Vom 19. Juli bis zum 3. August 1980 finden die Olympischen Sommerspiele in Moskau und damit zum erstenmal in einem kommunistisch regierten Land statt Das und ihr Boykott durch eine Reihe nichtkommunistischer Länder sind der aktuelle Anlaß, aber nicht die Ursache für diese kleine Studie. Vorrangiger Gegenstand meiner wissenschaftlichen Tätigkeit in Forschung und Lehre sind seit zwei Jahrzehnten Geschichte und Gegenwart einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung, deren Begründer und auch deren heutige Träger den Anspruch erheben, nicht nur einen, sondern den Weg zur Bewältigung aller wesentlichen Probleme des menschlichen Daseins und des Zusammenlebens im Weltmaßstab eröffnet zu haben und — jedenfalls im eigenen Herrschafts-und Einflußbereich — auf ihm bereits ein gutes Stück vorangekommen zu sein. Mein Bemühen ging stets dahin, über diese Ordnung, ihre historischen Grundlagen, hauptsächlichen Inhalte und aktuellen Probleme, kurzum: über ihre reale Erscheinungsform, ein möglichst breites Publikum in unserem Lande, dessen einer Teil ja zu diesem Bereich gehört, sachlich zu informieren und zu kritischer Beschäftigung mit ihr anzuregen. Das Thema „Sport in der Sowjetunion" bietet die Möglichkeit, dazu einen weiteren Beitrag zu leisten, der wohl nicht nur für einige Monate, d. h. für die Dauer der durch die sowjetische Intervention in Afghanistan heraufbeschworenen Diskussion um einen Boykott der diesjährigen Olympischen Sommerspiele in Moskau, mit stärkerer Resonanz in der Öffentlichkeit rechnen darf.
Ambivalentes „Gesetz der großen Zahlen"
Wer die gegenwärtige Lage des Sports in der Sowjetunion, ihre hauptsächlichen Bestandteile und Probleme erfassen und sachgerecht kennzeichnen will, wird von folgendem ausgehen und dies stets gebührend berücksichtigen müssen: „Der sowjetische Sport ist ein integrierter Teil der sowjetischen Welt, ein Mikrokosmos des sowjetischen Lebens, in dem alle elementaren Wesenszüge der Sowjetgesellschaft ... wirksam sind ... (H. W. Morton). Einen ersten derartigen elementaren Grundzug bringt das keineswegs nur von der Außenwelt immer wieder bemühte, zugleich freilich (was leicht übersehen wird) höchst ambivalente, jedenfalls nicht unkritisch zu übernehmende „Gesetz der großen Zahlen" schlagwortartig zum Ausdruck. Daß es — scheinbar ohne jede Einschränkung — für den heutigen Sowjet-sport als soziales Subsystem gilt, legen folgende statistische Eckdaten nahe, die auf sowjetamtlichen Angaben fußen:
In der UdSSR als dem mit 22 Millionen qkm flächenmäßig bei weitem größten Land der Erde treiben von gegenwärtig (1979/80) über 260 Millionen Einwohnern mehr als 52 Millionen, die in 220 000 Sportgemeinschaften organisiert sind, regelmäßig Sport, ist mithin jeder fünfte Sowjetbürger ein Sportler. Das ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung mit den Zwischenstationen: 1960: 28, 7 — 1970 : 43, 6 — 1975 : 48, 4 Millionen Sporttreibende. Mit rund 6 Millionen Aktiven, von denen die Hälfte aus der RSFSR (= Russische Republik) als der größten Unionsrepublik kommt, liegt die Leichtathletik an der Spitze vor Volleyball (5 Millionen), Ski, Basketball, Fußball (je 4 Millionen) und Schießsport (3 Millionen). Aber auch die Zahlen für Handball (800 000), Kunstturnen (750 000), Eishockey (650 000), Eisschnelläufen, Schwimmen und Boxen (je 300 000), Fechten (50 000) und Eiskunstläufen (45 000) sprechen für sich. Außer Bobfahren werden sämtliche olympischen Sportarten in der Sowjetunion betrieben.
Zur gezielten Nachwuchsförderung in den wichtigsten von ihnen stehen inzwischen fast 6 000 Kinder-und Jugendsportschulen zur Verfügung, von denen sich 750 auf nur eine Vorabdruck aus: Karl-Heinz Rulfmann, Sport undKörperkulturin derSowjetunion, dtvZeitgeschichte, Bd. 1578; dieser Band erscheint in diesen Tagen. Sportart spezialisiert haben. Sie bilden 1 Million besonders begabter Mädchen und Jungen im Alter von neun bis achtzehn Jahren aus. 14 bis 15 Millionen Kinder — das sind mehr als ein Viertel aller Einwohner der Bundesrepublik Deutschland — werden jährlich bei Massenwettkämpfen eingehenden sportlichen Tests unterworfen. Hinzu kommen die Spartakiaden, an denen von den Ausscheidungskämpfen auf den unteren Ebenen bis zu den Finalkämpfen zwischen 1956 (als die erste Spartakiade stattfand) und 1979 zwischen 23 und 80 Millionen Menschen je Spartakiade teilgenommen haben (sollen). Starken Anteil an der Breitenarbeit haben die freiwilligen Gewerkschaftssportvereinigungen in Stadt und Land mit 1, 3 Millionen Jugendlichen. Weitere 40 Millionen werden in jedem Fünfjahrplan unter dem Motto „Bereit zur Arbeit und Verteidigung (GTO)" in Wettkämpfen auf den Erwerb des Sportabzeichens vorbereitet. Schließlich sind 107 000 Arbeitskollektive mit 18, 5 Millionen Menschen in die Produktions-gymastik am Arbeitsplatz einbezogen.
Diesem Millionenaufgebot von Sporttreibenden, zu denen sich noch etwa 3, 5 Millionen in Schachklubs organisierte, von Berufstrainern betreute Schachspieler gesellen, stehen 6 Millionen ehrenamtliche Übungsleiter sowie über 55 000 diplomierte Trainer und 163 000 Sportlehrer zur Seite. Sie werden — und zwar 28 000 pro Jahr — an 24 staatlichen Sporthochschulen, 89 Sportfakultäten an pädagogischen Hochschulen und Universitäten, 77 pädagogischen Fachschulen, 26 Sportfachschulen und zehn Trainerschulen — das sind insgesamt 216 mittlere und höhere bzw. universitäre Lehranstalten — ausgebildet. 1 800 Sportärzte in 356 medizinischen Zentren überwachen die Hochleistungssportler. Für die wissenschaftliche Grundlage sorgen vier Forschungsinstitute für Körperkultur und Sport, von denen das Zentralinstitut in Moskau und das Lesgaft-Institut in Leningrad das höchste Ansehen genießen. Die beiden anderen befinden sich in Kiew und in Tiflis. 1979 waren an ihnen und an ähnlich ausgerichteten Lehrstühlen an 24 Sporthochschulen insgesamt etwa 4 000 Personen mit Forschungsaufgaben auf dem Gebiet von Sport und Körperkultur beschäftigt.
Die Unterrichtung der Bevölkerung über das sportliche Geschehen besorgen — neben Rundfunk und Fernsehen — mehr als 30
Sportzeitungen und -Zeitschriften, die eine Gesamtauflage von über 7 Millionen Exemplaren haben. Die größte Sportzeitung des Landes, das Moskauer 'Massenblatt Sowjetskij Sport, erscheint täglich außer Montag in einer 4-Millionen-Auflage, wird in über 30 Städten gedruckt und in russischer Sprache herausgegeben. Dazu kommen in den nichtrussischen Sowjetrepubliken ebenfalls periodisch (ein-oder zweimal in der Woche) erscheinende Sportzeitungen in den jeweiligen Landessprachen. Selbst das führende sportwissenschaftliche Publikationsorgan, die Monatschrift Theorie und Praxis der Körperkultur, besitzt einen Umfang von 80 Seiten und die beachtliche Auflage von fast 20 000 Exemplaren. Die nicht periodisch erscheinende Sportliteratur erreicht eine jährliche Auflage von rund 15 Millionen Exemplaren.
Imponierend lesen sich schließlich auch die Zahlen über die Wettkampfstätten und die Finanzierung des Sports: 3 282 Groß-Stadien (für insgesamt etwa 12 Millionen Zuschauer), 66 000 Sporthallen, davon 100 Großhallen mit 44 Kunsteisbahnen, 1 435 Schwimmhallen sowie über eine halbe Million Sportplätze und Fußballfelder weist die derzeitige offizielle Bestandsaufnahme im erstgenannten Bereich aus, während für den zweiten — leider nur schwer überschaubaren — Bereich folgende Informationen vorliegen: Der Staat gibt für Gesundheitsfürsorge und Sport 11 Milliarden Rubel, d. h. etwa 6 Prozent seines öffentlichen Gesamthaushalts, pro Jahr aus. 700 Unternehmen, die 40 verschiedenen Ministerien unterstehen, stellen jährlich für 2, 8 Milliarden Rubel Sportartikel her. Der 20-Millionen-Etat der Sportvereinigung „Dynamo" wird durch Einkünfte aus ihren geschäftlichen Aktivitäten in der Sportbranche gedeckt, während der Armeesport aus Mitteln des Verteidigungshaushalts in nicht bekannter Höhe finanziert wird. Die anderen Sportvereinigungen werden ganz überwiegend von den Gewerkschaften finanziert; nicht weniger als 25 Prozent aller gewerkschaftlichen Mittel — das waren 1972 z. B. 430 Millionen Rubel — fließen dem Sport zu. Jedes Sportvereinigungsmitglied hat nur den geringen Jahresbeitrag von 30 Kopeken (etwa 1. 60 DM) zu entrichten.
Nimmt man nun zu allen bisher mitgeteilten Zahlen und anderen Angaben noch den sattsam bekannten Sachverhalt hinzu, daß die So-wjetunion im letzten Vierteljahrhundert eine führende Stellung im internationalen Sport errungen und bis heute systematisch ausgebaut hat, daß sie dabei u. a.seit ihrer ersten Teilnahme 1952 — bis auf eine Ausnahme (1968) — alle Olympischen Spiele nach dem Medaillen-bzw. Punktesystem eindeutig „gewonnen" hat, kann das Fazit nur lauten: Die zur politischen Welt-und Supermacht aufgestiegene UdSSR ist auch im Sport eine Weltmacht geworden. Nicht von ungefähr hat James Riordan, im Westen bester wissenschaftlicher Kenner ihrer Sportgeschichte und ihres Sportsystems, seiner jüngsten einschlägigen Studie den Titel Sportmacht Sowjetunion gegeben.
