ein Angebot der Freiheit: ein Angebot nicht allein der Legalität, sondern auch der Legitimität für Progressive und Konservative gleichermaßen." Also doch Voltaire? 3. Gläubige Politik Die Zwei-Reiche-Lehre schimmert durch. Krockows Denken -ist von der reformatori schen Theologie und der von ihr ausgegangenen Säkularisierung bestimmt. Er will nicht zum „Unglauben" auffordern, sondern die Politik davor bewahren, daß sie mit Ideologien befrachtet wird, die ihre fundamentale Offenheit — sprich: Freiheit — ersticken. Das ist ein löbliches Unterfangen, aber ich fürchte, es wird mit untauglichen Mitteln betrieben. Was als „Unglauben“ apostrophiert wird, ist in Wirklichkeit ein aufklärerischer und vollends säkularisierter Humanismus, der nach wie vor seine „letzten“ Kräfte aus abendländisch-christlichen Wurzeln saugt.
Mit Dietrich Bonhoeffer umschreibt Krockow das Spannungsverhältnis von „Vorletztem" und „Letztem" — oder auch von Unglauben und Glauben. Läßt sich diese zweifelsohne vorhandene Dialektik so exakt passend auf die Politik als „vorletzten", den Glauben als „letzten" Bereich projizieren? Nach Krockow ist eine menschliche Politik nur in der Beschränkung aufs „Vorletzte" möglich. „Denn jede gläubige Politik zielt aufs Letzte: das Menschheitsheil schlechthin, das garantierte Glück. Sie glaubt an das Endziel und daran, es erreichen zu können." Demokratische Politik — dieser Kerngedanke kehrt häufig wieder — sei nur „in einem Horizont des Unglaubens möglich"
Was versteht Krockow unter diesem Unglauben? Ist jemand angesprochen, der nichts glaubt und nichts für wahr hält, was jenseits des Erforschbaren liegt? Ist der Atheist gemeint? Können wir demokratische Politik nur als . Atheisten" treiben? Oder sind ganz einfach alle angesprochen, die ihren Glauben — und was immer dafür steht — an der Garderobe ablegen, um dem politischen Theater beizuwohnen? „Gläubige Politik", darin ist Krockow beizupflichten, ist sicherlich ein Unding und gefährlich noch dazu, weil sie totalitäre Neigung hat.
Krockow spricht von der „gefährdeten Säkularisation" und gibt ihr seine Sympathien, „etwas, was der sorgsamen Zurüstung und Verteidigung bedarf, um freiheitliche Politik in einem Horizont des Unglaubens möglich zu machen“ Die Säkularisation als „conditio sine qua non" aller Demokratie? Diesen Gedankengängen ist weiter nachzugehen. Krockow verkennt auch nicht die anthropologische Konstante, daß der Mensch eine Sehnsucht nach Gewißheit hat und daß er auf der Suche nach Sinn ist, „über die Endlichkeit des Individuums hinaus“
Am Ende seines Aufsatzes stellt sich Krockow selbst — seiner Sache wohl nicht ganz sicher — jene Fragen, die uns weiterführen können und die wir später wieder aufgreifen wollen: „Ist ungläubige Politik ohne ihre Spannung zum Glauben hin auf die Dauer möglich? Muß sie, als Vorletztes absolut genommen, nicht im Opportunismus verdorren und am Letzten scheitern?" Er fügt dann ein Bibelwort hinzu: „Wo keine Weissagung ist, wird das Volk wild und wüst."
II. Von den nichtrationalen Voraussetzungen der Politik
4. Das Wehrhafte an der Demokratie In einer Reihe von Antworten wollen wir jetzt auf die von Krockow aufgeworfenen Fragen eingehen. Freilich werden auch diese Antworten wieder neue Fragen aufwerfen. Eine erste Antwort könnte lauten: Die Politik muß nicht-rationale, nicht zur Disposition stehende Voraussetzungen anerkennen; sonst zerstört sie sich selbst.
Unser Staat ist durch seine Verfassung ein wertgebundenes Gemeinwesen. Ich vermag nicht zu sehen, wie „in einem Horizont des Unglaubens" die Unantastbarkeit der Menschenwürde als oberstes und absolut gesetztes Verfassungsprinzip vor dem Zugriff eines relativistischen Rechtspositivismus ä la Weimar zu retten sein soll. Krockow beginnt seinen Beitrag mit dem Radbruch-Zitat: „Die Weltanschauung der Demokratie ist der Relativismus.“ Entsprechend hat die Weimarer Reichsverfassung jederzeit zur Disposition des Gesetzgebers gestanden, und die nationalsozialistische Machtergreifung kam tatsächlich „streng legal“ zustande, wenn man diese Argumentation übernimmt. Krockow tut es nicht; er bringt den Gedanken der streitbaren oder wehrhaften Demokratie, um dann allerdings zu fragen: Darf man die Entscheidungen einer bestimmten historischen Situation — gemeint sind die Jahre 1948/49 — absolut setzen und gleichsam „auf Ewigkeit“ stellen? Darf das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eigentlich so in den Arm fallen und aus dem Grundgesetz inhaltliche Entscheidungen ableiten, wie das seither praktiziert wird? Wenn man die „wehrhafte Absolutsetzung der Offenheit“, die Krockow fordert, zu Ende denkt, braucht es fürderhin kein Bundesverfassungsgericht zu geben, denn jedermanns Grundwerte und Grundwerteinterpretation sollen doch gelten und ins politische Leben einfließen können. Und — überspitzt formuliert — dann wäre auch „die“ Menschenwürde verfassungswidrig, weil sie inhaltlich festlegt und bindet, was nicht gebunden werden darf.
Die grundrechtlich geschützte Offenheit, die Krockow zum Super-Wert erklärt, kann nur dann ein leistungsfähiges System erbringen, wenn sie eine hochentwickelte Vernunftkultur zur Voraussetzung hat und eine so starke Bindung — „religio" — an die Vernünftigkeit der gesellschaftlichen Prozesse aufweist, daß wir zutreffender von einer Vernunftreligion sprechen sollten. Dem politischen Amokläufer, einem Hitler oder Stalin, will Krockow gewiß keine „Offenheit“ für ihr selbstmörderisches Werk zugestehen. Muß es also doch Tabuzonen für Vernunft und Aufklärung geben, an denen die „Offenheit“ sich reibt und woran sie sich definiert?
