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Zur Rolle der Sprache in der Politik | APuZ 27/1980 | bpb.de

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APuZ 27/1980 Artikel 1 Zur Rolle der Sprache in der Politik Trotzkisten — Europäische Arbeiter-Partei — „Maoisten“ Die Opfer und die Täter -Rechtsextremismus in der Bundesrepublik

Zur Rolle der Sprache in der Politik

Martin Greiffenhagen

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Man hat jüngst die Wirkung politischer Schlagworte im Wahlkampf analysiert Dabei zeige sich, daß anspruchsvolle Wörter wie „Gerechtigkeit“ und „Chancengleichheit“ die Testpersonen weit weniger erregten als Feind-Chiffren (etwa: . Juso", „Sozialist“ oder . Kapitalismus"). Statt sich von Polarisierungen verbesserte Wahlchancen zu versprechen, sollten die Parteien einen sachbezogenen, an zentralen politischen Fragen orientierten Wahlkampf führen und die Bevölkerung dazu bringen, die besseren Argumente, nicht aber die größeren Irrationalitäten in ihrer Stimmabgabe zu prämiieren. Voraussetzung dafür ist die Orientierung über die wirklichen Sachgegensätze, zusammen mit einer möglichst guten Kenntnis über die Wirkung politischer Sprache. Dieser Beitrag will die politische Funktion der Sprache selber zur Sprache bringen, mit anderen Worten: er will aufklären.

Sprache und Politik Sprache ist nicht nur ein wichtiges Mittel des Politikers, sondern das Element, in dem sein Beruf sich vollzieht. Was er auch tut, auf welchem Felde er auch wirkt, stets arbeitet er mit dem geschriebenen, gelesenen, gehörten oder gesprochenen Wort: Er liest diplomatische Korrespondenz, Sitzungsprotokolle, Geheimdienstberichte, Zeitungskommentare, wissenschaftliche Gutachten, Akten aller Art. Er schreibt Briefe, diplomatische Noten, parlamentarische Reden. Er formuliert Depeschen, Wahlprogramme, Werbetexte. Er arbeitet Verträge aus. Seine Anweisungen, Korrekturen und Bemerkungen finden sprachlich unterschiedliche Formen. Der Arbeitstag des Politikers besteht aus Beratungen, Sitzungen, öffentlichen Reden, Diktaten, Empfängen, Arbeitsessen, diplomatischen Adressen. Das Leben des Politikers ist reden, schreiben, lesen: Umgang mit dem Wort.

Dabei bewegt sich der Politiker in den verschiedensten Sprachfeldern, Sprachebenen und Sprachstilen. Je mehr von ihnen er beherrscht, desto besser für ihn. Er spricht die Hochsprache seines Landes, er sollte aber auch landsmannschaftlich gebundene Idiome und Dialekte mindestens kennen, lieber noch aktiv beherrschen, wenn er „den Ton'der Bevölkerung jeweils treffen will. Dasselbe gilt für den Jargon und die Fachsprache der wichtigsten sozialen Gruppen. Im diplomatischen Umgang empfiehlt sich die Kenntnis der wichtigsten lebenden Sprachen. Literaturkenntnisse, ein Schatz von Anekdoten und Sentenzen steigern seine Popularität, die Kunst der Satire seine Wirksamkeit im Parlament und in Wahl-kämpfen. Kein Wunder, daß viele Politiker, bevor sie es wurden, schon mit der Feder umgingen, als Journalisten nämlich.

Der Politiker muß nicht nur verschiedene Sprachstile beherrschen, sondern er setzt in seinen Texten jeweils ein ganz verschiedenes Maß an logischer Exaktheit, Information und Redundanz ein: Verträge erfordern zweifelsfreie Eindeutigkeit, Wahlreden eine gehörige Portion . flächendeckender'Mehrdeutigkeit (Auch Verträge verlangen zuweilen Mehrdeutigkeit und sprachliche Unentschiedenheit — aber natürlich eine jeweils präzis kalkulierte.) Das Verhältnis von Information und Redundanz will besonders in der öffentlichen Rede behutsam abgewogen sein: Zuviel Information ängstigt selbst dann, wenn es sich um gute Neuigkeiten handelt. Redundanz beruhigt, weil sie das vertraute Weltbild bestätigt und ein Wir-Gefühl vermittelt, das der Politiker als Vertrauensbasis braucht.

Dem demokratischen Politiker liefert die Sprache die wichtigste Quelle seiner Wirksamkeit: Legitimität. In Reden stellt er sich zur Wahl, die ihn in das erstrebte Amt und an die Macht bringt. Politik heißt in der Demokratie öffentliche Argumentation und parlamentarische Debatte. Nicht im Geheimen Rat oder im fürstlichen Kabinett, sondern im bürgerlichen Rathaus und auf dem öffentlichen Platz wird über politische Karrieren entschieden. Deshalb studierte man in der griechischen und römischen Republik als angehender Politiker zusammen mit den Studenten der Jurisprudenz und der Philosophie Logik, Rethorik, Dialektik und Hermeneutik.

Sprache und Sozialität Die Griechen haben in ihrer politischen Theorie zwei Bestimmungen des Menschen eng zusammen gedacht, die für unser Thema konstitutiv sind. Der Mensch galt ihnen gleichermaßen als zoon logon echon und als zoon politikon: ein Wesen, das den logos, d. h. Sprachvernunft hat und das darin politisch ist, d. h. Sozialität hat. Menschliche Gemeinschaft ist immer Sprachgemeinschaft. Der sprachlichen Grammatik entspricht eine soziale Grammatik, Verbalisation ist Sozialisation.

