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Protest als Programm. Aspekte der Öko-Bewegung | APuZ 26/1980 | bpb.de

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APuZ 26/1980 Kann man nur für oder gegen Kernenergie sein? Protest als Programm. Aspekte der Öko-Bewegung

Protest als Programm. Aspekte der Öko-Bewegung

Harry Tallert

/ 48 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Politische Auseinandersetzung mit der ökologistischen Ideologie kann nur sinnvoll sein, wenn sie sich der unvermittelten tiefen Gegensätze im Grundverständnis von Umwelt und Politik bewußt wird. Von einer Neigung der Herausgeforderten, sich dem Konflikt auf diese Weise zu stellen, ist noch wenig zu spüren. Stattdessen konzentrieren sie ihre Aufmerksamkeit auf die möglichen Störwirkungen der Grün-Bunten bei der kommenden Bundestagswahl. Es wird weitgehend übersehen, daß die — vordergründig betrachtet — geringe Quantität eines jetzt in Wahlen manifestierbaren Protestpotentials von etwa drei bis fünf Prozent über die Qualität der Herausforderung hinwegtäuscht, die in bestimmten Konstellationen einen weitaus größeren Teil des Sympathiepotentials jüngerer Wählerschichten von SPD und FDP, längerfristig aber auch der Unionsparteien, mobilisieren könnte. Die Parteien sehen in der vielschichtigen und diffusen Radikalität der Bewegung unauflösliche, die Handlungsfähigkeit der Bewegung lähmende Widersprüche. Sie verkennen, daß gerade diese widersprüchliche Offenheit die Bewegung befähigt, die unterschiedlichsten Teilinteressen unmittelbar Betroffener an den empfindlichsten Schwachstellen der Gesellschaft, ungeachtet der Verantwortung einer Güterabwägung, zu mobilisieren. Einer der wichtigsten Gründe für die Mißverständnisse um die ökologistische Bewegung ist eine spezifische Kommunikationsstörung zwischen den Altersgruppen der Jungen und jenen Altersgruppen, die das Ende des Zweiten Weltkrieges als Erwachsene oder Heranwachsende noch bewußt erlebt haben. Nach der Eigenart ihres Personals muß die Öko-Bewegung als das zur Zeit bedeutendste Experimentierund Aktionsfeld einer neuen Jugend-bewegung betrachtet werden. Die Parteien verkennen, daß der harte ideologische Kern der Bewegung mit dem Angriff auf die ökonomische Basis den Grundkonsens aufkündigt, der auf Gedeih und Verderb zur kontinuierlichen, sozialfriedlichen Egalisierung der Chancen von den Voraussetzungen abhängt, die die Leistungsfähigkeit und damit die Realisierbarkeit von Reformen bei wachsenden Ansprüchen sichern. Die ökologische Problematik stellt die Parteien vor die große Belastungsprobe, Schwierigkeitsgrade der Güterabwägung zu vermitteln, die das bisher als zumutbar angesehene Maß an Unpopularität bei weitem überschreiten. Sie können dieser Belastungsprobe nicht länger ausweichen, auch wenn plötzlich auftretende Einbrüche (wie die Afghanistan-Krise) oder eine als Reaktion auf solche Ereignisse ohne große Störung gewonnene Wahl das Interesse am ökologischen Thema — zeitweilig — aus den Schlagzeilen verschwinden läßt Die Parteien können sicher sein, daß das Thema bei nächster Gelegenheit wieder auftaucht, denn es bleibt eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Thema unserer Gegenwart und Zukunft

Die „Grünen" — nur Störfaktor oder vierte Partei mit Eigengewicht?

Sind die „Grün-Bunten“ eine modische Protest-bewegung, die nur wichtig bleibt, solange die Parlamentsparteien mit knappen Mehrheiten rechnen müssen, oder gewinnen die Okologi-sten in der Bundesrepublik und in anderen Industrieländern der westlichen Welt dauerhaftes politisches Eigengewicht? Signalisieren sie eine Erosion der parlamentarischen Demokratie, oder sind sie Folge eines Demokratisierungsprozesses und eines daraus wachsenden Anspruchs des mündigen Bürgers auf mehr Partizipation? Kalkulierbar ist heute, daß die grün-bunte Protestbewegung noch für unabsehbare Zeit ein Veto-und Störpotential zu binden vermag, dessen Nebenwirkungen in einem auffälligen Mißverhältnis zu ihrer eigenen politischen Machtlosigkeit stehen.