Das Wehrhafte unserer Demokratie liegt darin, daß sie den Feinden der Freiheit keine Freiheit gewährt. Das System hat sich eine hohe Selbstbindung und Selbstverpflichtung auferlegt, als es Grenzen der politischen Toleranz markierte, weil Demokratie und demokratische Toleranz auf verhängnisvolle Weise ausgenützt worden sind, das liberal-demokratische Legalitätsprinzip zu annektieren und ins Gegenteil zu verkehren. Dennoch ist das liberale Marktmodell der Demokratie, daß die Parteien im Staat frei um die politische Verantwortung konkurrieren, auch im Konzept der streitbaren Demokratie erhalten geblieben, solange sie sich als eine „Demokratie der Courage“ versteht
Für eine grenzenlose Offenheit sehe ich allerdings unter diesem Verfassungsprinzip keinen Platz. Freilich lebt der demokratische Staat aus geistigen und sittlichen Voraussetzungen, die er nicht selbst schaffen kann und darf. Dies macht seine besondere Anfälligkeit für die Wechselbeziehungen zwischen der staatlichen und ethischen Kultur aus; ist diese gefährdet oder geschwächt, dann werden sich auch Brüche in der staatlichen Ordnung zeigen. Der freiheitliche Staat bleibt auf das ethische Gewissen seiner Bürger angewiesen, aber er kann sich auch selbst nicht von aller „Sittlichkeit" freisprechen und mit Ethik nichts gemein haben wollen. Die Grundsituation einer solchen Gesellschaft ist immer prekär und labil. 5. Selbstliquidation der Aufklärung Wie die Aufklärung sich selbst liquidiert, das ist kürzlich bei einem Kongreß „Aufklärung heute: Bedingungen unserer Freiheit" in München in einer Reihe von Darlegungen erörtert worden. Zu den eindrucksvollsten Refera-ten gehörte dasjenige von Robert Spaemann, der als Philosoph über die nichtrationalen Voraussetzungen des Vernunftgebrauchs gesprochen hat. Der erste, der die Dialektik einer sich selbst aufhebenden Aufklärung durchschaut habe, sei Nietzsche gewesen, als er schrieb, „daß auch wir Aufklärer, wir freien Geister des 19. Jahrhunderts, unser Feuer von dem Christenglauben nehmen, der auch der Glaube Platons war, daß Gott die Wahrheit, daß die Wahrheit göttlich ist". Nietzsche war der Meinung, daß die Aufklärung notwendigerweise auch diese ihre eigene Voraussetzung destruieren und damit den Nihilismus herbeiführen werde. Spaemann folgert daraus für unsere Gegenwart: „Unsere westlichen Gesellschaften stehen heute vor der Alternative, das Prinzip Aufklärung von den Überzeugungen, die es tragen, abzukoppeln und es seiner Selbstliquidierung zu überantworten, oder sich auf jene Überzeugungen und Einsichten zu besinnen, die den Zusammenhang von Vernunft, Wahrheit und Menschenwürde betreffen.“
Diesen Zusammenhang möchte Krockow für die Demokratie aufgehoben wissen, damit es nicht zu einer „gläubigen Politik" kommt. Theologisch gesprochen sei eine solche Politik in ihrem Grunde eschatologisch bestimmt. Parusieverzug könne sie nicht beirren. Krockow: „Wenn es aber ums Menschheitsheil schlechthin geht, dann gibt sich jeder, der sich widersetzt, als der Menschheitsfeind zu erkennen, der entweder bekehrt oder verfolgt, ausgestoßen, ausgemerzt werden muß. So gesellt sich im radikalen Freund-Verhältnis zur Tugend der Terror, zum Endziel die Endlösung." Nur auf solche Weise glaubt Krockow — und das sei es, „worum es eigentlich und in der Tiefe geht" — das Bindungs-und Spannungsverhältnis von Vorletztem und Letztem, von Unglauben und Glauben erfahrbar machen und erhalten zu können. Krockow hält es für eine Brechung dieses Spannungsverhältnisses der Welt zum Glauben, wenn sogenannte „Wahrheiten", die glaubensmäßig begründet sind, das Ganze überwölben und in die demokratische Politik hineinwirken, die in jedem Falle metaphysik-frei zu halten sei und deren Diesseitigkeit total sein müsse.
Spaemann sieht es anders und meint, daß die fundamentalen Einsichten, auf die sich eine Vernunftkultur wie die Demokratie begründet, nicht diskursiv vermittelt werden könnten: „Sie sind für die Bereitschaft zum Diskurs schon vorausgesetzt. Ihre Gewinnung kann erleichtert oder erschwert werden durch Traditionen, durch Erziehung, durch Umgangserfahrungen. Ihren Kern bildet die Religion. Sie ist es, die lehrt, den Menschen als heilig anzusehen. Es gibt kein voraussetzungsloses, diskursives Argument gegen Folter oder Mord, wie Horkheimer stets mit Nachdruck betont hat." Wo die Überzeugungen der Menschen von Freiheit, Menschenwürde und Wahrheit unverbunden neben seinen wissenschaftlichen, politischen oder sonstigen Ansichten oder sogar im Widerspruch mit diesen stehen würden, da sei es mit ihnen schlecht bestellt, meint Spaemann. Da könne der einzelne zwar instinktiv an ihnen festhalten, aber sie hörten auf, tradierbar zu sein und könnten sich sozusagen nur subkulturell behaupten. 6. Werterziehung im Geist der Verfassung Wie wären die Schule und ihr politischer Unterricht davon betroffen, wenn die Überzeugungen der Menschen von Freiheit, Menschenwürde und Wahrheit „privatisiert" und vom politischen Leben abgekoppelt würden? An Bestrebungen solcher Art hat es in den letzten Jahren nicht gemangelt, aus dem „Dezisionismus" der alten Lehrpläne herauszukommen und einen wertfreien Unterricht auf wissenschaftlicher Basis einzuführen. Das Curriculum als ein fugenlos durchkonstruiertes System von Lernfolgen gab einer Pädagogik, die vom Deutschen Bildungsrat in seinem Strukturplan auf „Wissenschaftsorientierung" festgelegt wurde, den notwendigen Rückhalt daß nun auch in der Schule der Fortschritt angebrochen sei. Deshalb war es kaum verwunderlich, daß die Fragen nach einer neuen Ethik für die Schule solange ins Leere gehen mußten, als sie sich „wissenschaftsorientiert" verstand, im Schüler eine „wissenschaftliche" Haltung hervorzubringen. Damit, so glaubte man, sei der junge für ein vernunftgeleitetes Verhalten in der Welt ausgestattet Von Moral war überhaupt keine Rede mehr; sie ergab sich sozusagen von selber aus dem Geist der Wissenschaftsschule: Pädagogik als Technologie. So machte die Technisierung des Menschlichen im Unterricht die früheren Steuerungskräfte der Ethik und des Gewissens überflüssig. Der programmierte Politik-unterricht konnte auf seine didaktische Präskription stolz sein und jeglicher „Werte“ entbehren. Ethik und (politische) Pädagogik hatten nichts mehr miteinander gemein. Inzwischen ist der Wnd umgeschlagen, und wir sprechen wieder von der Ethik, vom Vertrauen, von der sittlichen Erziehung im Politik-unterricht und von einer Pädagogik „im Geist der Verfassung“. Auffallend war es ja immer, daß diejenigen, die für einen „wissenschaftsorientierten" Unterricht eintraten, ihn gleichzeitig „emanzipatorisch" verstanden wissen wollten, womit sie gleich zwei Ideologien auf einmal aufgesessen sind.
Ein jüngstes Beispiel dafür ist ein Aufsatz, der neben dem Politikunterricht gleich auch die diesbezügliche Verfassungstreue des Lehrers „wissenschaftlich" zu begründen sucht. Der Autor Hagen Weiler hat die „Kriterien wissenschaftlich-verfassungstreuer Verfahrensformen des Lehrers im politischen Unterricht" auf folgende Weise zusammengefaßt: „Es dürfen nur Kenntnisse und Erkenntnisse vermittelt werden, welche sich wissenschaftlich begründen lassen können. Alternative, ebenfalls wissenschaftlich begründbare Positionen dürfen nicht unterdrückt werden (Indoktrinationsverbot). Der Unterricht hat sich auf (Er) kenntnisfindung, -dikussion und -Vermittlung zu beschränken, d. h. auf unmittelbar tätige, praktische Umsetzung in die Wirklichkeit zu verzichten (Agitationsverbot)." Mit solchen durch die Schulaufsicht wahrzunehmenden Leitlinien soll nach Meinung des Verfassers ein Politikunterricht „im Sinne des Grundgesetzes" gewährleistet sein.
„Unterdrückt" werden müßte dann folglich jedwede Intention, die Schüler mit „Werten" zu identifizieren. So etwas sei „als wissenschaftlich und verfassungsrechtlich unzulässig anzusehen", resümiert der Autor Mit anderen Worten, wer einen jungen Menschen auf Wahrhaftigkeit, Tapferkeit, Klugheit, Mäßigung zu verpflichten sucht, handelt verfassungswidrig. Jede sittliche Erziehung ist ausgeklammert, es sei denn eine solche, die sich „wissenschaftlich" begründen läßt, aber wo gibt es die denn, außer bei denjenigen, die glauben, sie sei so „wissenschaftlich", wie sie es haben möchten! Die Vokabel von der „Emanzipation"
ist da wenigstens ein gerüttelt Maß ehrlicher gewesen.
Ich meine, die politische Bildung in unserem Land muß sich zum politisch Guten bekennen, das werthaft in unserer Demokratie enthalten ist, damit das Verpflichtende einer demokratischen Ethik vermittelt werden kann. Doch was ist das Gute? Krockows Überlegungen, wichtige demokratische Tugenden wie Kompromißbereitschaft, Mäßigung, Konfliktfähigkeit, Sensibilität für Spielregeln, Vertrauen und Mißtrauen zu rehabilitieren, verdienen in diesem Zusammenhang die uneingeschränkte Zustimmung, und die sogenannten Grundwerte, denen er skeptisch begegnet, lassen sich pädagogisch kaum besser abstützen, mögen wir uns auch über „Letztes“ und „Vorletztes" streiten.
