Gekürzte und überarbeitete Fassung eines Beitrages aus der französischen Zeitschrift Contrepointe. Übersetzung: Jutta Hössken. „Hundertmal habe ich gedacht, daß, falls ich Spuren in dieser Welt hinterlassen sollte, es wohl mehr auf meine Schriften als auf meine Taten zurückzuführen sein wird", schrieb Alexis de Tocqueville (1805— 1859) im Dezember 1850 in Sorrent, als er während der Genesung von einer Lungenerkrankung über sein bisheriges Leben nachdachte und sich mit dem Gedanken trug, historische Forschungen zu betreiben, die dann später zur Veröffentlichung von L'Ancien Regime et la Revolution führten. Ein echter Wandel, denn abgesehen von der kurzen Skizze eines Aufsatzes über Indien und einigen akademischen Notizen hatte er in den vorangegangenen zehn Jahren seine ganze Kraft dem öffentlichen Leben gewidmet.
Gewiß, es ist Tocqueville nie gelungen, dort auf höchster Ebene die Rolle eines Guizot, eines Thiers oder auch nur die einen zwar kurzen, aber entscheidenden Augenblick lang wichtige Rolle eines Lamartine zu spielen. Beaumont, und darin stimmen die meisten Biographen mit ihm überein, hat uns seinen Freund als zu nervös geschildert, um sich auf die Rednerbühne zu drängen, als zu zurückhaltend und zu wenig geschickt, um eine dauerhafte Partei um sich zu sammeln. Freilich hat Beaumont zu schwarz gemalt, wenn er Tocqueville zu einem Einzelgänger macht, der sich von allen Parteien fernhielt; und sein Zeugnis ist mit einigem Vorbehalt zu lesen: Ihn plagte ein schlechtes Gewissen, weil er Tocqueville während der Zeit der politischen Auseinandersetzungen über die Juli-Monarchie im Stich gelassen hatte. Als Herausgeber der unvollständigen Oeuvres complätes seines Freundes hat er darin dann auch mit Sorgfalt jede Anspielung auf ihre ehemaligen politischen Differenzen getilgt.
Tatsächlich war die politische Karriere Tocquevilles keineswegs durchschnittlich: Während der Juli-Monarchie war er in der Abgeordnetenkammer Berichterstatter über Gesetzesvorlagen zur Abschaffung der Sklaverei und zum Gefängniswesen — zwei der größten moralischen Probleme für das liberale Be-wußtsein jener Zeit — und über das Algerien-Statut, Gegenstand leidenschaftlicher Kontroversen. Gegen Ende der Juli-Monarchie verfügte er über eine Art moralischer Autorität, die zunächst zweifellos umstritten, im Laufe der Zeit jedoch nach und nach anerkannt wurde. Diese Autorität macht die Rolle verständlich, die der ausgesöhnte Gegner der Republik während der Zweiten Republik spielte: 1848 Mitglied des Verfassungsausschusses, 1849 Außenminister, dann Berichterstatter des Entwurfs zur Revision der Verfassung, an dem die Zukunft des Landes hing.
Die großen Linien seines politischen Programms während der Juli-Monarchie lassen sich anhand seiner Korrespondenz und seiner Aufsätze, die leider nicht alle identifiziert sind, aufzeigen, und vor allem anhand seiner etwa dreißig Reden, die er zwischen 1839 und 1848 im Parlament gehalten hat. Die letzte, vom 27. Januar 1848, in der er einen allgemeinen Eindruck von Instabilität schildert, „dieses Gefühl, das Revolutionen vorausgeht", hat dazu beigetragen, seinen Ruf als Prophet zu festigen. Vielleicht nicht ganz zu Recht, denn in dieser Rede, als er das Neue an dem revolutionären Geist von 1848 auf schmerzhafte Weise spürte, verlieh er nur einer Angst Ausdruck, die von vielen wachen Köpfen geteilt wurde. Im übrigen hatte er seine eigene Besorgnis etwas übertrieben, um den Optimismus der Mehrheit im Parlament zu erschüttern ...
Die Reden Tocquevilles sind von unterschiedlicher Qualität, jedoch wird die Tragweite ihrer Aussagen durch die Notizen zu ihrer Vorbereitung erhellt. Die Demokratie in Amerika war das abschließende Ergebnis einer Arbeit, deren erste Phase durch die Tagebücher der Reise in die Vereinigten Staaten gekennzeichnet ist. Diese Aufzeichnungen, die im Anschluß an die Reise im Verlaufe mehrerer Jahre entstanden sind, erlauben es uns, einen langsamen Entwicklungsprozeß nachzuvollziehen. Ebenso resümiert Tocqueville in jeder seiner Reden, in jedem politischen Aufsatz eine Arbeit, der er mit Ausdauer nachgegangen ist. Er redete oder schrieb nur über das, womit er sich lange beschäftigt hatte. So hat er beispielsweise, um eine Stellungnahme zur Freiheit des Schulwesens vorzubereiten, nicht nur Auszüge aus Zeitungen, Zeitschriften und Flugblättern, die die aktuellen Auseinandersetzungen Wiedergaben, angefertigt, sondern er hat darüber hinaus auch die Werke von Cousin und Villemain exzerpiert und das Universitätsgesetz von Ambroise Rendu auf alphabetisch geordnete Karteikarten übertragen. Seine Akten quollen über von Anmerkungen zu Schriften oder Gesprächen über die verschiedensten Gegenstände, die er irgendwann zu erforschen haben könnte. Wenn ihn ein Gedanke besonders beeindruckt hatte, griff er ihn in Skizzen wieder auf, die er mehrfach revidierte, bevor er einen Leitfaden für die endgültige Fassung entwarf. Neben den tatsächlich benutzten, sind in seinen Archiven jene begraben, die für Reden bestimmt waren, die dann nie gehalten wurden und manchmal Aufzeichnungen von Gedanken, die der Öffentlichkeit preiszugeben ihm nicht opportun schien.