Die Bewegung bleibt ein Allzweck-Medium der Kritik an „den Etablierten", auch wenn — oder gerade weil — eine Grüne Bundespartei an unvereinbaren Gegensätzen scheitern könnte. Es schadet ihr offenbar wenig, wenn sie im Dauerstreit darüber liegt, wie denn, mit welchen Mitteln und konkreten Zielen, wogegen — geschweige denn für welche Art von Wirtschafts-und Sozialordnung der Kampf zu führen sei. Gezielte und chaotische extremistische Einmischungen konnten ihren Bestand zu keiner Zeit ernsthaft gefährden; sie hätten hierzulande jede Partei herkömmlicher Prägung längst zu Tode kompromittiert. Gleich was sie tut und wie sie dabei aussieht, die Bewegung scheint unabhängig von ihrem Ruf. Ihre Nahrung ist das „Unbehagen", wovon es stets reichlich gibt. Weil sie „jenseits aller traditionellen Ideologien" steht, kann sie den Verdruß sammeln, wie immer er motiviert wird und wo immer er vorkommt. Sie bündelt die unterschiedlichsten Bedürfnisse unter dem Fähnlein der Bedürfnislosigkeit. Ihre Angriffe mögen sich jeweils gegen die Verwendung von Kernenergie, die Zerstörung von Landschaften durch Straßenbau oder gegen in-dustrielle Tierhaltung wenden; der ideologische Kern der Bewegung gründet sich stets auf einer fundamentalen Kritik am System. Insofern ist das Repertoire unerfüllbarer Forderungen unerschöpflich. Die Parteien können sich noch soviel Mühe geben — niemals werden ihre sachpolitischen Kompromißlösungen von denen honoriert, die solche Ergebnisse an maximalistischen Erwartungen messen. Darum ist es ein Irrtum zu meinen, der Konflikt mit der Bewegung ließe sich sachpolitisch lokalisieren, etwa durch Teilverzicht auf Atomenergie. Denn der Kampf gegen die Kernenergie bedeutet dem Okologismus nicht Kampf um andere energiepolitische Prioritäten. Dieser Kampf wird verstanden als Heiliger Krieg gegen eine wissenschaftlich-technische Zivilisation. Atomkraft ist in dieser Sicht dämonischer Ausdruck der zuletzt mörderischen und selbstmörderischen Gesellschaft wirtschaftlichen Wachstums.

So kann politische Auseinandersetzung mit der ökologistischen Ideologie nur sinnvoll sein, wenn sie sich der unvermittelten tiefen Gegensätze im Grundverständnis von Umwelt und Politik bewußt wird. Von einer Neigung der Herausgeforderten, sich dem Konflikt auf diese Weise zu stellen, ist jedoch noch wenig zu spüren. Stattdessen konzentrieren sie ihre Aufmerksamkeit auf die möglichen Störwirkungen der Grün-Bunten bei der kommenden Bundestagswahl.

Bei knappen Mehrheitschancen genügen Stimmenverluste von ein bis zwei Prozent, um Sieg oder Niederlage einer der beiden großen Volksparteien mitzuentscheiden. Der Kern der Anhänger einer Grünen Partei, der Wahl-absicht in Stimmabgabe umsetzt, liegt nach Umfragen bei drei Prozent Aus dem weit gestreuten Sympathiepotential der Protestbewegung kann bei entsprechender Aktualisierung eines lokalen, regionalen, nationalen oder internationalen ökologischen Themas eine unbestimmte Zahl von Wählern der Partei ihrer eigentlichen Präferenz einen Denkzettel erteilen, aber nicht nur, indem sie Grün oder Bunt wählen, sondern auch, wenn sie erst gar nicht zur Wahl gehen.

Die Parlamentsparteien, zunächst die in der aktuellen Situation am stärksten bedrohten der sozialliberalen Formation, können kaum hoffen, Stimmen aus dem Kern der entschiedenen Anhänger der Bewegung zu gewinnen, jedoch wollen sie keine Anstrengung scheuen, entfremdete Wähler zurückzugewinnen, die bereits zu einer Stimmabgabe für die Grün-Bunten oder zur Stimmenthaltung tendieren. Sie versuchen dies vor allem auf zweierlei Weise:

— Eine argumentative Begründung der geplanten energie-und umweltpolitischen Prioritäten, Maßnahmen und ihrer Alternativen.

: — Die Verdeutlichung der Aussicht, daß für die Grün-Bunten abgegebene Stimmen und Stimmenthaltungen etwas ganz anderes als die damit verbundenen ökologiepolitischen Absichten bewirken können: einen Wahlsieg der Unionsparteien unter Führung von Franz Josef Strauß.

