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Thesen zu einer europäischen Friedensordnung 1990 | APuZ 32/1980 | bpb.de

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APuZ 32/1980 Thesen zu einer europäischen Friedensordnung 1990 Überlegungen zur Entspannung in einer pluralistischen Welt Rüstungskontrolle in der Dritten Welt

Thesen zu einer europäischen Friedensordnung 1990

William Borm

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Autor untersucht in diesem Beitrag das künftig zu erwartende Verhältnis zwischen Westeuropa und den USA im Kontext globaler Entwicklungstrends und einer europäischen Entspannungspolitik. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß die USA ihre Dominanz-rolle im westlichen Bündnis verloren haben und andererseits mit dem sich einenden Westeuropa ein weltpolitsch relevanter Machtfaktor in Erscheinung tritt, der künftig in die Rolle eines zweiten westlichen Führungszentrums hineinwachsen kann. Dieses werde zunehmend in der Lage sein, eigenständig die Machtbalance kontinental gegenüber dem Warschauer Pakt herzustellen und weltpolitisch den amerikanischen Funktionsverlust auszugleichen. Aufgrund zwangsläufiger Entwicklungen bestünde die objektive Notwendigkeit und Möglichkeit zur weiteren Herausbildung einer originären außen-und sicherheitspolitischen Identität Westeuropas. Dies auch deshalb, weil die sicherheitspolitischen Interessen der USA und Westeuropas in wesentlichen Punkten nicht deckungsgleich sind und eigenes westeuropäisches Handeln verlangen. Der Autor begründet, warum auch das atomare Tabu für die westeuropäischen Staaten und damit die bisherige Arbeitsteilung und Strategie der NATO in Frage gestellt werden muß, nicht mit dem Ziel, aufzurüsten, sondern um eine bislang nicht vorhandene europäische Abrüstungssouveränität zu ermöglichen. Aus einer Analyse der Bedingungsfaktoren wird langfristig eine „Europäisierung der europäischen Fragen" für unausweichlich gehalten und die perspektivische Möglichkeit einer gesamteuropäischen Friedensordnung angedeutet, die sich aus der begonnenen blockübergreifenden Kooperation und Interdependenzbildung im KSZE-Folgesystem entwickeln könnte. Zu Beginn der Analyse werden Strukturveränderungen im internationalen System aufgezeigt, die als Konstanten für jede internationale Politik anzunehmen sind. Daran schließt sich eine Bestandsaufnahme globaler Entwicklungstrends an, die das kommende Jahrzehnt bestimmen können und den Bezugsrahmen für die europäische Politik bezeichnen. Daraus folgend werden Konstanten für jede europäische Friedenspolitik beschrieben und dem Konzept der antagonistischen Kooperation zwischen Ost und West zugeordnet. Hieraus ergeben sich prognostische Schlüsse für die künftigen Handlungsperspektiven einer europäischen Außen-und Sicherheitspolitik als Ausformung einer überwiegend europäisch definierten Entspannungspolitik.

Zuerst als Vortrag gehalten am 25. April 1980 1 de ^ch. r Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach

I. Zu Thema, Inhalt und Methode

Die Themenstellung ist, dessen bin ich mir bewußt, reichlich gewagt. Denn während Analysen über Ist-Zustände beweispflichtig sein müssen, sind Prognosen über künftige Entwicklungen naturgemäß subjektiv und spekulativer Natur. Dies gilt um so mehr, als die Frage nach einer europäischen -Friedensord nung 1990 angesichts der nicht erst seit Afghanistan bedrohlichen Entwicklungen in den internationalen Beziehungen, insbesondere aber im Ost-Westverhältnis, mit außerordentlichen ist. Unwägbarkeiten belastet Ich habe den Kriegsausbruch 1914 bewußt erlebt und gehe davon aus, daß die Umstände heute nicht analog und uns daß wir sind nicht am Vorabend eines neuen Weltkrieges befinden, da wir inzwischen über die Erfahrungen aus zwei Weltkatastrophen verfügen. Jeder mögliche Angreifer weiß, daß er nicht lebender Sieger sein kann und daß der dritte Weltkrieg die Auslöschung der überwiegenden Mehrheit der Menschen bedeuten würde. Auch bei höchst irrationalen Reaktionen beginnt die Rationalität spätestens beim naturgegebenen Interesse am eigenen Überleben. Deshalb scheint es mir in der Logik der derzeit bedrohlichen Entwicklung zu liegen, daß auch bei zugegebenermaßen nicht hinreichend vorhandenen Krisenbeherrschungskonzepten nach vielen risikoreichen Schritten, die uns gefährlich nahe an den Abgrund bringen können, die selbsterhaltende Vernunft obsiegt.

Gerade deshalb wären wir Europäer jetzt gut beraten, unsererseits kein öl ins Feuer zu gielen.

Trotz dieser Unwägbarkeiten soll eine Stelungnahme

versucht werden, und das aus zwei Gründen:

Sie zwingt einerseits zur gedanklichen Konzentration sowie zur Herausarbeitung und Begründung von Grundlinien und — soll andererseits einen diskussionsfähigen Ansatz zur kritischen Überprüfung unserer Politik über ihre Ziele und die zeitgemäße Realisierung der einzusetzenden Instrumente für die achtziger Jahre liefern.

Aus Raumgründen können hier nicht -alterna tive Prognosen und die ihnen entsprechenden unterschiedlichen Grundannahmen dargestellt werden, sondern ich möchte Thesen vorlegen, die eine anzustrebende europäische Friedensordnung aus meiner Interpretation langfristiger Entwicklungslinien der internationalen Politik zu begründen versuchen.

Zwei Prämissen sind vorgegeben:

— der Friede bleibt erhalten und — an der Sicherung des Friedens müssen alle Beteiligten interessiert bleiben und ihre Politik darauf ausrichten.

Unter den gegebenen Umständen ist die Entspannungspolitik das einzig mögliche friedenstaugliche Kooperationsmuster im Ost-West-Konfrontationsverhältnis, auch wenn sie partiell oder temporär durch einschneidende Konflikte sogar grundsätzlich in Zweifel gezogen wird. Die Entspannungspolitik bedeutet den historischen Realismus unserer Epoche, wenn die Menschheit überleben will. Sie basiert nicht auf der Schwäche einer der beiden Blöcke, sondern auf der Tatsache, daß diese bis an die Zähne mit mehrfachen Übertötungskapazitäten „gerüstet" sind.

Das Orientierungsdatum 1990 wurde willkürlich gesetzt, um einerseits das vor uns liegende Jahrzehnt zu erfassen und zugleich den Zeithorizont bis zum Jahr 2000 zu öffnen, da Strukturveränderungen im internationalen System langfristiger Natur sind. Es ist einleuchtend, daß die europäische Entwicklung nicht ohne den Bezug zum globalen Entwicklungstrend dargestellt werden kann. Wiederum aus Platzgründen ist in der Darlegung eine größtmögliche Beschränkung und damit eine wesentliche Vereinfachung höchst komplexer Zusammenhänge erforderlich. Wir wissen ohnehin, daß wir uns auf schwankendem Boden bewegen, weil die Zahl der unbekannten Größen erheblich größer ist als die der bekannten. Die angenommenen Konstanten sind bezogen auf eine unwägbare Zahl von Variablen, und — hier muß es ausgesprochen werden — es kann auch ganz anders kommen! Ich bi trachte mich nicht als Prophet, sondern ic will lediglich versuchen, einen Beitrag zur n tionalen und vorausschauenden Diskussio über unsere gemeinsame Zukunft zu leisten

II. Strukturveränderungen im internationalen System seit 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich im internationalen System einschneidende Veränderungen ergeben, von denen hier einige herausragende benannt werden sollen, da sie als die Grundlage für jede internationale — also auch europäische — Politik angesehen werden müssen.