Die Interessen des „einzigartigen Frankreich"
Im Juni 1849 wird Tocqueville Außenminister des Prinz-Präsidenten. Die internationalen Beziehungen waren eines seiner Hauptanliegen; und gerade hier begründete sich wesentlich seine Feindschaft gegen Guizot während der Juli-Monarchie. Wir werden im folgenden die Grundlinien seiner Vorstellungen herausarbeiten, und zwar für den Zeitraum von seiner ersten Parlaments-Rede über die Orient-Frage am 20. Juli 1839 bis zur Revolution von 1848. Seit 1839, nach dem zweiten siegreichen Feldzug Mohammed Alis gegen den Sultan, ist die Orient-Frage die Hauptsorge in politischen Kreisen. Die Sorge steigerte sich zu einem Gefühl der Angst, als sich 1840 die vier Groß-mächte miteinander verständigten und über die Angelegenheiten im Orient ohne die Beteiligung Frankreichs eine Vereinbarung trafen. Die Notizen Tocquevilles bezeugen sein Interesse an diesem Problem, und sie verdeutlichen, welchen Stellenwert diese Krise bei der Festlegung seines außenpolitischen Konzeptes gehabt hat.
Dabei wirkt die Einengung seines Blickwinkels auf die Interessen des „einzigartigen Frankreichs“ — ein Ausdruck, den Maurras später freudig aufgreifen wird — manchmal ein wenig befremdend.
Bereits 1831 hatte er, als junger Mann auf Reisen in Kanada, seine Sympathie für den zu jener Zeit drohenden Aufstand der französischen Bevölkerungsgruppen gegen die englische Regierung bekundet. 1840 gibt der Politiker, der den Erhalt der Einheit des osmanischen Reiches wünscht, dafür als einzige Begründung an, daß Frankreich im Falle einer Teilung eine schlechtere Position als Rußland und England habe; auf jeden Fall sollte es sich, wenn sich die Anzeichen für eine Teilung verstärkten, ein Unterpfand sichern und mit einer der Mächte ein Bündnis gegen die andere eingehen: Falls die Einheit des Reiches erhalten bliebe, könne man mit den Engländern einig werden, im Falle der Teilung jedoch sollte man sich mit Rußland verständigen, da Österreich, dessen Position ebenfalls zu schlecht ist, nicht in Betracht kommt. Zur gleichen Zeit vertritt Tocqueville die Ansicht, daß die Franzosen die Hand nach den Balearen ausstrecken sollten, da sie für die Verbindung zu Algerien unentbehrlich sind. Und in einem Aufsatz, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, wendet er sich mit folgenden Worten gegen die Absicht gewisser Liberaler, auf die Kolonie zu verzichten:
„Im Vollbesitz seiner Kraft und sogar auf dem Höhepunkt seiner Expansionsstärke kann ein Volk in einem Krieg unterliegen und dabei Provinzen verlieren. Wenn aber Frankreich vor einem Unternehmen zurückschreckt, bei dem es nichts zu fürchten hat außer den Schwierigkeiten, die die natürlichen Gegebenheiten des Landes mit sich bringen, und dem Widerstand kleiner Barbarenstämme, die dort leben, dann erweckt das in den Augen der Welt den Eindruck, als beuge es sich seinem eigenen Unvermögen und erliege seinem Mangel an Mut. Jedes Volk, das leichten Herzens wieder hergibt, was es erworben hat und sich ohne aufzubegehren in seine alten Grenzen zurückzieht, erklärt damit, daß die guten Zeiten seiner Geschichte der Vergangenheit angehören. Für alle sichtbar beginnt die Zeit seines Niedergangs."
Dieser Text steht keineswegs allein. Tocqueville empfiehlt eine umsichtige Politik, die aufmerksam die Entwicklung in der Welt verfolgt, denn Frankreichs „vornehmstes" Anliegen sei es, überall despotische durch freiheitliche Institutionen zu ersetzen. Nur diese Politik sei dem nationalen Stolz und der erhabenen „Tugend" des französischen Volkes angemessen und dem kostbaren Erbe der Revolution verpflichtet, folglich sei dies die einzige Politik, die das Juli-Regime festigen könne. Im Gegensatz dazu glaubt Guizot, „daß das Land schwerlich Krieg führen kann, ohne daß eine Revolution im Inneren stattfindet".
Nach Tocquevilles Auffassung soll der Frieden erhalten werden, solange es mit der nationalen Ehre vereinbar ist. Und das scheint ihm im Europa seiner Zeit einfacher zu sein als im zerstückelten Europa des 18. Jahrhunderts. Der Zar, der ideologisch in gleicher Weise Frankreichs Feind ist wie es Philipp II. zur Zeit der Reformation war, ist vollauf mit der Gleichschaltung Polens beschäftigt, und die deutschen Herrscherhäuser haben genug damit zu tun, sich ökonomisch zu sanieren und ihre Völker zu vereinigen. Eine kontinentale Allianz gegen Frankreich ist folglich wenig wahrscheinlich, solange die Franzosen nicht angreifen. Und ein solches Bündnis ist ohne die Unterstützung Englands nicht denkbar. England ist aber mit seiner Expansion in Über-see beschäftigt, die von vitalem Interesse für seine Industrie ist und den Lebensunterhalt der arbeitenden Bevölkerung gewährleistet. Eine Annäherung Englands an Rußland kann darüber hinaus für England nur eine prekäre Angelegenheit sein — es liefe Gefahr, den Preis dafür im Orient zu zahlen.