Beide Möglichkeiten sind nicht unproblematisch. In der Energie-und Umweltpolitik ist es mit der Kunst, hinhaltend zu argumentieren, um Zeit zu gewinnen und inzwischen Entscheidungen des Tuns und Lassens zu präjudizieren, nicht mehr getan. Anpassung durch Zurückweichen würde kaum überzeugen und zudem die Sympathien einer vielleicht größeren Zahl von Wählern aufs Spiel setzen, die der Unverbindlichkeit angeblich offener Optionen müde geworden sind. Zweifellos reicht auch eine Verkürzung der inhaltlichen Auseinandersetzungen zur personalen Alternative einer Bundesregierung Schmidt oder Strauß nicht aus. Andererseits lehrt die Erfahrung, daß die Mobilisierungskraft einer Partei entscheidend von der Einschätzung der Personen abhängt, die Partei und Programm an der Spitze repräsentieren. Personale Alternativen und Sachprogramme lassen sich voneinander nicht trennen, wohl aber können Wähler mit schwankender Parteipräferenz geneigt sein, sachliche Kritik in Einzelfragen zu relativieren, wenn sie alles in allem eine Entscheidung für oder gegen eine Person an der Spitze treffen, die ihnen eher sympathisch oder unsympathisch ist. Wählerverhalten ist nicht von exakt zu unterscheidenden rationalen und emotionalen Motiven bestimmt, sondern rationale Motive sind immer auch emotional besetzt und umgekehrt. In der aktuellen Situation, in der wenige Stimmen den Ausschlag für das Ergebnis der Bundestagswahl geben können, ist die personale Alternative aus allgemeiner politischer Sicht vielleicht der wichtigste aller Entscheidungsgründe.

In welchem Maße trifft dies jedoch auch auf die potentiellen Wähler der Grün-Bunten zu? Seitdem die Protestbewegung mit den Ergebnissen der Landtagswahlen in Bremen und Baden-Württemberg bewiesen hat, daß für sie die Fünf-Prozent-Hürde kein unüberwindliches Hindernis ist, scheint der Einzug auch in den Bundestag nicht mehr ausgeschlossen. Jedenfalls hat — ungeachtet der Schwankungen des Meinungsklimas — das Argument der „weggeworfenen" grünen und bunten Stimmen, die in Schleswig-Holstein Stoltenbergs Wahlsieg über die auf Gegnerschaft zur Kernenergie festgelegten Sozialdemokraten sicherten, an Überzeugungskraft eingebüßt. Die Frage ist also, ob man Sympathisanten der Grün-Bunten noch mit dem Argument erreicht, ihre Wirkung auf Wahlergebnisse sei im Verhältnis zu ihren Zielen kontraproduktiv.

Die nach den Wahlen in Bremen und Baden-Württemberg selbstbewußter gewordenen Okologisten fühlen sich als niemandes Hilfstruppe. Ihre Zielvorstellung ist strategisch auf einen langfristigen Bewußtseinswandel gerichtet. Taktisch setzt dieses Konzept auf die spektakuläre Verdeutlichung eines Zustandes der Immobilität der großen Volksparteien. Das dazu passende Wunsch-Szenario: eine Pattsituation in Bonn, in der sich eine Minderheitsregierung der SPD auf die Stimmen einer Grünen Sperrminorität stützen müßte. Sollte jedoch eine Pattsituation eintreten, ist es wahrscheinlicher, daß sich ein solcher Bundestag alsbald wieder auflösen würde, nachdem er zuvor das Mehrheitswahlrecht beschlossen hätte. Auch dann aber wären die Volksparteien die Pression keineswegs los. Die SPD müßte, um mehrheitsfähig zu sein, versuchen, einen möglichst großen Teil des Grün-Bunten Sympathiepotentials zu integrieren, wobei sie stets Gefahr liefe, einen vielleicht noch größeren Teil jenes Sympathiepotentials zu verlieren, der den dazu notwendigen Wandel nicht mitmachen will. Im übrigen wäre eine Pattsituation in Bonn auch nach Einführung des Mehrheitswahlrechts nicht ausgeschlossen. Wie auch immer die nächste Bundestagswahl ausgehen mag — die Auseinandersetzung mit den komplexen Ursachen und Wirkungen, die zu einer Verweigerung vor allem von Teilen der jungen Generation geführt haben, wird keiner der „alten" Parteien erspart bleiben.