1. Die Zeiten und die Umstände, in denen Weltpolitik gleichbedeutend war mit europäischer Politik als der Politik europäischer Weltmächte, wurden seit 1918 fragwürdig. Seit 1945 sind sie unwiederbringlich vorbei. Europa ist ein weltpolitischer Bezugspunkt geworden unter anderen.

2. Der Zustand, in dem Mächte sich die übrige Welt als Kolonien untertan machen konnten, gehört eindeutig der Vergangenheit an. Der weltweite Emanzipationsprozeß der Völker gegen nationale und ökonomische Fremdbestimmung und soziale Entrechtung ist allerdings noch keineswegs abgeschlossen.

3. Die Beziehungen zwischen den Staaten sind immer weniger von einseitiger Abhängigkeit bestimmt, dagegen wachsend von wechselseitiger Abhängigkeit gekennzeichnet; sie tragen deshalb immer weniger den Charakter unmittelbarer Herrschaftsverhältnisse. Ein weiteres Merkmal ist die Herausbildung einer arbeitsteiligen Weltwirtschaft mit hochgradigen und differenzierten Verflechtungen.

4. Die zwischenstaatlichen Beziehungen sind nicht mehr in den klassischen Formen der Außenpolitik zu fassen mit den Instrumenten der Kabinettspolitik und Geheimdiplomatie. Die klassische Außenpolitik ist abgelöst worden von internationalen Beziehungen mit einem komplexen Instrumentarium, das der wachsenden, insbesondere ökonomischen, Verflechtung der Staaten Rechnung trägt. Dieses Instrumentarium hat eine große Anzahl von Akteuren und spielt sich in nie gekanntem Maße vor einem öffentlichen Forum ab. 5. Außenpolitik bedeutet heute weniger denn je das rein bilaterale Verhältnis von Staaten. Sie wurde zu einem sehr differenzierten Interaktionsmuster im Geflecht sich entwickelnder internationaler Strukturen und Organisatio nen und trägt damit wachsend auch eine multilateralen Charakter und umfaßt straff regionale Blockstrukturen, weniger straff regionale Organisationen bis zum System de Vereinten Nationen. 6. Die klassische Souveränität der National Staaten, bestehend in der Fähigkeit, nach in nen und außen selbstbestimmte Ziele zu for mulieren und durchzusetzen, wird angesicht der beschriebenen und wachsenden Interde pendenz zunehmend zur Fiktion. Nationale Ziele können friedensbewahrend wesentlich nur noch im regionalen Verbund oder mit an deren Staatengruppen unter weitestgehende: Berücksichtigung der Interessen anderer Länder im globalen Bezugsrahmen verwirklicht werden.

7. Außenpolitik bedeutet auch nicht mehr al lein klassische Machtpolitik zwischen den Staaten, seitdem global zwei grundverschiedene, ja antagonistische Gesellschaftsordnungen konkurrieren. Es geht nicht mehr lediglich um den Machtgewinn oder Machtverlust von Staaten, sondern zugleich um das Ringen zweier gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen: der westlichen Demokratie und dem so zialistisch-kommunistischen System, die je weils in machtpolitischen Zentren organisier sind. Die sich entwickelnde Multidimensiona lität der internationalen Verflechtung bezieh sich ordnungspolitisch somit weitgehend an das bipolare Verhältnis der sich gegenüberste henden Blöcke mit den USA und der UdSSi als jeweiligen Führungsmächten. 8. Angesichts dieser Lage und der Tatsache daß beide Blöcke (Ost und West) über nukle re und andere Massenvernichtungsmittel m der Möglichkeit wechselseitiger Totalvernic tung verfügen, ist im globalen Maßstab de Krieg nicht mehr die Fortsetzung der Politi mit anderen Mitteln. Möglich sind nur noc lokale oder regionale militärische Konflikt deren Eingrenzung und möglichst schnelle Be endigung durch politische Mittel ein friedens politisches Zwangsgebot ist. Als Ausdruck der geschilderten Verhält-isse hat auch das Völkerrecht eine völlig eue Qualität gewonnen: früher ein Recht wischen einzelnen Staaten, das nach Kant her ein Recht zum Krieg denn zum Frieden ; ar, bildet sich zunehmend das Völkerrecht als kodifiziertes Vertragsrecht und als Recht der internationalen Organisationen aus mit dem erklärten Anspruch, ein Friedensrecht zu sein. Damit setzt es völlig neue Maßstäbe zwischen den Staaten.

III. Globale Trends: eine Bestandsaufnahme

Ausgehend von den genannten strukturellen Veränderungen im internationalen System cönnen folgende globale Entwicklungstrends estgestellt werden, die für das kommende Jahrzehnt bestimmend sein werden und die damit zugleich wesentliche Bedingungsfaktoren für jede europäische Politik darstellen:

1. Grundbedingung jeglichen Geschehens ist die Tatsache eines globalen Wirkungszusammenhanges geworden. Durch die hochgradige, weltweite ökonomische Verflechtung, auf die schon hingewiesen wurde, durch einen globalen Ressourcentransfer, durch die Interessen-konflikte Ost-West und Nord-Süd in wechselseitiger Verschränkung, durch eine zunehmende Vermaschung der Staaten im regionalen, kontinentalen und weltweiten Maßstab sowie durch die umfassenden Kommunikationssysteme wirkt sich jede Erschütterung an einem Punkt der Erde mittelbar oder unmittelbar auf alle anderen Teile aus. Diese immer deutlicher werdende Globalität allen Geschehens bedeutet in der Tat den Beginn einer neuen weltgeschichtlichen Epoche.

Der objektive Wandel zur Globalität auch aller wesentlichen gesellschaftlichen Probleme erfordert ein neues Bewußtsein des Menschen. Zur Lösung der globalen Aufgaben sind die überkommenen Methoden, Instrumentarien, aber auch Zielsetzungen nicht mehr ausreichend. Tatsächlich aber wird weitgehend noch in Kategorien von gestern gedacht und gehandelt, wodurch der nüchterne Blick auf die Zukunft und ihre vorrangigen Probleme nachhaltig verstellt wird.

2 Voraussagen in Richtung Ablösung des durch die USA und UdSSR bestimmten bipolaren Weltsystems durch ein multipolares dürften sich mindestens vorerst kaum bewahrheiten. Da der Ost-West-Konflikt das beherrschende Moment sowohl in der ideologischen Auseinandersetzung zwischen zwei antagonistischen Gesellschaftsordnungen wie auch im militärischen Drohsystem bleiben wird, sind die USA und die UdSSR mit den ihnen zugeordneten militärischen Blöcken auch weiter-hin zentrale Ordnungsfaktoren im internationalen System. Den Zusammenbruch eines der beiden Blöcke für das kommende Jahrzehnt zu prophezeihen, hieße gefährlich zu spekulieren und einer Selbsttäuschung zu erliegen.

Die Tatsache von Gewichtsverlagerungen im internationalen System durch neue Machtzentren, zum Beispiel in Asien oder im Nahen Osten, oder durch neue strukturbestimmende Problemfelder und Konfliktlinien, wie der Nord-Süd-Konflikt und die damit verbundene Rohstoffproblematik, haben ersichtlich eine Multidimensionalität in den internationalen Beziehungen und eine größere Komplexität der internationalen Ordnung gebracht, die sich noch verstärken werden. Sie haben bisher aber weder die Ost-West-Systemauseinander-setzung, die, wie bereits erwähnt, keine klassisch machtpolitische ist, relativiert noch sind sie davon unabhängig.