Vor Krisen wie jener des Jahres 1840 ist man indessen nicht geschützt: die vier verbündeten Großmächte stellten dem französischen Schützling Mohammed Ali ein Ultimatum (für ihn empfand Tocqueville weder die Begeisterung vieler seiner Zeitgenossen noch teilte er deren Illusionen). Es muß also festgelegt werden, von welchem Punkt an Frankreich zu keinem weiteren Nachgeben mehr bereit ist — für den Fall, daß diese Staaten ihre Drohung wahrmachen und den Vizekönig absetzen. Sollte der unvorherzusehende Fall eintreten, daß es die Alliierten auf einen Krieg ankommen ließen, wäre die Herausforderung im Vertrauen auf die Tapferkeit des französischen Volkes anzunehmen, das „in außergewöhnlichen Situationen ... eine Kraft entfaltet, die ohnegleichen ist, dessen ungestümer, kühner Schwung alle Berechnungen der alten Mächte über den Haufen wirft und den Sieg nach Hause trägt". Hier handelt es sich gewiß um eine romantisch verklärte Erinnerung an die „grande nation", wie sie sich bei vielen Liberalen jener Zeit finden ließe. Für sie jedoch, beispielsweise für Thiers, bleibt nach wie vor die Wiederherstellung der natürlichen Grenzen oder zumindest eine Verschiebung der Rheingrenze zugunsten Frankreichs das Hauptziel. Tocqueville glaubt nicht, daß Frankreich auf dem Kontinent noch die Möglichkeit hat, sein Territorium auf Dauer zu erweitern. Für ihn liegt die Zukunft des Landes anderswo, jenseits der Meere.
Wie sehr sich die Einflußsphären nach dem Sturz des Kaiserreiches verschoben haben, ist er sich in der Tat sehr wohl bewußt. Der kranke Riese Asien leidet unter dem Ansturm Rußlands vom Land aus, von den Küsten her wird er von der Seemacht England angegriffen; alle beide stellen die Vorhut der europäischen Nationen dar. Aus diesem Grunde lastet das schwerwiegende Problem, ob das Osmanische Reich, an der Pforte nach Asien gelegen, erhalten oder geteilt werden soll, heute mit seinem ganzen Gewicht auf Europa. Das Mittelmeer erlebt eine Blüte, die es zum „politischen Meer unserer Tage" macht. Diesem Maßstab muß die französische Außenpolitik gerecht werden. Und Tocqueville hofft, daß Frankreich die revolutionären Neuerungen in der Schiffahrt nutzen wird, um eine Streitkraft zur See zu errichten, die der Englands ebenbürtig ist. Wenn er sich so sehr darum kümmert, daß der französische Stützpunkt in Cherbourg ausgebaut wird, dann geschieht dies aus Gründen, die über die Sorgen eines Abgeordneten, der seinen Wahlkreis am Ärmelkanal hat, weit hinausgehen.
Liberal und anglophob
Anders als Thiers und Billaut wirft Tocqueville Guizot nicht „Maßlosigkeit“ im Bündnis mit England vor, sondern das Bündnis selbst. England, für das er ansonsten, wie man weiß, große intellektuelle Bewunderung hegt, kann den Franzosen aufgrund seiner inneren Struktur und unter den gegebenen historischen Umständen gerade im Bereich des Welthandels keine Zugeständnisse machen, weil es seine Fabriken mit Rohstoffen versorgen muß und einen Absatzmarkt für seine Waren braucht:
«Bedenken sie die besondere Situation Englands; es ist außergewöhnlich in seiner Größe und außergewöhnlich gefährdet; stellen Sie sich eine Nation vor, der es gelungen ist, den gesamten Welthandel unter ihre Kontrolle zu bringen und mit ihrer Industrie die ganze Welt zu versorgen und ... die, um zu leben, diesen außergewöhnlichen und anormalen Zustand aufrechterhalten muß."
Als möglichen „Bundesgenossen" sieht Tocqueville die Vereinigten Staaten. Als es 1846 zwischen England und den Vereinigten Staaten um Oregon zu einem Konflikt kommt, packt ihn die Wut, als er feststellt, daß Guizot eine Art wohlwollender Neutralität gegenüber der Vorgehensweise der Engländer wahrt. Diese Englandfeindlichkeit bringt ihn, den Gegner der Sklaverei, dazu, gegen den von Guizot eingebrachten Vertrag, in dem das Recht auf Inspektion der Schiffe vorgesehen ist, zu opponieren. Seines Erachtens läuft dieser Vertrag darauf hinaus, daß Frankreichs Marine der englischen zu Lehen gegeben werde. Dennoch verschließt sich Tocqueville nicht der Einsicht, daß das Bündnis zwischenzeitlich den Erfordernissen entsprach, als nämlich die Klärung der Probleme um Belgien anstand, aber selbst in diesem Fall habe England die Franzosen daran gehindert, Luxemburg als selbständigen Staat sicherzustellen; das Bündnis war von äußerst begrenztem Nutzen.
Das Argument, daß die Ähnlichkeit hinsichtlich der freiheitlichen Institutionen für das Bündnis mit England spreche, läßt Tocqueville andererseits nicht gelten. Gewiß können die beiden Länder sich in Ausnahmefällen (wie im Fall der willkürlichen Repressionen in der Romagna) in gegenseitigem Einvernehmen und in Übereinstimmung mit den Prinizpien des Völkerrechts aus humanitären Gründen engagieren. Aber auch hier unterscheiden sich die Ausgangspositionen grundlegend: England ist und bleibt eine Aristokratie, seine Außenpolitik dient als Instrument seiner materiellen Interessen; einzig und allein durch die Befriedigung dieser Interessen kann sich die Aristokratie an der Macht halten. Frankreich dagegen ist „das Herz und der Kopf der Demokratie", sein Einfluß in der Welt steht und fällt mit der Verbreitung der Prinzipien von 1789.