Kontinuität der Jugendrevolte

Einer der wichtigsten Gründe für die Mißverständnisse um die ökologistische Bewegung ist offenbar eine spezifische Kommunikationsstörung zwischen den Altersgruppen der Jungen und jenen Altersgruppen, die das Ende des Zweiten Weltkrieges als Erwachsene oder Heranwachsende noch bewußt erlebt haben. Dies gilt in besonderem Maße für den Bruch zwischen Vorkriegsund Nachkriegsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Es gibt zahlreiche Beispiele für die Beobachtung, daß sich Konflikte im Generationenverhältnis in Zeiten raschen Wandels verschärfen. Gegenwärtig haben sich Veränderungsprozesse in einer nie zuvor gekannten Weise beschleunigt. Die allgemeine Orientierungsschwäche steigert sich im Generationenverhältnis, wo „die Tatsachen des Lebens" von Jungen und Älteren auf scheinbar untereinander kommunikationslosen Verständnisebenen rezipiert werden. Wie einer seine sozioökonomische Umwelt aufnimmt und wertet, unterliegt in starkem Maße Einflüssen der Zeit und der Umgebung, die sein politisches Sensorium geprägt haben. Vergleicht man die Bedingungen der Vorkriegszeit, der nationalsozialistischen Diktatur, des Krieges, des Nachkriegselends, des Aufbaus einer rechts-und sozialstaatlichen Demokratie zur Wirtschaftsmacht Bundesrepublik mit den Gegebenheiten der in die Wohlstandsdemokratie hineingewachsenen jungen Generation, so bedarf es kaum eines theoretischen Modells des Wertwandels, um die höchst unterschiedlichen Voraussetzungen zu erkennen, die das Bewußtsein der Älteren und der jungen Generation fortwirkend beeinflussen. Der Schwierigkeitsgrad der Kommunikationsstörung im Generationen-verhältnis zeigt sich häufig als wilde Polemik oder als Sprachlosigkeit. Diese breiten sich aus, wenn sich generationsspezifisch gefilterte Wahrnehmungen der einen oder der anderen nicht mehr in einer gemeinsamen Sprache synchronisieren lassen.

1933— 1945 ist eine Bruchstelle im Generationenverhältnis, die noch heute verdrängt wird. Sie wirft Fragen auf, die nicht wenigen der Älteren unerträglich scheinen. Die Unfähigkeit, auf diese Fragen zu antworten, hat aber ihren Preis. Dieser Preis, der spätestens seit der Jugendrevolte der sechziger Jahre eingefordert wird, ist die moralische Legitimationskrise jener, die als aktive oder passive Zeitgenossen das Hitlerreich erlebten, sich aus eigener Kraft nicht von ihm befreien wollten oder konnten und nach seinem totalen Niedergang die neue Republik aufbauten.

Die erste Bedingung des Grundkonsenses unserer Nachkriegsgesellschaft war die Konzentration aller Kräfte auf die Fähigkeit des über-lebens. Angesichts der elementaren materiellen Nöte ist es allzu billig zu sagen, daß den Überlebenden der Katastrophe das Fressen wichtiger war als die Moral. Moral hat mit dem Hunger zu schaffen, aber richtig ist auch, daß ein Verhungerter ihrer nicht mehr bedarf. Richtig ist, daß die Notwendigkeit des überlebens zunächst alle Kräfte absorbierte. Die Moralfrage nach den Konsequenzen der Verantwortung für die jüngste deutsche Vergangenheit wurde erst auf die Probe gestellt, als die noch einmal Davongekommenen handlungsfrei wurden, der neuen Republik eine Verfassung zu geben und die Konsequenzen ihres politischen Willens an der Wirklichkeit dieser Verfassung zu erweisen. Sie haben diese Probe bisher nicht schlecht bestanden. Man wird der Sache nicht gerecht, wenn man Taten wie die gesetzliche Wiedergutmachung nur als materielle Leistungen wertet, die keine schmerzlichen Opfer forderten und zudem dem Wieder-eintritt der Deutschen in die Völkergemeinschaft förderlich waren. Viel wichtiger war, daß frei gewählte Abgeordnete sich mit diesem Gesetzeswerk zur Kontinuität der Verantwortung dessen bekannten, was im Namen der Nation geschehen ist und geschieht. Ohne eine Kontinuität solcher Verantwortungsbereitschaft kann es keine nationale Kontinuität geben. Das ist für Sieger unproblematisch, weil die Schuldfrage am Sieg keine Rolle spielt; es geht höchstens darum, wer zum Siege am meisten beigetragen hat.