Darf es in einer Demokratie nichts mehr geben, das wir verehren und bewundern? Auf das allen zumutbare Minimum einer demokratisch-humanen Ethik können und wollen wir nicht verzichten. Es gehört in die öffentliche Schule. Eine Jugend, der wir nicht gesagt haben, daß man seine Heimat und sein Land lieben muß, wenn man sie „besitzen" will, der wir vorenthalten haben, daß die Demokratie auf die geistige Wertschätzung ihrer Bürger angewiesen ist, wird uns eines Tages wegen dem anklagen, was wir ihr vorenthalten haben.
Die Schule darf diese erzieherische Aufgabe, schreibt Bernhard Sutor mit vollem Recht, „sowohl um des Schülers als auch um der Gesellschaft willen nicht vernachlässigen. Die öffentliche Schule darf nicht zu einem Konglomerat nur noch an . wertfreier'Wissenschaft orientierter Fächer werden und so die Schüler in ethischen Fragen orientierungslos lassen. Sie muß bereit und in der Lage sein, ethische Orientierungen aufzuzeigen und zu vermitteln." Theodor Wilhelm, der nach 1945 unter dem Pseudonym Friedrich Oetinger das Partnerschaftskonzept für die politische Bildung entwickelt hat, kommt unter anderen Voraussetzungen zu ähnlichen Schlußfolgerungen wie Sutor Wilhelm rügt, daß wir die „Innenausstattung" des Menschen in der politischen Bildung vernachlässigt und daß wir das Wechselverhältnis von sittlicher Erziehung und politischer Bildung nicht genügend durchdacht hätten. Einen Lebensplan haben, Ideale haben und sie von Utopien unterscheiden können, sich selbst etwas Zutrauen, überhaupt sich verantwortlich fühlen und Ideen wie Gerechtigkeit oder Freiheit in die „Perspektive" eines jungen Menschen einrücken: Sollte dies alles nichts mit politischer Bildung zu tun haben?
III. Das Christentum ist keine Ideologie
7. Offenheit und Identität Das Christentum ist zwar nicht ganz unschuldig am Entstehen ideologischer Verhaltensweisen, aber christlicher Glaube und christliche Lebensregeln verstehen sich nicht als Ideologie neben Ideologien; sie würden sich damit selbst aufgeben.
Mit Krockow können wir darin übereinstimmen, daß eine ungebührliche Verschiebung religiöser Maximen in den Bereich politischer Institutionen diese selbst in ihrem freiheitlichen und pluralistischen Bestand gefährden. Die einzelnen Kulturbereiche, zu denen auch die Politik gehört, haben eine relative Eigenständigkeit. Für die katholische Kirche hat das Zweite Vatikanische Konzil diese Autonomie verschiedener Sachbereiche ausdrücklich hervorgehoben und sich dadurch dem reformatorischen Konzept der Weltlichkeit unserer Welt angenähert. Das Konzil hat gleichzeitig jeden Versuch zurückgewiesen, den christlichen Glauben zu einer Ideologie „verkommen" zu lassen, indem ein Sonderinteresse durch ein Allgemeininteresse, das außerdem noch vorgetäuscht ist, legitimiert werden soll.
Krockows Argumentation stützt sich in erheblichem Maße auf die Prämisse, daß Glaubensüberzeugungen, die sich aus dem Letzten „ins Vorletzte" begeben, ein ideologisches Sonderinteresse durchzusetzen versuchen, das totalitärer Natur sei und leicht in Unduldsamkeit und Terror umschlägt. Für ihn selbst stellt die politische Theologie ein solches Muster an ideologisiertem Christentum dar. Er läßt aber auch immer wieder durchblicken, daß er die (vor allem katholischerseits forcierte) Grundwertedebatte unter den Ideologieverdacht stellt, wobei nicht unbedingt der Betrugscharakter hervortritt, aber es werden Vorgänge verschleiert, mit denen sich ein konfessionelles Sonderinteresse als ein allgemeines zu legitimieren sucht. So etwa könnte man das Ideologische definieren, indem stets ein Teil für das Ganze genommen und die Wirklichkeit nur ausschnitthaft wahrgenommen wird. Der Jesuitenprofessor Walter Kern, dessen Definition wir übernehmen, folgert daraus: „In dieser illegitimen Verabsolutierung des Relativen scheint das entscheidende Moment der Ideologisierung zu liegen.“
Genau dies, so scheint es mir, widerfährt dem Prinzip der Offenheit, das Krockow in der demokratischen Politik absolut gesetzt wissen möchte, nachdem er alle anderen Absolutheitsansprüche aus dem Tempel getrieben hat Offenheit ist sicherlich ein wichtiger Teilaspekt des demokratischen Verfahrens, aber so wie die Freiheit durch die Gerechtigkeit, das Sozialstaatsprinzip durch das Rechtsstaatsprinzip in unserer Verfassung ausbalanciert werden, so wird sich auch die Offenheit begrenzen lassen müssen. Die totale Offenheit, das ist das Nichts. Das wäre der völlige Ausfall jeder Identität, denn diese besteht ja gerade — beim einzelnen Menschen ebensogut wie bei einer Staatsgemeinschaft — in, der Anerkennung nicht manipulierbarer Werte und Ziele. Die Identität einer Verfassung ist nicht beliebig dehnbar in eine grenzenlose Offenheit hinein. Ebensowenig wie man die Verfassung allein aus den punktuellen Zeitumständen ihres Entstehens interpretieren, kann, so läßt sie sich auch nicht nur als eine Projektion auf Zukünftiges betrachten. In der Kontinuität, daß die Verfassungsnormen ihren Charakter trotz aller Einbrüche und Reibungen annähernd durchhalten, liegt die Chance der Identität und Verläßlichkeit Manfred Hättich schreibt: „Umfassende politische Rationalität versteht Verfassung auch als Ethos. Ich meine Ethos als Verortung — als Ort vertrauten und gesicherten Umgangs — als Ort verabredeter Lebensvollzüge — als Gewährleistung sozialer Kontinuität — als Heimat. Heimat als Notwendigkeit besagt vor allem auch, daß der Mensch auf Lebenskreise der Verabredung angewiesen ist. Verabredungen werden tradiert, aber auch immer wieder neu getroffen. Soziale Kontinuität bedeutet Verläßlichkeit." 8. Christlicher Glaube keine Vernunftreligion Der Ideologiebegriff ist von uns als Negativ-begriff eingeführt und verstanden worden, was dem üblichen Gebrauch entspricht. Wir verstehen also nicht irgendeine „Ideenlehre" darunter, sondern der Ideologie haftet das kämpferische Moment des Ausschließlichkeitscharakters an; sie will erobern und besiegen. Sie macht ihre Gegner zum Feind. Die Wissenschaft muß das Religiös-Weltanschauliche ebenso bekämpfen wie es die Aufklärung tut; beide kommen vom Stamm der Säkularisierung. Dem wissenschaftsorientierten Denken erscheint jede Glaubenswahrheit als das Subjektive schlechthin, das die Menschen trennt und außerdem die Gegensätze unter den Gruppen verstärkt; es wäre besser, man könnte den religiösen Dogmatismus eliminieren. Einem aufklärerischen Denken erscheint der religiöse Wahn als der ärgste Feind des Fortschritts; es gilt, in allen Lebensbereichen der Rationalität zum Durchbruch zu verhelfen und die Ideologien zu verabschieden. An deren Stelle soll eine kühle und distanzierte Vernunft treten, die solange Wert Wert, Weltanschauung Weltanschauung sein läßt, als sie sich einander tolerieren — und dadurch letzten Endes in ihrer öffentlichen Geltung aufheben. Krockow meint, vielleicht könnte man das, was Demokratie und offene Gesellschaft erfordern, in bewußt paradoxer Pointierung bezeichnen als: ein Ethos der engagierten Distanz
Eine Zurücknahme der Säkularisierung des Politischen erscheint uns heute weder möglich noch wünschenswert Demokratie und Glaube müssen in diesem kühlen, distanzierten Verhältnis zueinander bleiben, wo sie einander respektieren, ohne daß sie radikal Geschiedene wären, wie es Krockow auffaßt. Dabei ist unverkennbar, daß Aufklärung „gerade in der sich säkular verstehenden Demokratie in ein Spannungsverhältnis zu institutionalisierten Formen der Religion, vor allem des christlichen Glaubens geraten muß. Die Konfliktzone liegt beim universalen Wahrheitsanspruch kritischer Rationalität und bei der darin begründeten missionarischen Tendenz.