In voller grundsätzlicher Übereinstimmung mit Riordan ist jedoch sofort hinzuzufügen und nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß man die gerade angeführten statistischen Daten, Erfolgsziffern und Leistungsbilanzen keineswegs mißachtet, sondern überhaupt erst zu ihrer sachgerechten Bewertung gelangt, wenn man — erneut unter Einbeziehung und Würdigung sowjetamtlichen Materials — stets auch dies beachtet und gebührend in Rechnung stellt: Selbst in der heutigen Sowjetunion kann „von einer großzügigen Ausstattung des Sports ... keine Rede sein. Die meisten westlichen Länder verfügen über weit mehr Fußballplätze, Schwimmbäder, Tennisplätze usw. pro Kopf der Bevölkerung", ganz zu schweigen von jenen „Sporteinrichtungen, die auch nur im entferntesten mit denen nordamerikanischer Schulen und Colleges zu vergleichen sind" (J. Riordan). Und was noch mehr Gewicht hat, zumal es vor gar nicht so langer Zeit vom dafür zuständigen sowjetischen Minister offiziell bekanntgegeben wurde: Uber 80 Prozent der weiterführenden Schulen in der UdSSR haben keinen Sportplatz, 75 Prozent keine Turnhalle, und mehr als die Hälfte der Schulen sind weder in personeller noch in materieller Hinsicht hinreichend ausgestattet, um überhaupt Sportunterricht zu erteilen. Auf dem Lande hatten 1973 nur 37, 5 Prozent aller Sportlehrer eine abgeschlossene Ausbildung, die sie für die Ausübung ihrer Tätigkeit in diesem Fach qualifizierte. Schon diese Fakten zeigen ebenso wie der Umstand, daß die entwik-kelten westlichen Industrieländer nachweisbar weit mehr pro Kopf der Bevölkerung für den Sport aufwenden: selbst in diesem Teilbereich des gesellschaftlichen Lebens in der heutigen Sowjetunion hat das „Gesetz der großen Zahlen" ambivalenten Charakter, erlangt es erst bei Anlegen einer kritischen (Ver-gleichs-) Sonde volle Aussagekraft. Weil der allgemeine Entwicklungsstand und Lebensstandard der Sowjetunion noch immer sehr viel niedriger, ihre ökonomischen Möglichkeiten jedenfalls kurz-und mittelfristig geringer sind als in der westlichen Welt, müssen für sie Zielsetzungen und Tätigkeitsfelder Vorrang haben, die mit genereller Produktivitätssteigerung, Verbesserung von industrieller Produktion, Konsumgüterversorgung, Wohnungsbau, Gesundheitswesen u. ä. m. stichwortartig zu umreißen sind.
Unmittelbar aus dieser Prioritätenliste ergibt sich nun eine erste von insgesamt fünf allgemeinen Funktionen, die der Sport wie schon bisher auch in der heutigen Sowjetgesellschaft zu erfüllen hat; eine Funktion, die erneut offenbart, daß und wie sehr „der sowjetische Sport" in der Tat „ein integrierter Teil der sowjetischen Welt, ein Mikrokosmos des sowjetischen Lebens" ist. Gemeint ist die ihm zugewiesene Aufgabe, zur Reproduktion der Arbeitskraft und zur Hebung der Volksgesundheit beizutragen. Warum ein solcher Auftrag für höchst wichtig angesehen und wie er ausgeführt wird, sei anhand folgender Tatsachen verdeutlicht: Der amtlichen Statistik des sowjetischen Gesundheitsministeriums zufolge erschienen 1977 täglich 3, 5 Millionen Arbeiter wegen Erkrankung nicht zum Dienst, wobei diejenigen fünf-bis achtmal so lange ihrem Arbeitsplatz fernblieben, die nicht regelmäßig an körperlichen und sportlichen Übungen teilgenommen hatten. Kein Wunder, daß auf eine aktive Betätigung in den gewerkschaftlichen Sportvereinigungen sowie vor allem auf eine kontinuierliche Mitwirkung bei der Produktionsgymnastik größter Wert und Nachdruck gelegt wird. Dem gleichen Ziel dienen regelmäßige Gymnastiksendungen in Rundfunk und Fernsehen, die mit dem Übungsprogramm der Gesundheitsgruppen in den Betrieben koordiniert sind; das heißt, von Baku bis Archangelsk, von Leningrad bis Wladiwostok wird ein und dasselbe Gymnastik-programm 24mal im Monat halbstündig von Rundfunk und Fernsehen ausgestrahlt und in den örtlichen Gesundheitsgruppen übernommen. Dem Übungsleiter bleibt damit nur ein geringer Spielraum für Varationen des eigenen Programms. Dafür ist aber gesichert, daß der Übungsbetrieb in der riesigen Sowjetunion im Bereich des Gesundheitssports über-B all die gleichen Inhalte hat. Das Gymnastik-programm des Fernsehens ist im übrigen auch voll abgedruckt in der (bislang wohl einzigen) sowjetischen Fernsehzeitschrift, so daß jeder Fernsehzuschauer die Übungsformen dort wiederfinden kann.
Organisationsund Kontrollsystem
An dem nur scheinbar nebensächlichen Detail des völlig uniformen Übungsprogramms für die Produktionsgymnastik läßt sich das eine unschwer ablesen: die (weiterhin) vollständige zentrale Steuerung und Kontrolle aller Vorgänge im Bereich des Sowjetsports. Das dafür zuständige oberste Organ ist seit 1968 das Staatliche Komitee für Körperkultur und Sport beim Ministerrat der UdSSR, dem gewissermaßen als Sportminister gegenwärtig Sergej P. Pawlow, ein erfahrener Parteifunktionär und langjähriger Chef des kommunistischen Jugendverbandes Komsomol, vorsteht. Diese Zentralbehörde, deren Präsenz und Effizienz auf allen Staats-und Verwaltungsebenen ihr nachgeordnete fünfzehn Republik-Komitees, 20 Komitees autonomer Republiken, sechs Territorial-Komitees, 120 Regional-Komitees, 844 Stadt-Komitees und 3 467 Distrikt-Komitees gewährleisten, ist das organisatorische Dach für (fast) alles, was mit Sport zu tun hat: für die einzelnen Sportverbände, die verschiedenen Sportvereinigungen und Sport(fach) schulen, das Training, die Wettbewerbe, die internationalen Sportbeziehungen, die Sportwissenschaft, -forschung, -medizin usw. Ihr unterstehen Planung, Finanzierung, Sportstättenbau, Personalangelegenheiten usw.
Träger des eigentlichen Sportbetriebes sind (seit 1957) 36 sogenannte freiwillige Sportvereinigungen, davon 30 auf Republik-und sechs auf Unionsebene, sowie der ebenfalls im Unionsmaßstab tätige Zentrale Sportklub der Armee (russische Abkürzung: TsSKA). In jeder der fünfzehn Republiken gibt es zwei Sport-vereinigungen, eine für den städtischen und eine für den ländlichen Bereich. Sie und die vier Unionssportvereinigungen „Bureswest-nik" (für Hochschulangehörige), „Lokomotive" (für Eisenbahner), „Spartak" (für Beschäftigte in den Bereichen Erziehung, Kultur, Gesundheit [außerhalb der Hochschulen], im Verwaltungsdienst, in Kooperativen usw.) und „Wodnik" (für Beschäftige in der Hochseeund Binnenschiffahrt) sind den Gewerkschaften angegliedert, nicht dagegen die Sportvereinigung „Arbeitsreserven", in der die 6 000 speziellen Sport(berufs) schulen für Kinder und Jugendliche zusammengefaßt sind, sowie „Dynamo", ebenfalls Unionsvereinigung und (immer noch) Sportorganisation des Staatssicherheitsdienstes, und der den allgemeinen Rahmen erst recht sprengende Zentrale Sportklub der Armee, der ihr untersteht und in jedem Militärdistrikt einen Sportklub (SKA) hat.
Beide, TsSKA wie „Dynamo", nehmen auch deshalb eine Sonderstellung ein, weil sie in zahlreichen Sportarten über eine — abgesehen von den gerade erwähnten Kinder-und Jugendsportschulen — wohl kaum anderswo im Lande so vorhandene Ausstattung, über beste Trainer bzw. Trainingsmöglichkeiten und relativ hohe finanzielle Mittel verfügen, deren Nutzung — und das ist nicht minder bemerkenswert — keineswegs nur dem Personenkreis vorbehalten ist, der im Militär-bzw. Polizeidienst steht oder aus ihm kommt. Trotz häufiger Nichtzugehörigkeit zu diesem „Produktionsbereich" sind viele bekannte Eishok-keyund Fußballspieler sowie die meisten Spitzenkräfte im Kunstturnen, Eiskunstlauf, Tennis, Rudern, Segeln, Boxen, Gewichtheben und in weiteren Disziplinen Mitglieder einer der beiden Sportorganisationen, darunter — um nur einige prominente Namen zu nennen — das Eiskunstlauf(ehe) paar Rodnina/Saitsew und die Kunstturnerin Olga Korbut beim Zentralen Armeesportklub, die Kunstturnerin Ludmilla Turischtschewa und der Tennisspieler Alexander Metreweli bei „Dynamo". Daß in den 34 gewerkschaftlichen Sportvereinigungen, vor allem in den renommierten und erfolgreichen wie „Bureswestnik", „Spartak" oder „Trud" (das ist die Sportvereinigung für Städte in der RSFSR), das Produktionsprinzip gelegentlich aus vergleichbaren Gründen außer Kraft gesetzt wird, liegt nahe. Für deren insgesamt über 95 000 Basisgruppen, die Sportkollektive in Fabriken, Kolchosen, Lehranstalten usw., ist es das Kriterium, nach dem sie gebilB det und die Sporttreibenden ihnen zugeordnet werden.
Jede Sportvereinigung hat neben ihrem Emblem, ihrer Fahne und ihren Farben ihre eigene Satzung; diese stellt selbstverständlich sicher, daß sich die Tätigkeit der Vereinigung nach den — angefangen von der Partei — generell für das sowjetkommunistische System gültigen und verbindlichen Prinzipien des „demokratischen Zentralismus" vollzieht. Auf diese Weise werden u. a. alle leitenden Personen — vom Vorsitzenden des Sportkollektivs eines Industriebetriebs, eines Kolchos oder einer Bildungseinrichtung bis zum Vorsitzenden des Zentralrats einer Sportvereinigung — in ihre Funktionen gewählt.
Der bisher skizzierten Organisationsstruktur des sowjetischen Sports entspricht schließlich auch das System, nach dem die Wettkämpfe ablaufen. Jede Sportvereinigung führt einerseits in den von ihr betriebenen Sportarten Meisterschaften von der lokalen bis zur Republik-bzw. Unionsebene durch, mißt sich jedoch gleichermaßen in verschiedenen Ligen und Pokalwettbewerben mit den anderen Sport-vereinigungen bis hinauf zu den sogenannten „Mannschaften der Meister", die alle Gewerkschaftsvereinigungen ebenso wie „Dynamo" und der Zentrale Armeesportklub in jeder größeren Stadt haben. Darüber hinaus und vor allem sollen die Sportvereinigungen darauf hinwirken, „daß jeder arbeitende Mensch unabhängig von seinem Alter oder Beruf in irgendeiner Weise Sport treiben kann“ (so kürzlich der Vorsitzende des Zentralrats von „Trud").