3. Den Ost-West-Konflikt zunehmend mitbestimmend, gewinnt der Nord-Süd-Konflikt eine wachsende Bedeutung. Ein erheblicher Teil der Menschheit befindet sich schon wieder in einer Art neokolonialer Abhängigkeit von der industrialisierten Welt. Der legitime und unausweichliche Kampf der unterprivilegierten Völker gegen Hunger und Elend, der Kampf für die elementarsten Menschenrechte, für nationale und kulturelle Identität und für tatsächliche Selbstbestimmung wird den Ausgang unseres Jahrhunderts wesentlich bestimmen. Die Lösung oder Nichtlösung dieser neuen sozialen Frage ist nicht nur eine Frage der Menschenrechte, sondern des Weltfriedens schlechthin.

Im Hinblick auf die Länder der Dritten Welt findet derzeit ein großes und noch unentschiedenes Ringen um Einfluß nicht nur der westlichen oder östlichen Machtsphäre statt, sondern um die Grundentscheidung der Richtigkeit der alternativen Gesellschaftsordnungen. Diejenige Gesellschaftsordnung, die sich als fähig erweist, die vitalen Probleme für die Menschen auch in der Dritten Welt zu lösen, wird im Weltmaßstab obsiegen. Der Nord-B Süd-Konflikt ist somit nicht unabhängig vom Ost-West-Konflikt, sondern er wird ihn strategisch entscheiden. Demgegenüber verlieren die Waffensysteme der einen oder anderen Seite relativ an Bedeutung. Unsere Haltung zu den begründeten Forderungen der Dritten Welt nach einer gerechteren Weltwirtschaftsordnung ist ein Prüfstein dafür, wieweit wir uns in Zukunft als lösungskompetent erweisen.

Nachdem die Phase der Entkolonialisierung und der Kämpfe nationaler Befreiungsbewegungen um politische Unabhängigkeit im wesentlichen abgeschlossen sind, haben wir für die kommenden zwei Jahrzehnte soziale Emanzipationsbewegungen mit weitgehenden Umwälzungen in Asien (Indien u. a.), Afrika und Lateinamerika zu erwarten, die den dort lebenden Menschen endlich die elementarsten Menschen-und Lebensrechte gegen herrschende parasitäre Minderheiten sichern sollen und müssen. Viele, wenn nicht alle autoritäre und rückschrittliche Regime werden diesem unvermeidlichen Prozeß nach und nach zum Opfer fallen. Der Westen sollte dies frühzeitig genug begreifen und damit aus vergangenen Fehlern lernen. Klassische Machtpolitik und kurzsichtige Interessenpolitik wird uns auf die Verliererseite verweisen. Eine vorausschauende soziale Weltpolitik hingegen wird den westlichen Demokratien nach allen Regeln der Vernunft ihre Zukunft sichern, überdies verfügen wir im Gegensatz zum Ostblock über die notwendigen Ressourcen zur Problemlösung, die mehr bedeuten als Waffen, mit denen man zwar auf Zeit Macht erringen, diese aber nicht dauerhaft sichern kann.

4. Unter dem Dach der Bipolarität der Supermächte, der ideologischen und militärischen Blöcke oder diesen nebengeordnet, bilden sich im internationalen System neue Strukturen heraus. Aufgrund ökonomischer Zwänge und sicherheitspolitisch gleichgelagerter Interessen gewinnen die regionalen und kontinentalen Zusammenschlüsse von zwar noch formal, aber nicht mehr real souveränen Staaten zunehmend an Bedeutung. Diese regionale und globale Verflechtung der Staaten wird weiter zunehmen und wird die Entscheidungskompetenz der Nationalstaaten immer mehr einen-gen. In Europa ist dieser Prozeß der Regionalisierung und transnationalen Strukturbildung bereits am weitesten fortgeschritten und wird sich, da naturnotwendig, noch verstärken. Es ist anzunehmen, daß sich neue, nicht beherrschende, aber doch relevante regionale Machtzentren in Asien, Afrika und Lateinamerika bilden werden, die ebenfalls global Auswirkungen gewinnen können. Aller Voi aussicht nach ist hingegen die Konzeption ei nes „Trilaterialismus", bestehend aus USA-West-Europa — Japan, nicht hinreichend, un die zukünftigen Bewegungen im internatio nalen System zu erfassen.

5. Auch wenn die USA als führende Nuklear und Wirtschaftsmacht eine der beiden heute noch beherrschenden Supermächte bleiben werden, ist doch unverkennbar, daß ihr inter nationales Gewicht im abgelaufenen Jahr zehnt ständig gesunken ist. Ein weiteres Ab sinken der weltpolitischen Rolle der USA isl vorhersehbar. Die Vorstellung, daß die USA „wieder die stärkste aller Mächte" werden könnten (so Carter im Bericht zur Lage der Nation im Januar 1980), ist irreal. Eine Neubestimmung ihrer real möglichen Rolle mit reduzierten Handlungsmöglichkeiten steht noch aus. Anders als nach 1945 ist ihre Führungskraft auch im westlichen Bündnis nicht mehr hinreichend zur jederzeitigen Durchsetzung ihres Willens. In der jetzigen Periode des Übergangs neigen die USA allerdings noch dazu, ihren früher berechtigt gewesenen Anspruch mit ihren heutigen Möglichkeiten zu verwechseln. Das hat eine unklare Politik und den Einsatz unangemessener Mittel sowie die Versuchung zu irrationalen Überreaktionen zur Folge. Eine Politik aber, die auf einer unrealistischen Selbsteinschätzung basiert, kann gefährliche Folgen haben. Sicher ist soviel, daß eine pax americana weltweit nicht mehr durchsetzbar ist. Für Europa speziell wäre sie übrigens ebensowenig wünschenswert wie eine gleichermaßen ausgeschlossene pax sov-jetica.

Dem machtpolitischen Abstieg der USA jedoch steht ein machtpolitischer Zugewinn Westeuropas gegenüber.

6. Westeuropa in Gestalt der zu Klein-und Mittelmächten abgesunkenen Staaten war nach 1945 weitgehend als entscheidender Akteur von der weltpolitischen Bühne verschwunden, was durch die Auflösung der Kolonialreiche seinen Abschluß fand. Infolge des Aufstiegs der UdSSR zur Blockführungsmacht und zur Weltmacht konnte zunächst die Freiheit Westeuropas nur durch amerikanische Präsenz und Dominanz garantiert werden.

Durch die ökonomische und die damit im Gefolge auch politisch wirksam werdende Einigung Westeuropas wurde sein machtpolitischer Wiederaufstieg eingeleitet. Er wird das kommende Jahrzehnt zunehmend prägen. ökonomisch hat die EG die USA schon heute überflügelt. Dies ist zwar in anderen politikrelevanten Feldern nicht zu erwarten, aber ökonomische Macht setzt sich historisch zwangsläufig auch in politische Macht um. Damit erwächst in Westeuropa schrittweise, aber unaufhaltsam in einem schwierigen Einigungsprozeß mit strukturbedingt noch begrenzten Handlungsinstrumenten ein neben die USA tretendes zweites westliches Führungszentrum, das das Monopol der bisher alleinigen Führungsmacht USA ablösen wird. Westeuropa wird wachsend sowohl ein wirksames Gegengewicht zum kommunistischen Block in Osteuropa darstellen als auch weltpolitisch in die Lücken eintreten können und müssen, die zwangsläufig aus dem amerikanischen Macht-rückgang resultieren.

7. Die UdSSR ist nach 1945 in die Rolle einer den USA militärisch ebenbürtigen Weltmacht hineingewachsen. Im ökonomischen Bereich konnte sie dies nicht nachvollziehen. Aus nicht zuletzt systembedingten Gründen kann sie wirtschaftlich mit den USA und Westeuropa nicht konkurrieren, und sie kann ebensowenig intern freiwillige Systemloyalität erzeugen. Infolgedessen wird nach innen und außen die Komponente der militärischen Macht bei ihrer Selbstdarstellung überbetont. Dies führt vielfach zu Fehldeutungen über die sowjetischen Handlungsmotive. Es begünstigt Fehlhandlungen und kann friedensgefährdende Wirkungen auslösen — selbst dann, wenn aggressive Absichten nicht unterstellt werden können. Diese Irritationen aufgrund der Ambivalenz der unfertigen Weltmachtrolle der UdSSR werden auch das kommende Jahrzehnt bestimmen. Sie können nur durch vorurteilsfreie und rationale Analyse aufgelöst werden.