So stellt sich für Tocqueville die Weltlage dar, und vor diesem Hintergrund wird verständlich, welche Bedeutung in seinen Überlegungen der Aufrechterhaltung des französischen Einflusses in Ägypten zukommt; dort gilt es Mohammed Ali dahingehend zu ermutigen, daß er die Engländer daran hindert, über den Euphrat oder die Landzunge von Suez einen Weg nach Indien zu monopolisieren. Es ist auf Tocquevilles Interesse an Indien zurückzuführen, daß er während der Zeit seiner politischen Betätigung noch ein einziges Mal versucht, eine Schrift zu verfassen. In Griechenland, wo die beiden Länder ständig um die Erweiterung ihres Einflusses kämpfen, müssen die Franzosen ihre Anhängerschaft mit Nachdruck gegen die der Engländer unterstützen. In noch stärkerem Maße hebt Tocqueville die Bedeutung des westlichen Mittelmeerraums hervor: hier läge der wahre Schwerpunkt von Frankreichs Expansion. Einer der schwersten Vorwürfe, die er gegen Guizot erhebt, besteht darin, daß dieser in Spanien die gemäßigte Partei, die die Franzosen bisher unterstützt haben, im Stich gelassen habe (obwohl schon ein maßvolles Eingreifen, wie er anmerkt, ausgereicht hätte, sie an der Macht zu halten) und daß er tatenlos zugesehen habe, wie Espartero dort seine Diktatur errichtete, nach dessen Sieg aber keine Anstalten gemacht habe, diese Person für sich zu gewinnen. In Espartero sieht Tocqueville nicht den Liberalen, für den die französische Linke eine Schwäche hat, sondern einen Militärdiktator des Typs, wie Revolutionen ihn hervorbringen, die sich in die Länge ziehen: Durch eine geschickte Politik hätte man erreichen können, daß dieser General, der von Berufs wegen die Ordnung schätzen muß, eher der Seite Frankreichs Verbündeter, der Gemäßigten, zuneigt als zu den Schwärmern auf Seiten der englischen Parteigänger. In diesem Teil der Erde ist besonders Algerien von sehr großer Bedeutung für Frankreich, alles in allem ist es von „absolut" größter Bedeutung. Dort müssen die Franzosen Fuß fassen, indem sie die Eroberung des Landes zu Ende bringen und es zugleich mit Siedlern bevölkern. Im Verlaufe der Jahre 1839— 1848 ist es Tocquevilles beständige Sorge, daß eine kohärente Algerienpolitik entwickelt wird; aus diesem Grunde trägt er in seinem Bericht von 1847 dem Parlament Leitlinien vor; und es empört ihn, daß die Regierung sich bei einem solchen Unternehmen vom „Zufall" leiten läßt. Kurz gesagt: Gegen eine Politik, deren Ziel es ist, die Isolation zu überwinden, sei es durch das Bündnis mit England, sei es durch das Bemühen um den entsprechenden Rückhalt auf dem Kontinent, vertritt Tocqueville eine Diplomatie des Einzelgängertums, die nur durch befristete Abkommen über dieses oder jenes konkrete Problem aufgelockert wird. Als es dann über die spanischen Hochzeiten zum Bruch mit England kommt, bleibt er sich selbst treu, indem er ausnahmsweise die Politik Guizots billigt, wenn auch unter der Bedingung, daß der Gewinn für die Dynastie nicht mit einem entsprechenden Ausgleich für die Engländer bezahlt wird. Hierin unterscheidet er sich vom größten Teil der Abgeordneten der dynastischen Linken und des Linken Zentrums, die, nachdem sie Guizot als Bundesgenossen der Engländer getadelt haben, sich jetzt über den Bruch der Allianz aus dynastischen Gründen empören.
Der Widersacher Guizots
Guizot vertraut darauf, daß im Laufe der Zeit und bei wachsendem materiellen Wohlstand im Lande die politischen Leidenschaften verebben und sich das französische Volk an die neue Monarchie gewöhnt. Allerdings glaubt er 1840 noch, daß es sich auf einer Gratwanderung über revolutionären Abgründen befindet. Tocqueville hält diese Furcht vor der Revolution für abwegig. Die Feinde des Regimes, so läßt er uns wissen, sind die Legitimisten und die Republikaner. Die zuerst genannten können im Volk nur Erinnerungen wachrufen, die aber endgültig der Vergangenheit angehören; allein durch eine Intervention des Auslands bekämen sie noch einmal eine Chance. Auf sich selbst gestellt, sind sie nicht mehr als Offiziere ohne Truppen. Genau umgekehrt verhält es sich mit den Republikanern: da handelt es sich um Soldaten ohne Offiziere. Sie rekrutieren sich, von einigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, aus den unteren Schichten des Volkes und sind weniger die Feinde der Monarchie als des Eigentums. Gefährlich würden sie erst, wenn eine bürgerliche Partei sich an ihre Spitze stellte. Frankreich ist das Land, in dem die Mittelschicht zahlenmäßig am stärksten und homogensten ist. Wenn durch die Revolution 1789 bei dieser Schicht der Hang zur Gleichheit gefördert worden ist, so hat sie auch Geschmack an der Freiheit gefunden und ihre Liebe zum Eigentum entwickelt; dieses Eigentum weit zu streuen, dazu hat die Revolution beigetragen.
Diese breite Schicht mittelständischer Eigentümer wird in der französischen Gesellschaft erst dann nicht mehr dominieren, wenn die ökonomische Entwicklung dazu geführt haben wird, daß auf der einen Seite ein starkes Unternehmertum, „die strengste aller Aristokratien", entstanden ist, dem auf der anderen Seite Massen proletarisierter Arbeiter gegenüberstehen. Der aus dieser Entwicklung resultierende Klassenkampf wird zu einem Problem ersten Ranges für das Land werden, auch wenn im Jahre 1840 nach Tocquevilles Einschätzung der Zeitpunkt noch fern liegt. 1840 ist das soziale Gewicht jenes Mittelstandes (den er später in seinen Erinnerungen so scharf verurteilen wird) nach wie vor der entscheidende Faktor in der Politik. Pointiert ausgedrückt: Tocqueville wirft der letzten Regierung des Bürgerkönigtums hauptsächlich vor, daß sie dem Eigennutz der Mittelschicht geschmeichelt und den Staat zu deren Vorteil regelmäßig ausgebeutet habe.