Das Konzept voll säkularisierter Staatlichkeit kommt nur dann an sein immanentes Ziel, wenn sich auch Religion früher oder später dem Kriterium der kritischen Vernunft unterwirft, also nur wissenschaftliche Rationalität und meßbare Erfahrungen für sich gelten läßt, oder wenn Religion sektenhaft, ohne institutionelle Großorganisation auftritt, den Anspruch der von ihr verkündeten Wahrheit erheblich reduziert und sich selbst privatisiert."
Beides, so folgert der Theologe Karl Forster, können christliche Kirchen nicht als Leitbild ihres eigenen Selbstverständnisses akzeptieren. Der christliche Glaube ist keine Vernunft-religion, die des irrationalen Rückgriffs auf Offenbarung und Tradition entbehren könnte und sich als humanitär-soziale Weltgestaltung interpretiert. Forster meint, Religion könne nicht nur und auch nicht fundamental Moral-system oder Kontingenzbewältigungspraxis sein. Religion sei Gewißheit übersinnlicher Wirklichkeit und Antwort auf die Wirklichkeit im ganzen. Darin wäre auch die politische Wirklichkeit einzuschließen. In der in Jesus Christus vollendeten Offenbarung Gottes, so fügt der christliche Theologe hinzu, hatte Gott selbst die Antwort auf die Wirklichkeit im ganzen mitgeteilt.
Was ergibt sich daraus für das weltliche und politische Handeln des Christen? Die Freiheit des Gewissens, der Religion, der Vernunft wird von der in Jesus Christus mitgeteilten Offenbarung geradezu gefordert. Das Christentum hat immer wieder Anlaß gegeben, daß diese Freiheit in einem Prozeß der Ideologisierung verschüttet und vergraben wurde. Die Aufforderung zum Dienst bleibt jedoch bestehen, „in der Dimension des um freie Annahme werbenden Bezeugens der Offenbarung Gottes in Jesus Christus und in der Dimension des freien, vom Glauben getragenen Dienstes der zwischenmenschlichen Liebe in der Nachfolge Jesu Christi". Forster setzt hinzu, daß dazu besonders in einer sich säkular verstehenden Demokratie auch der Dienst gehört, mit dem sich Christen gläubig orientiert aus eigenständiger Verantwortung an den gemeinsamen Aufgaben in Staat und Gesellschaft beteiligen. Die besondere Herausforderung des christlichen Glaubens und der Kirchen am Ende einer weit vorgedrungenen Vernunftreligion könne es nur sein, sich so gut es geht als Antwort auf religiöse Fragen, als Lebensraum religiöser Erfahrung, als personale Identität ermöglichende Orientierung und als Metasystem sozialer Kommunikation verständlich und zugänglich zu machen und dabei zugleich keinen Zweifel am eigenen Grund und Auftrag entstehen zu lassen. Forster: „Glaube und Kirche werden dabei in Konflikte und Konkurrenzen zu anderen Systemen einer umfassenden Sinndeutung und auch zu denen geraten, denen zumindest außerhalb des Rahmens privater Individualität religiöse Orientierungen verdächtig oder odios sind. Solche Konflikte müssen im offenen Dialog und im freien Wettbewerb der Lebensgestaltung bestanden werden." Mit diesem Pluralismuskonzept wird sich Krockow kaum anlegen wollen. Auch er spricht vom offenen Dialog, von der Wahrheitssuche der je unterschiedlichen Kräfte des demokratischen Zusammenspiels, aber daß sich „Christen gläubig orientiert" in die Politik begeben und solchermaßen ihre Orientierungssysteme in das politische Konzert einbringen: wäre auch das noch mit einer Demokratie „im Horizont des Unglaubens" vereinbar? Noch einmal Forster: „Da der christliche Glaube das Bemühen der Menschen um die Aufgaben in dieser Welt freisetzt und zugleich in den Sinn-und Zielfragen nicht orientierungslos läßt, vermag er das unverzichtbare Erbe der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte zu schützen und zugleich einen Weg über dessen selbstgeschaffene Grenzen hinaus zu eröffnen." 9. Muß Glaube dogmatisch-intolerant sein?
Vom Glauben und vom Gläubigen, der sich in die Politik mischt, wird nichts Gutes erwartet. Das ist zweifelsohne ein aufklärerisches Vorurteil. Wenn man genau hinsieht, ist es auch ein unwissendes Vorurteil, denn es gibt in unserer Gesellschaft trotz aller Orientierungskrisen immer noch ein breites Maß an Übereinstimmung in ethischen Selbstverständlichkeiten, das wir nur im geschichtlichen Zusammenhang mit christlichem Glauben und christlichen Lebensregeln interpretieren können. Die Freiheitsgeschichte, darauf wurde schon hingewiesen, ist nicht denkbar ohne das Christentum. Dessen Universalitätsanspruch hat einen Dogmatismus hervorgebracht, der nicht selten ins Weltliche umgeschlagen ist. Ebenso richtig ist es aber auch, daß aus denselben Gründen die „Mächte und Gewalten" eines selbstherrlichen menschlichen Behauptungsund Durchsetzungswillens im Namen des Christentums entmachtet wurden. Walter Kern schreibt hierzu: „Der Schöpfungsglaube wird durch die in Jesus Ereignis gewordene Erlösung unvergleichlich dringlich: Jesus stirbt und lebt für die neue Gemeinschaft der Menschen, die niemanden ausschließt, schon gar nicht die Randexistenzen und Deklassierten, die Armen und die Sünder, die Zöllner und Dirnen. Christsein wird gleichbedeutend mit einem Gemeinschaft-Stiften und einem Gemeinschaft-Halten, das keine Unterschiede macht — oder das den Geringeren bevorzugt. Der — harte! — Inbegriff der Botschaft Jesu lautet: „Seid barmherzig, so wie euer Vater barmherzig ist!"
Die Verfälschungen der Botschaft sind bekannt; aber berechtigen sie dazu, vor dem Glauben und den Gläubigen in der Politik solchermaßen warnen zu müssen, daß der kategorische „Unglaube" erklärt wird? Krockow mag das Richtige meinen, aber indem er ein Prinzip auf die Spitze treibt, verkehrt es sich ins Gegenteil. Für ihn ist jeder Glaube apriori ein dogmatisch-intolerantes Element, sofern er sich nicht „aufs Letzte" bescheidet. So kann der Glaube beschaffen sein, aber er muß es nicht sein. Er kann ungeheure Kräfte im Menschen freisetzen, die seiner politischen Handlungsfähigkeit zugute kommen und es wenig geraten sein lassen, ihn von solchen Quellen abzuschneiden. Das Mißverständnis von Religion, daß der Glaube aus der eigenen Konsequenz stets um-schlägt und ausartet in Dogmatismus, Unduldsamkeit und Ideologie, beruht auf einer Fehlinterpretation von Glaube und Religion. Gott-sein bedeutet für den Christen Unbegreiflichkeit, das Unverfügbare und Unerforschliche. Entscheidend wichtig sei, so Walter Kern, daß dem christlichen Glauben das Prinzip der Selbstkritik von vornherein mitgegeben ist. „Es trägt den einfachen und furchtbaren Namen: Gott." Wir können uns dem Verhältnis von Demokratie und Glaube auch aus einer ganz anderen Richtung nähern, einer pragmatischen nämlich, die sich erstaunt fragt, ob wir denn in unserer pluralistischen Gegenwart mit sinn-stiftenden Mächten so reichlich gesegnet seien, daß wir den „Unglauben" fordern, anstatt möglichst viele einzuladen, die Bindungen der Gesellschaft an gemeinsam anerkannte Werte zu verstärken und möglichst viel „Glauben" in Fairneß und Toleranz ins politische Geschäft einzubringen, damit der Boden der Ethik trägt. Ich verstehe auch nicht, welche Angst es vor „weltanschaulichen Abgründen“ geben kann, da wir doch heute eher die Befürchtung haben, der Vorrat an Sinn möchte uns überhaupt ausgehen.