Die Folgen der Entkolonialisierung — die nationalen und sozialen Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika — schlagen für den mit kolonialer Vergangenheit belasteten Westen zunächst negativ zu Buche. Dies verstärkt sich, weil er die Zeichen der Zeit noch nicht genügend erkennen will. Das gibt der UdSSR, gestützt auf das sozialistische Lager, verhältnismäßig günstige Ausgangspositionen, mindestens solange, wie von den entkolonialisierten Staaten die Bedeutung von Waffen zur Machterringung und Machtsiche-rung noch überbewertet wird.

Belastend hingegen und langfristig brisant für die UdSSR ist die Spaltung der kommunistischen Bewegung in moskau-und peking-orientierteParteien und Staaten. Das Auftreten einer weiteren inneren Front durch die Herausforderung eines moskaukritischen Eurokommunismus läßt ein noch gravierenderes Schisma im kommunistischen Lager durch die schleichende Sozialdemokratisierung westeuropäischer kommunistischer Parteien wahrscheinlich werden. Ein solcher fundamentaler Bruch in den achtziger Jahren und eine damit verbundene Schwächung sowjetischen Einflusses liegen in der Logik der Entwicklung. Darüber hinaus wird die UdSSR sich im kommenden Jahrzehnt großen inneren ökonomischen und sozialen Problemen gegenübersehen, und es ist fraglich, ob sie ihre derzeitigen Positionen halten bzw. wesentlich ausweiten kann, es sei denn, der Westen wiederholt seine früheren Fehler gegenüber der Dritten Welt.

8. Auch das gesamte Blocksystem des War-schauer Paktes wird sich in den achtziger Jahren außerordentlich gravierenden Problemen gegenübersehen. Der während des Kalten Krieges unter sowjetischer Führung monolithisch erscheinende und handelnde Block ist von deutlichen Erosionserscheinungen bedroht, die sich voraussichtlich verstärken werden.

Begünstigt durch die Entspannungspolitik einerseits und die Differenzierung im internationalen System andererseits gewinnen die Eigeninteressen und das nationale Unabhängigkeitsstreben von Paktstaaten ebenso an Gewicht wie die Möglichkeit und die Spielräume, sie — zunächst vorsichtig — zu artikulieren. Die Folge ist ein Schwinden des Blockzusammenhalts. Gleichzeitig sehen sich alle Ostblockstaaten beträchtlichen ökonomischen Problemen gegenüber, die sie systembedingt aus eigener Kraft kaum lösen können. Grundlegende, zur Problemlösung geeignete Systemkorrekturen sind jedoch kaum zu erwarten, da — siehe Prag, Ungarn und Polen — hierdurch das System selbst in Frage gestellt würde.

Diese Faktoren könnten mit den als Folge des Entspannungs-und KSZE-Prozesses sich ausbreitenden Dissidentenbewegungen und der Menschenrechtsdiskussion ein höchst explosives Gemisch ergeben. Die innergesellschaftliche Stabilität könnte in Frage gestellt werden, und dies könnte zu Wiederholungen der CSSR-Ereignisse von 1968 führen. Von Polen, wo die Widersprüche am offensten zutage liegen, könnte unter Umständen eine gefährliche Initialzündung ausgehen. Wer diese Faktoren jedoch zu einer Zusam-menbruchstheorie der sozialistischen Staaten auflistet, wer sein Verhalten auf solche Hypothesen stützt und wer ihre Realisierung durch eigenes Handeln — zum Beispiel durch forcierte Menschenrechtskampagnen gen Osten — beschleunigen möchte, dürfte bei realistischer Betrachtung nicht nur grundfalsch spekulieren und letztendlich die Machtfrage falsch einschätzen, sondern spielt mit dem Feuer. In höchstem Maße friedensgefährdend wäre der aktive Versuch des Westens, die für den Osten negativen Entwicklungen zu schüren, um sie status-verändernd für sich auszunutzen. Daß die internen Machtmittel zur Systemerhaltung im Ostblock vorhanden sind

IV. Konstanten für jede europäische Friedenspolitik

Auf mittlere und längere Frist wird über das Gesagte hinaus wohl von folgenden konstanten Grundlagen für jede Friedenspolitik in Europa ausgegangen werden müssen:

Allgemeine Prinzipien 1. Teilung Europas Die Teilung Europas in zwei sich ausschließende Gesellschaftssysteme dürfte nach menschlichem Ermessen auf längere Frist Bestand haben und muß deshalb als eine feste Größe für die weitere Entwicklung in Europa angenommen werden. Da die ideologische Auseinandersetzung zwischen Ost und West mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht nur andauern wird, sondern sich phasenweise verstärken kann, kommt es darauf an, die Austragung dieses Widerspruchs in friedens-und freiheitssichernder Weise zu gestalten. Es muß davon ausgegangen werden, daß aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse der territoriale Status quo in Europa, soweit er die Blöcke betrifft, nicht zu Lasten einer der beiden Seiten veränderbar ist. Dies schließt beide deutsche Staaten ein. Jede andere Annahme ist in gefährlicher Weise spekulativ. 2. Gleichgewichtsprinzip Nicht erst seit Bismarck wissen wir, daß eine Friedenspolitik, die in wohlverstandenem Sinne auch Interessenpolitik ist, nur eine Gleichgewichtspolitik zwischen den konstanten Machtfaktoren auf der Basis des jeweiliund daß der Wille besteht, sie einzusetzen, ist mehrfach und zuletzt in der ÖSSR bewiesen worden.

Daraus folgt, daß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit westliche direkte oderin. direkte Versuche zum Scheitern verurteilt sind, die im östlichen Europa gewünschte Systemveränderungen grundlegender Art er. reichen sollen, und daß die Ergebnisse solcher Prozesse nicht im westlichen Interesse liegen, sondern ihm entgegengesetzt sind. Diese Erkenntnis gewinnt bei aktuellen Diskussionen über die Menschenrechte Bedeutung und hat zwingende Folgen für unser Verhalten auch gegenüber der DDR. gen Status quo sein kann. Jede Gleichgewichtsveränderung im bestehenden Machtge füge zwischen den Staaten oder eine wesentliche Erschütterung in einem Staat kann friedensgefährdend sein oder werden, da durch sie unausweichlich auch Interessen andere berührt werden. Es kommt also darauf an, abrupte Veränderungen zu vermeiden, vitale Interessen der beteiligten Staaten zu respektieren — auch das Sicherheitsinteresse der anderen Seite — und das Gesamtgleichgewich nicht wesentlich ändern zu wollen. Dies gill insbesondere für das Ost-West-Verhältnis in Europa.

In Europa besteht derzeit ein relatives Kräftegleichgewicht zwischen Ost und West. Dies bedeutet, daß keine Seite der anderen ihren Willen aufzwingen kann und daß insbesondere eine direkte oder indirekte Intervention der einen in den Machtbereich der anderen Seite mit einem Kriegsrisiko verbunden istEs ist anzunehmen, daß sich das Gesamtgleichgewicht in Europa auch langfristig nicht wesent lieh verändern wird. 3. Innergesellschaftliche Stabilität Auch Staaten und Gesellschaftssysteme fol gen dem Überlebensprinzip: Das Interesse de Selbsterhaltung ist immer stärker als das auct vorhandene Interesse an der Zusammenarbe mit Dritten, und dies gilt im ZweifelsunErnstfälle mit Ausschließlichkeit.