Gewiß ist die Situation Frankreichs außerordentlich verwickelt: im Gegensatz zur zentra29 lisierten Verwaltungsmonarchie Preußens und zur dezentralisierten repräsentativen Regierungsform Englands ist seine Regierungsform eine Art Zwitter, der bis dahin unbekannt war und sich zur damaligen Zeit auch sonst in Europa nirgends findet: eine von der absolutistischen Monarchie ererbte zentralistische Verwaltungsstruktur existiert neben einer repräsentativen Regierungsform weiter; die repräsentative Regierungsform, die sich aus der Aristokratie entwickelt hat, verdankt ihre Existenz gerade einer Wählerschaft, die aus nichtprivilegierten Schichten hervorgegangen ist, und das ist es, was sie als Demokratie auszeichnet (denn nach Tocquevilles Auffassung ist nicht das allgemeine Wahlrecht das Charakteristikum der Demokratie). In einer solchen gesellschaftlichen Situation stellt sich die große Aufgabe, diese Wählerschaft, die die demokratische Komponente darstellt, aufzuklären, ihr ihre Funktion in der Gesellschaft bewußtzumachen. Auf diese Weise kann man die für die Zukunft unvermeidbare Ausweitung der Demokratie durch fortschreitende Reformen einleiten und damit revolutionären Ausbrüchen vorbeugen. Aber nur große Parteien, die sich ihrer politischen Verantwortung bewußt sind, können im erzieherischen Sinne auf diese Wählerschaft meinungsbildend wirken.
Unter dem Vorwand, revolutionäre Leidenschaften zu besänftigen oder auszulöschen, laufen alle Maßnahmen Guizots in diesem Bereich darauf hinaus, politische Meinungen im Keime zu ersticken. Tocqueville ist der Ansicht, daß er mit den schlechten politischen Leidenschaften gleichzeitig die guten auslöscht und das mit Methoden, die auf den größten Teil der Nation eine demoralisierende Wirkung haben. Wenn in einem dezentralisierten Land eine festverwurzelte Aristokratie innerhalb der Gesellschaft eine repräsentative Funktion innehat, ist es von zweitrangiger Bedeutung, ob die Mitglieder dieser Aristokratie verdorben sind. Aber politische Korruption, wie sie die Regierung Soult-Guizot praktiziert, stellt den ungeheuren Apparat der napoleonischen Verwaltungszentralisation den Abgeordneten des Mittelstandes zur Disposition. Nirgends in Europa gibt es so viele Posten zu verteilen, aber die Gier nach Stellen ist auch nirgends sonst so groß, allein deshalb, weil die mittleren Einkommen den vorherrschenden Einfluß ausüben. Der Korruption des Abgeordneten durch die Regierung steht die Korruption der Wählerschaft durch den Abgeordneten nicht nach. So entsteht eine Situation, in der das genaue Gegenteil dessen eintritt, was durch die Institutionen erreicht werden sollte: Abgeordnete verwalten ihre Wahlkreise; und zum Ausgleich dafür überlassen sie es der Exekutive, Gesetze auszuarbeiten und zu beschließen. Der Weg führt, wenn auch auf verschlungenen Pfaden, zu jenem schleichenden Despotismus, der im Hinblick auf die modernen Gesellschaften eine fixe Vision Tocquevilles ist. Um dieses Übel zu verringern, hält er es für unumgänglich, den Eintritt in eine Verwaltungslaufbahn und die Beförderung strengen Regeln zu unterwerfen, wie sie für die militärische Laufbahn existieren.
Ein „Verteidigungs" -Programm
Die Regierung beschränkt sich nicht darauf, ihre Kompetenzen schrittweise in Einzelfällen auszudehnen. Insgesamt erfolgt eine umfassende Wende hin zur Reaktion, die das liberale Gebäude, das man 1830 errichtet hat, zu weiten Teilen einreißt und in die letzten Jahre der Restauration zurückführt. Tocqueville deckt die fortwährenden Kompetenzüberschreitungen der Regierung auf.
Zuallererst ist da das Gesetz vom April 1834 zu nennen, in dem die Anordnungen des Strafgesetzbuches, die sich auf das Vereinsrecht beziehen, verschärft worden sind, ohne daß der Zweck des jeweiligen Vereins berücksichtigt wird; Verstöße gegen dieses Gesetz sollen vor einem Strafgericht verhandelt werden oder im Falle eines Anschlags auf die Staatssicherheit sogar der Gerichtsbarkeit der Pairs-Kammer unterworfen werden. Wenig später, nach dem Attentat Fieschis auf Louis Philippe, werden die berüchtigten Gesetze vom September 1835 verabschiedet: sie verbieten es, sich öffentlich zum Republikanismus zu bekennen. Auf ihrer Grundlage werden die Schwurgerichte neu organisiert und die Richtlinien für die Beurteilung von aufrührerischen Handlungen geändert: im Falle ungebührlichen Verhaltens auf Seiten der Angeklagten kann das Urteil auch in deren Abwesenheit gefällt werden. Presse-delikte sollen geahndet werden, und gegebenenfalls sollen sie sogar vor der Pairs-Kammer, die dann als Gericht fungiert, verhandelt werden.
Von da an ist die Ablehnung oder Billigung der September-Gesetze für Tocqueville ein echter Prüfstein, um Liberale von Nicht-Liberalen zu unterscheiden.
Immer mehr Ereignisse weisen jedoch von diesem Zeitpunkt an darauf hin, daß das Werk der Reaktion sich fortsetzt, so z. B. das Gesetz über die Provinzzeitungen, die Vorauswahl der Geschworenen durch die Präfekten. Den Zeitungen wird mehr und mehr nachgestellt, um sie der geistigen Mittäterschaft bei politischen Delikten anzuklagen; die Verwaltung fordert, daß die protestantischen Kultur-Vereinigungen ihre Gottesdienste, die nicht subventioniert werden, vorher genehmigen lassen müssen.