Menschliche Sprachgemeinschaft ist stets auf eine bestimmte soziale Gruppe bezogen: Das Gemeinsame bestimmt sich durch Aus-und Auszugsweiser Vorabdruck aus dem in Kürze in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erscheinenden Sammelband „Kampf um Wörter? Politische Begriffe im Meinungsstreit“, der von Martin Greiffenhagen herausgegeben wird Abgrenzung gegen andere Sprach-und Sozial-gruppen. Das gilt für Kleingruppen ebenso wie für Großgruppen. Nicht nur Staaten und Nationen sprechen ihre eigene Sprache, sondern auch Landsmannschaften, Stände, Klassen, Berufsgruppen, Konfessionen, Jugend oder Alter. Politische Gruppierungen entstehen aus solchen verschiedenen sozialen Impulsen und Elementen. Ihre sprachliche Konstituierung enthält Hinweise auf diese sozialen Quellen ihrer Entstehung. Früher, als es noch ausgesprochene Klassen-und Weltanschauungsparteien gab und eine größere Vielfalt des Parteienspektrums eine größere Deckungsgleichheit von sozialen und politischen Formierungen ergab, waren auch die sprachlichen Konturen deutlicher sichtbar. Heute, im Zeitalter der großen Volksparteien, ist es schwieriger, in der sprachlichen Konstitution die Spuren sozialer und ideologischer Zuordnung festzustellen. Möglich aber bleibt es nach wie vor. Dies zu zeigen, ist unter anderem Aufgabe dieses Bandes.

Sprache ermöglicht dem Menschen das Leben in Gruppen. Sie tut das auf folgende Weisen, die alle miteinander Zusammenhängen und, strenggenommen, nicht getrennt werden, sondern nur als Aspekte ein und derselben Sache gelten dürfen:

1. als intellektuelle Wirklichkeitserfahrung, 2. als Institution, die den einzelnen von Entscheidungsüberforderungen entlastet, 3. als Träger gesellschaftlicher Normierung, 4. als Instrument gesellschaftlicher Kontrolle. 1. Sprache als intellektuelle Wirklichkeitserfahrung Durch Sprache begegnet mir die Welt. Indem ich Dinge und Verhältnisse bezeichne und benenne, erkenne ich sie in ihrem Zusammenhang. Dieser ist in verschiedenen Gesellschaften verschieden. Die Eskimos kennen sehr viel mehr Ausdrücke für Schnee als wir: Er ist ihre Welt, ihre Lebensbedingung, ihr Element 2. Sprache als Institution Jede Institution entlastet den Menschen von . Entscheidungszumutungen'(A. Gehlen), d. h. von der Aufgabe, stets neu zu überlegen, wie er sich in einer Lage verhalten soll. Wer gewohnt ist, jeden Menschen zu grüßen, dem er begegnet, braucht nicht zu überlegen, ob er den Betreffenden kennt, ihn mit seinem Gruß erfreut, verärgert oder irritiert.

Die Sprache ist die entlastendste Institution, die der Mensch geschaffen hat: Auch wer persönlichste Erfahrungen berichten will, bedient sich mit der Sprache einer allgemein verständlichen, vorgeprägten Ausdruckweise. Wofür die Sprache in jahrhundertelanger Entwicklung keine Ausdrucksmöglichkeiten bereitstellt, das läßt sich nicht nur nicht sagen, sondern auch kaum erfahren. Hier liegen die großen Probleme fremdsprachlicher Übersetzungen und Übertragungen. 3. Sprache als Träger gesellschaftlicher Normierung Ohne Sprache gäbe es keine Werte. Die Wert-welt wird uns vor allem durch Sprache vermittelt, als eine . innere Weit'. Die sittliche Erziehung geschieht im Wege einer wachsenden Ausgestaltung sprachlich gefaßter Sollensvorschriften. Was gut und böse ist, was für freundlich und unfreundlich gilt, wird zugleich im sozialen und sprachlichen Bildungsprozeß gelernt. 4. Sprache als Instrument gesellschaftlicher Kontrolle Das Moment gesellschaftlicher Kontrolle steckt im Vokabular, in der Grammatik. Ein Beispiel: Wer jemandem rät, läßt ihn frei darin, ob er dem Rat folgen will oder nicht. Wer jemanden berät, erwartet, daß er sich dem Rat fügt. Der moderne Vorsorgestaat liefert Hunderte von Beispielen für die Zunahme des Akkusativs als Ausdruck wachsender Kontrolle. Jede soziale Gruppe, ob groß oder klein, kontrolliert sich selbst durch Tabuisierung von Wörtern und Ausdrucksweisen, durch Hochschätzung von Begriffen, Geltung von Mode-worten. Wer dazugehören will, hält sich füglich an diese ungeschriebenen Regeln des Wortgebrauchs und der Redeweise. Nuancen und Abweichungen werden in Grenzen toleriert, man kann sie sogar benutzen, um seine soziale, berufliche oder landsmannschaftliche Stellung zu betonen. Auch politische, religiöse oder ideologische Präferenzen lassen sich durch Wortgebrauch und Grammatik bekunden. Wer sich zu weit von der Gruppensprache entfernt, riskiert, als Abweichler geschnitten zu werden. Jugendliche Aufsässigkeit zeigt sich stets auch in sprachlichem Nonkonformismus. Erziehung bedient sich des Mittels sprachlicher Kontrolle: Nicht die . häßlichen Wörter'allein sollen gemieden werden, sondern die Taten oder Haltungen, die sich in ihB nen verraten oder verbergen. Dasselbe gilt für die große Politik: Politische Sprachkontrolle (z. B. das Verpönen des Ausdrucks BRD für unser Gemeinwesen) dient der sozialen und ideologischen Kontrolle von Großgruppen.

