Historische Prozesse entstehen nicht auf einer tabula rasa. Sie werden lange vorbereitet und bedürfen des Zusammenwirkens vielfältiger Kräfte. Oft genügt dann nur eine günstige Konstellation und ein energischer äußerer Anstoß, um sie in Bewegung zu setzen, um Gedanken zur Tat werden zu lassen. Dies gilt auch für die modernen Olympischen Spiele, als deren Begründer der Franzose Pierre de Coubertin mit Recht geehrt wird. Doch schon lange, bevor Coubertin auf dem von ihm 1894 nach Paris einberufenen internationalen Athletikkongreß so geschickt die Weichen stellte, daß die Delegierten ohne längere Diskussion für die Einberufung eines internationalen Komitees votierten, das mit der Vorbereitung der Spiele betraut werden sollte, gab es viele Versuche, Olympische Spiele durchzuführen -
Wegbereiter der Olympischen Spiele
Besondere Erwähnung verdienen die national-griechischen Olympischen Spiele, die nach dem Freiheitskampf der Griechen gegen die Türken (1821 — 1829) von König Otto I. gestiftet und zwischen 1858 und 1889 viermal in Athen ausgetragen wurden. Bei dem Eröffnungszeremoniell wurde die Nationalhymne gespielt und ein olympischer Eid geschworen. Älter noch als diese Spiele waren die „Olympic Games", die zwischen 1610 und 1860 in Dover s Hill bei Oxford (England) stattfanden. Ihr Gründer, Captain Robert Dover, hatte hier Fechten, Hockey, Ringen, Springen, Hammer-und Speerwerfen in ein ländliches Festprogramm eingebunden, das von Tänzen und Flötenmusik umrahmt wurde.
Mehr als 40 Jahre lang veranstaltete dann Dr. W. P. Brookes im 19. Jahrhundert auf seinen „Olympic Fields" bei Wenlock/Shrophire (England) Wettkämpfe im Laufen, Reiten, Hockey Und Tennis, bei denen die Sieger mit dem Hissen einer Flagge und einem Lorbeerkranz geehrt und griechische Oden unter Musikbegleitung vorgetragen wurden. Bei Aufenthalten in England hat Coubertin den Spielen in Wenlock beigewohnt.
Größer noch war der Einfluß des Engländers J. Astley Cooper auf Coubertin. Cooper hatte 1891 vorgeschlagen, eine „Anglo-Saxon Olym-piad" zu schaffen, um dadurch periodisch die Völker des britischen Commonwealth und
Amerikas in sportlichen, künstlerischen und technischen Wettbewerben zusammenzuführen. Mit seiner „olympischen Idee" wollte Cooper sowohl das britische Kulturbewußtsein als auch die politische Macht des britischen Empires stärken. Ferner plante er, diese Spiele der „angelsächsischen Rasse" an eine der modernen Industrieausstellungen anzubinden, um den Spielen so größere Wirksamkeit zu verleihen. Gedacht war an die Weltausstellung in Chicago 1893. Da Coubertin sofort erkannte, daß Frankreich an solchen unter englischer Dominanz stehenden Spielen niemals teilnehmen würde, faßte er den kühnen Plan, internationale Olympische Spiele anläßlich der Weltausstellung 1900 in Paris zu organisieren. Auf französischem Boden konnte erdie Regie übernehmen, den Teilnehmerkreis bestimmen und sein Hauptziel weiter verfolgen: die physische und psychische Regenerierung der französischen Jugend.
Neben den griechischen und angelsächsischen Wegbereitern des modernen Olympismus war es dann vor allem die Arbeit deutscher Archäologen bei der Ausgrabung Olympias, die Coubertin faszinierte und ihn zur Wiedererweckung der modernen Olympischen Spiele inspirierte. Diese Grabungen, die 1875 unter der Leitung von Ernst Curtius begannen und 1881 zu einem vorläufigen Ab-Schluß führten, hatten sich auf die Altis konzentriert. Dabei waren die Ruinen des Zeus-und Hera-Tempels, des Philippeions und Metroons, der Schatzhäuser und des Nymphaions freigelegt und außerhalb der Altis Palästra und Gymnasion (Übungsstätten für Lauf-und Wurfwettbewerbe, Ringen und Boxen) sowie das Leonidaion und Buleuterion (Unterkunft für Staatsgäste und Sitz des obersten Olympischen Rates) ausgegraben worden.
Schon 1852 hatte Curtius in einem begeistert aufgenommenen Vortrag die Ausgrabung Olympias angeregt und seine Ausführungen mit den Sätzen geschlossen: „Was dort in der dunklen Tiefe liegt, ist Leben von unserem Leben. Wenn auch andere Gottesboten in die Welt ausgezogen sind und einen höheren Frieden verkündet haben als die olympische Waffenruhe, so bleibt doch auch für uns Olympia ein heiliger Boden, und wir sollen in unsere von reinerem Licht erleuchtete Welt her-übernehmen den Schwung der Begeisterung, die aufopfernde Vaterlandsliebe, die Weihe der Kunst und die Kraft der alle Mühsale des Lebens überdauernden Freude."
Die Griechenlandbegeisterung, die aus diesen Sätzen spricht, hatte viele Gebildete in Europa ergriffen; die Leistungen deutscher Archäologen bei der Ausgrabung Olympias haben die westliche Kulturwelt stark beeindruckt. Coubertin bekennt dies in seiner „Campagne de Vingt-et-un-Ans" (1908) und weist dabei auf den Zusammenhang mit der Einführung der modernen Olympischen Spiele hin: „Lange ehe ich daran dachte, aus diesen Ruinen ein Prinzip der Erneuerung zu schaffen, hatte ich mich daran gemacht, im Geist die Umrisse wiederaufzubauen. Deutschland hatte das ausgegraben, was von dem alten Olympia noch vorhanden war, warum sollte Frankreich nicht die alte Herrlichkeit wiederherstellen? — Von hier zu dem weniger glänzenden, aber fruchtbaren und praktischen Plan, die Spiele zu erneuern, war es nicht weit, besonders da es schien, als ob der interntionale Sport eine Rolle in der Welt spielen sollte."
Die ersten Olympischen Spiele — die ersten politischen Konflikte
Coubertin ging geschickt vor. Anläßlich des ersten Athletik-Kongresses 1892 sondierte er die Lage. Über die für ihn verblüffende Reaktion schreibt er: „Natürlich hatte ich alles vorhergesehen, nur nicht das, was eintraf. Opposition? Proteste? Ironie? Oder gar Gleichgültigkeit?... Nichts von alledem. Man klatschte Beifall, man billigte meine Pläne, man wünschte mir großen Erfolg, aber kein Mensch hatte mich verstanden. Es war ein vollkommenes, absolutes Unverstehen, das damals anfing und lange andauern sollte."
In den nächsten zwei Jahren bereitete Coubertin den entscheidenden Kongreß der Sorbonne von 1894 vor, an dem 79 Vertreter aus 13 Nationen teilnahmen, um Fragen des Amateurwesens und der Wiedererweckung der Olympischen Spiele zu diskutieren. Der griechische Gelehrte Demetrios Bikelas setzte sich dabei — entgegen der ursprünglichen Coubertinschen Planung: erste Olympische Spiele 1900 in Paris — mit seinem Vorschlag durch, die Spiele bereits 1896 in seinem Heimatland austragen zu lassen. Ferner einigte man sich auf folgende Modalitäten: Vierjahresrhythmus der Spiele, Gleichrangigkeit aller Sportarten, Wechsel des Austragungsortes, Gründung eines Internationalen Olympischen Komitees (IOC).
In dem Vorwort zum offziellen Bericht über die ersten Olympischen Spiele 1896 in Athen hat Coubertin auf den Zusammenhang zwischen dem Werden der Olympischen Idee, der sich anbahnenden weltweiten Organisation des Sports und der „Distanzverringerung" zwischen den Kontinenten dank moderner technischer Errungenschaften wie folgt hingewiesen: „Die Idee der Wiederbelebung derselben war kein Phantasiegebilde, sie war vielmehr das vernünftige Ergebnis einer großen Bewegung. Das 19. Jahrhundert hat überall die Neigung zu den Leibesübungen wiedererstehen sehen, und zwar bei seinem Anbruch in Deutschland und Schweden, um seine Mitte in England und an seiner Wende in den Vereinigten Staaten und in Frankreich. Zu gleicher Zeit haben die großen Erfindungen, Eisenbahn und Telegraph, die Entfernungen aufgehoben, und die Menschheit hat ein neues Leben zu führen begonnen. Die Völker sind miteinander in Verkehr getreten, haben sich besser kennengelernt und Gefallen daran gefunden, untereinander Vergleiche zu ziehen. Was das eine Volk ausführte, wollte das andere auch seinerseits versuchen. Weltausstellungen haben die Erzeugnisse der entlegensten Länder des Erdballs auf einem und demselben Punkte zusammengeführt, literarische oder wissenschaftliche Kongresse die verschiedensten Geisteskräfte in Berührung gebracht. Wie hätten die Athleten also nicht versuchen sollen zusammenzutreffen, zu einer Zeit, wo der Wettkampf die eigentliche Grundlage des Athletismus und sozusagen seine Lebensbedingung ist? Das ist denn auch in der Tat geschehen. Die Schweiz hat die ausländischen Schützen zu ihren Bundesfesten eingeladen, die Radfahrer haben auf allen Rennbahnen Europas gefahren, England und die Vereinigten Staaten sich auf dem Rasen gemessen, die Fechter von Rom und Paris ihre Degen gekreuzt. Allmählich ist der Geist des Internationalen in den Sport eingedrungen, indem er das Interesse für denselben belebte und seinen Wirkungskreis erweiterte."
Diese aus der Retrospektive geschriebenen Sätze lassen allerdings nichts von den Schwierigkeiten erkennen, die es bei der Organisation und Durchführung der Spiele von Athen zu überwinden galt. Denn nach anfänglich großer Begeisterung in Griechenland erwies sich die Vorbereitung als äußerst schwierig. Die griechische Regierung glaubte, den finanziellen Belastungen nicht gewachsen zu sein und wollte die Spiele zurückgeben. Da dies nicht mehr möglich war, denn inzwischen hatten Presse und IOC die Spiele offiziell angekündigt, kam es zu einer Regierungskrise. Coubertin erkannte die Gefahr, die den Spielen drohte, und reiste nach Athen, wo er vor der Literarischen Gesellschaft „Parnassos" eine stark beachtete Rede hielt und den griechischen Nationalstolz anstachelte. Dieses persönliche Engagement und die Übernahme des griechischen Organisationskomitees durch den Kronprinzen, der bald darauf ein klar strukturiertes Aktionsprogramm zur Vorbereitung der Spiele durchsetzte, leiteten die Wende ein.