Das ist eine höchst ehrgeizige und weitgesteckte Zielsetzung. Sie wirft die Frage nach dem Verhältnis von „Breiten-" und „Spitzensport" in der heutigen Sowjetunion auf. Um darauf eine Antwort geben zu können, erscheint zuvor eine eingehendere Beschäftigung mit allen gesellschaftlichen bzw. gesellschaftspolitischen Aufgaben notwendig, die dem sowjetischen Sport gegenwärtig gestellt sind.
Gesellschaftspolitische Hauptaufgaben
Aus der Fülle der dazu aus der beiden letzten Jahrzehnten vorliegenden offiziellen Verlautbarungen, die alle inhaltlich und im Grundtenor übereinstimmen, seien hier zwei besonders markante im Wortlaut wiedergegeben. 1964 bekunden Partei und Staat ihren festen Willen und geben die amtliche Devise aus, „Körperkultur und Sport zu einem festen Bestandteil des Lebens des sowjetischen Volkes werden zu lassen, und zwar als Mittel kommunistischer Erziehung, zur Festigung der Gesundheit, zur Vorbereitung auf eine hochproduktive Arbeitsleistung, zur Verteidigung der Heimat und zur Erringung aller Rekorde im Sport... Diese Erziehung erfolgt im Geiste der kommunistischen Ideologie, des sowjetischen Patriotismus und hoher moralischer Prinzipien, die im Kodex der Erbauer des Kommunismus verankert sind." Noch knapper, aber nicht weniger anspruchsvoll formuliert 1971 Parteichef Leonid Breschnew auf dem Komsomol-Kongreß: „Wir müssen die internationale Klasse unseres Sports auch künftig steigern. Das Wichtigste ist jedoch der Massencharakter der Sportbewegung, die Entwicklung der Körperkultur bis zur Erfassung der gesamten Jugend, die Stählung ihres Willens, die psychische Vorbereitung der Jungen und Mädchen zur Arbeit und zur Verteidigung."
Dementsprechend lassen sich neben der bereits behandelten Aufgabe, die Arbeitsproduktivität und die Volksgesundheit zu steigern, vier weitere (natürlich eng miteinander verflochtene) Hauptfunktionen von Körperkultur und Sport in der heutigen Sowjetgesellschaft benennen, die uns so spätestens mit der Stalin-Ära, d. h.seit Rußlands Transformation in eine industrielle Leistungsgesellschaft marxistisch-leninistischen Typs, geläufig sind:
1. Erringung von Prestige und internationaler Anerkennung für die Sowjetunion;
2. Vorbereitung auf den Wehrdienst einschließlich paramilitärischer Ertüchtigung;
3. Integration der Bevölkerung, v. a.der Jugend, in das sowjetkommunistische politische und gesellschaftliche System; 4. Entwicklung der sozialistischen Persönlichkeit mit dem Endziel der Hervorbringung des neuen kommunistischen Menschen.
Zur ersten Funktion (Gewinn internationaler Anerkennung) ist erläuternd und kritisch anzumerken: Bei fast jedem Sportereignis von in-25 ternationaler Bedeutung — einzige gewichtige Ausnahme ist die Fußballweltmeisterschaft — erringen seit geraumer Zeit Sportler aus sozialistischen Ländern drei Viertel bis vier Fünftel der Medaillen und Siege. Die westliche Presse reagiert darauf häufig recht irritiert und kommentiert mit mehr oder weniger säuerlicher Miene die Erfolge der „Staatsamateure", die als Beruf „Offizier", „Student" usw. angeben. In der Tat ist im Ostblock, darunter auch und gerade in der UdSSR, Sport alles andere als die „schönste Nebensache der Welt", vielmehr eine Anstrengung besonderer Art, „die eine direkte Propagandaverbindung zwischen den sportlichen Triumphen einerseits und dem Leben ihres gesellschaftlichen Systems andererseits geschaffen hat" (H. Morton). Sport — diese Funktion ist ebenso offenkundig wie gewichtig — dient als Qualitätsbeweis des eigenen Gesellschaftssystems, zumal dann, wenn es in verschiedenen sonstigen Hinsichten erhebliche Schwächen und Mängel aufweist. Das gilt — last not least — auch für die Sowjetunion. Wenn es trotz des Fleißes und Könnens ihrer Bewohner nicht gelingt, so viele, gute und billige Konsumgüter wie im kapitalistischen Westen zu produzieren, sollen wenigstens um so mehr sportliche Bestleistungen und Goldmedaillen für das System werben. Abgesehen von der sich daraus unbeweisbar ergebenden Notwendigkeit, vorrangig den Hochleistungsund Spitzensport zu fördern (worauf später näher eingegangen wird), ist mit einem solchen Konzept und einer solchen Politik natürlich auch das Streben nach Stützung und womöglich weiterer Steigerung des Sowjetpatriotismus verbunden, und zwar sowohl bei den aktiven, bei entsprechenden Erfolgen mit hohen Auszeichnungen (bis hin zum Lenin-Orden) dekorierten Sportlern als ganz allgemein in der Bevölkerung, die sich auf diese Weise mit den Leistungen und Ehrungen ihrer Athleten identifizieren kann und soll.
Instrument der Außenpolitik Eindeutig auf politischen Einfluß und Prestigegewinn in der Außenwelt ausgerichtet ist die Tätigkeit der Sowjetunion in den Gremien des internationalen Sports, darunter nicht zuletzt im IOC. So hat sie — um nur einen wichtigen Vorgang herauszugreifen — die Forderung afrikanischer Staaten, Südafrika und Rhodesien wegen deren Rassenpolitik von den Olympischen Spielen wie überhaupt vom internationalen Sportverkehr auszuschließen, tatkräftig unterstützt, wesentlich zu deren Annahme im IOC und weitgehenden Durchsetzung in den Fachverbänden beigetragen, um dadurch ihr Ansehen in der Dritten Welt zu erhöhen. Keineswegs nur bei diesem Geschehen, sondern grundsätzlich ist festzustellen: Die Sowjetunion scheut sich nicht, Sport als Instrument der Außenpolitik, als außenpolitisches Druckmittel einzusetzen. Wiederholt hat sie in den letzten Jahren, um ihrem politischen Standpunkt Nachdruck zu verleihen, ihren Athleten die Teilnahme an internationalen Großveranstaltungen untersagt, zuletzt 1979 an den Weltmeisterschaften im Bogen-schießen. Dieser Sachverhalt verdient nicht nur im Blick auf die diesjährigen Olympischen Sommerspiele Beachtung. Welchen Auftrag und welchen Stellenwert in der Weltpolitik Moskau dem Sport des eigenen Imperiums unter Einschluß der anderen kommunistisch regierten Länder zuerkennt, unterstreicht im übrigen ein ebenso unmißverständlicher wie selbstbewußter Kommentar aus der sowjetischen Hauptstadt: „Der wachsende Einfluß des sozialistischen Sports auf die Sportbewegung in der Welt", heißt es darin, „ist eines der besten und wirksamsten Mittel, den Menschen auf der ganzen Welt die Überlegenheit des sozialistischen Systems über den Kapitalismus zu demonstrieren.“
Militärische Bedeutung Die Stärkung des Patriotismus gehört ebenfalls zu den drei noch nicht näher erläuterten Funktionen, die der sowjetische Sport zu erfüllen hat. Was dabei die Vorbereitung auf den Wehrdienst anbelangt, erfolgt diese einmal im Rahmen des gesamtstaatlichen Fitness-Programms „Bereit zur Arbeit und Verteidigung (GTO)", dessen spezieller Ausbildungsteil für die Altersgruppe der 16-bis 18jährigen (also unmittelbar vor der Wehrpflicht) mit einem Test zur Zivilverteidigung, einem Gasmaskentraining und einer Schießausbildung eindeutig paramilitärischen Zwecken dient. Unverblümt erklärte 1972 Sportminister S. Pawlow: „Jugendliche, die die GTO-Anforde-rung erfüllen, treten ihre Wehrpflicht nicht als Neulinge an, sondern körperlich gestärkt und mit einem Grundwissen in der Kriegstechnik und der Handhabung von Waffen." Zum anderen, ja ausschließlich widmet sich die seit 1951 bestehende „Freiwillige Gesellschaft zur Unterstützung der Armee, Luftwaffe und Marine" (russische Abkürzung: DOSAAF) dem ihr 1971 nochmals offiziell erteilten Auftrag, auf der Grundlage der in der Öffentlichkeit, insbesondere in der Jugend nachdrücklich zu propagierenden „heroischen Traditionen des Sowjet-volkes", „die Qualität der Schulung der Jugendlichen für den Dienst in den Streitkräften zu verbessern und ferner die militärisch-technischen Sportdisziplinen zu fördern". Nach so-wjetamtlichen Angaben werden seit den siebziger Jahren regelmäßig 70 Prozent der eingeschriebenen Mitglieder von DOSAAF in den aktiven Sport überführt, erwerben außerdem praktisch alle Wehrdienstleistenden in der Armee das GTO-Sportabzeichen. Es spricht mithin alles dafür, daß, wie Sowjetskij Sport im Februar 1972 stolz verkündet hat, in der heutigen Sowjetunion „Körperkultur und Sport integraler Bestandteil der militärischen Ausbildung geworden sind", daß „Sport und die Armee untrennbar sind“. Diese im zaristischen Rußland begründete, von Lenin und seinen Nachfolgern zielstrebig fortgeführte und ausgebaute Funktion des Sports hat in der Gegenwart ihre Vollendung erfahren.
Militarisierung des Sports, oder, anders formuliert: die Streitkräfte (mit TsSKA und DO-SAAF) als Schule und Heimstätte der Nation für den Sport — das leitet nahtlos über zu der insoweit in einem zentralen Bereich bereits erfüllten Forderung an den sowjetischen Sport, aktiv und nachhaltig zur Integration der Bevölkerung in die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung beizutragen. Daß eine solche Forderung einen breitgefächerten, keineswegs auf den militärischen Sektor beschränkten Aufgabenkatalog beinhaltet, sei hier anhand von drei wesentlichen Tätigkeits-und Problemfeldern konkretisiert, um nochmals zu zeigen, wie sehr es zutrifft, daß der moderne Sport wie überall, so auch in der Sowjetunion, ein Spiegel der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung und der Hauptprobleme, auf das engste mit den politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen verbunden ist, die in der betreffenden Gesellschaft vorherrschen.