All diese Fakten sind in den Augen Tocquevilles Anzeichen einer antiliberalen Reaktion. Sie geht einher mit der Anmaßung des Königs, in zunehmendem Maße hinter den Kulissen die Staatsgeschäfte zu beeinflussen und auch hierdurch zu einer Politik wie zu Zeiten der Restauration zurückzukehren. Tocqueville prangert nicht nur diese Mißstände an, sondern er hegt, wie viele seiner liberalen Zeitgenossen, selbstverständlich auch ein tiefes Mißtrauen gegen die seit der Verfassung aus dem Jahre VIII geltende Regel, die den Beamten Garantien zusichert, was einschließt, daß der Verwaltung richterliche Kompetenzen übertragen werden.
All dies erscheint ihm von so gravierender Bedeutung, daß er daraus den Schluß zieht, daß eine der Dynastie verbundene „sachgemäße" Opposition sich darauf beschränken sollte, die Wiederherstellung all jener Freiheiten zu fordern, die seit 1830 abgeschafft oder eingeschränkt worden sind. Auf diese Weise würde sie sich am deutlichsten von den Radikalen absetzen, denen die Demagogen, Revolutionäre und Aufrührer zuliefen. Dieses „Verteidigungs'-Programm unterbreitet er Barrot, da jener sich im Jahre 1842 nach der Verabschiedung des Gesetzes über die Regentschaft mit Thiers entzweit hat. Es ist das gleiche Programm, das er wenige Monate später in Aufsätzen im Siäcle vorstellt. Im großen und ganzen lassen sich die Überlegungen Tocquevilles folgendermaßen zusammenfassen: Guizot ist der Meinung, daß wir mehr Freiheit haben, als wir vertragen können. Gegen diese verächtliche Haltung muß man den Kampf aufnehmen und eine Partei gründen, die die öffentliche Meinung und das Bürgertum (Pays lgal) so anleitet, daß sie den liberalen Institutionen der Revolution von 1830 gerecht werden. Vor dem Hintergrund dieser politisch-moralischen Überlegungen muß man die Haltung Tocquevilles gegenüber den Reformvorhaben beurteilen, die vom Parlament unter der Juli-Monarchie im Laufe der Zeit häufig diskutiert, aber nie durchgeführt worden sind: die Erklä-B rung der Unvereinbarkeit von Abgeordnetenmandat und der Übernahme öffentlicher Ämter sowie die Ausweitung des Wahlrechts.
In der ersten Frage ist Tocqueville unschlüssig. Er weiß sehr wohl, wie leicht es bei der Kandidatur von Beamten zu Wahlmanipulationen kommt; er selbst hat in der Abgeordnetenkammer die Wahl Delangles, der Generalstaatsanwalt des Kassationshofes war, angefochten, weil dessen Wahlkampf von so schwerwiegenden Unregelmäßigkeiten wie der Freilassung von Angeklagten durchsetzt war. Gleichwohl scheint es ihm von Vorteil für die Debatten, wenn dem Parlament Beamte angehören; außerdem schränkt ihr Ausschluß die Auswahlmöglichkeiten der Wähler gefährlich ein. Was aber vor allem ein Ende haben muß, ist, daß die parlamentarische Laufbahn als Sprungbrett dient, um in den öffentlichen Dienst einzutreten, oder als Vehikel zur Beförderung nach eigenem Belieben. Verständlicherweise nimmt Tocqueville auch Anstoß daran, daß Beamte, die gegen die Regierung gestimmt haben, abberufen werden, wie es im Fall Drouyn Lhuys, dem Ministerialdirektor im Außenministerium, geschehen ist.
Was die Ausweitung des Wahlrechts angeht, so ist er theoretisch dafür, aber auch hier zeigt er sich sehr vorsichtig: Bevor das Wahlrecht ausgeweitet wird, möchte er einzelne Teilreformen durchsetzen, wie zum Beispiel die Neu-Einteilung der kleinen Wahlkreise, da in diesen „verrotteten Marktflecken" die Korruption in höchstem Maße gedeiht. Vor allem wünscht er sich, daß das politische Leben auf regionaler Ebene neue Impulse bekommt. In diesem Punkt gründet sich seine Hoffnung auf die Tätigkeit der Generalräte (conseils gnraux), die seit 1833 von einer breiteren Basis gewählt werden als die Abgeordnetenkammer. In diesem Punkt kommt wieder seine Überlegung zum Tragen, daß die Gewohnheiten der Menschen so zu verändern seien, daß sie sich der Freiheiten, die ihnen 1830 zugestanden worden sind, würdig erweisen. Das ist das Hauptanliegen Tocquevilles, und hieraus erklärt sich, daß er, im Gegensatz zu seinen politischen Freunden, die berühmten Reform-bankette am Ende der Juli-Monarchie so außerordentlich zurückhaltend beurteilt. In deren Verlauf wird, wie er es voraussieht, die dynastische Linke, der die Radikalen den Rang abgelaufen haben, für die zu plötzlich auftauchende große Unbekannte, das allgemeine Wahlrecht, gewonnen. Wie Dufaure und Thiers gehört Tocqueville am Vorabend der Revolution vom Februar 1848 zur „nüchternen Opposition".
Die Leidenschaft für die Freiheit
Wir können hier nicht allen politischen Themen nachgehen, mit denen sich Tocqueville in der Zeit von 1839 bis 1848 beschäftigt hat. Aber zweifellos hat sein politischer Standpunkt in der Frage der Beziehungen zwischen Kirche und Staat eine sehr persönliche Färbung. Dabei handelt es sich um ein Problem, das 1844/45 einen heftigen Sturm von Auseinandersetzung auslöst.