Eine weitere Hilfe wurde dem Komitee durch Georgios Averoff zuteil, einem reichen griechischen Kaufmann, der sich der schriftlichen Bitte des Kronprinzen nicht verschloß und ca. eine Million Drachmen für die Rekonstruktion des alten panathenäischen Stadions in Athen stiftete. Im Olympiabericht von 1896 wird Averoff als der „Stifter" der Athener Spiele bezeichnet. Vor dem Stadion errichteten die Griechen ihm zu Ehren eine lebensgroße Statue, die am Eröffnungstag der Spiele (24. 3. 1896) enthüllt wurde.
Schwierigkeiten gab es aber nicht nur in Griechenland, sondern auch auf internationaler Ebene. Sie machen deutlich, daß die Olympische Spiele von ihren Anfängen an mit politischen Problemen belastet waren. Schon auf die Einladung Coubertins zum ersten Olympischen Kongreß 1894 in der Sorbonne hatte die Union der Socits Francaise geantwortet, sie werde fernbleiben, wenn deutsche Vertreter erschienen. Obwohl eingeladen, nahm auch offiziell kein deutscher Vertreter am Kongreß teil. Eine Einladung zur Teilnahme an den ersten Olympischen Spielen erging von der griechischen Regierung und war an den Zentralausschuß zur Förderung der Volks-und Jugendspiele gerichtet. Als unmittelbar darauf ein Interview Coubertins von dem Pariser Boulevardblatt „Gil Blas" veröffentlicht wurde, in dem dieser zu verstehen gab, er sei glücklich, daß Deutschland nicht zu den Spielen er-schiene, denn sicher hätte die Anwesenheit von Vertretern deutscher Universitäten und anderer Organisationen und Institutionen die Beteiligung von französischer Seite stark eingeschränkt (er distanzierte sich später von diesem Interview), kam es zu einer scharfen Reaktion der Deutschen Turnerschaft, dem stärksten Leibesübungen treibenden Verband in Deutschland. Der Vorsitzende, Dr. Ferdinand Goetz, lehnte die Einladung der griechischen Regierung in Anspielung auf Coubertin mit den Worten ab: „Die Hauptleitung des Festes hat von vornherein uns Deutschen gegenüber in Wort und Tat eine Stellung eingenommen, die es mit der deutschen Ehre unverträglich macht, an den Wettkämpfen in Athen teilzunehmen." Eine deutsche Zeitung hatte sogar gefordert, alle Personen, die diese Spiele förderten oder besuchten, sollten mit Schande aus dem Kreis der deutschen Sportler und aus ihrem Volke ausgeschlossen werden — ein erster Boykottaufruf zu den ersten Olympische Spielen.
Es war Dr. Willibald Gebhardt, der ein „Komitee zur Beteiligung Deutschlands an den Olympischen Spielen von Athen 1896" gründete, dessen Vorsitz der Sohn des deutschen Reichskanzlers übernahm. Mit Gebhardt, dem ersten deutschen IOC-Mitglied, zogen dann auch einige Turner als „Schwarze Riege" nach Athen, die später — obwohl mit sechs Goldmedaillen sehr erfolgreich — mit folgender Erklärung aus der Deutschen Turnerschaft ausgeschlossen wurden: „Obgleich die Teilnahme an den Internationalen Olympischen Spielen in Athen von allen großen Verbänden, die sich dem Turnen, Sport und Spiel widmen, abgelehnt worden ist, haben es deutsche Turner und Sportler für gut befunden, nach Athen zu ziehen, um in die internationalen Wettkämpfe einzutreten. Die Unterzeichneten erklären hiermit, daß diese Männer kein Recht haben, sich als Träger des deutschen Volkswillens und als Vertreter des deutschen Turnens, Spiels und Sports zu betrachten." Einer der erfolgreichsten deutschen Turner war Alfred Flatow aus Berlin, dreifacher Olympiasieger, der mit seinem Bruder Felix nach Rückkehr von den Spielen in Athen dem jüdischen Turnverein Bar Kochba beitrat
Auch die II. Olympischen Spiele 1900 in Paris brachten manche Enttäuschung, da sie ganz im Schatten der Pariser Weltausstellung standen und von vielen als Teil eines sensationellen Jahrmarktbetriebs angesehen wurden. Zudem kam es zu Spannungen zwischen Coubertin und Gebhardt, als dieser sich wegen sehr diskriminierender französischer Äußerungen über die deutsche Mannschaft bei Coubertin beschwerte. Ein Mitglied des IOC, so Coubertin in einem Brief an Gebhardt, habe kein Recht, an der gastgebenden Nation solch bittere Kritik zu üben.
Ähnliche organisatorische Probleme wie in Paris stellten sich bei den III. Olympischen Spielen in St. Louis, wo die Spiele ebenfalls in die Weltausstellung miteinbezogen wurden, aber mit ihren „anthropoligical days" — Tage, an denen die Wettbewerbe den Negern, Indianern, Philippinos, Ainos und Türken Vorbehalten waren — eine beschämende Rassendiskriminierung praktizierten. Sie ließ die olympische Idee zur Farce werden. Wenngleich die Zwischen-Olympiade von Athen 1906 und die IV. Olympischen Spiele von London 1908 im ganzen erfolgreich waren, so verliefen auch sie keineswegs spannungsfrei.
Coubertin hatte es vermieden, 1906 nach Athen zu kommen, um die Spiele dort nicht aufzuwerten. Da der Verlauf dieser Spiele aber die anwensenden IOC-Mitglieder so sehr begeisterte, daß sie den griechischen Kronprinzen zum IOC-Ehrenpräsidenten wählen wollten und zudem die amerikanischen Funktionäre den griechischen Wunsch nach ständiger Austragung der Olympischen Spiele in Athen unterstützten, sah Coubertin das Prinzip der „Wanderspiele" — eine Rotation alle vier Jahre — gefährdet; er mußte dem Kronprinzen erklären, daß das IOC keine Ehrenmitgliedschaft vergebe.
Anders stellten sich die Probleme in London, wo nationale Animositäten zwischen Briten und Amerikanern offen ausbrachen und sich britische Kampfrichter den Amerikanern gegenüber nicht neutral verhielten. „Besonders erbost waren die amerikanischen Zuschauer, daß die englischen Zuschauer ihnen während des Abspielens ihrer Nationalhymne wiederholt zuriefen, sie sollten sich setzen, da sie die Sicht versperrten."
Erst die V. Olympischen Spiele von Stockholm 1912 brachten die große Wende. An Intensität der Vorbereitungen, sachkundiger Organisation, Bau von Wettkampfstätten, Einsatz moderner technischer Apparate, Umfang des Programms und Teilnehmerzahl übertrafen sie alle bisherigen Spiele bei weitem und wurden trotz der sich verschärfenden politischen Spannungen in Europa zu einer eindrucksvollen Demonstration für die völkerverbindende olympische Idee.
Probleme des Olympismus
Diese Idee war, wie bereits angedeutet, von Anfang an starken Belastungen ausgesetzt, die aus ihrer Verflechtung mit politischen und sozioökonomischen Gegebenheiten resultierten. Nach Coubertin sollte der moderne Olympismus zwei Grundlinien aufweisen — eine demokratische und eine internationale: „Gesunde Demokratie und richtig verstandener, friedlicher Internationalismus werden in das erneuerte Stadion eindringen und hier den Kult der Ehre und der Uneigennützigkeit aufrechterhalten, der es dem Athletismus ermöglichen wird, neben der Entwicklung des Leibes das Werk moralischer Vervollkommnung und sozialer Befreiung weiterzuführen."
Daraus, so glaubte er, entstehe ein Friedens-und Brüderlichkeitsbedürfnis, eine neue Art Religion, „um deren Altäre sich Tag für Tag eine wachsende Menge von Gläubigen scharen wird" Nun stand diesem pseudoreligiösen, kosmopolitischen Gedanken ein betont nationaler entgegen, der schon sehr früh unter dem Eindruck der französischen Niederlage von 1871 zur bewegenden Kraft für eine Erneuerung der französischen Leibeserziehung geworden war. Galt es zunächst, geistige und moralische Energien mittels körperlicher Ertüchtigung freizumachen, um der Jugend Frankreichs ein neues nationales Selbstbewußtsein zu geben, so verbanden sich diese Vorstellungen später mit einer elitären Haltung der französischen Großbourgeoisie, die Frankreich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhundertes auf den Weg des Imperialismus führte. Das große Vorbild dazu hatten Coubertin die englischen Public Schools geliefert, hier vor allem Rugby, wo Thomas Arnold als Headmaster gewirkt hatte. Wohlstand und Expansion des englischen Empires waren für Coubertin nur Folgen dieses bewundernswerten Erziehungsprozesses. Daher galt es, aufbauend auf dem englischen Amateurgedanken, die Prinzipien elitärer Erziehung auf die französischen Schulen und dann auf die französische Sportbewegung zu übertragen.
Die Übernahme der englischen Amateurregeln barg, wie sich bald zeigen sollte, einen weiteren Konfliktstoff, denn sie ließen sich mit dem demokratischen Gedanken einer Chancengleichheit nicht vereinbaren. Bei strenger Auslegung waren sie nur von einer sozialen Elite zu befolgen. So ist es nicht überraschend, daß die Diskussion um den Amateurstatus seit den Anfängen die olympische Bewegung durchzieht. Hatte schon der vorbereitende Kongreß 1894 in der Sorbonne sich fast ausschließlich mit der Amateurfrage beschäftigt, so verging in den folgenden Jahrzehnten kaum ein IOC-Kongreß, ohne daß nicht eine „Anpassung" der Amateurbestimmungen an die sich ändernden sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen der Sporttreibenden vorgenommen werden mußte. Dies führte schließlich dazu, daß man vor Mißbräuchen die Augen schloß und die Entscheidung über den Amateurstatus der Sportler den jeweiligen NOKs und den nationalen Verbänden überließ.