Politische Herrschaft durch Sprache Wer die Dinge benennt, beherrscht sie. Definitionen schaffen . Realitäten'. Wer definiert, greift aus der Fülle möglicher Aspekte einen heraus, natürlich denjenigen, der ihm wichtig erscheint. Diese . Reduktion von Komplexität'(Niklas Luhmann) geschieht überall, und also auch in der Politik. Hier tritt der Machtaspekt besonders hervor: Wer die Macht hat, Verhältnisse zu schaffen oder zu verändern, wird sie auch in seinem Sinne bezeichnen und ihnen auf diese Weise den Stempel seiner Beurteilung aufdrücken. Ein Beispiel aus den USA:

„Beim politischen Betrachter hat der Ausdruck . Gleichstellung'lange die Vorstellung einer gerechten Verteilung von Kosten und Nutzen auf Bauern und Verbraucher geweckt. In Wirklichkeit hat diese Parole ein System legitimiert, das großzügige Subventionen an große Farmen verband mit geringer oder gar keiner Unterstützung der kleinen bäuerlichen Familienbetriebe und einem höchst lückenhaften Schutz des Verbrauchers. Aber wer könnte gegen eine Gleichstellung opponieren? Sie fördert den Quietismus der Massenöffentlichkeit ebenso wirksam, wie sie eine Rechtfertigung für die materiellen Vergünstigungen bietet, welche die Agrarpolitik austeilt."

Besondere politische Prägekraft wohnt stets der ersten Definition inne: Sie gibt einem Problem den gewünschten Zuschnitt, läßt es in der gewünschten Beleuchtung erscheinen und präjudiziert damit eine Lösung, die man wünscht: „Es ist meistens die erste Definition eines Problems, die die Menschen akzeptieren ... Einmal akzeptiert, wird eine metaphorische Auffassung zum begrifflichen Kristallisationspunkt, um den herum die Öffentlichkeit in der Folge passende Informationen organisiert und in dessen Licht sie diese Informationen interpretiert. Auf diese Weise wird eine bestimmte Auffassung verstärkt und scheint sich für diejenigen, deren Einstellungen sie formuliert, immer wieder neu zu bewahrheiten. Sie beginnt, sich selbst zu perpetuieren."

Schließlich ist derjenige politisch im Vorteil, der eine Alternative formuliert. Mit ihr können alle anderen Möglichkeiten, ein Problem zu sehen oder zu lösen, abgeblendet werden. Diese Art Komplexitätsreduktion ist in der Politik stets sehr erfolgreich gewesen. Die großen revolutionären Ideologien leben alle von einfachen Alternativen. Sie werden leicht verstanden, prägen das Bewußtsein und können hohe Handlungsmotivation liefern: Wenn es um alles oder nichts, Ende oder Wende, rot oder tot geht, wächst mit der Entschiedenheit der Alternative auch die Kraft zur Entscheidung. In den Zusammenhang politisch mächtiger Definitionen und Alternativen gehört das Schlagwort. Wer es zur rechten Zeit findet oder erfindet, kann Gefolgschaft finden, die Richtung von Wahlkämpfen bestimmen, dem Gegner schweren Schaden zufügen. Schlagworte treffen den Gegner auch dann, wenn sie den Wortsinn der Sache verfehlen. Das Schlagwort vom . Konsumterror', das zur Zeit der Protestbewegung eine große Rolle spielte, hatte mit dem bisher gebräuchlichen Sinn von Terror nichts mehr zu tun. Trotzdem hat es einer ganzen Generation den Kopf vernebelt und vermutlich sogar einen gewissen Beitrag zur Entstehung des Terrorismus geliefert Das Schlagwort von den . Sympathisanten des Terrors’ brachte auf sachlich unzutreffende Weise ideologische Positionen mit kriminellen Handlungen zusammen und politische Gruppen in den Verdacht der Unterstützung terroristischer Aktivitäten.

Auch Buchtitel können starke politische Wirkungen haben, sogar dann, wenn der Inhalt kaum zur Kenntnis genommen wird, wie etwa im Falle des Buches von Moeller van den Bruck . Das Dritte Reich'. Beispiele für die politische Sprengkraft von Buchtiteln sind z. B. . Der Untergang des Abendlandes', . Gemeinschaft und Gesellschaft', . Herrschaft der Verbände?', Die geheimen Verführer'.

Von großer politischer Schlagkraft können auch Begriffe sein, die von Wissenschaftlern oder Publizisten zur Beschreibung eines gesellschaftlichen oder politischen Phänomens erfunden werden, häufig als Definition einer für neu geltenden Situation. Freizeit-oder Fernsehgesellschaft, nivellierte Mittelstandsgesellschaft, Leistungsverweigerung, die Unterscheidung von Wertkonservativen und Strukturkonservativen, die Neue Soziale Frage sind solche Begriffe. Sie sind nicht zu umgehen, wollen aber stets auf ihre sachliche Treffsicherheit hin überprüft werden. Die Grenze zwischen notwendiger Funktion und sträflichem Mißbrauch der Sprache im Dienste politischer Herrschaft ist schwer zu ziehen. Schlimme Beispiele für mißbräuchlichen Umgang mit der Sprache lieferte der Nationalsozialismus. Victor Klemperer schrieb in seinem philologisch-politischen Notizbuch lingua tertii imperii', Worte könnten wie winzige Arsendosen wirken: Man schluckt sie unbemerkt, ihre Wirkung stellt sich erst nach längerer Zeit ein. Ein volles Kapitel widmete Klemperer dem Begriff . fanatisch’ und seiner Umwertung im NS-Sprachgebrauch:

„Da der Nationalsozialismus auf Fanatismus gegründet ist und mit allen Mitteln die Erziehung zum Fanatismus betreibt, so ist fanatisch während der gesamten Ära des Dritten Reiches ein superlativisch anerkennendes Beiwort gewesen. Es bedeutete die Übersteigerung der Begriffe tapfer, hingebungsvoll, beharrlich, genauer eine glorios verschmelzende Gesamtaussage all dieser Tugenden, und selbst der leiseste pejorative Nebensinn fiel im üblichen LTI-Gebrauch des Wortes fort. An Festtagen, an Hitlers Geburtstag etwa oder am Tag der Machtübernahme, gab es keinen Zeitungsartikel, keinen Glückwunsch, keinen Aufruf an irgendeinen Truppenteil oder irgendeine Organisation, die nicht ein . fanatisches Gelöbnis'oder . fanatisches Bekenntnis'enthielten, die nicht den . fanatischen Glauben an die ewige Dauer des Hitlerreiches bezeugten. [... ] Je dunkler sich die Lage (im Krieg) gestaltete, um so häufiger wurde der . fanatische Glaube an den Endsieg', an den Führer, an das Volk oder an den Fanatismus des Volkes als eine deutsche Grundtugend ausgesagt. [... ] Hand in Hand mit dieser Häufigkeit auf politischem Felde ging die Anwendung auf anderen Gebieten, bei Erzählern und im täglichen Gespräch. Wo man früher leidenschaftlich gesagt oder geschrieben hätte, hieß es jetzt fanatisch. Damit trat notwendigerweise eine gewisse Erschlaffung, eine Art Entwürdigung des Begriffes ein. [. .. ] Dem sprachlich führenden Kopf des Dritten Reiches, dem es um die volle Wirkung des aufpeitschenden Giftes zu tun war, ihm freilich mußte die Abnutzung des Wortes als eine innere Schwächung erscheinen. Und so wurde Goebbels zu dem Widersinn gedrängt, eine Steigerung über das nicht mehr zu Steigernde hinaus zu versuchen. Im . Reich'vom 13. November 1944 schrieb er, die Lage sei . nur durch einen wilden Fanatismus zu retten'. Als sei die Wildheit nicht der notwendige Zustand des Fanatikers, als könne es einen zahmen Fanatismus geben.“

Die Wirkungen politischer Sprachmanipulation sind bisher empirisch so gut wie nicht erforscht. Ihre Beurteilung fällt entsprechend ambivalent aus. Klemperer zweifelte jedoch nicht an der Wirksamkeit der NS-Propaganda. Irgendwann überwältige die gedruckte Lüge auch den zunächst kritisch eingestellten Bürger — dann nämlich, wenn die Propaganda von allen Seiten auf ihn eindringe, er nicht ausweichen könne und es auch keine kritischen Gegenstimmen mehr gebe

Man möchte Klemperer zustimmen, wenn man erfährt, in welcher Weise die NS-Propagandapolitik Worte verbot, in ihrem Sinn genauestens festlegte oder veränderte. Ein Vergleich der Auflagen von Meyers Konversationslexikon aus den Jahren 1924 und 1936 zeigte dramatische Veränderungen. Einige Beispiele: Aus . Intellekt'als schöpferischer Fähigkeit (1924) wurde die Bezeichnung einer kritischen, subversiven und destruktiven Eigenschaft (1936). Das Wort . rücksichtlos'erhielt 1936 einen positiven Sinn und bedeutete soviel wie zielstrebig, energisch. Als Eigenschaft des Gegners behielt es allerdings nach wie vor seine negative Bedeutung. Der Begriff . Haß'wurde 1936 in eine negative und positive Bedeutung aufgeteilt: „Der heldische Haß der nordischen Rasse steht im stärksten Gegensatz zum . feigen Haß des Judentums“. Neue Worte wie . Rassenschande', . Schutzhaft', . Volksschädling'tauchten mit dem NS-Regime auf. Aus . Volkstrauertag'wurde . Heldengedenktag’. Das Wort . Völkerbund'wurde auf Anweisung von Goebbels ab 1937 aus der deutschen Sprache verbannt Im November 1939 entschied er, das Wort . Friede'solle aus der deutschen Presse zurückgedrängt werden.

Die Erfahrung autoritärer Sprachregelung darf jedoch nicht zu dem Mißverständnis verleiten, als ob nicht jede, also auch die demokratisch legitimierte Machtelite, sich des Mittels politischer Sprachformung bediente: „Aus dem Begriff des autoritären oder totalitären Staates folgt noch nicht, daß alle sprachlichen Veränderungen auf autoritären Sprachregelungen beruhten, genauso wie es auch verfehlt ist zu meinen, in der parlamentarischen Demokratie entwickele sich der politische Wortschatz organisch und quasi von selbst, oder die neuen Bezeichnungen würden der Bevölkerung zur demokratischen Entscheidung vorgelegt."

Im Unterschied zum autoritären oder totalitären Einheitsstaat kennt die plurale Demokratie zusammen mit dem politischen Machtkampf verschiedener Gruppen auch einen . Kampf um Wörter, der den Machtkampf begleitet und ihn unterstützen soll. So verwendet etwa die radikale Linke bei uns das Wort . Sozialpartner'nur mit Anführungszeichen oder einem . sogenannt'davor, um anzuzeigen, daß sie das Verhältnis von Kapital und Arbeit nicht als eine partnerschaftlich-kooperative, sondern als eine durch Klassenkampf gespannte Beziehung ansieht.

Die Rolle der Medien im politischen Sprachkampf Der Nationalsozialismus hat die Massenmedien zum ersten Mal bewußt politisch eingesetzt Den . kleinen Goebbels'nannte man einen Rundfunkempfänger, der zu extrem niedrigem Preis den Massen zur Verfügung stand. Totalitäre Regime bedürfen der Massenmedien, um ihre Politik allseitiger Durchdringung verfolgen zu können.

In der pluralen Demokratie bedienen sich viele Gruppen der Massenmedien, und jede versucht, soviel Einfluß wie möglich auf sie zu gewinnen. Besonders Fernsehzeiten sind politisch hart umkämpft, nicht nur in Wahlzeiten und als politische Sendungen, sondern auch auf Feldern, in denen die Politik nur indirekt zur Sprache kommt. Im Unterschied zu früheren Demokratien (Athens oder Roms, und dann seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika) beschreitet der Politiker, der sich über die Massenmedien an das Volk wendet, heute eine Einbahnstraße: Er kann zwar Millionen Zuhörer und Zuschauer gleichzeitig erreichen, bekommt aber selten eine Rückäußerung.