Die sozialistischen Staaten sind zwar aus öko nomischen und anderen Gründen sehr wob an einer engen Zusammenarbeit mit dem We sten interessiert. Wenn jedoch die Stabilität ihres eigenen Gesellschaftssystems bedroht ist, die im Innern nur zwangsweise gesichert werden kann, ist die Systemerhaltung das vorrangige Interesse, und es wird mit Abschließung nach außen und Freiheitseinschränkung nach innen reagiert.

Andererseits liegt eine enge Zusammenarbeit mit den östlichen Staaten in unserem wohlverstandenen wirtschaftlichen und politischen Eigeninteresse. Es sollte also auch unter diesem Gesichtspunkt unser Grundsatz sein, unser Handeln gegenüber Osteuropa so zu gestalten, daß es nicht auf die Störung des bestehenden Gleichgewichts gerichtet ist, sondern vom Status quo als fester Größe ausgeht. 4. Gegenseitiger Interessenausgleich und Zusammenarbeit Es gibt zwischen Ost-und Westeuropa, insbesondere aber und mit Rückwirkung auf das gesamte Ost-West-Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten und in Berlin eine Reihe von schwierigen und ungelösten Fragen, deren Nichtlösung eine ständige Friedensgefährdung bedeutet. Friedliche Problemlösung, in welchem Bereich auch immer, ist nur möglich, wenn beiderseits die Bereitschaft zu vernünftigem Interessenausgleich besteht. Dies setzt voraus, daß beide Seiten sich voll als verhandlungsund vertragsfähig anerkennen und weder offen noch versteckt durch aktives Handeln den anderen in seiner Existenzgrundlage zu treffen suchen. Die abgeschlossenen Ostverträge sind beispielhaft für einen solchen vernünftigen und friedenssichernden Interessenausgleich. Wenn eine Seite den Eindruck gewinnt, die Geschäftsgrundlage habe nie bestanden oder sei in Frage gestellt, werden die Verträge nicht nur entwertet; es wird ihnen tatsächlich die Basis entzogen, und sie erhalten eine der angestrebten entgegengesetzte Wirkung.

Auch bei grundlegendem Systemwiderspruch gibt es zwischen Ost und West eine Fülle von gemeinsamen Interessen, die eine für beide Seiten vorteilhafte Zusammenarbeit auf vielen Gebieten ermöglichen. 5. Sicherheit und Zusammenarbeit auf der Basis von KSZE, Rüstungskontrolle und Abrüstung Die Vereinbarungen und Absichtserklärungen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) definieren die Prinzipien des friedlichen Zusammenlebens der Staaten und sind Gestaltungsaufträge für ihr Zusammenwirken, deren Ausfüllung die kommenden Jahrzehnte bestimmen können und sollen. Die KSZE-Schlußakte sollte als ein System von Elementen zur Entwicklung einer gesamteuropäischen Friedensordnung gesehen werden.

Allerdings muß bei realistischer Betrachtungsweise angesichts des gesellschaftspolitischen Antagonismus jede Zeile der Schlußakte mit dem gedanklichen Zusatz gelesen werden: „in den jeweiligen Systemgrenzen". Wer den fortdauernden Systemantagonismus übersieht und die Schlußakte als Instrument der Veränderung des jeweils anderen Systems gebrauchen will, wird hierdurch sein Ziel nicht erreichen, sondern den Rückfall in den Kalten Krieg und damit die Verhärtung der Systeme bewirken.

Die politische, wirtschaftliche, wissenschaftlich-technische, kulturelle und humanitäre Zusammenarbeit nach Maßgabe der KSZE-Schlußakte ist zwar in höchstem Maße friedensfördernd, kann jedoch allein Frieden und Sicherheit in Europa auf die Dauer nicht garantieren, wenn es bei der bisherigen Höchst-rüstung und Konfrontation der beiden Militärblöcke bleibt. Die Entspannungspolitik in Europa bedarf, um dauerhaft und wirksam zu sein, neben dem außenpolitischen zwingend ein rüstungskontrollpolitisches und abrüstungspolitisches Standbein, das derzeit noch fehlt.

Rüstungen, insbesondere Überrüstungen, gefährden den Frieden. Ihre Verminderung macht ihn sicherer. Es liegt in der Logik der Sache, daß die politische Entspannung die Voraussetzung für die Möglichkeit militärischer Entspannung schaffen müßte. Dennoch: Politische Entspannung bedeutet nur die Hälfte des Weges; ohne militärische Abrüstung bleibt sie letztlich wirkungslos. Militärische Entspannung = Rüstungskontrolle und Abrüstung ist der harte Kern des Entspannungsprozesses schlechthin!

Entspannungspolitische Konstanten Eine Fehlbewertung der realen Qualität des Systemantagonismus und damit der Natur des Entspannungsprozesses hat fatale friedensgefährdende Folgen. Zur konkreten Einschätzung von Handlungszielen und Handlungsmöglichkeiten seien deshalb drei für jede Ost-9 West-Interaktion konstitutive Elemente hervorgehoben. 1. Der Ost-West-Gegensatz ist als fundamental ideologischer Gegensatz die nicht kompro-mißhaft lösbare Auseinandersetzung zwischen zwei gegensätzlichen Gesellschaftsordnungen. Entspannung ist — heute — ein Prozeß zur Koexistenz zwischen Mächten oder Mächtegruppen, bei denen trotz Fortbestehens antagonistischer Gegensätze Gewaltanwendung gegeneinander peinlich vermieden wird angesichts der Tatsache, daß der kriegerische Einsatz des sich quantitativ und qualitativ ständig vermehrenden Potentials an Massenvernichtungsmitteln die gegenseitige Vernichtung der Kriegführenden bedeutet. Im Hinblick auf die sich feindlich gegenüberstehenden Militärblöcke und auf die beiderseitige Verfügbarkeit atomarer und anderer Massenvernichtungsmittel ist die Entspannungspolitik also der alternativlose Versuch, Auseinandersetzungen, die sich aus dem fundamentalen Systemwiderspruch ergeben, friedenssichernd zu organisieren. Dementsprechend besteht die Entspannung naturgemäß aus einer komplizierten Dialektik von partieller Kooperation und fundamentalem Wettbewerb zwischen beiden Lagern mit den jeweiligen Hauptexponenten: USA und UdSSR.

2. Das Risiko der Gewaltanwendung zwischen Ost und West ist kalkuliert untragbar geworden. Wer selbst überleben will, kann, auch wenn er über offensive Potentiale verfügt — das gilt für Ost wie für West —, keine aggressiven Absichten verwirklichen, sondern ist zur Defensivhaltung gezwungen. Dies ist eine Konstante auch für die UdSSR, unabhängig von der jeweiligen personellen Führung. 3. Europa ist, global gesehen, die Entspannungsregion schlechthin. Eine globale Entspannung hat es nie gegeben. Eine Grundregel der Entspannung seit der Kuba-Krise ist es, daß die Supermächte sich in ihren vitalen Grundinteressen respektieren und daß sie darauf achten, daß entstehende Konflikte in anderen Bereichen eingegrenzt werden, um globale friedensgefährdende Rückwirkungen zu vermeiden. Dementsprechend wurden bisher alle Vorgänge in den beiden Militärblök, ken und Konflikte „vor der eigenen Haustür'als vitale Angelegenheiten der jeweiligen Supermacht betrachtet, während Konflikte in anderen Regionen so behandelt wurden, daß sie den Zentralbereich der Entspannung, Europa, zwischen den Supermächten und Blöcken nicht außer Kraft setzten. Nationale und soziale Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und die daraus resultierenden regionalen Konflikte wurden von Ost und West nach dem Prinzip der teilbaren Spannung behandelt: das heißt Wahrung der eigenen machtpolitischen Interessen einerseits und Eingrenzung des Konfliktes andererseits.