Probleme dieser Art waren mit der Coubertin-sehen Konzeption vorgegeben. Mit dem Motto „Citius, altius, fortius" — schneller, höher, stärker —, das er den Olympischen Spielen gab, bekannte er sich zu einem bedingungslosen Streben nach Höchstleistungen, zu einem Wettkampf-und Rekordgedanken, wonach letztlich nur der Sieg zählt. Daneben erklärte er aber, die Teilnahme an den Spielen sei wichtiger als der Sieg, das Wesentliche sei nicht, „gesiegt", sondern sich wacker geschlagen zu haben. Daraus wurde schließlich eine olympische Pädagogik, nach der die Wettkämpfer den Sport aus sittlichem Impuls, um der auf eine ideale Wertwelt hin ausgerichteten Selbstverwirklichung des Menschen willen betreiben sollten. Wer mit sportlichen Erfolgen öffentliche Anerkennung, Publikumserfolg und materiellen Gewinn suche, habe die „religio athletae", die ethisch-religiöse Grundlage des olympischen Wettkampfes, verletzt: „Markt oder Tempel! Die Sportsleute haben zu wählen. Sie können nicht beides wollen, sie müssen sich für eins entscheiden. Sportsleute wählt!"
Es muß hier vermerkt werden, daß sich Coubertin bei dieser aus dem englischen Sport übernommenen Amateurkonzeption nicht auf antike Vorbilder berufen konnte. Insbesondere die Untersuchungen von Pieket haben gezeigt, daß es eine Unterscheidung zwischen Amateur-und Berufssportler im modernen Sinn in der griechischen Antike nicht gegeben hat. Die vier „Heiligen Spiele" (Kranz-Agone) in Olympia, Delphi, Korinth und Nemea wie auch die zahlreichen, von den städtischen Eliten — insbesondere in Kleinasien — ausgeschriebenen Wettkämpfe waren für alle— Berufssportler und Amateure — offen. Obwohl mit der Ausweitung und Demokratisierung des Leistungs-und Wettkampfsports die unteren Sozialschichten die Mehrzahl der Sieger stellten, nahmen bis in die römische Kaiserzeit in Fortsetzung aristokratischer Tradition Athleten aus den Adelskreisen an den großen Agonen teil, und zwar sowohl an den schwerathletischen Agonen als auch an den Lauf-wettbewerben. Der einzige (aber auch wesentliche) Unterschied bei den Wettkämpfen lag darin, daß es bei den „Heiligen Spielen" nur ehrenvolle Auszeichnungen (Kränze) gab, während bei den profanen Spielen meist hohe Geld-und Sachpreise ausgesetzt wurden. Dies besagt aber nicht, daß nicht auch Sieger bei den „Heiligen Spielen", insbesondere bei den hochangesehenen Olympischen Spielen, von ihren Heimatstädten bei der Rückkehr reiche Zuwendungen erhielten.
Kehren wir nach diesem Exkurs zu den Problemen des modernen Olympismus zurück. In ein immer größeres Dilemma geriet das IOC, als politische Kräfte mehr und mehr den Gang der olympischen Bewegung und den Verlauf der Olympischen Spiele beeinflußten. Zwar waren die Spiele von Ereignissen der Politik nie ganz unberührt geblieben — vor Stockholm 1912 z. B. hatte es einen heftigen Streit gegeben, da Ungarn, Böhmen und Finnland als eigene nationale Vertretungen anerkannt werden wollten und nur ein „Flaggenkompromiß" (ein Wimpel in den jeweiligen Landesfarben sollte im Falle eines Sieges über der österreichischen bzw. russischen Flagge gehißt werden) zu einer für alle akzeptablen Lösung führte —, doch erst seit 1952 besteht die große Gefahr, daß die Spiele zum Kraftfeld politischer Machtinteressen werden.
Mit dem Eintritt der Sowjetunion in die olympische Bewegung gab es eine entscheidende Veränderung, die in ihrer politischen Langzeitwirkung an Bedeutung die Ereignisse von 1920 und 1924 — als Deutschland auf Druck der Siegermächte des Ersten Weltkrieges nicht zu den Olympischen Spielen von Antwerpen und Paris eingeladen wurde — ebenso übertraf wie die Olympischen Spiele von 1936, die Hitler unter Täuschung der Weltöffentlichkeit zu einem Instrument der NS-Propa-ganda machte. Die Sowjetunion hat seit 1952 in Helsinki regelmäßig an Olympischen Spielen teilgenommen und ist auch auf sportlichem Feld eine Großmacht gworden. Von der Zeit an hat sie nie einen Zweifel daran gelassen, daß für sie der Sport ein Politikum ist. Dabei wurden erst im Laufe der Jahre die Konsequenzen deutlich, die sich aus der Teilnahme ihrer „Staatsamateure" an Olympischen Spielen ergaben. Die olmypische Szene wandelte sich grundlegend, denn die massiv vom Staat unterstützten Athleten hatten nur eine Aufgabe: auf sportlichem Feld für die Sache des Sozialismus zu kämpfen und zu siegen. Wurde so der ideologische Wettkampf immanent in die Spiele getragen, so wurden die Spiele auch von außenpolitischen Ereignisse bedroht. über den Olympischen Spielen von Melbourne 1956 lagen die Schatten des Ungarnaufstandes und der Suezkrise. Einige Länder hatten sich aus Protest gegen die sowjetische Intervention in Ungarn bzw. die englisch-französisch-israelische Intervention in Ägypten geweigert, ein Olympiaaufgebot nach Melbourne zu schicken. Das IOC widerstand dem — allerdings nicht sehr starken — Boykottversuch, und die Erklärung Brundages konnte damals noch manche überzeugen: „Jeder zivilisierte Mensch empfindet Abscheu angesichts der blutigen Niederwerfung des Ungarnaufstandes, aber das ist noch kein Grund, das Ideal internationaler Zusammenarbeit und guten Willens, das über der olympischen Bewegung steht, preiszugeben. Die Olympischen Spiele sind Wettkämpfe einzelner, nicht der Nationen. Würden wir die sportlichen Beziehungen jedesmal abbrechen, wenn die Politiker das Gesetz der Humanität verletzen, dann gäbe es bald keine internationalen Wettkämpfe mehr."
Doch der politische Druck auf das IOC wurde stärker. Nicht nur in der „deutschen Frage", der Aufstellung einer gesamtdeutschen Mannschaft, gab das IOC langsam dem Druck nach und beschloß 1965 in Madrid, daß die Bundesrepublik und die DDR mit zwei getrennten Mannschaften an den Spielen von Mexiko 1968 teilnehmen sollten; eindeutiger noch war das Nachgeben in der Frage der Wiederzulassung Südafrikas. Als sich vierzig Staaten weigerten, unter diesen Bedingungen an den Spielen teilzunehmen, wurde die Wiederzulassung Südafrikas vom IOC rückgängig gemacht. Darüber hinaus wurde die olympische Arena erstmals dazu benutzt, um auf schwelende soziale und politische Konflikte in einigen Ländern aufmerksam zu machen. Studentenunruhen, die ihre Ursachen in großen sozialen Mißständen hatten und am Vorabend der Spiele von Mexiko-City ausbrachen, wurden blutig niedergeschlagen. Die Spiele konnten nur unter Militärschutz durchgeführt werden — eine Verhöhnung der olympischen Friedensidee. Auch die Olympischen Spiele in München 1972 begannen mit einem Eklat, als die afrikanischen Staaten unter Boykottandrohung die Abreise der rhodesischen Mannschaft durchsetzten. Hatten Sportler, die der „Black-power-Bewegung" angehörten, in Mexiko das Siegespodest dazu mißbraucht, um mit geballter Faust für ihre politischen Ziele — Beseitigung der Rassendiskriminierung in den USA — zu demonstrieren, so steigerte sich die ebenfalls politisch motivierte Aktion des „Schwarzen September" in München 1972 zu blutigem Terror. Der Mord an israelischen Sportlern stellte das IOC vor die Frage, ob eine Fortsetzung der Spiele überhaupt noch moralisch zu rechtfertigen sei.
In Montreal 1976 gab es einen doppelten politischen Eklat. Kanadas Premierminister Trudeau zwang aus politischen Gründen (Rücksicht auf China) das IOC, die Mannschaft Taiwans nicht unter der Bezeichnung „Republic of China“ ins Stadion einmarschieren zu lassen. Zur Abreise von 29 Mannschaften Afrikas kam es dann, als diese vergeblich den Ausschluß Neuseelands von den Spielen forderten. Der Grund: einige Profispieler der neuseeländischen Rugbyliga waren zu einem Freundschaftsspiel gegen die Mannschaft Südafrikas angetreten. Nach Ansicht des Obersten Afrikanischen Sportrats hatte Neuseeland mit dieser Südafrikareise die Politik der Rassendiskriminierung unterstützt. Die Olympischen Spiele wurden so wieder einmal zum Austragungsort akuter politischer Spannungen.
Indes scheint die Hauptgefahr für den Fortbestand der modernen Olympischen Spiele nicht so sehr von solch affektgeladenen Radikalismen auszugehen als vielmehr von einer allgemein wachsenden Politisierung, insbesondere von einer Konfrontation der großen ideologisch divergierenden Machtsysteme. Immer offenkundiger wurde der olympische Medaillenspiegel im Wettstreit der Systeme als Gradmesser für den Erfolg und damit der Überlegenheit der jeweiligen Gesellschaftsordnung gewertet und die ideologische Auseinandersetzung in die olympische Arena verlagert.
Arbeiterolympiaden als Idee und Wirklichkeit
Die Gefahr eines wachsenden Nationalismus in Verbindung mit ungehemmten Rekordstreben hatten schon vor Jahrzehnten die Arbeitersportler erkannt, die deshalb nach dem Ersten Weltkrieg eigene Arbeiterolympiaden organisierten. Stärkste Stütze der Sozialistischen Arbeitersportinternationale, Ausrichter auch der Arbeiterolympiaden, waren die deutschen Arbeitersportverbände, insbesondere der Arbeiter-Turn-und Sportbund.
Der Arbeiterturnerbund (ATB) war Pfingsten 1893 in Gera gegründet worden und umfaßte jene Turner, die in der zunehmend nationalistischen Parolen huldigenden Deutschen Turnerschaft keine Heimat mehr finden konnten. In Anknüpfung an Wertvorstellungen des Demokratischen Turnerbundes aus der 48er Revolution wollten sie nach Aufhebung des Sozialistengesetzes (1890) für größere soziale Gerechtigkeit im Wilhelminischen Klassenstaat kämpfen.