Diese Funktionsweise der Massenmedien will politisch bedacht sein: „Da die Homogenität des Publikums geringer wird, je größer die Personenzahl ist, muß der Redner versuchen, den verschiedenen Gruppen gleichzeitig gerecht zu werden. Das erreicht er nur, wenn er sich möglichst allgemein ausdrückt und die Be-griffe so unbestimmt läßt, daß sich alle Hörer oder Leser mit seinen Aussagen identifizieren können. Der Einweg-Charakter der Kommunikation wirkt in der gleichen Richtung, weil der Redner alles vermeiden muß, was bei einem Teil des Publikums starken Widerspruch hervorrufen könnte. Er kann nicht wie im direkten Kontakt die Zeichen und Gesten des Widerspruchs und der Zustimmung einkalkulieren, um sich zu korrigieren, Ergänzungen vorzunehmen, den Appell eindringlicher zu machen oder sich vorsichtig zurückzuziehen, denn er bekommt während der Kommunikation keine Information vom Publikum.“ 7) Auf die Dauer aber kann sich kein Politiker auf solche Einweg-Kommunikation beschränken. Er muß sich in Wahlveranstaltungen, auch in Fernsehdiskussionen, dem Widerspruch stellen, muß die Stimmung der Bevölkerung in strittigen Fragen erkunden und seine Politik in Rede und Widerrede vertreten. „Früher oder später muß er sagen, was er unter Demokratie, Sozialismus, Freiheit versteht. Läßt er die Begriffe weiterhin so undeterminiert, daß sich jeder darunter vorstellen kann, was er will, so ist das Ergebnis immer Selbstbestätigung, nicht Meinungsänderung. Wenn die Meinungssprache diese Festlegung häufig vermissen läßt und sich mit emotionalen Appellen begnügt, kann das dann nur bedeuten, daß die Rede in der attention area verbleibt und eine Meinungsänderung nicht beabsichtigt ist, bzw. vergeblich angestrebt wird. In der Tat lassen sich für diese Ansicht gute Argumente ins Feld führen. Die Massenkommunikationsforschung hat beispielsweise festgestellt, daß die Reden im amerikanischen Wahlkampf weniger einen Effekt darauf haben, welche Partei der Zuhörer wählt, als darauf, ob er überhaupt wählt. Der Wahlkampf lenkt die Aufmerksamkeit auf die Wahl und hat einen Einfluß auf das Verhalten, nicht aber auf die politischen Meinungen; denn welches Programm der einzelne wählt, hängt stark von anderen Faktoren ab (Familientradition, soziale Stellung, Freunde und Kollegen).“

Die Massenmedien stehen bei uns unter dem Gebot der politischen Ausgewogenheit. Das ist vernünftig, wenn man bedenkt, daß besonders die Rundfunk-und Fernsehanstalten eine Monopolstellung einnehmen. Die Frage ist nur, was man unter Ausgewogenheit verstehen soll: nicht das Ansteuern einer inhaltsleeren, ausgewaschenen . Mitte', die keine politischen Positionen mehr erkennen läßt, sondern eine gegnerisch-gespannte Kontrapunktik, die auch radikale Ideologen und Programme zu Wort kommen läßt. Diese Balancierung sollte sich an den unterschiedlichen Meinungen selbst, nicht unbedingt an politischen Kräfte-verhältnissen orientieren. Das Fernsehen darf sich nicht an die 5 %-Klausel halten, weil seine Sendungen informieren und nicht Stimmen werben sollen. Politische Fernsehrunden sollten daher zuweilen auch politischen Positionen einen Platz einräumen, ohne daß sie im Parteienspektrum oder im Bundestag vertreten sind. Das gebietet die Informationspflicht der Medien und das Bedürfnis der Bevölkerung, über die etablierten politischen Positionen hinaus ein Bild der politischen Strömungen vermittelt zu bekommen.

Politischer Wandel — Sprachlicher Wandel Wie stark die politische Sprache von den politischen Verhältnissen abhängt, dafür liefert die jüngste deutsche Geschichte reiches Material. 1871, 1919, 1933, 1949: Vier Regime, von denen jedes dem nachfolgenden als .definitorischer Gegner'diente. Jedes war der Feind des vorhergehenden und verstand sich als seine Überwindung. Entsprechend wandelten sich die Inhalte politischer Begriffe. Das gilt zum Beispiel für das Verständnis von . Feind'selbst: Im Kaiserreich gehörten die Sozialdemokraten zu den Reichsfeinden, 1919 bildeten sie die Regierung. 1933 galten sie als Volksfeinde', zusammen mit den Juden, die außerdem noch als „Artfeinde’ bezeichnet wurden. Nach 1945 waren es vor allem Kommunisten, die dem Feindbild Gestalt gaben. Heute gibt es den Begriff des inneren Feindes', der für die Entwicklung unseres Staatswesens zu einer . streitbaren Demokratie'sorgte. Neben Extremisten, die verfassungsfeindlichen Parteien angehören, sind es zunehmend auch Radikale und Abweichler anderer Art, deren Observierung geboten scheint, im Sinne einer Vorverlagerung der Feindbekämpfung in den . Gefährdungsbereich'. Ein sprechendes Beispiel für den inhaltlichen Wandel politischer Begriffe ist die verschiedene Füllung des Gleichheitssatzes in der Weimarer Reichsverfassung und im Bonner Grundgesetz:

„öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben, Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden.

Titel dürfen nur verliehen werden, wenn sie ein Amt oder einen Beruf bezeichnen; akademische Grade sind hierdurch nicht betroffen.

Orden und Ehrenzeichen dürfen vom Staat nicht verliehen werden.

Kein Deutscher darf von einer ausländischen Regierung Titel oder Orden annehmen." (Reichsverfassung) „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." (Grundgesetz)

Einige Wörter sind völlig durch den Schüttelrost unserer so bewegten politischen Geschichte gefallen. Mit anderen gehen wir nach schlimmen Erfahrungen vorsichtiger um. Das gilt zum Beispiel für das gute und in der Politik kaum entbehrliche Wort . Führer'. Während andere Völker unbefangen von ihren Parteiführern sprechen, bevorzugen wir das Wort Parteivorsitzender, kein schönes und im Vergleich zum Parteiführer auch wenig aussagekräftiges Wort: Im Zeitalter der Massendemokratie handelt es sich bei den Bundes-und Landesvorsitzenden der Parteien wirklich um Führer. (Der . Vorsitzende'gehört dagegen eher in den Umkreis kommunistischer Politik-theorie mit ihrer bürokratischen Verhüllung realer Macht.)