Integration im Vielvölkerstaat Die UdSSR ist bekanntlich, wie schon der Name besagt, ein Vielvölkerstaat, eine Föderation von etwa 130 Nationalitäten teils europäischer, teils asiatischer Herkunft mit bis heute vielfach stark voneinander abweichenden Bestimmungsmerkmalen, was Hautfarbe, Sprache und Kultur, Geschichte, Tradition und Religion anbelangt. Die Unzufriedenheit der Nationalitäten im spätzaristischen Rußland war ein wichtiger Faktor, eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Trieb-und Sprengkraft in den Revolutionen von 1905 und 1917. Gewiß hat die Sowjetmacht in vielfacher Hinsicht grundlegend veränderte Verhältnisse geschaffen, aber der Nationalismus groß-russischer Prägung ebenso wie die keineswegs immer nur soziokulturellen Autonomiebegehren zahlreicher nichtrussischer Nationalitäten bleiben bzw. sind inzwischen erneut ein „potentieller Unruheherd" (J. Riordan) im gesellschaftlichen Leben des Gesamtimperiums. Dabei ist zu bedenken, daß sich rein zahlenmäßig erstmalig ein Entwicklungsstand abzeichnet, bei dem Russen und Nichtrussen sich in etwa die Waage halten, wobei die Geburtenzuwachsraten zuungunsten der „staatsragenden" Russen ausfallen.
Im sowjetischen Sport hat nun die Vielfalt der Nationalitäten einerseits einen bemerkenswerten Reichtum an Stilen und volkstümlichen Eigenheiten hervorgebracht. Verwiesen sei — pars pro toto — auf Ausdruckskraft und Grazie beim Turnen, die dem slawischen Volkstanz entstammen, auf geballtes Konzentrationsvermögen von Kosaken und Balten beim Gewichtheben und auf spezifische Fähigkeiten transkaukasischer und sibirischer Ringer, die in der Unterweisung in jahrhundertealten und weiterhin höchst populären Wettkämpfen vergleichbarer Art ihren Ursprung haben. Andererseits und vor allem vermag Sport in wohl einzigartiger Weise nationale Schranken zu überwinden, und genau deshalb verwenden ihn Partei und Staat sehr bewußt als Integrationsinstrument auf Massenbasis, um die Loyalität gegenüber der UdSSR als Einheit zu festigen. In konsequenter Fortführung und systematischer Erweiterung einer schon im Bürgerkrieg begründeten Praxis wird er dabei mit den ihm eigenen Prinzipien von Leistung und Gleichheit vor allem in den sibirischen und asiatischen Landesteilen zugleich als bedeutendes Modernisierungselement eingesetzt. Im übrigen kommen, was nicht unterschätzt werden darf, in den regelmäßig veranstalteten Massenfestivals, jener eigentümlichen Mischung von sportlichem Wettkampf, gymnastischen Darbietungen, Folklore und Tanz, auch nationale bzw. Volkstumseigenarten und Geselligkeit zum Zuge. Vorrangig ist und bleibt jedoch die Stärkung des auf die UdSSR als untrennbares Ganzes bezogenen Sowjetpatriotismus, eine immer wiederkehrende, anschließend unter dem Stichwort „Olympiade 1980 in Moskau" nochmals zu erläuternde Funktion des Sports in diesem imperialen Gebilde.
Nationalismus und Olympische Spiele Im Zuge, als Ursache wie Folge des Zerfalls einer einheitlichen kommunistischen Weltbewegung sind in ihr überall Kommunismus und Nationalismus eine Symbiose eingegangen, die es rechtfertigt, von „Nationalkommunismus" als dem inzwischen bestimmenden Grundelement in nahezu allen kommunistisch regierten Ländern und nichtregierenden kommunistischen Parteien zu sprechen. Die Sowjetunion der Stalin-und Nach-Stalin-Ära war zweifellos in vielfacher Hinsicht Wegbereiterin dieses Prozesses. Ihr heutiges politisches System weist „in der othodox-kommuni-stischen Verhüllung einen nationalkonservativen Charakter" (B. Meissner) auf; ein groß-russisch normierter Sowjetpatriotismus ist längst unverzichtbarer Bestandteil und wesentlicher Kraftquell der Herrschaftsideologie, die trotz aller Revitalisierungsanstrengungen und gewiß tiefreichenden Indoktrination der Gesellschaft an Erstarrungserscheinungen leidet und bei vielen Langeweile verbreitet.
Der Sport als Handlungsfeld mit weitreichender Ausstrahlungskraft und großer Resonanz erscheint nun als ein vorzüglich geeignetes, weil attraktives und leicht dirigierbares Vehikel, um den durch einen so hohen politischen Stellenwert ausgezeichneten Sowjetpatriotismus „verinnerlichen" zu helfen, ihm und damit der Ideologie (neue) Dynamik und Emotionalität zu verleihen. Schon seit geraumer Zeit kommt dabei allem, was mit der diesjährigen Olympiade in Moskau zusammenhängt, eine Schlüsselrolle zu. Auf sie und ihren Inhalt wirft nicht zuletzt ein Vorgang ein bezeichnendes Schlaglicht, der zugleich die Ankündigung der Parteizeitung Prawda konkretisiert, den Sowjetbürgern stehe das „Festival der Festivals" ins Haus: Anfang Oktober 1979 wurden während ihres bereits dritten Allunionstreffens 500 sowjetische Olympiakandidaten auf dem Mamajew-Hügel bei Wolgograd, dem im Zweiten Weltkrieg erbittert umkämpften Stalingrad, auf Höchstleistungen buchstäblich eingeschworen. Zu den fackeltragenden Sportlern, die sich am Abend auf dem als Gedenkstätte eingerichteten Mamajew-Hügel versammelt hatten, erklang von der Riesenstatue der „Mutter Heimat" her eine Stimme: „Meine lieben Söhne und Töchter der großen Heimat. Hier auf der geheiligten Erde, nehmt meinen mütterlichen Befehl entgegen: Die Erde der Heldenstadt, das ganze Land hat euch unter sein olympisches Banner gerufen. Die Heimat erweist euch das große Vertrauen, daß ihr ihre sportliche Ehre verteidigt. Denkt immer daran Darauf schwor der Fechter Alexander Romankow für die anderen: „Wenn mir die Verteidigung der sportlichen Ehre der geliebten Heimat auf dem großen Sportfeld — den Olympischen Spielen in Moskau — anvertraut wird, dann werde ich in den Minuten der großen Prüfungen nicht zittern und alle Kräfte restlos zum Ruhm des Sportbanners der Heimat einsetzen." Die 500 Sportler im Chor: „Wir schwören es."
Die auf größte Breitenwirkung in der sowjetischen Öffentlichkeit angelegte Zeremonie, die eine Zeitung den „Olympischen Schwur auf dem Mamajew-Hügel" nannte, kennzeichnet die Art und Weise, in der Sportler und Bevölkerung auf „ihre" Olympiade eingestimmt werden: außerordentlich gefühlsbetont und patriotisch überhöht, überhaupt ist viel getan worden, um — angefangen von der Auswahl des Teddybären Mischa als Olympia-Maskottchen — die Sowjetbürger in die Vorbereitung der Spiele einzubeziehen und um ihnen dabei immer wieder einzutrichtern, was die dreifache Goldmedaillengewinnerin Tamara Press in der Prawda so formuliert hat: „Moskau ist zweifellos die größte Sportstadt der Welt geworden. Die Anlagen unserer olympischen Hauptstadt haben in der Welt nicht ihresgleichen." Angesichts eines solchen Grundtenors der Olympia-Propaganda ist das erstrebte Ziel klar: Moskau soll etwas in jedem Fall mehr auszeichnen als andere Olympiastädte: ausgeprägter Patriotismus.
Dieses ostentative Bemühen ist ebenso wie der „Mamajew-Schwur" beredter Ausdruck der grundsätzlichen Einstellung der Sowjetunion zur olympischen Bewegung, entspricht voll ihrem sportpolitischen Kurs im IOC. Als 1971 dessen damaliger Präsident Avery Brundage zwecks „Kosmopolitisierung" der Olympi-sehen Spiele vorschlug, das Flaggenhissen und Abspielen der Nationalhymne bei der Sieger-ehrung abzuschaffen, entgegnete Sowjetskij Sport (22. 7. 1971) in einem offiziellen Leitartikel: „Man kann nur hoffen, daß die Versuche gewisser Leute .. das Olympische Ritual zu verändern, scheitern, weil es so glänzend verdeutlicht, daß der Olympische Eid den Athleten verpflichtet, für die Ehre seines Landes zu kämpfen." Am liebsten würde man so weit und so stark wie nur irgend möglich diesbezügliche Elemente, die die Spartakiaden auszeichnen, auf die olympische Bewegung übertragen, da man — so 1970 die Zeitschrift Sport v SSSR (Sport in der UdSSR) — den Standpunkt vertritt: „Die Befolgung des Rituals, das die Wettkämpfe umgibt, ist genauso wichtig wie Freundlichkeit, Höflichkeit, Fairneß und Hochachtung gegenüber Konkurrenten."
Es spricht übrigens einiges dafür, daß bei einem ausländischen Boykott der Moskauer Spiele in größerem Maßstab dieser Patriotismus zusammen mit anderen Gründen — wie etwa der Enttäuschung darüber, daß angebotene Gastfreundschaft (die in diesem Lande bekanntlich besonders viel gilt) ausgeschlagen wird, menschliche Kontakte vielfältiger Art, auf die man hoffte und sich freute, ausgerechnet von „draußen" unterbunden werden — eine recht spontane emotionale Solidarisierung vieler Sowjetbürger mit der Kreml-Führung bewirken würden. Es steht freilich dahin, ob mit Hilfe eines derartigen Solidarisierungseffekts wirtschaftliche Schwierigkeiten und Engpässe, insbesondere bei der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern, längerfristig kaschiert oder gar kompensiert werden könnten. Unabhängig davon verweist das zuletzt angeschnittene Thema „Wirtschaftliches und gesellschaftliches Entwicklungsniveau“ auf einen weiteren Bereich, in dem der sowjetische Sport integrierend im Sinne des politischen Systems tätig sein soll.
Zuvor jedoch als Fazit zum ausführlich behandelten Komplex „Nationalismus und Olympische Spiele" die in diesem Fall unvermeidlichen Fragen: Kann es überhaupt noch einen Zweifel daran geben, daß und in welcher Richtung die Olympische Bewegung rasch und nachhaltig reformiert werden muß? Ist nicht die sowjetische Einstellung und Verfahrensweise Abbild einer im Westen lange und gern geübten Praxis, Abbild unseres eigenen sport-politischen Fehlverhaltens? Ist es wirklich so aussichtslos, hängt es nicht vielmehr entscheidend mit von unserem ernsthaften Willen ab, daß das zum neuen Geist und Ritual wird, was in dem erstmals nicht nach Nationen und Staatsflaggen getrennten Einzug (und nicht „Einmarsch") der Athleten zur Schlußfeier der Münchener Spiele 1972 zaghaft zum Vorschein kam? Wird, ja darf die Olympische Bewegung in ihrer bisherigen hypertroph nationalistischen Ausformung überhaupt noch eine Überlebenschance erhalten?