Standen die beiden Jahrzehnte nach Gründung des ATB — d. h. die Zeit von 1893 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges — im Zeichen harter Auseinandersetzungen mit dem monarchisch regierten Obrigkeitsstaat, mußte sich der ATB gegen Unterdrückungen aller Art wie Schikanen, Denunziationen, polizei-staatliche Eingriffe und Verbote immer wieder zur Wehr setzen, so wurde die Arbeitersportbewegung nach 1918 voll anerkannt. In der Weimarer Republik wurden die Arbeiter-sportler mit ihrer 1, 3 Millionen Mitglieder umfassenden Massenorganisation zu einem wichtigen Faktor im sportpolitischen Leben. Will man die Arbeitersportbewegung jener Jahre mit wenigen Worten charakterisieren, so muß man vor allem das stark ausgeprägte Solidaritätsbewußtsein erwähnen und den sich wandelnden, aber immer wieder neu belebten Gedanken der Arbeiterbildung: Beide beruhten von Anfang an auf einem festen ethischen Fundament, nämlich der Idee von der Freiheit und Würde des Menschen, die das Streben nach sozialer Gerechtigkeit einschließt. Dank der von ihr entbundenen physischen und moralischen Energien wurde die Arbeitersportbewegung zu einer bedeutenden Kraft im sozialistischen Befreiungskampf. Sie trug unverkennbar eigenständige Züge, indem sie die Verbindung mit der bürgerlichen Sportbewegung ablehnte, die wehrsportlichen Leibesübungen verurteilte und statt dessen den volksgesundheitlichen Wert des Turnens, des Sports und Spiels betonte, Wettkampf-und Ehrenpreise verwarf und eigene Arbeiterolympiaden abhielt.
Der Freiheitsraum der Republik, in der die Arbeiterschaft als ein wichtiger Faktor des öffentlichen Lebens eingetreten war, gab auch den Arbeitersportlern größere Möglichkeiten der Entfaltung im Rahmen der sozialistischen Kulturbewegung. Als eine sehr eigenständige Form dieser Kulturbewegung stellen sich uns die Arbeiterolympiaden dar. Sie waren neben den Bundesfesten die großen gesellschaftlichen Höhepunkte und Manifestationen der Arbeitersportbewegung, auf denen nicht nur Geschlossenheit und internationale Verbrüderung demonstriert, sondern auch in Festspielen, Chorliedern, Umzügen und Massenfreiübungen Formen und Inhalte einer neuen Körperkultur dargelegt wurden.
Paul Franken wertet den Aufschwung des Arbeitersports nach 1918 als Ausdruck gesteigerten Freiheitsverlangens und als Reaktion auf die Not und Entbehrung der Kriegsjahre: „Auf vielen Gebieten der proletarischen Kulturbewegungen machte sich ein neuer und kühner Gestaltungsdrang bemerkbar, als Rückwirkung auf den harten und eisernen Zwang der furchtbaren Kriegsjahre. Vier Jahre hatte man den menschlichen Körper mißachtet. Verzweiflung, Trauer und Hunger hatten selbst die leiseste Sehnsucht nach erhebender Freude, nach einer Ausfüllung der freien Stunden, die diesem tiefsten Sehnen entsprach, unterdrückt. So ist es zu verstehen, daß nach dem Ende des Kriegsschreckens die Freuden des
Lebens entdeckt und erlebt sein wollten. Sport, Wandern usw. zogen große Massen, besonders die arbeitende Jugend, in ihren Bann. Körperpflege und Leibesübungen gaben dem Leben von Hunderttausenden Proletariern einen neuen Inhalt und kamen zu ihrer großen Bedeutung in der gesellschaftlichen Entwicklung der Nachkriegszeit. Der Sport wurde zu einer Großmacht In der gesamten Kulturbewegung setzte ein machtvoller Aufstieg ein. Die Einführung des Acht-Stunden-Tages war ein kulturfördernder Moment von höchster Bedeutung. Sie gab dem Arbeiter mehr Freizeit und damit die Möglichkeit, seine kulturellen Ansprüche höher zu schrauben und sich mit Fragen zu beschäftigen, die eine gärende Zeit aufwarf... Gerade in der Nachkriegszeit haben die wertvollsten Teile der Arbeiterbewegung erkannt, daß nicht allein der Kampf um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeit das entscheidende ist, sondern darüber hinaus der Kampf um die Bedingungen der Menschwerdung überhaupt."
Diesen Kampf versuchten die Arbeitersportler so zu führen, daß sie einerseits überlieferte Kulturgüter weiter pflegten, andererseits aber bei den Massen Begeisterung für die sozialistischen Ideale erzeugten. Es mußte das Bewußtsein dafür geweckt werden, daß die Umgestaltung der Gesellschaft eine Macht-und Bildungsfrage war, die von der Entwicklung der moralischen und geistigen Fähigkeiten der Arbeiter weitgehend abhing. So wurde auf der I. Arbeiterolympiade in Frankfurt am Main 1925 das Weihespiel „Kampf um die Erde" aufgeführt, über Form und Inhalt des Weihe-spiels äußerte sich ein Beteiligter: „Nicht Festspiel, sondern Weihespiel! Denn es bricht mit der leidigen, bürgerlichen Festspielmacherei, die mit pathetischen Reimen und byzantinischen Phrasen arbeitet. Damit hat unser Olympiade-Spiel nichts gemein. Es ist der erste gehämmerte, kurzgefaßte Wurf eines modernen Spiels, das im Riesenfreiraum zu den Massen spricht. Hier sind Sprech-, Spiel-Chöre, die den Kampf der Massen durch vielstimmige, vielköpfige Einheiten zum Ausdruck bringen. Die Chöre geben in kurzgestampfter Sprache, in zuckenden Gebärden unser Ringen nach gerechter Verteilung der Erdengüter im dramatischen Werke. Sport ist aufgefaßt als Kraftquelle für den Kampf aller Völker um eine neue, gerechte Erde, die nicht der brutalen Macht, sondern allen Schaffenden gehört, all denen, die sich werden einigen müssen, um ihren Anteil Lebensfreude als materiellen und geistigen Arbeitslohn zu gewinnen. Die Handlung des Spiels geht über den Bankrott der Kriegszeit hinaus zur verzweifelten Ratlosigkeit der Nachkriegsperiode, bis zur Schwelle einer Zeit, in der kraftvolle Jugend aller Völker sich zum Gelöbnis eint, Ernst damit zu machen, der alten Erde ein neues Antlitz und ein neues Herz zu schaffen. Internationale Arbeiter-Olympiade hat tieferen Sinn, als die nur sportlichen Wettkämpfe. Ihr dramatischer Ausdruck und Auftakt ist deshalb kein Phrasen-Festspiel alten Stiles, sondern kraftvolles, wuchtiges Menschheits-Weihespiel!"
Die Jugend wird verpflichtet, ihre ganze Kraft für die Erneuerung der Menschheit und die Umgestaltung der Erde in einen „Paradiesgarten" einzusetzen Auch das anläßlich der II. Arbeiter-Olympiade in Wien aufgeführte Festspiel war ein Symbol-und allegorienreiches Ideenspiel, das die Befreiung des Proletariats zeigte: der Weg über Maschinenknechtschaft und Krieg in eine von Ausbeutung freie Welt.
Doch nicht nur die Weihespiele, die dem Sehnen und Wollen der arbeitenden Massen beredten Ausdruck verliehen, auch der sportliche Teil der Arbeiter-Olympiaden trug einen Bildungscharakter. In Frankfurt wurde 1925 ein „Systemwettstreit" ausgetragen, bei dem jedes Land sein spezifisches Übungssystem mit einer Mannschaft vorführte und das Kampfgericht die Frage zu prüfen hatte, ob das vorgeführte System körperbildend und für die Arbeitersportler volkstümlich verwendbar sei. 1931 in Wien wurde mit verschiedenen Veranstaltungen — Leichtathletik-und Turnwettkämpfe, Spiele und Massenfreiübungen — die Idee des „Sports für alle“ demonstriert. Wil-düng und Wagner, zwei führende Arbeiter-sportler, wandten sich bei ihrem Bemühen um eine ideologische Begründung der Arbeiter-Olympiaden wiederholt gegen Rekord, Schau-geschäft und Geltungssucht im bürgerlichen Sport: Zentrale Aufgabe der Arbeiter-Olympiaden sei es, Massensport und Leistungsstreben miteinander zu verbinden. „Die sportliche Erziehungsaufgabe des Arbeitersports lautet: Überwindung des kapitalistischen Rekords ..., der sportlichen Höchstleistung des einzelnen Sportlers und Erziehung zum sportlichen Mannschaftskampf auf allen Gebieten."
Sportliches Leistungsstreben dürfe nicht zu einem von gesellschaftlichen Bindungen gelösten individualistischen Rekordstreben werden, sondern müsse Teil eines körperlichen und geistigen Wettstreits sein, der dem Arbeiter größere Aufstiegschancen eröffne. „Wir brauchen Menschen, die fähig sind, am geistigen Wettstreit teilzunehmen, die unerschütterlich sind im Kampf des Lebens und die körperliche und geistige Gleichwertigkeit im Volks-und Staatsleben zu erkämpfen und zu behaupten wissen. Aus diesem Grund ist die Form der Körperbildung eine Weltanschauungsfrage."
Unter Berufung auf die Werte der Arbeiter-Olympiaden werden die Olympische Spiele, die trotz des olmypischen Eides „Krieg im Frieden" seien, entschieden abgelehnt. Hier nochmals die Gegenposition der Arbeitersportler, obwohl die Wertung — nicht zuletzt bedingt durch die politische Konfrontation am Ende der Weimarer Republik — nicht frei ist von Polemik. So heißt es in der Arbeiterturnzeitung von 1930: „Der Zweck der bürgerlichen Sportinternatinale ist, die Olympischen Spiele vorzubereiten und durchzuführen, damit der Sport der Länder sich gegenseitig den Rang ablaufen kann. Jedes Land will die Sieger stellen im Ringen der Sportnationen gegeneinander. Bei diesen Sport-Kriegsspielen will jedes Land der Welt den Beweis seiner sportlichen Kraft geben. Bürgerliche Olympiaden haben für die Arbeiterklasse kritische Bedeutung: dort geht es nicht um die großen Gedanken, die die Arbeiterklasse bei internationalen Treffen beseelen. Nicht Bruderliebe, nicht Völkerversöhnung und Völkerverbindung, nicht Völkerfriede sind die Grundlagen der bürgerlichen Olympiaden, sondern ...der Sieg der Nationen. Den Siegerrang des Landes höher zu gestalten ist oberstes Gesetz. Um diesem Sportstreben der Nationen zu dienen, sind den bürgerlichen Sportlern aller Länder auch alle Mittel recht. Es gibt genug Beispiele unsportlichen, brutalen Verhaltens bürgerlicher Olympiakämpfer, des Kampfes Mann gegen Mann, der Nationalmannschaft gegen die Mannschaft einer anderen Nation."