Wie stark politische Bewegungen auf die Sprache durchschlagen, dafür ist die Protest-bewegung ein sprechendes Beispiel. Sie war schier unerschöpflich in der Erfindung neuer Begriffe (sowohl in theoretischer wie in praktischer Absicht). Karl Markus Michel hat als Anhang zu den , Stichworten zur geistigen Situation der Zeit’ (herausgegeben von Jürgen Habermas) einige dieser Wörter versammelt, nicht ohne eine gewisse Ironie. Hier zwei Beispiele: aufarbeiten — Die entschlossene Einführung dieses Ausdrucks in die akademische Rede vor ca. 10 Jahren war ein erster Schritt zur szientifischen Wende der . Protestbewegung’. Sein programmatischer Tenor (, XY soll /müßte aufgearbeitet werden), der damals der notwendigen Selbstdisziplinierung diente, ist heute prekär geworden. Es empfiehlt sich, auf-arbeiten nicht mehr affirmativ für eigene Leistungen, sondern strafend für Versäumnisse anderer zu verwenden (, P hat versäumt, XY aufzuarbeiten ...). hinterfragen — Glückliche Neubildung in Analogie zu hintergehen, hintertreiben, hinterziehen. Das Hinterfragen ist die fortgeschrittene Form des Befragens und In-Frage-Stellens: man fragt von hinten her. Eine Ansicht oder Gewohnheit, einen Begriff oder Begründungszusammenhang hinterfragen heißt über sie hinaussein, also weiter, gewitzter sein als alle, die sie nur frontal befragen. Gebrauch: „etwas muß hinterfragt werden" /„ist hinterfragt worden“ bzw. (von einem anderen) „nicht hinterfragt worden" /„blieb unhinterfragt"; davon abgeleitet die neue Aktivform unhinterfragen (mit deutlich strafendem Akzent). Es steht zu erwarten, daß demnächst neben die schon eingeführten Substantiva Hinterfragung und Hinterfragbarkeit die Form Hinterfrage treten wird, in Analogie zu Hinterhalt und Hinterlist.

Wörter als politische Symbole Wie empfindlich die Beziehung von politischen Wörtern und politischer Wirklichkeit ist, zeigt nichts besser, als die terminologische Unsicherheit im Umfang mit unserem eigenen Staatswesen: Die Bundesrepublik Deutschland, die Bundesrepublik, Westdeutschland, Deutschland, BR Deutschland, BRD: was ist richtig, was ist geboten, was ist verboten, wer benutzt welche Bezeichnung, wann und wo? Dieselbe sprachliche Unentschiedenheit gilt für die Bezeichnung der Einwohner, der Bevölkerung: die Bundesdeutschen, die Bundesrepublikaner, die Westdeutschen, die Deutschen? In der sprachlichen Mannigfaltigkeit und terminologischen Unsicherheit zeigen sich Spuren und Narben der Nachkriegsentwicklung, der Deutschlandpolitik, der internationalen Politik.

Ähnliches gilt für die Bezeichnungen unseres politischen Systems. Es ist ein Unterschied, ob man . diesen unseren Staat als Demokratie, rechtsstaatliche Demokratie, demokratischen Rechtsstaat, Rechtsstaat oder als Staat bezeichnet. Dabei kommt es natürlich auf den Kontext an. Dieser Kontext hat sich innerhalb der Geschichte der Bundesrepublik verändert, und er verändert sich ständig. Wessen Ohren für politische Sprachnuancen geschärft sind, der wird schon aus der Bezeichnung unserer politischen Ordnung zuweilen einen Hinweis auf die jeweilige politische Position des Sprechenden bekommen können.

Das gilt auch für die Bezeichnungen politischer Positionen selbst. Hier unterscheidet sich die Eigenbezeichnung zuweilen von der Fremdbezeichnung. Manchmal gerät beides auch durcheinander. So nennt man innerhalb der SPD das Programm dieser Partei .demokratischen Sozialismus'. Die Mitglieder nennen sich aber nicht demokratische Sozialisten, sondern Sozialdemokraten. Von ihren konservativen Kritikern werden sie dagegen gern als Sozialisten bezeichnet, also: , Wir Sozialdemokraten'— , Ihr Sozialisten'. Der politische Kontext, die politische Absicht bzw. Vorsicht, drohende bzw. erwünschte Mißverständnisse bekunden sich als sprachliche Nuancen. Es ist nicht allzu schwer, die politischen Unterschiede der Begriffe .demokratischer Sozialismus’, . soziale Demokratie'oder . sozialistische Demokratie'herauszufinden.

Es gibt auch sprachliche Nuancen, die politisch nur scheinbar etwas aussagen. Ein Beispiel dafür ist die von manchen Konservativen für wichtig gehaltene Unterscheidung im Sprachgebrauch zwischen . Konservatismus'und . Konservativismus'. Die adjektivische Wendung wird heute von Konservativen bevorzugt, und man meint, vom Konservatismus sprächen nur diejenigen, die sich damit gegen ihn aussprechen. Das stimmt weder im Blick auf die Gegenwart noch auf die Geschichte des Wortes: Gerd-Klaus Kaltenbrunner, einer der konservativen Theoretiker unserer Tage, spricht ebenso von . Konservatismus'wie die Kritiker konservativer Bewegungen, z. B. Helga Grebing. Auch im 19. Jahrhundert, als der Begriff aufkam, benutzten deutsche Konservative unbefangen die anglizistische Kurzform. Hier gibt die Sprachnuance also sachlich gar nichts her. Trotzdem trifft man bei manchen Konservativen auf eine große Empfindlichkeit in diesem Punkte.