Rufen wir uns den Gang der Ereignisse noch einmal ins Gedächtnis: die in der Verfassungsurkunde zugesagte Freiheit des Schulwesens ist im Hinblick auf die höheren Schulen und Hochschulen nicht verwirklicht worden (dies geschieht erst durch das Gesetz Falloux während der Zweiten Republik). Neben der Universität genießen nur kleine Seminare das Privileg der Freiheit. Eine sehr lebhafte Kampagne von Katholiken, die sich, einem Aufruf Montalemberts folgend, zusammengeschlossen haben, zwingt den Minister für das Unterrichtswesen Villemain einen Gesetzentwurf vorzulegen. Aber die Qualifikationen, die dieser Entwurf für die Ausübung der Lehre als obligatorisch vorschreibt, und die Aufsicht der Universität über zukünftige Unterrichtsanstalten sowie über die Vergabe von Diplomen, die der Entwurf ebenfalls vorsieht, rufen auf Seiten der Katholiken Widerstand hervor. Ein anhaltender Feldzug des l'Univers und verschiedener Geistlicher gegen die Universität provoziert als Antwort einen starken antiklerikalen Ausbruch auf breiter Front, die vom Regierungsblatt Journal des D^bats bis zum radikalen Nationalreicht, während im College de France Quinet und Michelet auf die Jesuiten losgehen.
Die gesamte parlamentarische Linke, die sich hinter Thiers, der zum Berichterstatter des Gesetzes Villemain ernannt worden ist, sammelt, ist entschlossen, das Monopol der Universität zu verteidigen, das von Kongregationen bedrohnt und angegriffen wird, die dazu nicht bevollmächtigt sind. Auf der Linken sind Tocqueville und die Zeitschrift Le Commerce, die zu diesem Zeitpunkt sein Organ ist, fast die einzigen, die die Freiheit des Unterrichts weiterhin verteidigen und gleichzeitig die gekünstelten Aspekte der antireligiösen Polemik aufzeigen. Damit zieht sich Tocqueville von Seiten des Constitutionnelund des Si^cle eine Pressekampagne voller perfider Unterstellungen zu. Damals entzweit er sich sogar mit seinem alten Freund Gustave de Beaumont; und erst durch die Revolution von 1848 wird diesen Auseinandersetzungen ihre Schärfe genommen. Im Rückblick ist die Position Tocquevilles kohärent und entspricht seinen Ansichten insgesamt; weil er sie aber zu einer Zeit vertritt, die von Leidenschaften geprägt ist, unterstellen ihm seine Gegner auf der Linken legitimistisehe oder klerikalistische Hintergedanken. Sie sind nicht mehr fähig, einen Mann zu verstehen, dessen einzige Leidenschaft nach wie vor, selbst in diesem ganzen Wirrwarr, die Freiheit ist und der die anstehenden Probleme weiterhin kühl analysiert.
Zunächst einmal unterscheidet Tocqueville zwischen dem Problem der Freiheit des Unterrichts und dem der Übergriffe von Seiten des Klerus. Ganz gewiß ist er ein entschiedener Anhänger jener Freiheit, aber er mißtraut Montalembert, der sie nur im Interesse der Kirche lobt, fast ebenso wie de Cousin, einem Verteidiger des universitären Monopols (was Thiers betrifft, so ist für ihn das Ganze offensichtlich nur ein schlichter Hanswurststreich, den man der Regierung spielt). Für Tocqueville muß die Freiheit von Unterricht und Lehre darauf abzielen, die Universität in eine echte Konkurrenzsituation zu versetzen und Möglichkeiten zu eröffnen, z. B. auch ohne die alte Methode und nicht auf der Grundlage des Lateinischen gebildete Menschen heranzuziehen. Diese Konkurrenz wird die Universität, deren Verdienste er im übrigen keineswegs bestreitet, davor schützen, der reinen Routine zu verfallen, was im allgemeinen eine Begleiterscheinung des Monopols ist. Unglücklicherweise ist die katholische Ausbildung zur Zeit die einzig mögliche Alternative; vielleicht vermittelt sie eine bessere moralische Erziehung, da der französische Klerus sehr „tugendhaft" ist; aber er ist in intellektueller Hinsicht zu mittelmäßig, um eine Bildung zu vermitteln, die der der Gymnasien vergleichbar ist. Man wird deshalb Maßnahmen ergreifen und versuchen müssen, das Niveau dieses neuen Lehrkörpers wieder anzuheben. Tocqueville nennt auch die Wurzel des Übels: Im Gegensatz zu den Gymnasiallehrern, die die Lehrer-bildungsanstalt besuchen und sich dem staatlichen Examen unterziehen, liegt die Ausbildung des Klerus in den Händen von Geistlichen, die aufgrund einer Laune von Bischöfen habilitiert worden sind; und so soll der Klerus dann ohne genügende Vorbereitung Unterricht in den Seminaren erteilen. Das Privileg der kleinen Seminare, an das die Katholiken sich klammern, ist nicht zu rechtfertigen und muß gänzlich abgeschafft werden. Tocqueville bedauert die antireligiöse Polemik und macht dafür zum großen Teil die Regierung verantwortlich. Das große Verdienst der Revolution von 1830 war, daß der Klerus genötigt wurde, sich auf den Bereich seiner religiösen Kompetenzen zurückzuziehen. Das Ergebnis war eine Renaissance des Katholizismus, über die sich der Verfasser der Demokratie nur freuen konnte, da die Religion bei den Menschen den Sinn für soziale Verantwortung schärft. Das sittliche Niveau der Bürger ist also angehoben worden, aber die Regierung hat versucht, sich bei der moralischen Autorität, zu der der Klerus wieder geworden war, einzuschmeicheln und sie in ihren Dienst zu stellen. Gemeinsam mit Beaumont hat Tocqueville sich daran gemacht, dies nachzuweisen, indem er detailliert dargelegt hat, welche Vergünstigungen Geistlichen gewährt wurden, die durch ihre Beflissenheit auf sich aufmerksam gemacht hatten. Das Ergebnis ist ein in geringem Maße aufgeklärter Klerus, der über die Probleme seiner Zeit nur wenig weiß und der in dem Glauben lebt, die schönen Tage der Restauration seien wieder angebrochen, weshalb er sich immer häufiger mit viel Ungeschick in die Politik einmischt. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, da die Regierung durch ihren einlullenden Einfluß ein Vakuum geschaffen hat, das, da es an großen politischen Leidenschaften fehlt, die Kontroversen aus dem 18. Jahrhundert zwischen den Philosophen und dem Katholizismus wieder aufleben läßt. Im übrigen sieht die Regierung tatenlos zu, wie diese Kontroversen sich frei entfalten, und sie versucht noch nicht einmal, schlichtend in den Streit zwischen Klerus und Universität einzugreifen.