Die Kritik der Arbeitersportler an den modernen Olympische Spielen hat im wesentlichen zwei Stoßrichtungen. Zum einen verurteilen sie Rekordsucht und ungehemmtes Leistungsstreben, die Verbindung von Sport, Geld und Macht, die ständige Verletzung der Amateurregeln, Skandale, Schiebungen, Ausbeutung physischer Kräfte um materieller Interessen willen, zum andern Nationalismus und Chauvinismus, übersteigertes nationales Prestigedenken, das die Idee der Völkerversöhnung ad absurdum führe und die sportlichen Wettkämpfe zum „Kriegsersatz" werden lasse.
Coubertins Bemühungen um den Arbeiter-sport Trotz solcher sich häufig wiederholender scharfer Absagen an den bürgerlichen Sport und die Olympischen Spiele war Coubertin um einen Ausgleich mit den Arbeitersportlern bemüht. Wir erwähnten bereits die pädagogische Konzeption Coubertins, im Rahmen einer weltweiten olympischen Bewegung Leibeserziehung zur Charaktererziehung werden zu lassen. Ziele und Werte des Olympismus sollten auf olympischen Kongressen unter Einbeziehung neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse immer wieder diskutiert werden. Dies geschah 1897 auf dem Kongreß in Le Havre, 1905 auf dem olympischen Kongreß in Brüssel, 1913 in Lausanne. Insbesondere von dem letzten Kongreß hatte er eine Antwort auf die Frage erwartet, inwieweit der Sport wirklich der Charakterbildung diene. Von der Beantwortung dieser grundsätzlichen Frage hinge es ab, so Coubertin, welchen Platz der Sport in der Erziehung einzunehmen das Recht habe. Auf dem Kongreß in Prag 1925 trat Coubertin als IOC-Präsident zurück — nochmals hatte er die IOC-Mitglieder beschworen, die olympische Idee von materiellem Gewinnstreben reinzuhalten —, um sich von nun an ganz den Aufgaben der von ihm im gleichen Jahr gegründeten UPU (Union Pädagogie Universelle) zuwenden zu können. Hier gab es manche Gemeinsamkeit mit den Zielen der Arbeiter-Sportler,deren Arbeiter-Olympiade in Frankfurt 1925 auch ihn stark beeindruckt hatte.
Coubertins neue pädagogische Konzeption, die er mit Hilfe der UPU zu verwirklichen suchte, enthielt vor allem Vorstellungen eines demokratischen Sports, d. h. Vorstellungen von einer sportlichen Betätigung für jedermann. So wurden Staat und Behörden aufgefordert, allen Bürgern die für die Erhaltung ihrer Gesundheit und einer guten körperlichen Kondition notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Dies gelte insbesondere für die Arbeiter, denen das Recht auf Persönlichkeitsbildung lange vorenthalten geblieben sei und die heute noch vielfach Entspannung und Zerstreuung im „Wirtshaus an der Ecke" suchten.
Er verlangte von den städtischen Behörden, daß sie eine dem antiken Gymnasium ähnliche Stätte schaffen und unterhalten sollten (le Gymnase Municipal), in dem alle Bürger — auch die Arbeiter — sich bilden und entwik-
keln könnten. Da er sich von den Arbeiter-sportlern Unterstützung bei der Durchsetzung seiner Ziele erhoffte, nahm er mit dem Belgier Jules Devlieger, einem der führenden Männer der Sozialistischen Arbeitersportinternationale, Verbindung auf. Schon 1921 hatte er sich für die Gründung von Arbeiteruniversitäten eingesetzt und den Aufbau solcher Bildungsinstitutionen als dringende Notwendigkeit bezeichnet
Coubertins Bemühungen blieben jedoch ohne nachhaltige Wirkung: Die Vorbehalte der Arbeitersportler gegenüber diesem Repräsentanten des bürgerlichen Sports waren zu groß. Den Arbeitersportlern ging es mehr um ein politisches als um ein pädagogisches Ziel: Die Konfrontation mit dem bürgerlichen Sport war notwendig zur Festigung der Solidarität, zur Mobilisierung der Massen, zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen von einer sozialen Republik. „Die umwälzende Praxis des gesellschaftlichen Kampfes ist die befreiende Tat, bei der die Körperkultur eine wesentliche und hervorragende Rolle spielt", heißt es in einem Beitrag „Körperkultur und Weltanschauung" in der Arbeiter-Turnzeitung. Und weiter: „Wir brauchen Menschen, die fähig sind, am geistigen Wettstreit teilzunehmen, die unerschütterlich sind im Kampfe des Lebens und die körperliche und geistige Gleichwertigkeit im Volks-und Staatslebens zu erkämpfen und zu behaupten wissen. Aus diesem Grunde ist die Form der Körperbildung eine Weltanschauungsfrage."
Aber mit dem Hinweis, die Arbeitersportbewegung sei ein Glied der großen Arbeiterbewegung und darum gelte in ihr nicht die Höchstleistung von einzelnen, sondern die Erziehung zum sportlichen Mannschaftskampf, war die Problem-und Konfliktsituation nicht zu lösen. Sie war dadurch entstanden, daß man die Betonung der Einzelleistung zu stark hinter die Solidaritätsbestrebungen der Masse zurückstellte. Auch die vereinfachte Formel: „Entspannung, Spiel und Freude an der Bewegung" im Arbeitersport und „Tempo, Rekord und angewandte Automatisierung der menschlichen Maschine im bürgerlichen Sport“ half nicht aus dem Dilemma. Um für den Nachwuchs aus der Arbeiterjugend attraktiv zu bleiben, mußte der Arbeiter-Turnund Sportbund Leistungsund Wettkampfformen aus dem bürgerlichen Sport übernehmen.
Die Entstehung der „Spartakiaden“
Noch aus einem anderen Grund war der Solidaritätsgedanke in Verbindung mit der Berufung auf die demokratischen Wurzeln der Arbeitersportbewegung von großer Bedeutung. Es ging um die notwendige Abgrenzung von den kommunistisch gelenkten Arbeitersportorganisationen. Denn bald nach der Gründung der Sozialistischen Arbeitersportinternationale am 14. September 1920 in Luzern (sie wurde nach dem Gründungsort zunächst Luzerner Sportinternationale — LSI — genannt) war es anläßlich des Weltkongresses der Dritten Internationale (Komintern), des Kongresses der Roten Gewerkschaften und der Kommunistischen Jugend in Moskau am 25. August 1921 zur Gründung der Roten (Moskauer) Sportinternationale (RSI) gekommen. Ihr Ziel war, im Kampf gegen die sozialdemokratisch geführte Sozialistische Arbeitersportinternationale entsprechend den von Moskau erteilten Direktiven eine einheitliche, kommunistisch gelenkte Arbeitersportbewegung zu bilden. Vorausgegangen war die Spaltung der Arbeiterturnvereine in der Tschechoslowakei im Mai 1921. Hierzu der tschechische Historiker F. Kratky: „Damit mußten auch alle Versuche scheitern, die bereits vor dem Weltkrieg geplante und inzwischen gemeinsam vorbereitete Arbeiterolympiade durchzuführen... In Prag fanden nunmehr im Juni 1921 parallel an zwei Sonntagen zwei getrennte Arbeiterturnfeste statt, das eine auf dem Letna-Plan im Sokolstadion als Arbeiter-Olympiade', bei deren Schlußfeier dem Präsidenten der Republik und Ideologen der Sozialdemokratie, T. G. Ma-saryk, gehuldigt wurde, das andere als . Spartakiade'auf Maniny in einem von der Prager Arbeiterschaft rasch improvisierten Stadion, bei dem die Hoffnung der 100 000 Anwesenden in der Schlußszene „Sieg der Revolution'zum Ausdruck kam. Die Prager Maniny-Spartakiade war die erste Spartakiade in der Welt."
Diese Wettkämpfe haben ihren Namen von dem thrakischen Gladiator Spartakus, der von Kapua/Süditalien aus mit anderen thrakischen Gladiatoren den Anstoß zu einem der größten Sklavenaufstände in der Geschichte der Alten Welt gab. Dieser dauerte von 73 bis 71 v. Chr. und bedrohte die Existenz des römischen Staates. Nach dem Urteil des bulgarischen Historikers Zonkov haben „der körperlich und militärisch-technisch gut vorbereitete Spartakus und seine Landsleute ... zum erstenmal in der Geschichte ihre körperliche Ausbildung in den Dienst des Kampfes gegen Eroberer und Ausbeuter gestellt und wurden zum Symbol für ähnliche Befreiungsaktionen bis ins 20. Jahrhundert.“ Auch für die DDR ist Spartakus „der vorbildliche Kämpfer gegen Sklaverei und Unterdrückung. Der nach ihm benannte Sklavenaufstand lehrt, daß militärische Körperübungen für den Befreiungskampf der unterdrückten Klasse große Bedeutung haben.“
Spartakiaden in der Sowjetunion Indes hat es ausgerechnet in der Sowjetunion, dem Zentrum der 1921 gegründeten Roten Sportinternationale (RSI), sieben Jahre gedauert, bis 1928 die erste Allunions-Spartakiade ausgetragen werden konnte. Zwar forderten die Satzungen der RSI: „... Ale Turn-und Sportorganisationen von Arbeitern und Bauern, die auf der Grundlage des proletarischen Klassenkampfes stehen, sollten in einheitlichen Verbänden zusammengefaßt werden" aber was als Ideal für den internationalen Kommunismus propagiert wurde, konnte sich aufgrund erbitterter innenpolitischer Auseinandersetzungen um die Führung im sowjetischen Sport teilweise erst 1929 mit einer „historischen" Resolution des ZK der KPdSU durchsetzen, in der auf die Notwendigkeit einer verstärkten staatlichen Führung der gesamten Körperkultur hingewiesen wurde. Bald darauf (1. 4. 1930) wurde der Allunions-Rat für Körperkultur geschaffen, der mit dem Komplex „Bereit zur Arbeit und zur Verteidigung der UdSSR" (GTO) und der Allunions-Sportklassifizierung die Grundlagen für den späteren immensen Leistungsanstieg des Sports in der Sowjetunion legte.