Sport und Freizeitgestaltung der Sowjetbürger
Der sowjetische Sportminister Pawlow hat dem gesamtstaatlichen Fittness-Programm GTO, in dessen Rahmen die meisten Sowjet-bürger Sport betreiben und das deshalb als Grundlage des sowjetischen Sportsystems anzusehen ist, folgenden ebenso umfassenden wie bemerkenswerten Auftrag erteilt: „GTO muß die organisierte Freizeit rationaler nutzen, den steigenden Mißbrauch der Freizeit bekämpfen, die Disziplin am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit festigen helfen und die Erziehungsarbeit unter den jungen Leuten verbessern." Auch hierin spiegelt sich der allgemeine Entwicklungsstand der heutigen Sowjetgesellschaft sehr konkret wider. Dazu nur einige stichwortartige Bemerkungen bzw. kurze Schlaglichter, die indessen die von Paw-low angesprochene Problemlage genügend erhellen dürften: Inzwischen leben über 60 Prozent der sowjetischen Bevölkerung in Städten, 1927 waren es ganze 18 Prozent Die Schwierigkeiten durch die rasch weiter zunehmende Urbanisierung werden durch eine häufig kurzsichtige Städte-und nach wie vor unzureichende Wohnungsbaupolitik noch verschärft. Dazu gehört auch, daß in die Planungen die notwendigen Flächen für Sportanlagen häufig nicht miteinbezogen werden. Zugleich sind, jedenfalls im Vergleich zur StalinÄra, privater Wohlstand und private Konsumbedürfnisse spürbar gestiegen, hat sich ferner das Verhältnis von Arbeit zu Freizeit tiefgehend verändert. Seit 1967 gibt es auch in der Sowjetunion die fünftägige Arbeitswoche. Durch von oben angeordnete Begrenzung der politischen Versammlungen aller Art in den Fabriken und Büros wurde die „Arbeits-Dauer" zusätzlich verkürzt. Dies alles, insbesondere das lange Wochenende, hat das Freizeitverhalten zumindest des städtischen Sowjetbürgers nachhaltig beeinflußt und gewandelt. Zu dem seit eh und je vorhandenen Bedürfnis, die private Freizeit in kleinen Gruppen, in erster Linie der Familie, zu verbringen, gesellt sich das in schon recht hohem Ausmaß verwirklichte Bestreben, sich außerhalb der Stadt bei Camping, Angeln, Jagen und Bergsteigen, Wasser-und Wintersport zu erholen. Die privaten Ausgaben für die entsprechende Ausrüstung nehmen zu, ebenso im letzten Jahrzehnt der Tourismus. „Kollektive" Freizeitbeschäftigungen mit aktiver eigener Beteiligung stoßen dagegen auch im Sport, jedenfalls soweit sie von oben organisiert oder gar angeordnet sind, auf wenig Interesse. Als Zuschauer ist man freilich häufig und gerne dabei, ganz besonders bei Pferderennen, die — ganz sicher wegen des Wettbetriebs — womöglich noch populärer sind als Fußballspiele. Das Moskauer Hippodrom, in dem an drei Tagen in der Woche Rennen stattfinden, lockt sonntags regelmäßig 13 000 Besucher an.
Diese ganze Entwicklung, die in vielem einen in westlichen Industriegesellschaften schon länger und intensiver ablaufenden Prozeß nachvollzieht, beunruhigt die Partei offensichtlich sehr, steht sie doch in deutlichem Gegensatz zu ihrer traditionellen Leitvorstellung und Praxis, öffentliche und kollektive Freizeit-und Erholungsformen zu fördern und auszubauen, um auch auf diesem Wege einen lenkenden und kontrollierenden Einfluß ausüben zu können. Seit die Arbeiter und Angestellten ein langes Wochenende und somit mehr Freizeit haben, die sie entsprechend ihren individuellen Neigungen nutzen können, machen sie jedoch davon und von den Angeboten der Sportvereinigungen und Gewerkschaften, der Sportklubs und der Betriebskollektive immer weniger Gebrauch; sogar der Besuch der öffentlichen Parks und Spielplätze in den großen Städten scheint rückläufig zu sein. Summa summarum: Auch in der Sowjetunion geht inzwischen, bis hin zum Sport, der Trend eindeutig zur privaten Freizeitgestaltung. Damit aber wird das politische System, der kommunistische Einparteienstaat, mit der für ihn sehr ernsten Frage konfrontiert, ob seine Bürger ihre Freizeit, über die sie vergleichsweise frei verB fügen können, wirklich „sinnvoll", „gesellschaftlich nützlich" in seinem Sinne verbringen. Die neue Verfassung der UdSSR vom Oktober 1977 dürfte höchstens insofern Handhaben zum Eingreifen bieten, als Artikel 41 ausdrücklich und kaum zufällig im Zusammenhang mit dem Recht auf Erholung für alle Sowjetbürger die Entwicklung des Massensports und der Körperkultur garantiert.
Ist es angesichts einer solchen Lage verwunderlich, daß offiziell alles versucht wird, um die Freizeitgestaltung nicht sich selbst zu überlassen, daß man gegen das „irrationale", „privatisierende" und „exhibitionistische" Frei-zeitverhalten von Sowjetbürgern massiv zu Felde zieht und daß der Sportminister — wie eingangs zitiert — dem GTO-Programm neue Aufgaben zuweist und neue Impulse geben will? Einiges spricht dafür, daß den offiziellen Anordnungen und Anstrengungen bislang kein wirklich durchschlagender Erfolg beschieden gewesen ist. So erwarben 1976 nur 1, 5 Prozent aller Arbeiter, die älter als 35 Jahre waren, noch ein GTO-Sportabzeichen, und selbst unter den Studenten am Pädagogischen Institut für die Region Moskau waren es zwischen 1969 und 1971 nicht mehr als 12 bis 15 Prozent. Noch gewichtiger erscheint eine offizielle Verlautbarung des Komsomol aus dem Jahre 1972, daß nach einer von ihm veranlaßten Erhebung „nur einer von zehn jungen Arbeitern und Bauern regelmäßig Sport betreibt", zumal zahlreiche in den siebziger Jahren von sowjetischen Soziologen auf Mikroebene durchgeführte Untersuchungen die Annahme zwingend nahelegen, daß dies für die tatsächliche sportliche Betätigung der sowjetischen Bevölkerung insgesamt gilt. Aber nicht nur Indolenz und Inaktivität sind als Belege zu nennen, sondern auch eine erst recht bemerkenswerte sportliche Aktivität von Arbeitern wie von Kindern, weil sie in erster Linie darauf abzielt, bloß dem staatlich organisierten Sport in ihrem Land zu entgehen, in dem mit einem — offiziell — lückenlosen Netz jede Art von sportlicher Betätigung kontrolliert wird. Ein solches spontanes sportliches Tun aus reinem „Spaß an der Freude" ist freilich fast nur in Disziplinen möglich, die (noch) nicht Bestandteil des Katalogs für eine Selbstdarstellung der UdSSR auf dem internationalen Parkett sind.
So hat das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) Ende Januar 1980 Aufnahmen von einem völ30 lig „unorganisierten" Rugbyspiel zweier Mannschaften auf dem halb zugeschneiten Aschenplatz einer Fabrik irgendwo in der russischen Provinz ausgestrahlt, von zwei Mannschaften, deren alleiniges Motiv der Spaß am Spiel war, den sie an einem grauen Sonntagvormittag hatten. Ähnliches gilt für die gar nicht so seltenen Wettkämpfe zwischen von Kindern aus eigenem Antrieb gebildeten Wohnblock-und Straßenmannschaften in Fußball und Eishokkey; diese Wettkämpfe werden freilich meist sehr rasch durch den Komsomol und andere offzielle Instanzen, die nach sportlichen Talenten Ausschau halten, in „geordnete", d. h. von oben organisierte und kontrollierte Bahnen gelenkt. Gewiß darf man die gerade skizzierten Erscheinungen in ihrer Bedeutung nicht überschätzen. Aber sie gehören offensichtlich ebenso zur gesellschaftlichen Wirklichkeit von Sport und Körperkultur in der heutigen Sowjetunion wie die angestrengten Bemühungen von Partei und Staat, sie zu beseitigen oder in ihrem Sinne zu kanalisieren. Offenbar schlägt sich die UdSSR trotz großangelegter Sportförderung, der „Sportpflicht“ in Schulen und Betrieben und trotz ihres Massensport-Engagements mit den gleichen Zivilisationsproblemen herum wie die westliche Welt.
Beitrag zur Formung der „sozialistischen Persönlichkeit“?
Ist damit die grundlegende und umfassendste gesellschaftliche Aufgabe, die dem sowjetischen Sport gestellt ist, nämlich zur Formung der sozialistischen Persönlichkeit, zur Hervorbringung des neuen kommunistischen Menschen beizutragen, von vornherein zum Scheitern verurteilt? Bei der Beantwortung scheint Vorsicht geboten — nicht nur deshalb, weil die Partei keinen Zweifel daran läßt, daß für sie Körperkultur und Sport wichtige, ja unverzichtbare Mittel „der Erziehung des neuen Menschen" sind, „der in sich seelischen Reichtum, moralische Reinheit, und körperliche Vollkommenheit vereint" (Programm der KPdSU 1976), und weil sie damit einer aus mannigfaltigen — vorrevolutionären russischen, marxistischen, skandinavischen und deutschen — Wurzeln entstammenden Theorie und einer seit Lenin geübten Praxis folgt, die längst als selbstverständlich und unaufgebbar gelten. Entscheidend ist vielmehr dies: „Ein dichtes Angebotsspektrum (in den Bereichen Körperkultur und Sport) begleitet den Menschen durch das ganze Leben: zu Hause, im Kindergarten, in der Schule, an der Universität, in der Fabrik, im Büro und in der Landwirtschaft. Jemand, der seine körperliche Entwicklung vernachlässigt, wird nur als . halbe'Persönlichkeit angesehen, ganz genauso wie jemand, der seine geistige Entwicklung nicht fördert" (J. Riordan). Sport ist ein allgemein anerkannter und — dies im Unterschied etwa zur Bundesrepublik — völlig gleichberechtigter Faktor der Bildung in der heutigen Sowjet-gesellschaft, und er ist schon dadurch ein Faktor, der sozialen Aufstieg ermöglicht.