Politische Begriffe gehören zum politischen Symbolbestand. Wie nationale Feiertage, große Namen der nationalen Geschichte, Staatswappen und Staatsfarben dienen auch politische Begriffe der politischen Identifikation. Tiefgreifender politischer Wandel führt zu Unsicherheiten im Symbolbestand. Die aufgeführten Beispiele zeigen, daß die deutsche Nation und die beiden deutschen Staaten von solcher Schwächung des politischen Symbol-haushaltes besonders stark betroffen sind. Das Auseinanderdriften beider deutscher Staaten läßt sich unter anderem daran messen, wie weit politische Begriffe noch verstanden werden. In dem Maße, in dem das politische System 'der Bundesrepublik demjenigen Österreichs oder der Schweiz ähnlicher ist als demjenigen der DDR, sind wir in dieser Hinsicht auch sprachlich den Österreichern oder Schweizern näher. Das gilt z. B. für den Einzug von Anglizismen, denen in der DDR russifizierte Versatzstücke entsprechen, die innerhalb des Ostblocks allgemein verstanden werden. Abkürzungen im Westen entsprechen Buchstabengemengen im Osten. Wer weiß schon bei uns, was AWG, EDS, BGL, GST, ABF, DSF, WPO, POS, DPA in der DDR bedeuten?

Sprache in konservativer und progressiver Sicht Politische Positionen lassen sich auch im Blick auf ihre Sprach-, Philosophie'unterscheiden. Den Konservativen gilt die Sprache als wichtigste Bestandsgarantie der Wirklichkeit, die er erhalten möchte. Sie ist ihm der bedeutendste Traditionsträger. Martin Heidegger nannte die Sprache das Haus des Seins'. Auf diese Weise bekommt die Sprache einen ontologischen Rang. Wer sie nicht achtet, vergeht sich an der . Wahrheit der Dinge'. Die Sprache ist von den Dingen nicht zu trennen, von ihnen nicht als bloße . Bezeichnung'ablösbar, sondern die Dinge sprechen sich in der Sprache selber aus. Walter F. Otto hat die Sprache in diesem Sinne aufgefaßt:

„Die Sprache ... ist nicht eine Nachahmung der seienden Dinge, auch nicht eine Antwort des Menschen auf das Sein der Dinge, sondern dieses Sein selbst, also die Wesenhaftigkeit der Welt. Sie ist die Erkenntnis, aber eine solche, die das, was sie erkennt, selbst ist. So ist die Sprache kein Produkt menschlicher Subjektivität, sondern hängt unmittelbar mit der Realität der Welt zusammen, ja sie ist diese Realität selbst im wahrsten Sinne."

Hier spricht sich ein tiefes Bedürfnis nach Ordnung aus, für welche die Sprache als bedeutender Garant beansprucht wird. Deshalb gilt konservativen Pädagogen nach wie vor die Deutschnote als die wichtigste Schulzensur.

Sprachgefühl garantiert Achtung vor der Tradition und Sinn für eine Gesellschaftsordnung, die sich der Herkunft verpflichtet weiß.

Der progressiv-politischen Einstellung entspricht eine eher instrumentale Auffassung der Sprache. Ihre Begrifflichkeit wird dem Prinzip intersubjektiver Überprüfbarkeit unterworfen. Die Sprache ist vornehmlich . Informationsträger', sie dient angestrebter Objektivität. Kunstsprachen, Fremdworte, wissenschaftliche Ausdrucksweisen werden nicht abgelehnt, sondern im Interesse größerer Deutlichkeit sogar bevorzugt.

Der Konservative wittert hier nicht zu Unrecht eine soziale Dynamik, die ihm verdächB tig ist. Revolutionäre verraten sich durch Fremdworte. Viele tradierte Worte werden von ihnen mit . sogenannt'oder überhaupt nur in Anführungszeichen benutzt. Neuen . Informationstheorien'entsprechen neue . Sozialisationstheorien'. Die Entwicklung von elaborierten oder nichtelaborierten Sprachcodes dienen dem Nachweis schichtenspezifischer Verbalisation und diese der Notwendigkeit sozialer Emanzipation oder einer allgemeinen Demokratisierung. Ob man in der Schule für die Pflege der Hochsprache oder den Gebrauch des landesüblichen Dialektes eintritt, nie geht es um Sprache selbst, sondern in ihr sich verbergende oder bekundende soziale Absichten. In den Augen der Konservativen wird die Schule auf diese Weise zum politischen Mittel erniedrigt. Aber auch der pädagogische Einsatz eines konservativen Sprachverständnisses ist natürlich nicht unpolitisch, wenn man Kinder daraufhin erzieht, die überkommenen Worte zu achten und damit den Sinn für geltende gesellschaftliche Institutionen stärkt.

Ein sprechendes Beispiel dafür, daß solcher Sprachenstreit zugleich ein politischer Streit ist, liefert eine Wahlkampfanzeige der CDU im Landtagswahlkampf Baden-Württembergs 1980:

„Familie als . Sozialisationsagentur'? Kinder als . Dauerpflegepersonen'? Eltern als . Bezugspersonen'? Liebe als . Integrationsmechanismus'? Worte aus dem amtlichen Familienbericht der Bonner Linksregierung. Wer so spricht (und denkt), zerstört unsere Familien. Unsere Wert-ordnung. In Baden-Württemberg wird alles getan, um die Familien zu erhalten. Zu stärken. In unserem Land regiert die CDU. Mit Ministerpräsident Lothar Späth. Mit Herz."

Jenseits aller tagespolitischen Begrifflichkeit weist schon das unterschiedliche Verhältnis zur Sprache an sich auf unterschiedliche politische Positionen hin. Fremdworte sind dem Konservativen verdächtig, weil sie eine gewisse Unbekümmertheit im Umgang mit der Tradition verraten. Der Kampf gegen Fremd-worte war in Deutschland stets mit konservativen Positionen verbunden. Zusammen mit der . gewachsenen'Sprache verteidigte man . gewachsene Ordnungen', und der Kampf gegen die . Operationalisierung'der Sprache bedeutete zugleich Kampf gegen die . Operationalisierung'sozialer Institutionen und Verhältnisse. Diese politische Sensibilität der Sprache läßt demjenigen, der auf sie achthat, Unterschiede in Bezeichnungen auffallen, die eigentlich das-10 selbe meinen müßten. Trotzdem ist . Politisches System'etwas anderes als Staatsverfassung, . Ökonomisches System'etwas anderes als . Wirtschaftsordnung'. Wer von Struktur’ spricht, dem fällt es nicht schwer, sich ihre Veränderung vorzustellen. Wer statt dessen lieber von . Gestalt'spricht, befürchtet mit ihrer Veränderung ihre Zerstörung.