Als Vorläufer der ersten Allunions-Spartakiade hatte es nach der erwähnten Spartakiade in Prag noch Spartakiaden in den armenischen, ukrainischen und usbekistanischen Republiken gegeben (1923), die zahlen-und leistungsmäßig die Richtigkeit des eingeschlagenen Weges bewiesen; doch erst mit der Unions-Spartakiade 1928 entstand von der Form und dem Gehalt her ein massenwirksames Gegen-bild zur Olympiade. Die Sportparade am Eröffnungstag (12. August) auf dem Roten Platz gehörte zu den großen Schauveranstaltungen der modernen Sportgeschichte. Die Wettkämpfe, an denen sich neben 7 125 sowjetischen Sportlern auch 612 ausländische Sportler — Arbeiter aus Österreich, Ungarn, Deutschland, Norwegen, Polen, Frankreich, Finnland, Schweden und Schweiz — beteiligten, fanden im kurz vorher fertiggestellten Moskauer Dynamo-Stadion statt. Das Wett-kampfprogramm umfaßte Leichtathletik, Geräteturnen, Schwimmen, Kunstspringen, Rudern, Boxen, Ringen, Basketball, Gewichtheben, Radsport, Schießen und Fußball.
Noch bedeutender für die Entwicklung von Körperkultur und Sport in der Sowjetunion wurde dann „das ausgewogene Nebeneinander von Spartakiaden und Olympiaden, diesen ehemals so feindlichen Leitbildern" als in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Grundlage minutiöser Planung neue Akzente gesetzt und in konsequenter Anwendung des Leistungsprinzips die Talente systematisch erfaßt wurden. So beteiligten sich an der I. Sommerspartakiade der Völker der UdSSR 1956 — Nachfolgerin der Unionsspartakiade von 1928 — 23 Millionen Sportler in den Vorrunden, 9 244 Wettkämpfer dann an den Endkämpfen in 21 Disziplinen, die im neuen Lenin-Stadion in Lushniki (Moskau) stattfanden. Zu den Spartakiadesiegern gehörten die späteren Olympiasieger Wladimir Kuz (10 000 m) und Viktor Kapitanow (Radfahren). „Das festliche Programm der Eröffnungstage mit Massendarbietungen von Moskauer Schulkindern, Volkstanzgruppen aus den verschiedenen Unionsrepubliken und dem feierlichen Einlauf der Schlußläufer von acht Stern-staffeln, die aus den entlegensten Gebieten der Sowjetunion gleichzeitig im Zentralstadion eintrafen, war für 100 000 Zuschauer und Ehrengäste eine eindrucksvolle und überzeugende Vorstellung der sowjetischen Körperkultur." Da Reihenfolge der Wettkämpfe und Zeitplan der gesamten Spartakiade genau dem olympischen Programm von Melbourne entsprachen, wird klar erkennbar, daß die Spartakiade von nun an die große „Generalprobe" für die Olympischen Spiele sein sollte. Seitdem die Sowjetunion, die mit ihrem Eintritt in die olympische Arena 1952 in Helsinki gleich 22 Goldmedaillien gewann und sich an zweiter Stelle hinter den USA plazierte, die politische, massenpsychologische und leistungsmotivierende Bedeutung der bis dahin als bürgerlich-kapitalistisches Rekordunternehmen diskriminierten Olympischen Spiele erkannte, organisierte sie auf der Grundlage des Normensystems und der Sportklassifizierung ihre Völkerspartakiaden jeweils im vorolympischen Jahr, um so die optimalen Voraussetzungen für die Teilnahme an den Olympischen Spielen zu schaffen.
Einige Zahlen sprechen für sich: An der 2. Völkerspartakiade 1959 beteiligten sich über 40 Millionen an den vorbereitenden Wettkämpfen auf der untersten Ebene, 1963 sind es 66 Millionen, 1967 fast 70 Millionen. Inzwischen waren auch die Schülerspartakiaden mit in den Ausscheidungsprozeß einbezogen worden. Offiziell heißt es dazu: „Die Finalwett-kämpfe standen ganz im Zeichen der Jugend. Die Debütanten machten besonders im Schwimmen von sich reden. Sie stellten mehrere Landesrekorde auf." 16 Europa-und Weltrekorde waren eine erfolgversprechende Ausgangsposition für die Spiele von Mexiko. Bei der V. Sommerspartakiade 1971 wurden 19 Europa-und 18 Weltrekorde aufgestellt. 1975 wurden erstmals die neuen (verschärften) GTO-Leistungsprüfungen in das Wettkampfprogramm der VI. Sommerspartakiade der Völker der UdSSR aufgenommen und sechs Weltrekorde erzielt. Die Leistungsbilanz schlug sich auch in oympischen Medaillen nieder. Sieht man von den Olympischen Spielen von Grenoble und Mexiko-City ab, so haben russische Sportler bei den Olympischen Spielen von 1956 bis 1976 insgesamt mehr Medaillen als die amerikanischen Athleten errungen. In der Propaganda der sozialistischen Länder wurde daraus eine Systemüberlegenheit abgeleitet.
Zu der VII. Sommerspartakiade 1979, ein Jahr vor den Olympischen Spielen von Moskau, waren erstmals Sportler aus 88 Ländern der Erde eingeladen. Während die UdSSR großzügig die Reise-und Aufenthaltskosten von 32 Delegationen der Entwicklungsländer übernommen hatte, wurden Israel, Ägypten und Neuseeland, obwohl deren Olympia-mannschaften nach IOC-Reglement zweifelsfrei 1980 startberechtigt sein würden, nicht eingeladen. So gesehen konnte auch die Grußadresse Leonid Breschnews nicht ganz überzeugen, der Athleten von allen Kontinenten willkommen hieß: Sport bringe Völker und Menschen näher zusammen. Die Spartakiade diene wie die Olympischen Spiele den Ideen von Frieden und Freundschaft und gegenseitigem Verstehen. Im gleichen Sinne äußerte sich auch der sowjetische Sportminister S. P. Pavlov, der in einer Presseerklärung gleich dreimal den Passus von Frieden, Freundschaft und Völkerverständigung brachte.
Auch prominente Gäste erlebten die Spartakiade. „Mich kann man nicht so leicht in Erstaunen versetzen, aber das Sportfest der Spartakiade, das in Lushniki veranstaltet wurde, war herrlich, das kann ich ohne Übertreibung sagen. Ich wünschte mir, daß in meiner Heimat ähnliche Sportfestivals durchgeführt würden" sagte IOC-Präsident Lord Killanin nach der VI. Spartakiade 1975, deren Ehrengast er war, und gab damit ein ähnliches Urteil ab wie 1967 IOC-Präsident Avery Brundage, der meinte: „Die Spartakiade, dieser allseitige Wettkampf, wird, glaube ich, zu einem neuen Aufschwung des Sports führen. Ihr Massen-charakter und ihre Organisation entsprechen voll und ganz den Idealen der Olympischen Bewegung.“
Offenbar ist den beiden Repräsentanten des Olympismus — insbesondere Brundage — nicht der historische Zusammenhang der Spartakiade mit einem Gesellschaftssystem bewußt gewesen, daß von 1920 an unverrückbar an den Zielen festgehalten hat, Körperkultur und Sport sollten Menschen heranbilden, die sich bedingungslos in den kommunistisch regierten Staat einfügen und ihre körperliche Kraft für die Tätigkeit in der Arbeitswelt und zur bewaffneten Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes einsetzen. Eine Verbindung zu den „Idealen der olympischen Bewegung" ist darin nicht zu erkennen — sieht man von der auch von Coubertin erstrebten körperlichen Aktivierung der Massen ab.
Von der geistigen Wurzel und ihren politischen Intentionen her — sportliche Heerschau, Machtdemonstration und Propagierung des proletarischen Klassenkampfgedankens — unterscheidet sich die Spartakiade wesentlich von den Olympischen Spielen. Diese Feststellung impliziert keine Abwertung des hocheffizienten und klar strukturierten körperkulturellen Systems der Sowjetunion, das im Bereich der staatlichen Leibeserziehung von der Körpererziehung in den Kindergärten und -krippen bis zu den zahlreichen Hochschulen für Körperkultur und den beiden sportwissenschaftlichen Forschungsinstituten in Moskau und Leningrad reicht und durch das Zusammenwirken der Fachverbände mit der öffentlichen Sportverwaltung und den verschiedenen Organisationen (Armee, Gewerkschaft, Betrieben) angehörenden Sportclubs eine in der Orientierung an das GTO-System und die Allunions-Sportklassifizierung breite, allumfassende Körpererziehung garantiert.
Kinder-und Jugendspartakiaden in der DDR Die DDR hat wie die anderen sozialistisch-kommunistischen Länder dieses System über-nommen, doch soweit eigenständig weiterentwickelt und verbessert, daß sie heute mit ihrer 17 Millionen-Bevölkerung als neue sportliche Großmacht nicht nur ihren „Lehrmeister" erreicht, sondern vielfach sogar übertroffen hat. Den Zentralen Sommerspartakiaden in der Sowjetunion sind die Deutschen Turnund Sportfeste in der DDR vergleichbar, die, in Leipzig ausgetragen, einen Traditionszusammenhang mit der deutschen Arbeitersportbewegung haben. Seit 1965 finden zudem regelmäßig Kinder-und Jugendspartakiaden in der DDR statt, die von den in allen Orten, Kreisen und Bezirken gebildeten Spartakiadekomitees organisiert werden. Beteiligt daran sind die Organe des Ministeriums für Volksbildung, die Leitungen des DTSB und der FDJ. Die Wettkämpfe beginnen in den örtlichen Schulen und Sportgemeinschaften und werden, nach entsprechender Qualifikation, auf der Kreis-und dann Bezirksebene fortgesetzt. Alle zwei Jahre werden dann die zentralen Kinder-und Jugendspartakiaden in der DDR ausgerichtet, die olympische Winter-und Sommer-sportarten umfassen. Ziel der Spartakiade ist es nach dem Selbstverständnis der DDR, die Kinder und Jugendlichen für eine regelmäßige körperliche Tätigkeit zu gewinnen, das Leistungsniveau planmäßig zu erhöhen und Talente zu sichten und zu fördern — sind doch inzwischen aus der Spartakiadebewegung zahlreiche Weltspitzensportler, d. h. Olympia-Sieger, Welt-und Europameister hervorgegangen
Welch große gesellschaftliche Bedeutung der Zentralen Kinder-und Jugendspartakiade zukommt, die in einem von der Partei bestimmten politisch-kulturellen Rahmen eingespannt ist, zeigt die folgende Schilderung: „Fanfarenklänge der Spielmannszüge vor dem Roten Rathaus in Berlin, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. Die Straßen und Plätze, geschmückt mit Fahnen, Transparenten und Plakaten, künden von einem bedeutenden gesellschaftlichen Ereignis. Mit großer Freude und Erwartung sind 10 000 Jungen und Mädchen aus 15 Bezirken der DDR in farbenfreudigen Trainingsanzügen, bunten Mützen und Hüten beim Auftakt für eines der größten Kinder-und Jugendsportfeste der Welt dabei. Die besten jungen Sportlerinnen und Sportler im Alter von 8 bis 18 Jahren sind... gekommen, um den Kampf um die Medaillen in 19 olympischen Sportarten aufzunehmen. Unter den Klängen der Nationalhymne wird die Staatsflagge der DDR gehißt. Eine junge Handballspielerin aus der Leipziger Spartakiadesiegermannschaft... trägt das Spartakiadefeuer zur Flammenschale, das in der Mahn-und Gedenkstätte für die Opfer des Faschismus in Buchenwald entzündet wurde. Eine erfolgreiche Berliner Leichtathletin, mehrfache Jugendmeisterin, spricht das Gelöbnis. Im Namen aller Spartakiadeteilnehmer gelobt sie, stets gute Leistungen im Beruf, in der Schule und im Sport zu vollbringen.