Die Geschichte des deutschen Widerstands unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft liefert uns eine Grenz-und Ausnahmesituation, an der verdeutlicht werden kann, was nicht verlorengehen darf, wenn man die Probe aufs Exempel — und sie war hier mit dem Leben zu bezahlen — bestehen will. Das hat Rüdiger von Voss in einer Zusammenstellung getan, die Männer wie Beck und Goerdeler in ihren Zeugnissen zu Schlußfolgerungen veranlaßt, „die für die . Dissidenten in den Gewaltregimen unserer Zeit eher verständlich zu sein scheinen als für eine liberale Welt, die sich scheut, unter Religiosität mehr zu verstehen als nur die Frage, ob man bereit ist, sein Bekenntnis zu einer bestimmten Konfession im Alltag wirksam werden zu lassen. Beck und Goerdeler bekennen sich zu der Freiheit des Geistes, des Gewissens, zu Recht und Gerechtigkeit, zur Vaterlandsliebe und den menschlichen Tugenden, zur umfassenden Hinordnung in die Schöpfung Gottes in einer Weise, die zumindest den . christlichen Politiker'nachdenklich stimmen sollte."
IV. Demokratie, als ob es keinen Gott gäbe
10. Der methodische Atheismus des Westens Mit einer Politik „im Horizont des Unglaubens" wird ein Demokratieverständnis totalisiert, als ob es keinen Gott gäbe, „etiam si deus non daretur", wie Hugo Grotius in seiner Begründung eines Naturrechts ohne Gott gesagt hat, und diese Negation der Religion läuft praktisch auf den Atheismus hinaus.
Der Atheismus des Positivismus und des Neopositivismus, aber auch der Atheismus des kritischen Rationalismus finden sich hier in schöner Einigkeit, daß die Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ohne jede religiöse Vorentscheidung zu erfolgen habe. Sie halten die eigene Auffas-sung jeweils in höherem Maße für voraussetzungslos. Auch der Marxismus geht von der totalen Machbarkeit der Verhältnisse aus, als gäbe es nichts, das nicht wißbar und im Handeln verfügbar sei.
Krockows „Unglauben" ist nicht der Typ des kämpferischen Atheismus; auch beschränkt er seine Orientierung am Seienden nicht auf dessen (wissenschaftliche) Feststellbarkeit und Verfügbarkeit, wie der Religionsphilosoph Bernhard Welte den Typ eines negativen Atheismus charakterisiert Eher scheint der Typ eines methodischen Atheismus zu passen, der jeden „Rückgriff" auf Gott im gesellschaftlich-politischen Bereich für überflüssig, ja störend hält. Hugo Staudinger meint, die Konzeption der westlichen Industrienationen sei heute weithin durch einen methodischen Atheismus geprägt, und das sei eine Folge der Schlüsselstellung, die die Wissenschaften im modernen Denken einnehmen: „Der moderne Mensch glaubt weithin, daß theologische und philosophische Feststellungen jeweils von hypothetischen Vorentscheidungen oder auch von unbegründbaren Glaubensüberzeugungen abhängen, daß dagegen allein die unter bewußtem Absehen von Gott arbeitenden Wissenschaften Ergebnisse zeitigen, die jederzeit beweisbar und damit in ihrem Wahrheitsanspruch für alle verbindlich seien."
Krockow fordert „vom Glauben her ungläubige Politik". Das Handeln solle vom Letzten getragen und abgestützt werden, „aber zugleich als ein Eigenbereich freigegeben, entlastet von den letzten Sinn-und Heilsfragen" Er fordert dies also nicht im Namen der Wissenschaft. Ein Ausblenden der Frage nach Gott in der demokratischen Ethik und Politik erscheint ihm vielmehr zwingend aus dem Pathos der Freiheit und der aufklärerischen Toleranz. Ihren eigentlichen Grund hat die Verabsolutierung von Freiheit und Offenheit in einer Voraussetzung, die wir bereits als aufklärerische Vernunftreligion charakterisierten und die sich praktisch als methodischer Atheismus ausweist.
Die negative Folge ist, „daß die Transzendenz Gottes verzerrt wird und für das (politische!) Bewußtsein verschwindet. Gott ist dann kein Geheimnis mehr, das jeden Begriff übersteigt, er ist vielmehr gerade das Gewußte des (politischen!) Begriffs." Hier ist zweimal das Wort „politisch" in das Zitat von Bernhard Welte hineingemogelt worden. Was damit angezeigt ist, wird im weiteren Zitatverlauf deutlich, wenn es heißt: „Ein solchermaßen gewußter Gott muß dann in kritische Konkurrenz treten mit sonstigen wißbaren weltimmanenten Erfahrungen. .. Wer Gott als einen Seienden und in seiner Seiendheit wißbaren Gott betrachtet, der verfügt mit seinem Wissen, mit seinem Begriff, mit seiner Definition über Gott. Sein Gedanke ist eigentlich mächtiger und umfassender als das Gedachte, der Gott. Er umgreift und begreift dies. Dieses verfügende Mächtigwerden des Denkens über den gedachten Gott ereignet sich zumeist unbewußt und unbedacht im Verborgenen. Aber was nicht bedacht wird, wird doch oft gelebt und vollzogen." 11. Die Vorentscheidungen des Unglaubens Die christliche Grundüberzeugung ist es, daß alles Seiende unter die Herrschaft Gottes fällt, „denn keine Form, kein Gefüge, keine Verbindung der Teile, keine wie immer geschaffene Substanz, die Gewicht, Zahl und Maß hat, besteht außer durch jenes Wort, jenes schöpferisehe Wort, von dem es heißt: . Alles hast Du nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet" Dieser Glaube ist weithin abgelöst worden durch die Vorstellung, die Welt sei eine Konstruktion, die auch ohne ihren Urheber funktioniert und deren Prinzipien auch unabhängig von Gott ihren Lauf nehmen. So ist es ja, und damit hat sich die christliche Theologie längst befreundet, daß es eine Weltlichkeit der Welt gibt, aber das ändert dennoch nichts an dem Wort eines Augustinus, daß allein Gott, „dessen verborgene Macht, alles durchdringend, mit ihrer unausschaltbaren Gegenwart, allem irgendwie Seienden, soweit es nur immer Sein hat, das Sein gibt" Es sei denn, man leugnet diesen Gott überhaupt und substituiert den atheistischen für den theistischen Glauben.