Der Massensport
Dies wiederum führt nach Zurücklegen einer zugegeben langen, aber wohl kaum überflüssigen Wegstrecke zwangsläufig und endgültig zum „Leistungs-" bzw. „Spitzensport", und das heißt auch zum „Breiten" bzw. „Massensport" als den beiden Elementen des sowjetischen Sportsystems, die es inhaltlich strukturieren. Die Vereinigung beider findet — um das vorwegzunehmen — in den Spartakiaden statt. Sie hatten von Anfang an und haben bis heute zwei Hauptaufgaben: Einmal sind sie ein Mittel, um in den Ausscheidungskämpfen auf den unteren Ebenen Millionen Sowjetbürger für eine systematische Betätigung in Körperkultur und Sport zu gewinnen. Die zweite, nicht minder wichtige Aufgabe besteht darin, junge talentierte Athleten für den Hochleistungssport aufzuspüren und ins Blickfeld zu rücken. Bezeichnenderweise stand die letzte, 1979 beendete Spartakiade, zu deren Finalkämpfen wohl mit Blick auf die Olympiade 1980 in Moskau erstmals und vielleicht einmalig — sieht man von der 1928 bewußt als Gegenolympiade aufgezogenen Völkerspartakiade ab — ausländische Sportler eingeladen wurden, unter dem Motto „Vom Massensport zum Hochleistungs-B sport“. Und so wie bei den Spartakiaden geht es im sowjetischen Sportsystem generell, jedenfalls vom Anspruch her, stets um beides: Sowohl die Betätigung der Massen (russ. massowost) als auch Spitzenleistungen (russ. ma-sterstwo) sollen in gleicher Weise gewährleistet sein.
Für die Erfüllung des erstgenannten Auftrags ist hauptsächlich die schon wiederholt apostrophierte GTO-Ertüchtigungsbewegung zuständig, die seit März 1972, als ihr aus der Stalin-Zeit stammendes Programm und ihr Aufgabenbereich entsprechend erweitert wurden, „die ganze Bevölkerung des Landes von 10 bis 60 Jahren" erfaßt. Die erste Gruppe bilden Jungen und Mädchen von 10 bis 13 Jahren, die zweite Gruppe die 14-bis 15jährigen, die dritte Gruppe Jugendliche von 16 bis 18 Jahren, die vierte Gruppe Frauen von 19 bis 34 und Männer von 19 bis 39 und die fünfte Gruppe Frauen von 35 bis 55 sowie Männer von 40 bis 60 Jahren. Eine einerseits sehr genaue, andererseits breit gefächerte Skala von zu erfüllenden Minimalanforderungen für GTO-Teilnehmer in jeder der fünf Altersgruppen zielt darauf ab, den . Allroundsportler" zu fördern, d. h. sportliche Fähigkeiten in verschiedenen Sportarten und darüber hinaus — abgesehen von der schon skizzierten Wehrertüchtigung der 16-bis 18jährigen männlichen Jugendlichen — Grundkenntnisse in Gesundheitserziehung, Hygiene und Erster Hilfe zu vermitteln. Neben den Wehrdienstleistenden sind es vornehmlich Schulkinder, die die geforderten GTO-Leistungen erbringen. Sie stellten in der UdSSR 1974 über die Hälfte der GTO-Sportabzeichenträger, etwa 43 Prozent aller regelmäßig Sporttreibenden und einen hohen Anteil der Leistungssportler.
Der Spitzensport
Für diesen zweiten Bereich des „masterstwo“ liefert das einheitliche, ebenfalls schon in den dreißiger Jahren geschaffene Klassifikationssystem die allgemeinen wie speziellen Bestimmungen. Es enthält zur Messung und Förderung des Leistungssports einen umfangreichen Katalog von Leistungsanforderungen, Klassifizierungsstufen und Titeln, die einander zugeordnet sind. Orientiert am Niveau der Weltspitze, werden die Anforderungen jeweils entsprechend dem olympischen Vierjahreszyklus überprüft und neu für die einzelnen Klassifizierungsstufen festgelegt. Für die erreichten Klassifizierungsstufen gibt es Titel, die beim „Juniorensportler der Leistungsklassen I, II und IIT beginnen und beim „Meister des Sports der UdSSR internationaler Klasse" enden. Außerdem wird an besonders erfolgreiche Sportler der 1934 geschaffene Ehrentitel „Verdienter Meister des Sports“ verliehen; Trainer der UdSSR bzw.der Unionsrepubliken können entsprechende Titel erhalten.
In dieses — hier natürlich nur umrißhaft gekennzeichnete — Sportklassifizierungssystem gelangten nach der amtlichen Statistik 1975 aufgrund der von ihnen erbrachten Leistungen über 17 Millionen Athleten, von denen nicht weniger als 7 237 den zweithöchsten, auf Lebenszeit vergebenen Titel „Meister des Sports" erhielten. Erreicht wurde — und gewiß noch ausbaufähig ist — der sich darin manifestierende, quantitativ wie qualitativ hochentwickelte Stand im sowjetischen Leistungssport, auf dem seine großen internationalen Erfolge ganz wesentlich beruhen, mit Hilfe eines ebenso ausgefeilten Systems der Talentsuche und -förderung, in dem sportwissenschaftliche Forschungsinstitute und sportmedizinische Einrichtungen mit von ihnen erarbeiteten speziellen Testvorrichtungen und neuartigen Trainingsmethoden eine bedeutende Rolle spielen.
Seine wichtigsten Organe und zugleich sein Dreh-und Angelpunkt sind indessen die in der Form einer sechsstufigen Pyramide aufgebauten schulischen Ausbildungsstätten für den talentierten Nachwuchs in vorrangig bis ausschließlich olympischen Sportarten. 5 000 Kinder-und Jugendsportschulen bilden die Basis. Sie wurden 1979 von über 750 000 Jungen und Mädchen außerhalb ihrer normalen Schulzeit besucht Das Aufnahmealter liegt in der Regel bei elf Jahren, bei einzelnen Sportarten wie etwa Turnen, Schwimmen, Eiskunstlauf oder Fußball jedoch mit fünf bis sieben Jahren erheblich darunter, bei anderen wie Radfahren und Eisschnellauf mit dreizehn bis vierzehn Jahren auch darüber. Den gleichen Charakter von schulischen Sportvereinen oder -klubs haben auf der nächsten Pyramidenstufe die besonders gut ausgestatteten und erfolgreichen, auf eine (olympische) Sportart spezialisierten Kinder-und Jugendsportschulen, an denen mehr als die Hälfte der 60 000 hauptamtlichen Trainer tätig ist, sowie auf der vierten bzw. fünften Stufe die Leistungssport-schulen bzw. die Höheren Leistungssportschulen für die Altersgruppe der Sechzehn-bis Achtzehnjährigen. Nach dem Modell von Schulen, an denen schwerpunktmäßig Fremdsprachen gelehrt werden, sind auf der dritten Stufe sportorientierte Ganztagsschulen eingerichtet worden; hier erhalten schulpflichtige Kinder (ab sieben Jahren) aus dem jeweiligen unmittelbaren Wohngebiet neben dem normalen Unterricht eine besondere Sportausbildung. An der Spitze der Pyramide stehen (gegenwärtig) 26 Sportinternate. Das erste wurde, übrigens nach DDR-Vorbild, 1962 in Taschkent gegründet; heute besitzen alle fünfzehn Unionsrepubliken sowie mehrere Großstädte, darunter Moskau und Leningrad, eine solche Einrichtung. Nachdem diese Heimschulen, die ihre Zöglinge (Aufnahmealter sieben bis zwölf Jahre) zu außergewöhnlichen Leistungen in mindestens einer Sportart und zu einem Abitur von überdurchschnittlichem Niveau führen sollen, vor allem im Anfangsstadium teilweise heftiger Kritik in der sowjetischen Öffentlichkeit ausgesetzt und bei den betroffenen Eltern höchst unpopulär waren, scheinen sie inzwischen, nicht zuletzt aufgrund überzeugender Erfolge in beiden Bereichen, weitgehend anerkannt und fest etabliert zu sein. Mit dem ihnen klipp und klar erteilten Auftrag, Olympiasieger zu „produzieren“, sind sie zweifellos typischer Ausdruck des Bemühens, „in einem auf Planung beruhenden Gesellschafts-und Sportsystem die Mittel zu konzentrieren, um einen maximalen Erfolg gewährleisten und an der Weltspitze mithalten zu können" (J. Riordan).
Genau geplant und festgelegt sind auch Ausbildung und Einsatz der Ausbilder, ohne die der spektakuläre Aufstieg der Sowjetunion zur sportlichen Weltmacht kaum möglich gewesen wäre. An weit über 200 Hoch-oder Fachschulinstituten werden in speziellen vier-bis fünfjährigen Ausbildungsgängen die Trainer, von denen 1977 60 Prozent ein Hochschulstudium absolviert hatten, sowie die Lehrer für Körperkultur in Schulen, Sportvereinigungen, Fabriken, Kolchosen usw. auf ihre verantwortungsvolle Tätigkeit vorbereitet. Bei der Betreuung bevorzugt werden einmal mehr die Leistungssportler; für höchstens zwölf, durchschnittlich sieben, häufig auch nur drei von ihnen, steht, sofern sie der ersten (also obersten) Klassifizierungsstufe angehören, jeweils ein eigener Trainer zur Verfügung, der in der betreffenden Disziplin selbst die Anforderungen der 1. Klasse erfüllt haben soll.
Zum Verhältnis von Spitzen-und Massensport
Die weitgesteckten Ziele, hohen Investitionen und außerordentlichen Anstrengungen im Leistungssport legen die Frage nach dessen Verhältnis zum Massensport in der heutigen Sowjetunion fast zwingend nahe. Sämtliche offiziellen Auskünfte und Stellungnahmen besagen, der „Sport für alle" habe selbstverständlich und uneingeschränkt den Vorrang vor der „Talentförderung der wenigen". In der Tat ist es weiterhin erklärte Absicht des Systems, eine Sportpolitik nach dem Motto „An Körperkultur und Sport soll keiner vorbeikommen" zu betreiben, eine Politik, die das in Artikel 41 der UdSSR-Verfassung garantierte Bürger-recht auf Sport sogleich zur sozialistischen Bürgerpflicht macht. Außerdem ist natürlich zu berücksichtigen, daß ohne Breitensport keine Talentsuche und damit kein Leistungssport, jedenfalls in dieser Größenordnung, möglich wären.
Dessenungeachtet besteht — darin stimmen die freilich nicht sehr zahlreichen westlichen Experten(analysen) überein — ein unübersehbares „Mißverhältnis zwischen horizontaler und vertikaler Körperkultur-Entwicklung in der Sowjetunion" (N. Shneidman), wird der Massensport keineswegs nur aus finanziellen Gründen, d. h. wegen fehlender Mittel, zugunsten des Hochleistungs-und Spitzensports stark benachteiligt. Was hier vor allem zum Tragen kommt, ist vielmehr jene seit Stalins „Revolution von oben“ auf breiter Front praktizierte Gesellschaftspolitik, die mittels hoher Leistungsanforderungen und -anreize —-man könnte fast sagen: durch Verabsolutierung des Leistungsprinzips — funktionstüchtige Eliten vom industriellen Facharbeiter über die technisch-wissenschaftliche Intelligenz bis hin zum Spitzensportler hervorzubringen bzw. zu erhalten trachtet. Auch und gerade Spitzensportler können und sollen — wie Kosmonauten, Wissenschaftler, Künstler und andere „führende Persönlichkeiten" — zur Nachahmung anregende Vorbilder für die Jugend sein und für das System, das sie hervorgebracht hat, werben. Deshalb genießt Leistungssport die gleiche Anerkennung wie jeder andere gesellschaftliche Tätigkeitsbereich, und deshalb ist er ein Beruf wie jeder andere auf dem im weitesten Sinne kulturellen Sektor. Die — wie wir alle wissen — längst fragwürdige Unterscheidung zwischen „Amateuren" und „Professionals" im Hochleistungsund Spitzensport ruft in der Sowjetunion (durchaus zu Recht) nur Kopfschütteln hervor; man berücksichtigt sie lediglich durch eine entsprechend deklarierte „berufliche" Absicherung der eigenen Sportler, um bei Olympiaden und anderen internationalen Amateur-Titelkämpfen in den Hauptsportarten mit den leistungsstärksten Kräften antreten zu können.