Der politisch unterschiedliche Sprachgebrauch beschränkt sich übrigens nicht auf die Unterscheidung von Fremdworten und deutschen Worten. Es gibt Konservative, die das Wort . Gesellschaft', mehr noch die adjektivische Form . gesellschaftlich'nach Möglichkeit meiden. Statt von Gesellschaft sprechen sie entweder von Staat oder von Volk, vom Gemeinwesen, von politischer oder sozialer Ordnung, von Lebensbedingungen. . Gesellschaft’ ist ihnen verdächtig, es sei denn, sie bezeichnet einen Unterschied zu Staat, an dem Konservativen bis heute gelegen ist Vollends dubios erscheint ihnen der Ausdruck . sozioökonomisch': Das klingt nach revolutionärer Veränderung, mindestens nach Politisierung und nach marxistischen Kriterien. Dieser Eindruck ist nicht falsch. Marx hat zusammen mit seiner Revolutionstheorie für die Entwicklung der Sozialwissenschaften Impulse gegeben, die bis heute bedeutsam sind. Die Vermeidung des Begriffs sozioökonomisch kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir die Bedingungen von Staat und Wirtschaft Privatheit und Öffentlichkeit, als . Faktoren'untersuchen, die voneinander abhängig sind, sich in ihrer Wirksamkeit verändern und also auch in Grenzen politisch zu beeinflussen sind.

Dieses Buch will die politische Funktion der Sprache selber zur Sprache bringen, mit anderen Worten: es will aufklären. Aufklärung war nicht nur die historische und philosophische Voraussetzung zur Entstehung der Demokratien, sondern bleibt für alle Zukunft ihre Bedingung. Die politische Theorie der Volksherrschaft geht vom Begriff eines aufgeklärten Volkes aus, und das bedeutet vornehmlich: ein über sich selbst, seine historischen, ökonomischen, sozialen Bedingungen aufgeklärtes Volk. Nur wer die Koordinaten seiner eigenen Existenz kennt, ist .frei', d. h. nicht abhängig von undurchschauten . Fremdbestimmungen'. Autonomie, Selbstbestimmung, ist die Voraussetzung der Demokratie und ihres Freiheitsverständnisses. Hier gilt es, sogleich ein schwerwiegendes Mißverständnis abzuwehren: als ob, wer die Bedingungen seiner Existenz kennt, diesen dadurch enthoben wäre. Diese Auffassung führt zu einem utopischen Freiheitsbegriff. Die Bedingungen bleiben vielmehr häufig bestehen, haben ihren Bindungscharakter jedoch verändert: Man kann seine rückwärtigen und gegenwärtigen Verbindungen in die Rechnung seines Lebens als bekannte Faktoren einsetzen. Das ändert die Weise der Angewiesenheit auf sie und gleichzeitig die Form der eigenen Identität: Man kennt sich nun als diese Person, mit dieser Herkunft, diesen Bedingungen, diesen Chancen.

Was für das individuelle Leben gilt gilt auch für Nationen: Nur wer die historischen Verwurzelungen und gegenwärtigen Abhängigkeiten kennt, ist .frei', d. h. fähig zur Orientierung und zur vorurteilsfreien Lagebeschreibung. Nur eine in dieser Weise freie Staatsgesellschaft kann aus der nüchternen Diagnose seiner . Verfassung'die richtigen Schlüsse ziehen. Nur wer Gefahren kennt, kann ihnen entgehen. Nur wer von seinen Chancen weiß, kann sie nutzen.

Ein Volk, das über die Bedingungen seiner Politischen Kultur im Dunkeln tappt, ist unmündig und zur Volksherrschaft schlecht gerüstet. Es hat Angst und läßt sich Angst machen. Es folgt Führern, deren Qualitäten es nicht beurteilen kann. Es fällt auf Demagogen herein, die ihm zum Munde reden. Es nimmt wissenschaftsgläubig technokratische Argumente für bare Münze und verzichtet auf die Prüfung angeblicher . Sachzwänge'. Es läßt sich Alternativen aufreden, welche die Situation nicht treffen. Es läßt sich in Sicherheit wiegen, wo es gilt, einer Gefahr zu begegnen. Es läßt sich zur Entscheidung zwingen, wo nicht entschieden, sondern abgewartet werden muß. Es beweist Langmut, wo Handeln erforderlich, und Entschlossenheit, wo Geduld am Platze ist. [... ]

Fussnoten

Fußnoten

  1. Murray Edelman, Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt a. M. 1976, S. 152.

  2. Ebd. S. 153.

  3. Wolfgang Bergsdorf, Politik und Sprache, München 1978, S. 76.

  4. Ebd. S. 74/75.

  5. Alle diese Beispiele bei Bergsdorf, a. a. O., S. 77—

  6. Walther Dieckmann, Sprache in der Politik. Einführung in die Pragmatik und Semantik der politischen Sprache, Heidelberg 1975, S. 41.

  7. Ebd. S. 106.

Weitere Inhalte

Martin Greiffenhagen, Dr. phil., geb. 1928, o. Professor für Politikwissenschaft an der Universität Stuttgart. Veröffentlichungen u. a.: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971, 19772; Demokratisierung in Staat und Gesellschaft (Hrsg.), München 1973; Freiheit gegen Gleichheit?, Hamburg 1975; Zur Theorie der Reform (Hrsg.), Karlsruhe 1978; Ein schwieriges Vaterland. Zur Politischen Kultur Deutschlands (mit Sylvia Greiffenhagen), München 1979.