Daß zum Beispiel für den Marxisten ein Glaube ebenso fundamental ist wie für einen Christen, hat ein Marxist wie Roger Garaudy freimütig zugegeben. Karl R. Popper schreibt: „Es zeigt sich ..., daß die rationalistische Einstellung keinesfalls auf Argumente oder Erfahrungen gegründet werden kann... Aber das bedeutet, daß ein Mensch, der die rationalistische Einstellung annimmt, so handelt, weil er, ohne rationale Überlegung, einen Vorschlag, einen Entschluß, einen Glauben oder ein Verhalten akzeptiert hat, das daher seinerseits irrational genannt werden muß. Was immer es auch sein mag — wir können es einen irrationalen Glauben an die Vernunft nennen." Krockow sucht mit gutem Recht eine Theologisierung der Politik zu vermeiden, aber er nimmt dafür die politischen Folgen des Atheismus in Kauf. Denn er scheint zu wenig zu bedenken, daß im „Unglauben" ebenso viele Vor-entscheidungen liegen wie im „Glauben“. Wie man sich auch drehen und wenden mag, es gibt aus dieser Problemlage kein Entweichen, daß eine atheistische Vorentscheidung nicht voraussetzungsloser ist als eine theistische. Der Szenenwechsel kann das alte Spiel nur fortsetzen
Wir müssen uns heute von Max Horkheimer sagen lassen, daß eine moralische Politik ohne Theismus nicht möglich sei. Staudinger greift dieses Wort auf und konstruiert daraus seine These, daß sowohl der Atheismus westlicher Prägung wie auch der militante des Ostens — in beiden wird die Welt ohne die „Hypothese Gott" erklärt, denn sie bedarf ihrer nicht mehr — eine posthumane Gesellschaft hervorbringen: „In dieser hach Zwecken orientierten Welt gerät auch der Mensch unter diesen Maßstab." Es ist der von Horkheimer beschriebene Maßstab der instrumentellen Vernunft. Dieser marxistische Philosoph hat über die Zusammenhänge von Religion und politisch-gesellschaftlicher Weltgestaltung in den letzten Jahren vor seinem Tod nachgedacht Warum wird die Gesellschaft mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt inhumaner? Der transzendente Gott in seinem Geheimnis, das jede Vernunft überschreitet, ist den Menschen aus dem Blick gekommen; man hat ihn wegerklärt in den Unglauben hinein. C. S. Lewis schreibt in einem Essay: „Man kann nicht endlos wegerklären, sonst wird man merken, daß man die Erklärung wegerklärt hat." 12. Gott im Grundgesetz Unsere Verfassungsväter im Parlamentarischen Rat von 1948 und 1949 wollten eine andere Demokratie als die des „Unglaubens". Daß die ursprüngliche Konzeption der Bundesrepublik „eine Absage an den Atheismus und der Versuch neuer Wertorientierung" darstellt, ist meines Erachtens unbestreitbar. Der Nationalsozialismus hatte sich selbst zum Gott — und damit zum Götzen — gemacht. Der Wahn einer absoluten Verfügbarkeit über den Menschen hatte eine Hölle geschaffen, in der es nichts mehr gab, was unantastbar war, keine Würde, kein Recht, keine Freiheit.
Vor diese düstere Kulisse der verantwortungslosen Selbstmächtigkeit des Menschen über den Menschen wurden nach dem fürchterlichen Krieg und der reinigenden Katastrophe die Worte der Präambel zum Grundgesetz gestellt: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ... hat das Deutsche Volk... dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen." Daß dieser Präambel ein rechtliches und politisches Gewicht zukommt, ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum DDR-Grundlagenvertrag betont worden, aber in der Öffentlichkeit sind die Folgen der Präambel kaum beachtet worden. Gott im Grundgesetz? Die Trennung von Kirche und Staat hat die Verfassung damals bereits festgeschrieben. Das Pluralismuskonzept ist ebenfalls schon eingeführt worden. Gab es keine Befürchtung, der Liberalität durch die Nennung des Gottes-namens Abbruch zu tun? Offenbar nicht; der übergreifende Zusammenhang mit dem Christentum hat als geschichtliche Tatsache allen vor Augen gestanden.
Inzwischen sind die Entwicklungen fortgeschritten, und das Christentum hat als positive Religion weitere Einbußen hinnehmen müssen. Die Verweltlichung der Lebensverhältnisse scheint zugenommen zu haben. Viele halten diesen Trend für unaufhaltsam; aber das muß keineswegs so sein. Wir können auch nicht sagen, ob die Talsohle der gegenwärtigen Sinn-und Orientierungskrise bereits hinter uns liegt. Es gibt auch Anzeichen, daß ethische, religiöse und das Ganze des Menschen und der Natur betreffende Fragen eine neue Aktualität gewinnen, manchmal vagabundierend und selten organisiert in den Kirchen;
aber die Möglichkeit, daß sich auch an politische Kräfte metapolitische Erwartungen richten oder sogar auf sie religiöse oder quasi-religiöse Legitimationen übertragen werden, ist niemals ganz auszuschließen, wie Karl Forster ausgeführt hat: „Nicht ein Ende von Religion, sondern das Ende der Vernunftreligion zeichnet sich ab." Gott im Grundgesetz? Für viele mag „Verantwortung vor Gott" zu einer inhaltslosen Chiffre geworden sein, obwohl wir ja immerhin noch eine Mitgliedschaft in den christlichen Kirchen aufweisen können, die nicht ohne weiteres darauf schließen läßt, das deutsche Volk wolle in seiner überwältigenden Mehr-. heit im „Unglauben“ leben und seine Verhältnisse ohne „Verantwortung vor Gott“ meistern. Insofern ist die Präambel des Grundgesetzes auch heute keine Leerformel Die christliche Religion kann öffentliche Geltung und Anerkennung in eben solchem Maße beanspruchen. Die moderne Kultur, auf deren Fundament unsere politische Kultur sich gründet, ist einerseits das Produkt des Christentums, andererseits aber in zunehmendem Maße aus einem stufenweisen Abrücken von diesem Christentum entstanden, ohne daß die Spuren sich ganz verwischt hätten. Mit Robert Spaemann läßt sich folgern, daß das moderne Bewußtsein, die moderne Kultur sich im Verhältnis zum Christentum in einer besonders schwierigen und zweideutigen Lage befindet: „Die Mehrzahl der Bürger unseres Landes hält Religion für einen Bestandteil ihres Lebens, auf den sie — aus welchen Gründen auch immer — nicht verzichten möchte. Die Mehrzahl sieht auch in den traditionellen christlichen Kirchen die einzige in unserem Kulturkreis in Frage kommende Organisationsform von Religion. Sie wünscht daher ihre Kinder in die religiöse Tradition des Christentums eingeführt zu sehen.“ Andererseits, und diese Symptome bewirken dann allzuschnell die radikale Beschwörung des Gegenbilds, sei diese Mehrheit weit davon entfernt, „das Christentum zum Nennwert zu akzeptieren".
Die Frage ist, wann das denn je in der europäischen Geschichte der Fall gewesen sein soll, die Jahrhunderte des Mittelalters eingeschlossen, und ob das heimliche oder offene Heidentum nicht auch schon zu Luthers oder Goethes Zeiten ein offenes Ärgernis war. Nur, wie sieht die Gegenreligion aus? Welche Anhängerschaft hat sie aufzuweisen? Daß wir heute in einem „religionslosen“ Zeitalter leben und die Abwesenheit Gottes eine vollständige sei, die uns berechtigt, den „Unglauben“ als offiziellen Religionsstatus aller, die sich im pluralistischen Konzert einfinden, hinzunehmen: Woher die Projektion eines Zustandes, den es nicht gibt? In unserer (politischen) Kultur ist Religion eine nach wie vor bedeutsame Komponente, und vielleicht wird sie es schon bald wieder viel mehr, als wir es alle in der Hand haben, möglicherweise nicht im Sinne einer Re-christianisierung, aber die Sehnsucht nach Gewißheit und die Suche nach Sinn, über die Endlichkeit des Individuums hinaus, „das die Zeit und den Tod kennt" (Krockow), können durchaus religiösen Charakter annehmen.
Mit derscheinbar unbegrenzten Ausbreitungihrermateriellen Macht kommt die Menschheit in die Lage eines Kapitäns, dessen Schiffso stark aus Stahl undEisen gebaut ist, daß die Magnetnadel seines Kompasses nur noch auf die Eisenmasse des Schiffes zeigt, nicht mehr nach Norden. Mit einem solchen Schiffkann man kein Ziel mehr erreichen; es wird nur noch im Kreis fahren und daneben dem Wind und der Strömung ausgeliefert sein.
Werner Heisenberg 52)
V. Von der aktuellen Unentbehrlichkeit der Grundwerte
13. Nicht vom Brot allein Eine politische Kultur mit gesundem Selbstbewußtsein wird sich kaum auf eine „Grundwertedebatte" einlassen. Die Situationsbezogen-heit dieser Debatte liegt auf der Hand. „Unsicherheiten in der Verläßlichkeit des menschlichen Zusammenlebens" stehen neben den „Schwierigkeiten in der Begründung und An-erkennung von Normen" Eine gewisse Ratlosigkeit ist eingetreten.
Nun ist der Begriff „Grundwerte" nicht glücklich gewählt worden. Wegen seiner Vieldeutigkeit verrät er eine gewisse Untauglichkeit. So ist von Grundrechten unserer Verfassung die Rede. Andere meinen die Ordnungsprinzipien des Staates wie Freiheitlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit. Von Tugenden wie Klugheit oder Kompromißbereitschaft, von Institutionen wie Familie oder Ehe wird im Zusammenhang mit den Grundwerten gehandelt. Ein ganzes Bündel von Normen, Rechtssätzen, Institutionen, ethischen Verhaltensregeln rangiert unter derselben Begrifflichkeit. Dennoch, von der Diskussion kommen wir gegenwärtig nicht herunter, und niemand hat bisher vorgeschlagen, wir sollten die Fragen einfach vom Tisch fegen.