Die berufliche und finanzielle Sicherstellung des Hochleistungssportlers ist sowieso selbstverständlicher Bestandteil des auch insoweit auf Planung, Lenkung und Vorsorge bedachten Systems. Der Athlet beoder erhält nominell seine Anstellung und sein Gehalt als Berufssoldat, Milizangehöriger, Lehrer, Journalist, Ingenieur usw., und ihm winken für sowjetische Verhältnisse bekanntlich sehr wertvolle „Prämien": ein Auto, ein Ferienplatz an der Sonne des Schwarzen Meeres, eine Wohnung oder gar eine Datscha. Alle Träger des Lebenszeittitels „Meister des Sports", und das sind, wie wir gesehen haben, viele tausend Leistungssportler, beziehen außerdem monatlich 30 Rubel Ehrensold, also rund 20 Prozent eines normalen Arbeiterlohns. Es ist daher weder Zufall noch Wildwuchs, sondern systemkonform und -gewollt: Erfolgreiche Leistungssportler „gehören zu den bestbezahlten Gruppen im Lande, und ihr Einkommen ist mindestens doppelt so hoch wie das Durchschnittseinkommen eines Sowjetbürgers" (N. Shneidman), ganz zu schweigen von der Aussicht bzw.dem Vorrecht, ins westliche Ausland reisen zu dürfen und auch dadurch in den Genuß von Vergünstigungen zu gelangen, von denen der sowjetische Normalbürger nur träumen kann. Nach dem Ende ihrer aktiven Laufbahn wird großzügig für das weitere Fortkommen der Hochleistungssportler gesorgt, sei es durch verbesserte Positionen oder Aufstiegs-möglichkeiten bei der Rückkehr in den alten Beruf, sei es durch Bevorzugung beim Studium oder einer anderen Fachausbildung; nicht wenige werden Trainer, die je nach Qualifikation, Dienstjahren, Ehrentiteln und natürlich Erfolg zwischen 170 und 300 Rubel, als Spitzenkräfte sogar bis zu 400 Rubel im Monat verdienen (zum Vergleich: das Monatsgehalt eines Lehrers beträgt nur 120, eines Busfahrers 180, eines Hochschullehrers 200 Rubel).
Fazit: In einer, was theoretischen Anspruch und politisch-ideologisches Selbstverständnis anbelangt, klassenlosen Gesellschaft sind Olympiasieger, Welt-und Europameister und ähnlich hochkarätige Spitzensportler analog den Eliten in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw. ganz einfach eine Klasse für sich. Ebenfalls entsprechend den Regeln des Gesamtsystems schließt ihre Privilegierung freilich Verpflichtungen in sich ein, zu denen nicht nur ständiger Leistungsnachweis und sportgemäßes Auftreten, sondern auch aktive Beteiligung am politischen und kulturellen Leben gehören. Wer dagegen verstößt bzw.den Verpflichtungen nicht hinreichend nachkommt, kann nach eigens dafür erlassenen und gar nicht so selten praktizierten Vorschriften im Klassifizierungssystem zurückgestuft werden und Vergünstigungen teilweise oder ganz verlieren. Jeder Spitzensportler hat eben mit seinem „Beruf" sein Land und dessen politische und gesellschaftliche Ordnung vorbildlich zu repräsentieren.
In alledem tritt nochmals die innen-wie außenpolitische Funktion des sowjetischen Sports als Leistungsund Spitzensport klar zutage. Aus den in unserer Skizze mehrfach genannten und erläuterten Gründen wird sich auch künftig weder daran noch am Vorrang des Leistungssports vor dem Massensport sehr viel ändern. Allerdings hat die sowjetische Führung der Sportbewegung sehr weitgesteckte Zielvorstellungen verordnet: Nach dem — auch das ist bezeichnend — allgemeinen Perspektivplan für die Volkswirtschaft sollen bis 1990 nicht weniger als 85 bis 90 Millionen Sowjetbürger, also fast doppelt so viele wie gegenwärtig, regelmäßig und aktiv Sport treiben — schon Ende 1980 sollten es 55 bis 57 Millionen (so Pawlow im Herbst 1977) sein — und 20 Millionen jährlich die Bedingungen des GTO-Programms erfüllen. Während die zuletzt genannte Zahl realistisch erscheint, da sie schon 1975 zum ersten Male fast erreicht wurde, ist die Einlösbarkeit der ersten und hauptsächlichen Planvorgabe skeptisch zu beurteilen, nahmen doch — wie ebenfalls aus sowjetischen Quellen hervorgeht — in den siebziger Jahren nur drei Prozent der über 40jährigen und selbst von den Schulkindern nur 20 Prozent an regelmäßigen Übungen in Sport und Körperkultur teil, überhaupt läßt die Qualität des normalen, wöchentlich nur zweistündigen Sportunterrichts an den sowjetischen Schulen häufig viel zu wünschen übrig, und der studentische Pflichtsport mit insgesamt 140 übungsstunden in den ersten beiden (von in der Regel vier bis fünf) Studienjahren wird von den 41/2 Millionen Studierenden von Region zu Region, Hochschule zu Hochschule höchst unterschiedlich wahrgenommen.
Nicht zu übersehen ist schließlich die nach wie vor unbefriedigende Lage auf dem Lande. Die Behauptung einer sowjetischen Zeitschrift (aus dem Jahre 1972): „Der Sport ist längst Bestandteil des Alltags der Landbewohner geworden", wird durch offizielles statistisches Material insofern relativiert, wenn nicht widerlegt, als von den 52 Millionen Sowjetbürgern, die gegenwärtig als Sportler (im weitesten Sinne) einzustufen sind, kaum mehr als 12 Millionen, also weniger als ein Viertel, zur ländlichen Bevölkerung gehören und in vielen Landgebieten ein erheblicher bis totaler Mangel an Sportanlagen, sonstiger materieller Sportausstattung und an Sportlehrern besteht. Inwieweit hier, noch dazu angesichts mit Sicherheit weiterhin knapper finanzieller Mittel, relativ kurzfristig, nämlich bis 1990, in dem erstrebten Ausmaß Abhilfe geschaffen werden und damit ein durchgreifender Wandel der jetzigen Lage eintreten kann, erscheint zumindest fraglich, vom Erreichen des in einigen entwickelten Industriegesellschaften des Westens schon jetzt vorhandenen Niveaus ganz zu schweigen, das etwa in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen durch die höchste Dichte von Sportvereinsmitgliedschaften und -aktivitäten auf dem Lande (in Dörfern und Kleinstädten) gekennzeichnet ist.
Soviel läßt sich jedoch unschwer voraussagen: Sport wird in der Sowjetunion weiterhin keineswegs als zweitrangiges Hilfsmittel, sondern als wichtiger, wegen seiner Eigendynamik freilich genau zu kontrollierender Faktor angesehen und eingesetzt werden, um den Modernisierungsund Integrationsprozeß der Gesellschaft auf sozialistisch-kommunistischer wie nationalistisch-sowjetischer Grundlage auch künftig voranzutreiben mit einer Funktionszuweisung für Sport und Körperkultur, deren Prioritätenskala unverändert Militarisierung, Sozialdisziplinierung und allgemeine Effektivitätssteigerung, Formung der sozialistischen Persönlichkeit, Freizeit-und Erholungsgestaltung sowie — last not least — Systemstützung durch Höchstleistungen im internationalen Kräftemessen umfaßt. Deshalb hatte und insoweit behält dieses soziale Subsystem und Handlungsfeld in der UdSSR seinen präzise bestimmbaren und im Vergleich zu westlichen Industrieländern auffallend hohen Stellenwert.
Schlußfolgerungen
Ein kurzer kritischer Rückblick auf die historische Entwicklung und die aktuelle Lage von Sport und Körperkultur im ersten und bis heute mächtigsten Land, das von Kommunisten regiert wird, legt einige Schlußfolgerungen, Einsichten und Fragen nahe, die vorwiegend der Sowjetunion selbst gelten, teilweise jedoch über sie hinausweisen. Sie lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen, von denen der erste direkt an die dem Sowjetsport gerade gestellte Prognose anknüpft: 1. Sport besitzt in der Werthierarchie einer Gesellschaft sowjetischen Typs deshalb einen so hohen Stellenwert, Handlungen im Rahmen des Sports werden deshalb von und in ihr so positiv sanktioniert, weil sie zur Stabilität, Strukturbewahrung und Funktionalität des Gesamtsystems in hohem Maße beizutragen vermögen. Genau deshalb ist der Leistungssport das Kernstück sowjetsozialistischer Körperkultur, ist das Leistungsprinzip ihr Dreh-und Angelpunkt. Stets und vor allem geht es darum, mehr zu leisten, etwas immer weiter zu steigern und zu verbessern: die Gesundheit, die Arbeitsproduktivität, den gesellschaftlichen Nutzen von Erholung und Freizeit, die Wehrkraft, den Sowjetpatriotismus, die sozialistische Persönlichkeit, die gesamtstaatliche Einheit, das internationale Prestige. Insoweit gibt es keinen privaten Freiraum für den Sport.