Nach dem Konzept der „unteilbaren Entspannung" zu verfahren hieße: Ausweitung jeder Krise, völlige Kooperationsunfähigkeit der Supermächte mit dem Risiko eines Totalkonfliktes und bedeutete somit das Ende jeder Entspannungspolitik überhaupt.

V. Handlungsperspektiven einer westeuropäischen Außenpolitik

1. Für eine außenpolitische Identität Westeuropas Gustav Stresemann hatte recht, wenn er feststellte: „Man kann nur dann eine ernsthafte Außenpolitik machen, wenn man Herr im eigenen Hause ist." Gemessen hieran treibt Westeuropa noch keine ernsthafte Außenpolitik, denn unser bisheriges Handeln bestand mehr darin, amerikanische Politik nachzuvollziehen, sie zu unterstützen und zu begleiten. Wir haben bisher unsere eigenen Interessen als europäische Interessen autonom noch nicht definiert mit dem Anspruch, sie in Handlung unabhängig von den USA oder besser, wo es irgend möglich ist, mit den USA umzusetzen. Zudem ist es bequem, Dominanz anzuerkennen und die Eigenverantwortung an die Führungsmacht abzutreten, die ja nicht böswillig, sondern nach ihrem Selbstverständnis handelt, wenn sie primär die eigenen Interessen vertritt.

Der beschriebene objektive Verlust der USA an Führungsfähigkeit jedoch zwingt uns zunehmend die zunächst unbequeme Last der Definition eigener Interessen auf, wobei unser eigenes gewachsenes machtpolitisches Potential uns zunehmend ein eigenverantwortliches Handeln ermöglicht, zu dem wir früher objektiv nicht fähig waren.

Das kommende Jahrzehnt erfordert und befähigt uns zu einer größeren westeuropäischen außenpolitischen Selbstverantwortung, zu einer gesamteuropäischen und auch weltpolitischen eigenständigen Mitverantwortung. Das Jahr 1990 sollte zwei gleichberechtigte und im Prinzip gleichgewichtige westliche Führungsmächte erleben, für die im Verhältnis zueinander der Begriff Unterordnung ein Fremdwort geworden ist. Erst dann wird das Wort von der atlantischen Partnerschaft einen realen Gehalt bekommen. 2. Für eine sicherheitspolitische Identität Westeuropas Zunächst ist festzustellen, daß die Sicherheitsinteressen der USA und Westeuropas nicht immer identisch sind, auch wenn wir von atlantischer Sicherheitspartnerschaft sprechen. Erklärtermaßen beruht unsere Sicherheit entscheidend auf der Abschreckung, indem ein möglicher Angreifer unseres Territoriums im Ernstfall mit dem Einsatz amerikanischer strategischer Nuklearwaffen gegen sich rechnen muß. Diese amerikanische Sicherheitsgarantie ist indessen mehr als fragwürdig geworden. Als Kronzeuge sei Henry Kissinger aus seiner Brüsseler Rede im September 1979 zitiert:

».. Wenn meine Analyse richtig ist, müssen wir uns der Tatsache stellen, daß es in den achtziger Jahren absurd sein wird, die Strategie des Westens auf die Glaubwürdigkeit der Drohung mit gegenseitigem Selbstmord zu gründen.

... Deshalb möchte ich sagen — was ich vielleicht als Amtsträger nicht sagen würde —, unsere europäischen Verbündeten sollten uns nicht ständig bitten, strategische Zusicherungen immer wieder zu wiederholen, die wir eigentlich nicht so meinen können, oder wenn wir sie meinen, möglichst nicht einlösen sollten, weil wir, wenn wir sie einlösen, die Zerstörung der Zivilisation riskieren.. "

Diese amerikanische Position ist in sich schlüssig, und sie entspricht voll den Interessen der USA So war es denn auch konsequent, daß die USA uns die eurostrategischen Waffen über den Weg der Nachrüstung andienten. Die logische Folge ist, daß hierdurch die Ab-koppelung des potentiellen europäischen Kriegsschauplatzes vom sanctuary des US-Territoriums nun auch waffentechnisch besiegelt wird. Ich habe auch deshalb die Nachrüstung von Anfang an für falsch und primär uns selbst gefährdend angesehen. Es ist nicht übertrieben zu schlußfolgern, daß die USA nur noch bedingt als atomarer Garant unserer Sicherheit bezeichnet werden können. Wenn aber dem so ist, so ist als weitere Konsequenz in Europa ein sogenannter „Stellvertreterkrieg" nicht mehr völlig auszuschließen, dessen Auslösung nicht einmal regional vom europäischen Territorium ausgehen oder politisch mit europäischen Problemen Zusammenhängen müßte.

Darüber hinaus bestehen begründete Zweifel, ob die USA die Realität eines Primats der europäischen Entspannungspolitik anerkennen können oder wollen und ob sie sich damit unseren vitalen Sicherheitsinteressen entsprechend verhalten werden.

Die Entspannungspolitik hat uns mehr Sicherheit gebracht, als 20 zusätzliche Divisionen und eine ganze Generation neuer Waffensysteme uns je verschaffen könnten. Europa war und ist die Entspannungsregion schlechthin.

Die USAjedoch scheinen mehr und mehr dazu zu neigen, die Entspannungspolitik als Ganzes und damit ein wesentliches Element unserer Sicherheit in Frage zu stellen oder zumindestens in ihrer praktischen Politik für geringer zu achten, als wir es im Eigeninteresse tun müssen. Unter Inanspruchnahme eines Solidaritätsdiktats werden sie damit uns ein selbst-schädigendes Verhalten zumuten. Denn die Westeuropäer und vor allem wir Deutschen müssen in erster Linie daran interessiert sein, die Entspannung in Europa auch dann zu sichern, wenn sich krisenhafte Entwicklungen in anderen Regionen zeigen, wie derzeit in Afghanistan.

Aus dem Gesagten und den vorher geschilderten Rahmenbedingungen folgt, daß Westeuropa nicht länger auf eine eigenständige Sicherheitspolitik verzichten kann und darf, wenn anders es sich nicht auf Gedeih und Verderb amerikanischen Sicherheitsgarantien anvertrauen will, deren Einlösung fraglich ist.

Es liegt in der Logik der Entwicklung, daß parallel zur Schaffung einer außenpolitischen Identität Westeuropas auch eine angemessene sicherheitspolitische Identität ausgeformt werden muß, da auch hier das Herr-im-Hause-Argument Stresemanns Gültigkeit beanspruchen kann.

Die Europäische Gemeinschaft kann auch das bisher gewahrte sicherheitspolitische atomare Tabu nicht für alle Zukunft aufrechterhalten. Das Hauptargument, das gegen eine sicherheitspolitisch selbstverantwortliche Identität Europas angeführt wird, nämlich die Arbeitsteilung: europäische Selbstbeschränkung auf die konventionelle Verteidigung und Ver11 pflichtung der USA im nuklearen Bereich wird auf die Dauer nicht haltbar sein, denn diese Regelung kann bei sich ändernden Voraussetzungen nicht immer glaubwürdig Bestand haben.

Die Europäische Gemeinschaft muß sich als der ständig auszubauende westeuropäische politische Zusammenschluß in diesem Zusammenhang früher oder später notgedrungen auch mit der Frage befassen, welchen Stellenwert und welche Zielsetzung die atomare Rüstung auf unserem Kontinent haben soll. Die „Nachrüstungs" -Debatte, in der wir primär den amerikanischen und nicht unseren europäischen Sicherheitsinteressen gefolgt sind, hat dieses deutlich gezeigt. Realistischerweise ist davon auszugehen, daß ein sowjetischer Angriff auf Westeuropa nahezu ausgeschlossen ist, daß aber nichtsdestoweniger Westeuropa für einen solchen Fall über die notwendigen Vergeltungsmittel verfügen muß, um ihn gänzlich auszuschließen.