Einige Charakteristika des DDR-Sports können anhand dieser Schilderung aufgezeigt werden. Der SED-Staat beschränkt sich nicht darauf, bei sportlichen Großveranstaltungen politische Treuebekundungen zu inszenieren, sondern erwartet vom Sport auch einen Beitrag zur Erziehung zum sozialistischen Menschen. Gefestigtes Klassenbewußtsein, hohes Leistungsethos und optimistische Lebenseinstellung sollen als Wert-und Verhaltensmuster im Sport eingeübt und auf andere Bereiche übertragen werden. Das Zeremoniell: feierlicher Aufmarsch, Abspielen der Nationalhymne, Flaggenhissung, Gelöbnis, Fackellauf und Entzündung der Flammenschale ist bewußt dem Ritual der Olympischen Spiele entlehnt, die Auszeichnung der Sieger mit Gold-, Silber-und Bronzemedaillen eine Stimulanz zum olympischen Erfolg. Insofern dokumentiert sich die Spartakiade als „Vorfeld" der Olympischen Spiele. Mit dem Entzünden des Spartakiadefeuers in der Mahnund Gedenkstätte Buchenwald soll der antifaschistischen Widerstandskämpfer — insbesondere Ernst Thälmanns — als geistiger Wegbereiter der DDR gedacht werden. Das Treffen der Spartakiadeteilnehmer mit Olympiasiegern und Weltmeistern, die zur Aussprache zur Verfügung stehen und die Siegerehrung vornehmen, das Hervortreten von früheren Spartakiadesiegern — beim Sprechen des Gelöbnis', beim Entzünden des Feuers — hat leitbild-hafte Bedeutung und verpflichtet zur Nachahmung; die Begegnung mit Gästen aus dem Ausland steht im Zeichen der internationalen Solidarität. Seit einigen Jahren gibt es nun in der DDR auch Spartakiaden in militärsportlichen Disziplinen, organisiert vom „Sportkomitee der befreundeten Armeen", und „Spartakiaden der Sportorganisationen der staatlichen Schutz-und Sicherheitsorgane der sozialistischen Länder", die in verschiedenen Sportarten durchgeführt werden. Die Basis für die erstgenannten Sportveranstaltungen bilden die Armeesportgemeinschaften, die aus Armeeangehörigen und Bürgern bestehen, zu denen im weitesten Sinne auch Kinder und Jugendliche zählen, die eigene Meisterschaften austragen. Dies gilt auch für die Sportclubs der Angehörigen der „staatlichen Schutz-und Sicherheitsorgane", in der Zivilangehörige und insbesondere Kinder und Jugendliche Mitglieder werden und an Wettkämpfen teilnehmen können. Die Verklammerung beider Organisationen mit Sportgemeinschaften gleichen Typs in den sozialistischen Ländern durch das Programm der Spartakiaden soll „zur Festigung der Freundschaft und Waffenbrüderschaft zwischen den Armeen und zur Verbesserung der Qualität der Körperertüchtigung" beitragen, d. h. letztlich die militärische Schlagkraft der Truppen des Warschauer Paktes erhöhen. Da zur Aufgabe des die „Spartakiade der befreundeten Armeen" vorbereitenden Sportkomitees auch die Durchführung von Trainerberatungen und -konferenzen gehört, die sich mit Problemen der physischen Leistungssteigerung in den sozialistischen Armeen befassen, sind diese militärsportlichen Spartakiaden in einem Grenzraum angesiedelt, wo die Erhöhung der sportlichen Leistung einen unmittelbaren militärischen Nutzwert hat. Die Einbeziehung von Zivilangehörigen, vor allem aber von Kindern und Jugendlichen, in diesen Prozeß — begleitet von einem schulischen Wehrkun-deunterricht — spiegelt das Ausmaß der Militarisierung in der DDR wider. Gemeinsamkeiten mit den Olympischen Spielen sind hier nur schwer zu finden.
Vergleicht man die Olympischen Spiele mit den Spartakiaden, so ergeben sich vom äußeren Rahmen her manche Übereinstimmungen: vom Entzünden der Flamme, dem feierlichen Gelöbnis bis zur Siegerehrung, obwohl den Ritualen bereits andere Bedeutung unterlegt werden. In der Massenhaftigkeit des öffentlichen Aufmarsches inmitten eines Meers von roten Fahnen, in den gigantischen Bildern und Sprüchen, von unzähligen Sportlern im weiten Rund der Stadionränge im schnellen Wechsel farbenprächtig „gemalt", die Sozialismus, Frieden und Freundschaft verkünden und doch gleichzeitig ein immenses Macht-und Aggressionspotential demonstrieren, zeigen sich bereits bemerkenswerte Unterschiede zum olympischen Zeremoniell, das auf diese Schaubilder verzichtet und auf das Individuum, den Teilnehmer in der Mannschaft, konzentriert ist.
Wird der völkerverbindende Gedanke des Humanismus und des Friedens auch immer wieder betont, so kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Spartakiaden propagandistisch brillant inszenierte Festveranstaltungen des proletarischen Internationalismuns sind und letztlich dem großen Ziel der Weltrevolution dienen. Die olympische Friedensidee, die ihrem Ursprung nach kosmopolitisch ausgerichtet ist, wurde mit diesen Paradebeispielen sozialistischer Festkultur so meisterhaft unterlaufen, daß offenbar selbst ein „Gralshüter des Olympismus" wie Avery Brundage dies nicht erkannte.
Moskau 1980 — Wende oder Ende der Olympischen Spiele?
Avery Brundage war es denn auch, der am 23. Mai 1959 als damaliger IOC-Präsident vor den Mitgliedern des ICO in München eine Rede hielt, die wie folgt begann: „Eines der wesentlichsten Prinzipien der Olympischen Bewegung lautet: Es soll keine Diskriminierung irgend eines Landes oder irgend einer Person aus rassischen, religiösen oder politischen Gründen geben. Wenn dieser fundamentale Grundsatz nicht genau befolgt würde, wäre die Olympische Bewegung mit Sicherheit zum Scheitern verurteilt. Für den Erfolg, ja sogar für die Existenz einer wahrhaft internationalen Organisation ist es von entscheidender Bedeutung, daß es keine derartigen Beschränkungen gibt. Freilich ist dies eine Regel, die sich nicht leicht durchsetzen läßt. 1936 kam es zu einer organisierten und gut finanzierten Attacke gegen die XI. Olympischen Spiele, weil bestimmte Personen und Gruppen die deutsche Regierung jener Zeit guthießen, obwohl diese deutsche Regierung nichts mit der Organisation oder Kontrolle der Spiele zu tun hatte. In den Vereinigten Staaten von Amerika wurde eine heftige Schlacht ausgetragen, und da der Sprecher damals Präsident des Amerikanischen Olympischen Komitees war, kann er persönlich bezeugen, mit wie gemeinen Mitteln die Mannschaft der Vereinigten Staaten an der Teilnahme gehindert werden sollte. Dieser Kampf wurde von vielen anderen Ländern beobachtet, und sein Ergebnis hätte möglicherweise ihr Verhalten beeinflußt. Wäre er verloren worden und hätte man das Team der Vereinigten Staaten und andere Mannschaften zurückgezogen, so wäre das wahrscheinlich das Ende der Spiele gewesen. Das Resultat war jedoch ein großer Sieg der olympischen Prinzipien, und Amerika wurde von einer seiner größten und besten Mannschaften vertreten. Man mag hinzufügen, daß die Spiele von 1936 zu den bedeutendsten gehören und daß sie in absoluter Übereinstimmung mit den olympischen Regeln abgewikkelt wurden."
Avery Brundage hatte offenbar vergessen, daß es im nationalsozialistischen Deutschland eine staatlich legalisierte Rassendiskriminierung (Nürnberger Gesetze) gab, daß Tausende das Land aus politischen, rassischen und religiösen Gründen verlassen mußten, daß ein amerikanisches IOC-Mitglied, das gegen Berlin votierte, aus dem IOC ausgeschlossen wurde, und damit ihm, Brundage, den Platz freimachte. Neben diesem leichtfertigen Umgang mit der Geschichte enthüllt die Rede aber noch etwas anderes, ein bis heute gültiges IOC-Prinzip: Die Spiele müssen weitergehen, unabhängig davon, ob Menschenrechte verletzt, politisch Andersdenkende verfolgt, ethnische Minderheiten in einem Lande brutal unterdrückt werden. Die Olympische Bewegung stellt nach dieser Sichtweise einen Wert an sich dar, eine Friedenskonzeption auf Zeit, die um ihres „ordnenden Prinzips" willen nicht preisgegeben werden darf.
Wie aber, wenn das Austragungsland der Spiele durch eine kriegerische Aggression das Völkerrecht verletzt und die Olympische Friedensidee korrumpiert? Sind nicht durch die sowjetische Invasion Afghanistans — ein in der Geschichte der modernen Olympischen Spiele singuläres Ereignis — nunmehr die Spiele existentiell bedroht? Für Coubertin war die weltumspannende Friedensidee die Sinn-mitte seiner Botschaft. Auch in den statuierten Prinzipien des IOC (1958, 1962, 1974) wird daran festgehalten, „die Jugend der Welt in einem großen vierjährigen Sportfest zusammen-zubringen, dadurch internationale Achtung und guten Willen zu schaffen, eine bessere und friedliche Welt aufbauen zu helfen".