Das den Menschen betreffende Prinzip, seine Person-und Menschenwürde, bilden so etwas wie die geheime Mitte der Grundwertediskussion. Der Bereich des Sittlichen ist im weiteren Sinne, der Bereich des Religiösen im engeren Sinne angesprochen, aber auch das Politische, das sich wertgebunden versteht, ist in diese Orientierungsversuche des Pluralismus von vornherein aufgenommen worden.
Für die Kirchen stand es sogar am Anfang ihres Drängens, den Minimalkonsens der Werte für das staatliche Zusammenleben gewährleistet zu sehen, weil sie ihn durch Rechtsreformen bedroht sahen. Dabei galt es als selbstverständlich, daß die Kirchen eine öffentliche Geltung beanspruchten. Dennoch sind sie in der Gesellschaft nicht allein zuständig für Ethik und Grundwerte. „Der Dienst der Kirche an den Grundwerten besteht nicht im Appell an den Staat, er möge die grundrechtliche Freiheit mit einem Netz christlicher Moral-vorstellungen einfangen.“ Deshalb ist es der Kirche verwehrt, „die spezifischen Inhalte des christlichen Glaubens zu allgemeinverbindlichen Normen des gesellschaftlichen Lebens zu erklären.“ Das schreibt der katholische Theologe Karl Lehmann, der meint, daß auch derjenige, der den Begriff der. Grundwerte ablehnt, wenigstens noch eine Problemanzeige darin erkennen könnte. So sei es bereits eine hohe und wichtige Übereinstimmung zwischen den wichtigsten Gesprächspartnern der Grundwertediskussion in unserem Land — und hier wird Bundeskanzler Schmidt zitiert —, „daß sich menschliche Existenz nicht auf die Befriedigung materieller Bedürfnisse reduzieren läßt, daß vielmehr jeder Mensch auf eine Orientierung für den Sinn seines Lebens angewiesen ist, die auch den letzten Fragen standzuhalten vermag ... daß der Mensch nicht als einzelner isoliert lebt und daß das Zusammenleben von Menschen Übereinstimmung in Werten und Normen, in Grundauffassungen und Grundhaltungen verlangt.“
Die entscheidende Frage, die von der Grundwertediskussion aufgeworfen wird, scheint mir diese zu sein: Gibt es noch einen Bestand an sittlichen Wertvorstellungen, die unserer Gesellschaft jene Kraft verleihen, die das Zusammenleben möglich macht? Oder müssen wir in einer religiös und weltanschaulich gespaltenen, sprich: pluralistischen Ordnung das Ethos zur Sache der privaten Entscheidung machen und es somit dem individuellen Belieben überantworten? Die Fragen stellen, das ist schon viel an diesem Ort und spricht für die aktuelle Unentbehrlichkeit der Grundwerte, mag die Diskussion darüber auch bisweilen ins Uferlose geraten. 14. Politik und Ethik Der zentrale Grundwert ist die Menschenwürde. Als der oberste Verfassungswert läßt sie sich nur aus einer Dimension begreifen, in die der Mensch mit seinem Wissen und seiner Verfügungsgewalt nicht hineinreicht.
Mit dem Beginn der Neuzeit laufen alle Anstrengungen darauf hinaus, den Menschen zum Herrn und Meister unserer Welt zu machen. Das Bild des omnipotenten Machers setzt sich durch. Karl Marx: „Die Wurzel für den Menschen ist der Mensch selbst." Dieses humanistische Dogma führte zum politischen Totalitarismus. Im Namen des Menschen, eines bestimmten Menschenbildes wurde der Mensch fortwährend erniedrigt.'Haben wir die Folgen des politischen Atheismus unterschätzt? Hugo Staudinger schreibt: „Wenn es keinen Schöpfer gibt, dem der Mensch als Herr und Repräsentant der gesamten Schöpfung Achtung und Rechenschaft schuldet, gibt es keine Solidarität der Geschöpfe und keine Anerkennung irgendwelcher Grenzen menschlicher Verfügungsgewalt. Die gesamte Welt samt allem Lebendigen wird zum beliebig ausnutzbaren Objekt menschlicher Planungen und Verwertungen." Das Religiöse könne eben nicht nach Belieben zum Leben addiert oder von ihm subtrahiert werden. Das gegenwärtige Experiment einer wissenschaftlich-atheistischen Weltgestaltung sei im Grundansatz gescheitert. Wir verdankten es nur dem Fortwirken überlieferter Grundüberzeugungen, daß wir noch relativ menschlich lebten, aber aus dem „modernen" Denken seien solche Grundüberzeugungen nicht mehr zu begründen und daher auf Dauer nicht lebendig zu erhalten
Karl Jaspers hat bereits vor Jahrzehnten geschrieben: „Es ist unmöglich, daß dem Menschen die Transzendenz verlorengeht, ohne daß er aufhört, Mensch zu sein." Gräfin Dönhoff schreibt in einer Hamburger Wochenzeitung, ohne das Wissen um eine höhere Macht sei der Mensch seiner eigenen Arroganz und Maßlosigkeit ausgeliefert. Ohne jene übergeordnete Autorität fehlten ihm die Orientierungsmarken, würde er sich selbst für allmächtig halten, bis er — dieser Omnipotenz schließlich überdrüssig — nicht einmal mehr an sich selbst glaubt. „Wenn es keinen transzendenten Bezug gibt, dann wird in dieser immer komplexer, immer verwirrender werdenden Welt die Hilflosigkeit, die ein Charakteristikum der heutigen Generation zu sein scheint, am Ende zur Verzweiflung in Permanenz."
Krockow fragt selbst am Schluß seines Beitrags, ob „ungläubige Politik“, als Vorletztes absolut genommen, nicht im Opportunismus verdorren und am Letzten scheitern müsse. Politik ohne Ethik, das ist wie ein Gesicht ohne Augen, zum Fürchten allemal, um ein Polybius-Wort aufzugreifen.
Die Alten haben es sehr wohl gewußt, daß beides zusammengehört, und zwar nicht so, daß hier lauter „private" Anteile zu einem beliebigen Konglomerat von Werten zusammenkommen. Die Schöpfung einer politischen Wissenschaft durch Platon und Aristoteles hatte andere Voraussetzungen: „Die Ratio des Menschen, und mit'ihr die Ordnung seiner Seele, konstituiert sich durch seine Teilhabe, seine participatio an der welt-jenseitigen Ratio. Eine Wissenschaft vom rationalen Handeln des Menschen in der Gesellschaft wird dadurch möglich, daß alle untergeordneten und teilhaften Zielsetzungen des Handelns bezogen werden auf einen höchsten Zweck, auf ein summum bonum, d. h. auf die Ordnung der Existenz durch Orientierung am . unsichtbaren Maß'göttlichen Seins.“
Wir können uns, Jahrtausende überspringend, an Leszek Kolakowski halten, dem eine Welt, die sich als selbstgenügsame Realität versteht, absurd erscheint. Dieser ehemals marxistische Denker, der den Weg in den Westen genommen hat, setzt stets eine Begründungsinstanz für die Normierung des eigenen Verhaltens voraus, die nur „am Stamm des Mythos gedeihen“ kann, wie er es nennt. Kolakowski legt sich nicht glaubensmäßig fest, aber die Anerkennung der Gültigkeit des religiösen Vermächtnisses in allen Lebensbereichen ist selbstverständlich für ihn. In seinem Eintreten für Würde, Freiheit und Verantwortung — die Enthüllungen über die Verbrechen des Stalinismus haben ihn dazu gebracht, sich mit der Verantwortung des Menschen auseinanderzusetzen — stößt er immer wieder auf eine Ordnung des Sollens, deren Nichtbeachtung zur Zerstörung der Werte und somit zum Selbstmord der Menschheit führt. Die Annahme, der Mensch könne seine eigene Vervollkommnung bewirken — Kolakowski: Gefährlich erscheint mir die Ablehnung der Erbsünde! —, dieses Denken bezeichnet er als schon lange währende „Krankheit“ unserer Kultur. Kolakowski fragt, ob uns „die biblische Legende von Nebukadnezar, der zum Tier degradiert wurde, als er versuchte, sich die Würde Gottes anzumaßen", nicht besser anstehen würde als der brüchig gewordene Mythos von Prometheus
Wegen seiner Anfälligkeit ist der Mensch auf einen Glauben, angewiesen, der ihn trägt. Er braucht einen Maßstab, der größer ist als er selbst Wo der Mensch sich selbst als das höchste Wesen begreift, da wird er sich bald genauso „privatisiert" sehen wie die Religion — und somit in die Verfügbarkeit von Menschen und Mehrheiten gegeben. Deshalb muß es in einer freiheitlich-demokratischen Verfassung einen Kernbestand an Wert-und Überlieferungsmustern geben, auf die alle verpflichtet sind — im Vorletzten und im Letzten. Aus dieser „Wahrheit" lebt die Demokratie. 15. Zur Freiheitsfähigkeit erziehen Ist die Demokratie etwas Verehrungswürdiges? Sicherlich ist sie es nicht im religiösen Sinn oder als Götzendienst. Aber dürfen wir ihr dennoch Respekt widerfahren lassen und sie in das Gefühl einschließen? Sofern und solange uns die Demokratie in unserem Staat eine Idee verbürgt, die wir seit altersher Freiheit nennen, erscheint sie uns als etwas durchaus Liebenswertes.