Im Falle der totalen Niederlage von 1945 waren alle Deutschen besiegt, nicht nur die Aktivisten, Nutznießer, Mitläufer und apolitischen Pflichttuer, sondern auch die deutschen Gegner des Regimes, deren Kraft nicht ausreichte, um die Katastrophe durch eine Befreiung von innen zu verhindern. Daß die Deutschen sich mehrheitlich nicht vom Nationalsozialismus befreien, sondern den Krieg mit all seinen Konsequenzen lieber gewinnen als verlieren wollten, daß eine später wachsende Minderheit dagegen machtlos blieb, dies ist eine Tatsache unserer Geschichte, auf die alle Besiegten — unabhängig von ihrer individuellen Rolle — mit einem Abwehrsystem von Verdrängungen reagierten. Gemeinsam ist diesen Verdrängungen der Realitätsverlust in der Erinnerung an die eigene Rolle im alltäglichen Leben dieser Zeit. Auffällig ist dabei auf allen Seiten die Neigung, den eigenen Anteil zu verkleinern, während der Anteil nationalsozialistischer Führermacht nicht rational erklärt, sondern magisch überhöht wird. Letzteres gilt auch für eine Betrachtungsweise, die diese magischen und dämonischen Eigenschaften zwar nicht dem Führer des Dritten Reiches, aber dem krankhaften Auswuchs seines „Klassencharakters" zuschreibt Der Zweck dieser Überhöhung des als schicksalhaft ausgewiesenen Magischen dient der Verkleinerung des damals entscheidungsfähigen persönlichen Anteils in der jeweiligen Verlaufsphase dessen, was wirklich geschehen ist. Jeder der Davongekommenen wird die Identität seiner damaligen Handlungen und Unterlassungen dort wiederfinden, wo sie ihm gerade noch erträglich erscheinen. Die Lähmung des Erinnerungsvermögens ist die Furcht vor dem Schmerz, wo er unerträglich wird.

Die damals lebten und davonkamen, haben sich nach dem Grad ihrer Verstrickung Abwehrmechanismen geschaffen, die sie davor schützen, die Tabugrenzen vor dem Anblick des für sie Unerträglichen zu überschreiten. Wer als Richter Urteile sprach, wer als Anwalt verteidigte, als Erzieher wirkte, wer als Polizist seinen Dienst versah, oder bei der Reichs-bahn seine Pflicht tat, wer in den Betrieben und Büros schaffte, wer Nachbarn hatte, die plötzlich verschwanden: sie alle sind Betroffene durch das, was sie taten und unterließen — mittelbar und viele unmittelbar, Akteure, Mitwisser oder Ignoranten des Grauens. Und für viele unter ihnen gibt es Fragen über ihr damaliges Verhalten, die sie sich auch heute, so lange danach, noch nicht zu stellen wagen.

Die Bedingung des Grundkonsenses aller Davongekommenen war zuerst die unausgesprochene Übereinkunft, die gegenseitigen Tabu-grenzen zu achten. Nur auf diese Weise konnte eine neue Solidargemeinschaft aller überlebenden aufrechterhalten werden, die den Weg freimachte in eine bessere Zukunft und die Frage der Kontinuität einer deutschen Nation offenhielt. Die Legitimation dieser Übereinkunft ist nach der Höhe des Preises ein noch heute nicht einlösbarer Wechsel auf die Qualität unserer Zukunft. Diese Legitimation kann nur wachsen mit unserer Fähigkeit, das Versprechen der ersten Stunde nach dem Überleben zu erfüllen: eine demokratische Ordnung zu schaffen, in der das Unerträgliche nie wieder geschehen darf.

Ein Teil der jungen Generation will die Tabugrenzen nicht länger hinnehmen. Die Jungen fühlen sich als national Mithaftende, an der Vergangenheit aber nicht Beteiligte, berechtigt, nach den Ergebnissen des Versprechens der ersten Stunde der neuen Republik zu fragen. Sie werten diese Ergebnisse nach den Gesichtspunkten ihrer eigenen generationsspezifischen Prägung, die sich elementar von der Prägung der Älteren unterscheidet. Ein Teil von ihnen sieht fassungslos und angewidert die Hartnäckigkeit, die Ausflüchte und die Schönfärberei, mit der viele Ältere so lange danach noch immer (und weil es schon so lange her ist, jetzt erst recht) die Antwort darauf verweigern, wie es denn wirklich war. Da man die vorenthaltenen Antworten inzwischen zu kennen glaubt, ist für die vorwiegend schweigende ältere Generation die Chance weitgehend vertan, mit ihren persönlichen Erfahrungen ein differenziertes Urteil zu vermitteln. Dies ist nur vereinzelt geschehen und hatte wenig Einfluß auf die Meinungsbildung der jungen Generation. Die Folge ist, daß die Einschätzung der moralischen Glaubwürdigkeit der älteren Generation, scheinbar unabhängig von der politischen Einstellung der Jungen, einen Tiefstand erreicht hat und über Äußerungen des Mißtrauens bis zu unversöhnlicher Feindseligkeit bisweilen pathologische Züge annimmt.