Deswegen ist zu berücksichtigen:

1. daß der multilaterale NATO-Vertrag nicht zur Disposition stehen darf, auch wenn die interne Organisation und Strategie der NATO den europäischen Interessen gemäßer gestaltet werden muß; 2. daß die im Laufe der Zeit entwickelte Arbeitsteilung innerhalb der NATO (atomar allein die USA, konventionell überwiegend die Europäer) inzwischen dringend diskussionsbedürftig geworden ist;

3. daß allein der amerikanische Präsident darüber entscheidet, ob, wann und wogegen das in Westeuropa stationierte amerikanische Potential eingesetzt wird oder nicht. Die bisherige Beschränkung auf das Anhörungsrecht der Europäer entspricht ihren Sicherheitsinteressen nicht.

Der amerikanische Präsident kann in Rechnung stellen, daß nach Abschuß eurostrategischer Raketen von Westeuropa aus der unvermeidliche sowjetische Gegenschlag höchstwahrscheinlich ausschließlich europäischen Boden treffen würde, daß der Auslöser eines Atomschlages also nicht unbedingt die Folgen zu tragen hätte. Da das m. E. nicht hingenommen werden darf, sind Verhandlungen mit den USA überfällig, mit dem Ziel, daß nuklear nicht mehr über unsere Köpfe hinweg entschieden werden kann. Dabei wird es vermutlich hart zugehen. Die Bundesrepublik Deutschland und die westeuropäischen Staaten, auf deren Boden amerikanische Nuklearwaffen stationiert sind, müssen — aus purem Selbsterhaltungsinteresse heraus — gegenüber den USA zumindestens ein Vetorechtiüt den Einsatz dieser Waffen reklamieren und durchsetzen. Ein west-östliches Abkommen über einen wechselseitigen Verzicht auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen (non first use) entspricht durchaus unseren vitalen Interessen. Notwendig wäre also eine gleichberechtigte westeuropäische Mitverfügung über das hier stationierte amerikanische nukleare Potential, wobei sehr fraglich ist, ob die USA dieser werden zustimmen wollen oder können. Wenn eine wie immer geartete Mitverfügung nicht zugestanden wird, müssen von den Westeuropäern alternative Lösungen gefunden werden.

Zwingend zu fordern ist im Zuge der Entwicklung außerdem die Beteiligung der Europäer an den angestrebten Gesprächen mit der UdSSR mit dem Ziel, daß die geplanten neuen atomaren Systeme auf europäischem Boden überhaupt nicht stationiert werden müssen und daß die in Europa bereits vorhandenen atomaren Potentiale drastisch verringert werden (Verhandlungsebene SALT III).

Die Europäer werden sich der Tatsache noch schmerzlich bewußt werden, daß sie zur weiteren Aufrüstung von den Supermächten sehr wohl herangezogen werden, daß aber die Abrüstung in Europa, an der sie zuvörderst interessiert sein müssen, nicht unbedingt im Interesse der Supermächte liegt und daß sie wahrscheinlich nur gegen deren hartnäckigen Widerstand durchgesetzt werden kann. Ziel muß es letztendlich sein, Europa von atomaren Massenvernichtungsmitteln völlig frei zu halten — derzeit eine Utopie. An diesem Ziel zu arbeiten, setzt — wie dargelegt — voraus, daß die Westeuropäer eine wachsende Entscheidungsbefugnis und Souveränität in allen Bereichen ihrer Verteidigung gewinnen, auch denen, die derzeit noch ausschließlich den USA vorbehalten sind.

Hierbei können in Zukunft die atomaren, derzeit noch allein national verfügbaren Potentiale Frankreichs und Großbritanniens eine größere Bedeutung gewinnen. Unter Einbeziehung dieser mit uns verbündeten Staaten würden die Westeuropäer ein größeres Maß an originärer sicherheitspolitischer Identität und Selbstbestimmungsfähigkeit erreichen. In Frankreich hierzu entwickelte Positionen erweisen sich hierfür als zukunftsträchtig und sollten ihrer Bedeutung entsprechend in die Überlegungen der Bundesrepublik mit einbezogen werden

In die Prüfung der europäischen Optionen muß also letztendlich auch die nukleare Option mit einbezogen werden. Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, daß die nicht-nuklearen Euratom-Staaten bei der Ratifizierung des Nichtverbreitungsvertrages als Voraussetzung für ihre Unterschrift erklärt haben, daß die Schaffung einer westeuropäischen Atomrüstung, wenn sie notfalls erforderlich werden könnte, nicht als Vertragsverletzung ausgelegt werden dürfe. Ein Alleingang der Bundesrepublik Deutschland bleibt nach wie vor ausgeschlossen, ebenso wie sie weder Motor noch Initiator dieser Entwicklung sein kann.

Es hat in der jüngeren Vergangenheit mehrere bemerkenswerte, speziell französische Initiativen gegeben, die in der Konsequenz eine Art europäische Verteidigungsgemeinschaft nicht ausschließen. Sie sollten im weiteren Verlauf der Entwicklung ebenso ernsthaft geprüft werden wie frühere Vorschläge von anderen Seiten zu einer bipolaren NATO-Struktur, die uns sicherheitspolitisch erstmals eine reale Partnerschaft mit den USA ermöglichen würde, die ich derzeit als nicht gegeben erachte.

Ich bin mir völlig bewußt, daß das hier Gesagte heute ebenso utopisch wie provozierend klingt Dennoch wage ich die Prognose, daß im Jahre 1990 der Begriff „Europäische Sicherheitspolitik“ kein Fremdwort für die EG mehr sein wird, weil die Entwicklung uns zwangsläufig in diese Richtung treibt, auch wenn wir noch so sehr zögern. 3. Die europäische Selbstverantwortung für Frieden und Abrüstung Die Forderung nach einer sicherheitspolitischen Identität Europas ist keineswegs die Forderung nach westeuropäischer Aufrüstung. Im Gegenteil: Sie soll uns in den Stand setzen, in Selbstverantwortlichkeit für das zu sorgen, was unser vitalstes Interesse bedeutet, nämlich souverän über die bedrohliche Über-rüstung auf unserem Kontinent in Ost und West mit dem Osten im gegenseitigen Interesse zu verhandeln, und zwar auf der Basis stabil gehaltener Entspannungsbeziehungen. ist nach wie vor die höchst gerüstete Zone der Welt einschließlich nuklearer Massenvernichtungsmittel. Diese Überrüstung ist friedens-und sicherheitsgefährdend — ein Zustand, der sich von Jahr zu Jahr durch weitere beiderseitige Aufrüstung verschlechtert.

Die USA sind maximal daran interessiert, daß bei den Verhandlungen in Wien über ausgewogene Truppenreduzierung in Europa (MBFR) ihre eigenen Truppen in Europa verringert werden. Sie teilen aber unser vorrangigstes Interesse nicht, daß unsere Gefährdung durch umfassende Abrüstungsmaßnahmen gemindert werde. Wir jedoch haben uns — besonders in Deutschland — daran gewöhnt, ungeprüft die amerikanischen Interessen für die eigenen zu halten. Unter diesen Umständen bedarf es dringend einer Klarstellung: Völlig verfehlt wäre es, hinter dem vorgetragenen Konzept entweder einen irrationalen Antiamerikanismus zu vermuten oder eine westeuropäische Kapitulationsbereitschaft gegenüber der UdSSR als Motiv zu sehen. Im Gegenteil: Westeuropäische Selbstverantwortung und westeuropäisches Selbstbewußtsein, das sich die nötigen Handlungsinstrumente schafft, kann in Europa und weltpolitisch gemeinsam mit den USA als gleichberechtigtem Partner die westlichen Interessen wesentlich wirksamer vertreten, als dies bei der gegenwärtig beschränkten Handlungsfähigkeit der beiden Partner möglich ist.