2. Andererseits hat die rigorose Anwendung eines derart gesteigerten und auch übersteigerten Leistungsprinzips in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz als weiterem Strukturprinzip des Sports zu zwei in jedem Fall positiv zu bewertenden Ergebnissen geführt, deren gesellschaftliche Bedeutung ebenfalls nicht unterschätzt werden darf: Einmal handelt es sich um die Anerkennung des Sports als eines grundsätzlich und tatsächlich gleichberechtigten Faktors bzw. Faches im Bildungswesen, das dadurch an sozialer Offenheit und Chancengleichheit gewinnt; und nicht zuletzt daraus ergibt sich zweitens, daß Hochleistungssport inzwischen ganz selbstverständlich (man denke an die völlige entgegengesetzte Ausgangslage der zwanziger Jahre!) als Beruf (auf Zeit) mit entsprechender, oft recht hoher Bezahlung (nebst sonstigen Vergünstigungen) angesehen wird. Niemand kommt bei einem ähnlich hoch bezahlten Künstler auf den Gedanken, „daß damit die Kunst entwertet... wird. Warum soll es dann bei Sport unbedingt der Fall sein?", fragt mit Recht Christian von Krockow. Mit anderen Worten: In der Sowjetunion hat man aus der „Professionalisierung" des Hochleistungssports, die allein schon der rapide gestiegene Zeitaufwand für ein intensives Training unumgänglich macht, eine vernünftige und glaubwürdige Konsequenz gezogen; man braucht sich nicht — außer gezwungenermaßen im internationalen Sportverkehr — mit dem Problem des Schein-amateurs herumzuschlagen; und man scheint auch mit dem Starkult insgesamt besser als im Westen fertig zu werden, wenngleich gewisse Auswüchse bestehen, insbesondere im Fußball und (neuerdings) im Eishockey, die gewiß mehr als bloße Randerscheinungen, weil immer wieder Gegenstand heftiger Kritik in den sowjetischen Medien sind. 3. Zweifellos haben die (unter 1. und 2.) genannten allgemeinen Prinzipien, gesellschaftspolitischen Funktionen und beruflichen Möglichkeiten den enormen Aufschwung der Sportbewegung in der UdSSR während der letzten Jahrzehnte in erster Linie bewirkt. Die Gründe, die gemeinhin für das ja weltweit so stark gestiegene Sportinteresse ins Feld geführt werden, nämlich: Sport als Geselligkeit (innerhalb wie außerhalb eines Vereins bzw. vergleichbaren Kollektivs) und als private Freizeitbeschäftigung, Sport als Betätigung „zur Ausgrenzung aus der Welt des Ernstes, der innerweltlichen Sorge" (Chr. von Krockow), kurzum, der allen zugängliche und verständliche Sport als Ausgleich und Kompensation für das Ausgeliefertsein an eine kaum mehr durchschaubare industrielle Arbeitsund Lebenswelt — derartige Gründe spielen demgegenüber, jedenfalls bislang, nur eine untergeordnete Rolle. Erst in jüngster Zeit sind, wie zu zeigen versucht wurde, angesichts des erreichten gesellschaftlichen Entwicklungsstandes im Sowjetsozialismus in diese Richtung weisende Motivationen als Verursacher von Sportaktivitäten konkret nachweisbar.
4. Wie überall in der Welt des Industriezeitalters ist in der Sowjetunion Sport integraler Bestandteil ihrer politischen Kultur. In klarer Absage an die von der Proletkult-Bewegung erhobene Forderung, eine nichtbürgerliche „proletarische Kultur" und damit auch einen nichtbürgerlichen „proletarischen Sport“ hervorzubringen, hat den ihr grundsätzlich und allgemein vorgeschriebenen Kurs bereits Lenin 1923 mit der lapidaren Feststellung umrissen: „Für den Anfang sollte uns eine wirkliche bürgerliche Kultur genügen." In der Tat galt, wie Dietrich Geyer in unmittelbarer Anknüpfung an diesen Ausspruch Lenins betont hat, „die Kulturbewegung des Sowjetsozialismus ... fortan der Eroberung der bürgerlichen Kultur für Rußland: Kultur im Sinne positiver Kenntnisse, technischer Fertigkeiten, materieller Errungenschaften, Kultur nicht zuletzt auch als Problem der Macht".
Kultur und damit auch Sport als Problem der Macht! Dieses Stichwort weist (einmal mehr) auf den durch und durch instrumentalen Charakter des sowjetischen Appells zur Rezeption und Weiterentwicklung bürgerlicher Kultur unter Einschluß des Sports hin. Er erklärt ferner, warum das originäre Kultur-und Sport-konzept der Proletkult-Bewegung zum Scheitern verurteilt war. In seiner Einbettung in das marxistisch-leninistische Industrialisierungs-und Modernisierungsprogramm verB deutlicht es schließlich, daß und wie sehr auch in der Sowjetunion das Industrielle und der Sport zeitlich, struktural und in der Zielsetzung aufeinander bezogen sind. Für den Sport heißt das, wie das sowjetische Beispiel ebenfalls lehrt: Leistung, Konkurrenz und Gleichheit als die ihm eigenen grundlegenden Strukturprinzipien gehören untrennbar zusammen; wer — wie die Proletkult-Verfechter — auf die beiden ersten auch nur teilweise verzichtet, erschüttert zwangsläufig das Gleichheitsprinzip. Die mit dem Sowjetsozialismus wegen des ihr zugeschriebenen „Ausbeutungscharakters" an sich unvereinbare Konkurrenzmaxime wird ideologisch gerechtfertigt als der in der unausweichlichen Systemauseinandersetzung notwendige „historische Schritt zur Überwindung des aggressiven »Wolfsgesetzes«, das im Kapitalismus herrscht" (Chr. von Krockow). Unmittelbar daran läßt sich die folgende Feststellung bzw. Überlegung anschließen.
5. Spätestens seit den durch die sowjetische Intervention in Afghanistan (Ende Dezember 1979) verursachten Erwägungen und (inzwischen auch) Entscheidungen in einer Reihe nichtkommunistischer Länder, die Teilnahme ihrer Athleten an den Olympischen Sommer-spielen 1980 in Moskau abzusagen, weiß jeder, daß überall in der Welt Sport und Politik nicht zu trennen sind, daß Sport lediglich insoweit ein „unpolitischer" Lebensbereich ist, als es um seine in der Tat politik-und systemneutrale Technizität, d. h. um die technischen Regeln für ihn und alle seine Disziplinen geht. In der Sowjetunion war und ist jedoch die Abhängigkeit des Sports von der Politik quantitativ wie qualitativ von anderer Art als in den entwikkelten westlichen Industriegesellschaften, d. h. diese Abhängigkeit ist sehr viel höher und schlägt weitaus stärker und direkter zu Buche. Von ihren Anfängen bis zum heutigen Tag steht die Geschichte von Sport und Körperkultur in der Sowjetunion kontinuierlich unter dem Motto „Sport als Aufgabe und Mittel der politischen Macht", zunächst zur Veränderung und inzwischen zur Bewahrung bzw. Stabilisierung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse. Wie ist ein solcher Vorgang grundsätzlich zu erklären und zu beurteilen? Vor knapp einem Vierteljahrhundert (1956) hat der namhafte deutsche Philosoph und Kultursoziologe Helmuth Plessner einen Vortrag über Die Funktion des Sports in der industriellen Gesell schaft mit der Feststellung beendet: „Der Sport ist nicht besser und schlechter als die Gesellschaftsordnung, der er entstammt und für die er einen Ausgleich darstellt... Man wird ihn nicht ändern, ohne den Mut und die Kraft zu haben, auch sie zu ändern." Die erst danach, nämlich seit den sechziger Jahren entstandene, im eigentlichen Sinne sozialwissenschaftliche Sportliteratur — von der Geschichte über die Soziologie bis zur Psychologie — ergänzt und erweitert auf vielfältige Weise die schon aus Plessners Worten ableitbare Erkenntnis, daß „bei aller Wechselseitigkeit der Beziehungen" zwischen Sport und Gesellschaft in historischer wie aktueller Perspektive „die Wandlungen der Gesellschaften die wichtigeren Bedingungsfaktoren beinhalten" (D. Grieswelle). Hier, in den konstanten und/oder gewandelten Merkmalen ihrer politischen und gesellschaftlichen Ordnung, liegt mithin der Schlüssel zum Verstehen und zur Beurteilung von Sport und Körperkultur in Rußland und der Sowjetunion.
6. Nur unter dieser Prämisse, die angesichts unserer kursorischen Bemerkungen zu Gesellschaft und Politik gewiß nicht hinreichend erläutert worden ist, wird man mit teils generellem Bezug, vorrangig jedoch mit Blick speziell auf die Sowjetunion sich den letztlich entscheidenden, hier wenigstens aufgeworfenen Fragen zuwenden dürfen: Inwieweit kann Sport, ja kann er überhaupt gesellschaftliche Verhältnisse nachhaltig beeinflussen? Stabilisiert und konserviert er wirklich lediglich einen bestehenden politischen und gesellschaftlichen Zustand? Oder, und in welchen Grenzen, kann er gesellschaftlichen Wandel befördern? Das alles mag zunächst reichlich theoretisch und akademisch, vielleicht sogar utopisch erscheinen, ist es aber nicht, wenn man ganz allgemein an die in unserem Buch mehrfach skizzierte ambivalente Funktion des Sports in jeder modernen Industriegesellschaft, zum anderen speziell daran denkt, welchen Weg wohl die Sowjetunion in den achtziger Jahren einschlagen wird, wo die Möglichkeiten und wo die Grenzen ihrer wahrscheinlichen inneren Entwicklung in absehbarer Zukunft liegen. Alle möglichen diesbezüglichen Aussagen, selbst wenn sie sich auf die Funktion des Sports beschränken, werden gewiß unbefriedigend und sehr vorläufig sein, nicht mehr als eine Diskussionsgrundlage bieten können; entscheidend ist jedoch ihr Tenor, und er sollte gerade jetzt, im „Zeitalter der ständig fortschreitenden Fundamentalpolitisierung" (Chr. von Krockow), unbedingt lauten: Obwohl, ja weil die Vorstellung vom Sport als reiner Privatangelegenheit eines jeden einzelnen von der Realität längst überholt ist, bedarf er aufgrund der ihm eigenen Prinzipien weiterhin einer Sphäre persönlicher Freiheit, der Freiheit von Zwängen und gesellschaftlichen Indienstnahmen, die ihm in der Sowjetunion fast vollständig vorenthalten, in den westlichen Industriestaaten jedenfalls noch nicht hinreichend gewährt werden bzw. von ihm nicht voll ausgefüllt werden. Auch zu dieser Einsicht wollte unsere kleine Studie beitragen und — nochmals in Übereinstimmung mit von Krockow — zum Nachdenken darüber, ob es nicht notwendiger denn je ist, durch politische, institutionell abgesicherte Vereinbarungen bestimmte Lebensbereiche, darunter den Sport, aus politischen Konflikten auszuklammern. Zitierte Literatur D. Geyer, Arbeiterbewegung und „Kulturrevolution" in Rußland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 10 (1962)
D. Grieswelle, Sportsoziologie. Stuttgart/Ber-lin u. a. 1978 (Urban-Taschenbücher, Bd. 267)
Ch. von Krockow, Sport und Industriegesellschaft. München 1972 (Serie Piper, Bd. 25) ders., Sport, Gesellschaft, Politik. Eine Einführung. München 1980
H. W. Morton, Medaillen nach Plan. Der Sowjetsport. Köln 1963
H. Plessner, Die Funktion des Sports in der industriellen Gesellschaft, in: Wissenschaft und Weltbild 9 (1956)
J. Riordan, Soviet Sport. Background to the Olympics. Oxford 1980 ders., Sportmacht Sowjetunion. Bensheim 1980 ders., Sport in Soviet Society. Development of Sport and Physical Education in Russia and USSR. Cambridge 1977
N. N. Shneidman, The Soviet Road to Olympus. Theory and Practice of Soviet Physical Culture and Sport. Toronto 1978