Der extremste Auswuchs solcher Polarisierung zeigte sich in der terroristischen Bewegung der Bundesrepublik. In ihrem Selbstverständnis fühlten sich diese Terroristen als legitime volksrevolutionäre Gegenmacht zur usurpierenden Macht von Vertretern der älteren Generation, die sie in der Kontinuität des Verbrecherregimes sahen. Deren Reaktion auf die Anwendung von Gewalt sollte diese Kontinuität entlarven. Der eruptive Haß, mit dem manche aus der älteren Generation auf diese Anschläge reagierten, ging über das Maß an Empörung, die man Mordtaten sonst entgegenbringt, weit hinaus. Er läßt darauf schließen, daß hier bei manchen älteren Zeitgenossen Schichten ihres Bewußtseins freigelegt wurden, die sie bis dahin hinter Verdrängungsmechanismen verbargen. Dieser Augenblick war eine Bewährungsprobe der demokratischen Belastbarkeit der Bundesrepublik, deren Grenzen nun sichtbar wurden. Es zeigte sich aber auch, daß die Republik dieser Belastungsprobe gewachsen war, daß sie angemessen reagieren konnte, obwohl sich seither das innenpolitische Klima verdüsterte und einige eilig verabschiedete Gesetze und der Stil von manchen Beobachtern schon Polizeiaktionen am Rande der Ausschöpfung rechtsstaatlicher Möglichkeiten zur Verteidigung des Staates zu liegen schienen.

Die notwendige Stärkung der Staatsmacht, die aus guten Gründen auf die Präsenz ihrer äußersten Machtmittel nicht verzichten darf, wenn sie nicht Selbstmord begehen will, zeigte von neue in einem nun an die Republik unfreundlicheren Licht. Der Zustand, den man vorher fälschlich mit einer Idylle verwechselt hatte, verwandelte plötzlich in häßliche sich Normalität. Zudem schwand mit der weltwirtschaftlichen Krise — obwohl die Bundesrepublik ihren Spitzenplatz wirtschaftlicher Stabilität behaupten konnte — die Möglichkeit für weitere kostenintensive Reformen. Die politische Wetterlage für solche Reformen kippte um. Arbeitslosigkeit breitete sich aus, von der sich vor allem Jugendliche und zu spät gekommene Anwärter akademischer Berufe betroffen sahen. Zusammen mit der vornehmlich von den Jungen reklamierten allgemeinen Einengung von Liberalität vermittelte sich das Bild einer je nach Standpunkt höchst unterschiedlich gewerteten Diese „Tendenzwende". Wende markiert den Punkt des Umschlags einer Politik, die Zuwächse zu konnte, verteilen einer Politik, die notgedrungen den Status quo verteidigen muß, um den Status quo minus zu verhindern oder wenigstens abzumildern. Sie führte zu einem Frontalzusammenstoß mit den hochgespannten Reformerwartungen einer vorwiegend permissiv erzogenen jungen Generation. Hatte sie schon zu Zeiten der Reformpolitik die „Defizite der Demokratiepolitik" gegenüber der „einseitigen Stärkung wirtschaftlicher Machtstrukturen“ beklagt, so schien ihr nun ein neues Zeitalter der „Gegenreformation" angebrochen.

Zu diesem Zeitpunkt bot sich ein neues ideologisches Medium zur Sammlung der Opposition gegen das System der den „Status quo verwaltenden" älteren Generation. Die ideologische Reichweite dieses Mediums und seine vielfältigen Möglichkeiten der Instrumentalisierung eröffneten die Chance, das System dort anzugreifen, wo es am verwundbarsten ist: die Nachhut der Jugendrevolte entdeckte den Okologismus.

Nach der Eigenart ihres Personals muß die ökologistische Bewegung als das zur Zeit bedeutendste Experimentier-und Aktionsfeld einer neuen Jugendbewegung betrachtet werden. Fast alle wichtigen Elemente der Jugend-revolte der sechziger Jahre lassen sich in der Ökobewegung leicht wiedererkennen.

von „Kontinui P. C. Meyer-Tasch spricht dem -tätsfunken", der von der Studentenbewegung und der Außerparlamentarischen Bewegung übersprang. Die Bürgerinitiativbewegung war der Kristallisationspunkt der ökologistischen Bewegung.