Freiheit kann man nicht „haben" wie ein Besitztum. Wann immer ein Staat sie „herzustellen" sucht, schafft er die Despotie. „Nur die Person kann frei sein", meint Hermann Krings mit Recht. „Der Mensch, als Wesen von Vernunft oder, wie die Bibel sagt, nach dem Bilde Gottes geschaffen, hat die Idee der Freiheit — und er hat sie von Anfang an. Die Idee der Freiheit ist eine Erinnerung an Gott."
Krings weist darauf hin, wie es das Programm des kommunistischen Staates ist, die Menschheit zu befreien; so führt er zum Untergang der Freiheit „Der freiheitliche Rechtsstaat ist gekennzeichnet durch eine Pluralität der politischen Programme, deren gemeinsame Orientierung die Idee der Freiheit ist; so führt er zu einem Staat mit einer permanent offenen politischen Situation."
Also doch die Absolutsetzung der Offenheit? Antworten wir nochmals mit Hermann Krings: „Freiheit ist kein politisches Programm. Ein politisches Programm muß einen Inhalt haben; Freiheit ist aber kein Inhalt, sondern ein Name, mit dem der Mensch sich selbst eine Würde gibt." Nicht um Offenheit geht es, sondern um die Idee der Freiheit und um Menschenwürde, deren Preis der Pluralismus der Glaubensbegründungen ist.
Die These, demokratische Politik sei nur „im Horizont des Unglaubens möglich", verrät einen äußerst engen, ja ängstlichen Begriff von Politik. Neuerdings wird häufig der Begriff der politischen Kultur gebraucht, und er könnte uns eine gewisse Hilfestellung leisten, da wir immer wieder auf die anthropologischen Fundierungsmomente hinzuweisen suchen. Der Begriff der politischen Kultur zielt, wie es in einem Papier der SPD-Grundwertekommission formuliert ist, nicht „auf die Politisierung kultureller Lebensäußerungen oder auf ihre Indienstnahme für politische Zwecke, sondern macht deutlich, daß alle kulturellen Lebensäußerungen politischen Bedingungen unterliegen und ihrerseits auf diese zurückwirken." Das heißt, die Künste, die Philosophie, die Wissenschaften — nicht auch die Religion? — sind in ihrem Einwirken auf das öffentliche, das wir Politik nennen, gewissermaßen unersetzlich und konstitutiv für eine politische Kultur. In dem SPD-Papier heißt es weiter: „Kultur zeigt sich vor allem im Umgang von Menschen mit Menschen und Dingen." Es wird auf eine Tradition in Deutschland verwiesen, „die den Begriff der Kultur um ihre gesellschaftliche und politische Dimension verkürzt und auf das individuell und privat anzueignende Wahre, Gute und Schöne in Kunst und Wissenschaft verengt... Nicht zufällig haben die älteren Demokratien einen umfassenderen, im guten und weiten Sinne auch politischen Begriff von Kultur."
Um diesen umfassenderen Begriff von politischer Kultur zu füllen, brauchen wir mindestens die Philosophie, wenn wir schon glauben, auf Metaphysik (strenggenommen gehört sie zur Philosophie!) verzichten zu können. Wir brauchen die Philosophie, damit wir uns ein Bewußtsein von dem Ganzen bilden können, in das wir mit unseren persönlichen Lebensäußerungen verknüpft sind. Diesem Ganzen wollen wir einen Sinn abgewinnen und Einsichten in das grundlegend Wirkliche gewinnen, damit es uns nicht absurd vorkommt Denn die bloße Steigerung von Wissen, Wissenschaft und Macht befriedigt uns nicht. „Wo keine Weissagung ist, wird das Volk wild und wüst." Deshalb können wir das permanente über-sich-hinaus-Denken des Menschen, das unmittelbar in die Religion einmündet, nicht einfach in die private Ecke stellen, weil es den Pluralismus stören könnte, sofern und solange wir den Begriff von der politischen Kultur als einen umfassenderen ernst nehmen.
Die Freiheit, so sagten wir, kann uns nicht staatlicherseits geliefert werden, sondern daß nur die Person frei sein kann. Freiheit ist in der Struktur des Menschen verankert. Wie die Freiheit zum Menschen gehört, wie sie ihn eigentlich erst dazu macht, hat Pestalozzi einmal mit den folgenden Worten umschrieben: „Ich besitze eine Kraft in mir selbst, alle Dinge dieser Welt mir selbst unabhängig von meinen gesellschaftlichen Verhältnissen, gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu meiner inneren Veredlung beitragen, vorzustellen und dieselben nur in diesem Gesichtspunkt zu verlangen und zu verwerfen. Diese Kraft ist im Innersten meiner Natur selbständig; ihr Wesen ist auf keine Weise eine Folge irgendeiner anderen Kraft meiner Natur. Sie ist, weil ich bin, und ich bin, weil sie ist. Sie entspringt aus dem mir wesentlich einwohnenden Gefühl: Ich vervollkommne mich selbst, wenn ich das, was ich soll, zum Gesetz dessen mache, was ich will."
Vielleicht würden wir heute etwas anders von der inneren Kraft sprechen, die wir als Freiheit in uns vorfinden. Aber es ist der Blick des Geistes, der uns erkennen läßt, daß wir als Person frei sind. Der Innerlichkeit und Metaphysik, so meinte man in den vergangenen Jahrzehnten, sei ein verheerender Einfluß zur Last zu legen. So wandte man sich dem Wißbaren und Verfügbaren zu. Heute ist wieder zu beobachten, wie man dem Wort „Freiheit“ eine neue geistige Aufmerksamkeit zuwendet und es als Ausfluß des Personalen in die politische Kultur hineininterpretiert. An diesem Schnittpunkt treffen wir auf die Grundwerte. In der politischen Bildung geht es deshalb heute vorrangig um eine Erziehung zur Freiheitsfähigkeit, Freiheit neu zu denken und sie von ihren Verfälschungen abzulösen, die sich vor allem in einem übersteigerten Emanzipationsbegriff gezeigt haben. Sollte es uns gelingen, auf diese Weise ein Stück Selbstvertrauen zu gewinnen, daß die Demokratie es gut mit den Menschen meint und wir den alten Idealismus mit seinem Wirklichkeitsverlust und seinen gegen den Menschen gerichteten Utopien fahrenlassen, dann ließe sich daraus viel Kraft für unsere politische Kultur und deren Grundwerte schöpfen. „Die einzige uns angemessene politische Kultur ist eine demokratische politische Kultur", heißt es in dem SPD-Papier der Grundwertekommission Diese Entschiedenheit duldet keinen Relativismus.