Die religiösen Ordensgesellschaften, so scheint es Tocqueville, befinden sich in Übereinstimmung mit natürlichem Recht, wenn sie sich zusammenschließen. Dennoch können einige von ihnen die öffentliche Ordnung stören. Wenn Tocqueville auch jene Volksaufwiegler angreift, die jeden Morgen schreien: „Vertreibt die Jesuiten", um sich der Verpflichtung zu entheben, für die Freiheit zu kämpfen, so bleibt er doch, vielleicht bedingt durch den Atavismus eines Abkömmlings alter Familie mit parlamentarischer Tradition, mißtrauisch gegenüber diesem berühmten Orden: er vertritt die Ansicht, daß man zwar in aller Stille, aber strikt das Gesetz anwenden kann, das die Jesuiten in Frankreich verbietet.
Der Klassenkampf
Dieses Gären der öffentlichen Meinung anläßlich der religiösen Auseinandersetzungen läßt vom Jahre 1846 an wieder nach. Tocqueville aber hat sich zum Schluß mit der dynastischen Linken überworfen, ist mit Thiers und seinen Freunden entzweit und enttäuscht über den Mißerfolg der Zeitschrift Le Commerce, die er zu einem großen meinungsbildenden Blatt machen wollte. Unterstützt von einigen persönlichen Freunden sucht er Kontakt zu weiteren Andersdenkenden, die ebenfalls in den bestehenden Parteien keine politische Heimat mehr finden, um zu versuchen, gemeinsam mit ihnen eine neue Linke zu bilden; neben ihm finden wir dort Dufaure, Billaut, Rivet, Corcelle, Combarel de Leyval. Diese kleine Gruppe hat auf sich aufmerksam gemacht, als sie einen Verbesserungsvorschlag zu der Parlamentsresolution von 1847, anläßlich der spanischen Hochzeiten, unterstützt. Bald entwickelt sich aus diesem losen Zusammengehen das Bedürfnis, ein Programm zu erstellen. Eine große öffentliche Erklärung, die eigens mehrere von ihnen gemeinsam verfaßt haben, soll von Dufaure zu Beginn der Sitzungsperiode von 1848 in Umlauf gesetzt werden. Weil diesem Bedenken kommen, die Erklärung zu veröffentlichen, wird die neue Linke, noch bevor sie das Licht der Welt erblickt, vom Februaraufstand überrollt.
Aber der Beitrag Tocquevilles, der die Präambel des Manifests entworfen hat, ist von großem Interesse. 1842 glaubte er an die revolutionäre Gefahr nur in einer langfristigen Perspektive. Dann liest er Owen und die Saint-Simonisten, Fourier und Louis Blanc, und so schwärmerisch ihm ihre Lehren auch erscheinen, sind sie für ihn die ersten Anzeichen eines Klassenkampfes, der weniger weit in der Ferne liegt, als er vorausgesehen hat. In diesem Klassenkampf werden diejenigen, die Eigentum haben und diejenigen, die nichts haben, gegeneinanderstehen: das Besitzbürgertum und das einfache Volk. So erscheinen die großen Blöcke, die verschwunden waren, wieder auf der Bildfläche; diesmal geht es aber nicht um die Freiheit oder die bürgerliche
Gleichheit, sondern um die Grundlage des sozialen Lebens selbst, um das Privateigentum.
Tocqueville, das versteht sich, bleibt ein Verteidiger des Eigentums. Aber um einen gewaltsamen Konflikt zwischen beiden Lagern zu vermeiden, schlägt er eine Reihe von Maßnahmen vor, durch die den Armen Unterstützung und Sicherheit gewährt werden soll. Insbesondere beharrt er auf seiner Idee, daß vor allem die Reichen besteuert werden sollten; das Steuersystem aber belastet durch indirekte Steuern und Zoll vor allem die Armen. Im großen und ganzen setzt er mit einer Analyse nach marxistischem Muster an und legt dann in den Grundzügen ein Programm der sozialen Solidarität vor, in dem sich die Vorstellung von sozialer Sicherheit mit der gleichmäßigen Verteilung der Lasten verbindet — ein Programm, mit dem er die Grenzen der klassischen Sichtweise des Liberalismus weit überschreitet...
Dennoch haben die Februar-Ereignisse bei Tocqueville zunächst Unbehagen hervorgerufen; seine erste Reaktion war zweifellos die Befürchtung, daß durch das plötzliche Eindringen unwissender und ungebildeter Massen in die Politik der erreichte Stand der Zivilisation gefährdet werde. Der Wahlkampf, den er bei den Bauern in der Manche führte, hat ihn in dieser Hinsicht aber wieder beruhigt. Die verschreckte Landbevölkerung interessierte sich plötzlich für die Politik, wollte von Abenteuern nichts mehr wissen und unterstützte diejenigen Notablen, die diesen Namen aufgrund ihrer Uneigennützigkeit und ihres Mutes noch verdienten. Und Tocqueville, der Verfechter der Dezentralisation, gewann durch den belebenden Kontakt mit seiner engeren Heimat seine ganze Kraft wieder. Als Autor eines Buches, in dem das Wort Demokratie, das auf einmal zur Zauberformel der Zeit geworden ist, eine wesentliche Rolle spielt, aber auch als erfahrener Politiker, der die verhängnisvollen Mißstände des gestürzten Regimes angeprangert hat, geht Tocqueville mit wachsamer Zuversicht in die Ära der Zweiten Republik.