„Im übrigen aber veränderten sich sowohl das Subjekt als auch die Objekte des (theoretischen und Engagements. War es zuvor eine politisch mehr oder minder eindeutig zu verortende Aktivistenschar, die den Versuch unternommen hatte, eine Gegen-macht aufzubauen, so drängten nun in wachsendem Bürger jeglicher Herkunft und Gesinnungsart auf die außerinstitutionellen Foren politischer Kommunikation ... Daß sich gegen die Verabschiedung der von einer Großen Koalition befürworteten Notstandsgesetze und gegen die Fortführung des Vietnam-krieges nur im Schoße ganz bestimmter politischer Gruppierungen und nur an ganz bestimmten Orten breit angelegter Widerstand formieren ließ, liegt auf der Hand. Fehlende Kindergärten aber, übergroße Schulklassen, landschaftszerstörende Wohntürme und umweltvergiftende Industrieansiedlungen (schließlich und vor — allem Kernkraftwerke Anm. d. Verf.) wurden von beinahe jedermann als empfunden." Ärgernis

Mit dem Okologismus ist den Erben der Jugendrevolte ein ideologisches Medium zugefallen, das die Mobilisierung einer Massenbasis persönlicher Betroffenheit verspricht. Initialzündung dieser Mobilisierung sind die Probleme vor jedermanns Haustür und damit Wirkungen, die die Studentenbewegung mit ihren die breite Öffentlichkeit eher exotisch anmutenden Themen nie hätte erreichen können. Ideologisch und in Aktion präsentiert sich die Bewegung in ihrem harten Kern und in ihrem Sympathiefeld als die Fortsetzung der Jugendrevolte. Was wäre die ökologistische Bewegung ohne sie?

Komponenten der Protestbewegung

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich bei einem Versuch zu einer Typologie der ökologistischen Bewegung folgende Komponenten erkennen: 1. Unzufriedene Reformer und Reformisten (noch) innerhalb der SPD und FDP (vorwiegend bei Jungsozialisten und Jungdemokraten); Unzufriedene dieser Richtung im Sympathiepotential dieser Parteien, die bereits schwanken, ob sie ihre bisherige Parteipräferenz aufgeben wollen; Kernenergiegegner, Umwelt-und Naturschützer außerhalb der Parteien, die für einen wirksameren Umweltschutz eintreten und zu diesem Zweck das Vetopotential der Bewegung stärken, um die Parteien durch wachsenden Druck zu Kurskorrekturen ihrer Okologiepolitik zu veranlassen. Sie alle wollen das vorgefundene System tief-greifend verändern, aber nicht abschaffen. Sie sind der Meinung, daß es nur so erhalten werden kann.

2. Revolutionäre, die das System zerstören wollen, weil sie glauben, daß es ohne Zerstörung des Systems keine realen Möglichkeiten für radikale Veränderungen gibt. Hier ist zu unterscheiden zwischen jenen, für die eine Revolution zur Verwirklichung menschheitsrettender ökologischer Forderungen unvermeidlich ist und jenen, die das Vehikel des Okolo-gismus als das zur Zeit wirksamste zur Vorbereitung einer Revolution ansehen, die sie aus ganz anderen Gründen wünschen.

3. Mystiker auf der Suche nach einer neuen Offenbarung. Für sie ist die wissenschaftlich-technische Zivilisation der Ausdruck des Lebensfeindlichen, Zerstörerischen und der Okologismus der Leitstern einer Rückkehr zu einem Leben „im Einklang mit der Natur“.

Aussteiger aus dem System einer Wettbewerbsgesellschaft, die mit wachsender Egalisierung der Chancen einen Leistungsdruck erzeugt, der die Belastungsgrenze permissiv erzogener, an problemlose rasche Gratifikationen gewöhnter und nun frustrierter Aufstiegs-aspiranten überschreitet.

5. Vorpolitisch geprägte Verdrossene, bereit, jede Bewegung zu unterstützen, die sich gegen das ihnen unverständliche und moralisch verwerflich erscheinende System der „Parteienwirtschaft" wendet.

Atomwaffen sind kein Mobilisierungsfaktor

Eine so vielgestaltige Bewegung kann nicht den Zweck verfolgen, Wege und Ziele zu definieren. Sie wird Wege und Ziele so weit umschreiben, daß möglichst viele Menschen unterschiedlichster Auffassungen und Interessen sich jeweils darunter vorstellen können, was immer sie mögen. Andererseits ermöglicht gerade die Komplexität ihrer Thematik, sich auf Teilaspekte zu konzentrieren, die jeweils die günstigste Konstellation für die Interessenmobilisierung an einem Brennpunkt bieten. Das instruktivste Beispiel solcher Interessenmobilisierung ist der Kampfgegen die friedliche Nutzung von Nuklearenergie. Die Wirkung dieser als Ein-Punkt-Sache mißverstandenen Forderung liegt in der kompromißlosen Form, in der sie vertreten wird. Eine differenzierende Sachauseinandersetzung um die Fragen, in welchem Maße Kernenergie mangels alternativer Möglichkeiten der Energiegewinnung unter welchen Sicherheitsbedingungen zu produzieren wäre, muß an der Ablehnung jeglicher Produktion dieser Energie scheitern. Es geht dabei immer um Alles oder Nichts, um Leben oder Tod. Infolgedessen spielen auch die Umweltschäden alternativer Energiegewinnung — wie aus Kohle — für diese Fundamentalopposition überhaupt keine Rolle. Sie verweist demgegenüber auf potentielle umweltneutrale Möglichkeiten der Energiegewinnung, die entweder in absehbarer Zukunft — wo Energie dringend benötigt wird — noch nicht oder nicht in annähernd ausreichender Form zur Verfügung stehen. Jeder sachliche Einwand in dieser Richtung wird als grobe Irreführung zurückgewiesen.