Zugegeben: Coubertin dachte nicht daran, den Olympischen Spielen eine unmittelbare Friedensmission zuzumessen, etwa in dem Sinne, die Welt von immer wieder aufbrechenden Nationalitätskonflikten befreien zu können.
So sagte er 1935: „Von den Völkern zu verlangen, daß sie einander lieben, ist eine Art Kinderei. Von ihnen zu fordern, einander zu achten, ist keineswegs eine Utopie; um aber einander zu achten, muß man sich erst kennenlernen." Olympische Spiele sollten also der Jugend der Welt Gelegenheit geben, einander kennen und achten zu lernen — entsprechend dem Coubertinschen Grundsatz: „All games, all nations". Kommt den Olympischen Spielen damit auch keine unmittelbare Friedenswirkung zu — auf ihre Anfälligkeit gegenüber ideologischen und politischen Pressionen wurde bereits hingewiesen —, so haben sie doch als Symbol einer besseren, in Frieden geeinten Welt, als Prinzip Hoffnung, daß in der Menschheit humanitäre Grundwerte allgemeine Anerkennung finden, eine große mittelbare Friedenswirkung.
Diese Hoffnung ist durch die Aktionen der Sowjetunion, zu denen außer dem Einmarsch in Afghanistan in weiterem Sinne auch die Verbannung von Dissidenten und die Mißachtung der Menschenrechte zählen, nahezu zerstört worden. In der langen Diskussion, die der Boykottentscheidung des deutschen NOKs vor-ausging, sind die moralischen, politischen, sportlichen und organisatorisch-technischen Argumente für und gegen eine Teilnahme an den Olympischen Spielen von Moskau ausführlich dargelegt und leidenschaftlich verfochten worden.
Hajo Bernett hat in einen in der „Olympischen Jugend" abgedruckten Interview (Jg. 24 Nr. 9/79) die Auffassung vertreten, Boykottdrohun-gen gegen Olympische Spiele hätten niemals nennenswerte politische Reaktionen hervorgerufen. Er kann sich dabei auf zahlreiche historische Beispiele von Boykottbestrebungen gegen die Austragung‘der Olympischen Spiele berufen, die von Berlin 1936 bis zu den Spielen von Montreal 1976 reichen. Doch sollte nicht übersehen werden, daß eine moralisch begründete Boykottentscheidung, auch wenn sie keine politisch-konkreten Erfolge bringt, einen Wert darstellt, der nach wie vor als existenziell notwendig empfunden wird. Sicher stellt sich im Falle des beschlossenen deutschen Boykotts der Moskauer Spiele die Frage der doppelten Moral, wenn den Sportlern die Teilnahme verweigert wird, Fernsehteams und Sportfunktionäre nach Moskau reisen und zu dieser Zeit die deutsche Industrie ihren Handel mit der Sowjetunion intensiviert
Nun wird man in der Geschichte der modernen Olympischen Spiele auf einen Fall hinweisen können, wo ein IOC-Vertreter die zwei Städten seines Landes zugesprochenen Spiele an das IOC zurück gab. Im Juli 1938 gab das japanische IOC-Mitglied Graf Soyeshima bekannt daß Japan auf die Austragung der Olympischen Spiele 1940 in Sapporo (Winter) und Tokio (Sommer) verzichten müsse, da es die Einhaltung der olympischen Prinzipien in der gegenwärtigen Situation — seit 1937 Krieg gegen das China Tschiang Kai-scheks — nicht gewährleisten könne. Wohl hatten der britische Amateur-Athletik-Verband und die Empire-Games-Federation zum Boykott gegen die Ausrichtung der Spiele in einem kriegführenden Land aufgerufen, und auch in den USA erhoben sich Proteste. Doch nicht die Boykott-drohung, sondern die Initiative Soyeshimas, der deswegen in der japanischen Sportwelt stark kritisiert wurde, aber Unterstützung beim japanischen Kabinett fand, war entscheidend für den Verzicht. Dies freilich war von Moskau nicht zu erwarten. An dieser Stelle sei jedoch daran erinnert, daß die Sowjetunion im vergangenen Jahr mit dem Argument gegen die Aufnahme Rotchinas in das IOC stimmte, China habe bei seinem kriegerischen Vorstoß nach Vietnam gegen die Olympische Friedensidee verstoßen.
Obwohl der Beschluß der Bundesregierung vom 23. April 1980, dem Nationalen Olympischen Komitee zu empfehlen, keine Mannschaften oder einzelne Sportler zu den Olympischen Sommerspielen nach Moskau und Tal-lin zu entsenden, solange die Besetzung Afghanistans andauert in Übereinstimmung mit der gemeinsamen Presseerklärung des Präsidenten der USA und des Bundeskanzlers vom 5. März 1980 stand, wäre es falsch, diese Entscheidung als einen „Kniefall" vor den USA, als „erzwungene Solidarität" zu werten, auch wenn Bündnisverpflichtungen eine Rolle spielten. Die Entscheidung ist frei getroffen worden, sie beruht im wesentlichen auf moralischen und politischen Erwägungen und ist eine der Konsequenzen aus der UNO-Resolution vom 14. Januar 1980, in der mit großer Mehrheit von der Generalversammlung der Vereinten Nationen der unverzügliche Rückzug der UdSSR aus Afghanistan gefordert wurde. Da, wie Helmut Schmidt vor dem Bundestag ausführte, die Sowjetunion die Voraussetzungen dafür nicht geschaffen habe, daß Sportler aller Länder an den Spielen teilnehmen können, sah sich die deutsche Regierung veranlaßt, eine Ablehnung zu empfehlen. Sie war sich bewußt, daß ein Verzicht auf eine Olympia-Teilnahme viele Sportler schwer treffen würde, die sich seit Jahren in hartem Training vorbereitet und persönliche Opfer gebracht hatten, aber da Olympische Spiele nicht isoliert vom Weltgeschehen gesehen werden dürfen, appellierte sie an die staatsbürgerliche Verantwortung ihrer Sportler und Sportorganisationen.
Wenn auch nach der deutschen NOK-Entscheidung die erwartete Solidarität von Seiten der meisten anderen europäischen Staaten ausblieb, so erscheint die Absage an Moskau nach wie vor richtig und konsequent. Sie ist ehrlicher als die der anderen europäischen NOKs, die zwar in Rom erklärt haben, daß „ein Start in Moskau keineswegs als Billigung politischer Verhältnisse interpretiert werden kann". Mit dieser recht naiven Aussage werden sie aber weder ein totalitäres Regime daran hindern können, die Spiele in ihrem Sinne spartakiadeähnlich zu gestalten, noch die kriegerischen Aktionen in dem Nachbarland zu beenden.
Verglichen mit dieser die Olympischen Spiele substantiell gefährdeten Aktion erscheinen andere Probleme der olympischen Bewegung von sekundärer Bedeutung, obwohl auch sie insgesamt Symptome sind für die Krise des Olympismus. Da ist die Gigantomanie der Spiele, die es nur noch hochentwickelten Industrienationen möglich macht, die materiel-len Kosten für die Organisation zu tragen und das technische „Know-how" für die Spiele einzusetzen; da ist das auf die Spitze getriebene Leistungstraining, das einen organisatorisch-technischen Apparat und eine breite sportwis-
senschaftliche Vorarbeit verlangt, wie sie sich ebenfalls nur wenige Nationen leisten können. Dadurch wird unabdingbar der Medaillenspiegel weiter zugunsten der „Großen" verschoben. Höchstleistungstraining, zumindest während der Wettkampfperiode, verlangt regelmäßiges, meist vielstündiges tägliches Training. Es kann nur noch selten neben dem Beruf betrieben werden. Sowohl Ursachen als auch Folgen dieser Entwicklung sind der „Staatsamateur" des Ostens und der „Universitätsamateur" des Westens, beides Scheinamateure, da sie entweder auf Staatskosten trainieren oder hohe Zuwendungen erhalten. Der geistigen Verarmung der Spiele, dem Mangel an Kommunikation, den erhöhten Gefahren physischer und psychischer Belastung in Verbindung mit medizinisch-pharmakologischer Manipulation entspricht auf anderer Ebene das hartnäckige Festhalten an nationalen Symbolen, an einem pseudoreligiösen Zeremoniell. Hinzu kommt die wachsende Distanz zwischen dem „Männerorden", dem IOC, und den Athleten. Es kann nicht verwundern, daß angesichts gesteigerter Schwierigkeiten des IOC und einer drohenden Sinnentlehrung der olympischen Idee manche Skeptiker bereits resigniert und das Ende der olympischen Bewegung vorausgesagt haben.
Nun wird man bei aller gebotenen Skepsis gegenüber dem „Olympismus" nicht vergessen dürfen, daß sich die Olympischen Spiele in einer sich wandelnden Welt ebenfalls wandeln mußten, gerade weil sie weltoffen sind. Die Bedrohung der Olympischen Spiele ist demnach kein isolierter Prozeß, sondern eine Spiegelung der Bedrohung unserer gesamten Welt — primär durch einen ideologisch verschärften Nationalismus. Dagegen gilt es — um der Friedenssicherung willen — anzugehen! So bietet die schwere Krise auch die Chance für eine radikale Umorientierung, bzw. Neubesinnung auf die Ziele und Werte der olympischen Bewegung. Sie muß nicht das Ende der Olympischen Spiele bedeuten, denn diese üben nach wie vor eine große Faszination auf die Völker aus, und die Friedensbotschaft findet immer noch ein Echo bei ihnen. Zudem haben die Spiele mit dazu beigetragen, einen dynamischen Prozeß einzuleiten, der zur Weiterentwicklung von Wettkampfstätten und Sportgeräten, von Techniken und Trainingsmethoden, zur Gründung neuer Sportorganisationen mit immenser Breitenwirkung, d. h. zu einem immer intensiver werdenden weltweiten Sport-treiben führte.
Moskau wird eine Wende, aber muß nicht das Ende der olympischen Bewegung sein. Wenn die Verantwortlichen die Zeichen der Zeit erkennen, könnten sie die Weichen so stellen, daß die Internationale Olympische Akademie in Griechenland, die ein Zentrum der Olympischen Bewegung werden sollte, und der Olympische Kongreß in Baden-Baden 1981 gemeinsam einen neuen Orientierungsrahmen schaffen und einen Entscheidungskatalog für das IOC erarbeiten, der vor einem Mißbrauch der Spiele schützt und modernen Gegebenheiten gerecht wird. Es ist vielleicht die letzte Chance für Olympia. Hoffen wir, daß sie genutzt wird!