Es wäre m. E. darüber hinaus ein Trugschluß zu glauben, daß bis zum Jahre 2000 Hunderttausende amerikanische Soldaten auf deutschem Boden stationiert sein werden, um unsere Sicherheit zu garantieren. Gleichfalls halte ich die Annahme für einen gefährlichen Irrtum, daß das derzeitige militärische Block-system, das bisher einen Krieg verhindert hat, der Weisheit letzter Schluß europäischer Friedenssicherung sein könnte und müßte. Im Gegenteil: Das jetzige Drohsystem der in Konfrontation stehenden Militärblöcke auf dem Stand höchster Rüstung ist eine permanente Friedensgefährdung. Es ist eine langfristig anzustrebende Aufgabe, dieses System durch schrittweise Sicherheitsvereinbarungen und Abrüstungsmaßnahmen im Zusammenhang mit umfassender und allseitiger Kooperation durch ein auch von den USA garantiertes gesamteuropäisches Friedenssystem zu ersetzen. Die Lösung dieser Aufgabe werden nicht Dritte bewerkstelligen wollen oder können; hier müssen wir Europäer selbst den Mut zur Tat aufbringen. 4. Das KSZE-System als Keim für eine europäische Friedensordnung Die KSZE war die erste Sicherheitskonferenz unter Beteiligung aller europäischen Staaten seit dem Wiener Kongreß 1815. Dies allein weist schon auf ihre epochale Bedeutung hin. Die KSZE-Schlußakte ist eine Magna Charta europäischer Friedenspolitik, d. h.der europäischen Entspannungspolitik. Sie ist in ihrer Prinzipienerklärung und in den Teilen, die sich mit den Zielen und Instrumenten umfassender bilateraler und multilateraler Zusammenarbeit sowie mit den institutionellen Folgen befassen, als ein System von Elementen zur schrittweisen Entwicklung einer gesamteuropäischen Friedensordnung zu verstehen. Dieses System ist seiner Natur nach auf langfristige Wirkung angelegt. Als solches sollte es demgemäß im praktischen Verhalten aufgefaßt und ausgestaltet werden. Dies ist eine echte Jahrhundertaufgabe.

Obwohl Dissens über die völkerrechtliche Qualität der KSZE-Beschlüsse besteht, sollten sich dennoch alle Beteiligten praktisch so verhalten, als ob sie völkerrechtlich voll wirksam wären. Die Gestaltung der KSZE-Folgen auf der Basis der Schlußakte sollte als Chance und Aufgabe verstanden werden, um ihre Realisie. rung nicht nurvoll in allen Teilen gleichrangig voranzutreiben, sondern auch um im Vollzug gesamteuropäische Institutionen so herauszubilden, daß sie später einmal tragende Elemente einer gesamteuropäischen Struktur werden könnten. Durch Einbeziehung weiterer Gegenstände könnte daraus im Zusammenhang mit anderen dargelegten Elementen bis zum Jahr 2000 ein europäisches Friedenssystem entstehen.

Dabei ist niemals zu vergessen, daß die KSZE als Konfrontationsinstrument untauglich ist daß sie aber als Kooperationsinstrument im Interesse aller Beteiligten auch im System-antagonismus außerordentlich wirksam sein kann. Die KSZE in diesem Sinne zu nutzen, wird vorrangige Aufgabe des kommenden Jahrzehnts sein; auch hier wird der Erfolg nicht von Dritten, sondern primär von der Selbstverantwortungsfähigkeit der Europäer in Ost und West abhängen.

VI. Die Deutsche Frage und eine europäische Friedensordnung aus der Sicht von 1990

Nicht allein aus geographischen, sondern auch aus historischen Gründen und wegen der ganz Europa belastenden Kriegsfolgen haben beide deutsche Staaten nach wie vor und in Zukunft eine Schlüsselfunktion für Krieg oder Frieden in Europa. Ebenso ist ihr Verhältnis zueinander eine Schlüsselfrage jeder möglichen europäischen Friedensordnung.

Im Jahr 1990 werden sich, gemessen an dieser Verantwortung und den historisch -sich un an ausweichlich vollziehenden Entwicklungen, manche heute geführten deutschlandpolitischen Diskussionen nur noch mit Kopfschütteln nachlesen lassen, und es werden sich nicht wenige derzeit noch offiziell vertretene deutschlandpolitische Positionen als Tagträumerei herausgestellt haben.

1990 wird die Behauptung, daß das Deutsche Reich nie untergegangen sei, sondern fortbestehe, auch in der Bundesrepublik nur noch auf Unverständnis stoßen. Rechtsauffassungen über die Vorläufigkeit von deutschen Grenzen oder über eine begrenzte Souveränität der DDR im Hinblick auf ihre Staatsgrenze oder ihre Staatsbürger werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als unverständliche, weil als irreal erwiesene Sachpositionen nur noch von Außenseitern vertreten werden.

Der Bundeskanzler hat mit Recht jüngst in einer Fernsehdiskussion prognostiziert, daß er die Vereinigung der Deutschen in einem Staat bis zum Jahr 2000 mit Sicherheit nicht erleben recht behalten. werde. Und er wird Die normative Kraft des Faktischen wird souverän über die Plakate von gestern hinweggehen; der Zwang zur fortschreitenden westeuropäischen Einigung wird an den wahren Interessen unserer Partner in der Deutschen Frage keinen Zweifel lassen; die friedenspolitische und letztendlich auch machtpolitische Notwendig keit zur Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung wird ihren Tribut geradevon uns Deutschen fordern. Wir sollten da die Dinge gelassen nehmen, so wie sie sind und das Beste daraus machen. Dies ist ohnehin nur im Rahmen einer europäischen Entspannungspolitik möglich, und hier sind beide deutsche Staaten in ihren jeweiligen Einbindungen und durch die positive Ausgestaltung ihres Verhältnisses zueinander als Garanten und Motoren gefordert.

Als Fazit meiner Analysen und Prognosen über eine europäische Friedensordnung ergibt sich kurz zusammengefaßt: Die achtziger Jahre werden unausweichlich im Zeichen einer umfassenden europäischen Identitätsbildung stehen und damitgesamteuropäisch eine Europäisierung der europäischen Fragen einleiten, sie aber noch nicht völlig erreichen. Wir können diesen Prozeß beschleunigen oder bremsen. Langfristig werden wirihn auch nicht verhindern können, und wir sollten ihn auch nicht verhindern wollen!

Fussnoten

Fußnoten

  1. Um Mißverständnisse auszuräumen, wurden gegenüber dem Vortrag vom 25. 4. 1980 hier die Aus-deuturgen ZUF europdischen nuklearen Option verEuropa

Weitere Inhalte

William Borm, geb. 1895; Mitglied des FDP-Bundesvorstandes und Vorsitzender des FDP-Bundesfachausschusses für Außen-, Deutschland-und Europapolitik; Ehrenvorsitzender der FDP Berlin. 1963— 1967 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses; 1960— 1969 Landesvorsitzender der FDP Berlin; 1965— 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages; dort Mitglied im Auswärtigen und im Innerdeutschen Ausschuß; 1969— 1972 Alterspräsident des Deutschen Bundestages und Mitglied im Europäischen Parlament. 1950 von der DDR auf der Transitstrecke verhaftet und wegen „Kriegsund Boykotthetze" zur Höchststrafe von zehn Jahren Haft verurteilt, davon 9 Jahre verbüßt. Veröffentlichungen aus jüngster Zeit: Wegmarkierungen der Entspannungspolitik für die 80er Jahre, in: ZMO-Informationen August 1979; Perspektiven europäischer Friedenspolitik, in: Texte der Evangelischen Akademie Berlin, Sept. 1979; Deutsche oder europäische Einheit, in: Hans-Wolfgang Rubin (Hrsg.), Freiheit, Recht und Einigkeit, Baden-Baden 1980; Plädoyer für eine selbstbewußte europäische Entspannungspolitik, in: Vorgänge 2/1980.