Die Eigenart dieser auf Emotionalisierung und Mobilisierung angelegten Strategie wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt, welche Gründe die Bewegung davon abhalten, die atomare Bewaffnung und die Lagerung von Atomwaffen mit der gleichen Intensität zu bekämpfen wie die friedliche Nutzung der Kernkraft Zur friedlichen Nutzung von Nuklear-energie heißt es im Europawahlprogramm 4) der Grünen: w .. eine Fortführung des . Paktes mit dem Teufel', nämlich mit dem Atom, (ist) überflüssig. Alternative Energiekonzepte anstelle atomarer Gefährdung! In der energiepo-litischen Auseinandersetzung muß der . Internationale der Atomenergieantreiber'ein internationaler Widerstand entgegengesetzt werden." Dagegen klingen die Forderungen, die sich auf Atomwaffen beziehen, recht moderat Hier ist nicht von Widerstand die Rede, sondern von Verhandlungen, Schritten und weiteren — aber nicht totalen — Verboten. Das Programm proklamiert „Gewaltfreiheit", nennt sich jedoch nicht pazifistisch. Daß „nur eine ökologische Politik im Sinne dieses Programms ... die Kriegsgefahr beseitigen kann, die aus dem Kampf um die knapper werdenden Rohstoffe zwangsläufig entsteht“, war nicht anders zu erwarten. Viel interessanter ist, daß die Ablehnung nuklearer Waffen in einer konventionellen Sprache ausgedrückt wird, die sich wenig von der anderer Parteien unterscheidet Die Ablehnung bleibt im prinzipiellen Bereich. Dagegen wird der Widerstand gegen die friedliche Nutzung von Nuklear-energie, der Widerstand gegen den „Teufelspakt" als Aktion gefordert und — wie wir erlebt haben — auch praktiziert Denn „die Plutoniumwirtschaft bedroht die Zukunft der Menschheit". Die Anhäufung nuklearer Waffen wird in diesem direkten Zusammenhang nicht erwähnt Der Anti-Kernkraft-Bewegung ist es in der Bundesrepublik noch kaum in den Sinn gekommen, gegen militärische Nukleareinrichtungen zu demonstrieren. Dies tat zu Zeiten die Bewegung „Kampf dem Atomtod". Nachdem die Öffentlichkeit bald das Interesse daran verlor, hatte kaum jemand die Neigung, diese Kampagne fortzusetzen. Zahlreiche ihrer damaligen Anhänger sind tonangebend heute in der ökologistischen Bewegung zu finden. Sie sehen offenbar keinen Grund, die alte Sache wieder aufzunehmen. Lieber kämpfen sie in Gorleben gegen eine nukleare Entsorgungsanlage als gegen eine militärische nukleare Rüstung, deren Vernichtungspotential, seitdem der Kampf gegen sie nicht mehr werbewirksam und massenmobilisierbar ist, sich noch ungeheuer vervielfacht hat, und deren Beschleunigung in unseren Tagen wieder zunimmt. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären? Die ökologisten werden uns sagen, es handele sich keineswegs um einen Widerspruch, sondern es sei falsch, zwischen friedlicher und militärischer Nutzung der Kernenergie zu unterscheiden; denn erstens fördere die Verbreitung angeblich zu friedlichen Zwecken genutzter Atomenergie die weitere Verbreitung von Atomwaffen, und zweitens käme ein in Wiederaufbereitungsanlagen nicht auszuschließender Großunfall einem Völkermord gleich

Aber selbst wenn die absurde Gleichsetzung der Gefahr des militärischen, zweckbestimmt destruktiven, mit dem unter höchsten Sicherheitsstufen zur Stromerzeugung bestimmten Material zuträfe, bliebe der Widerspruch, aus welchen Gründen man sich dem militärischen Komplex mit vergleichsweise wohlgesetzten Worten zuwendet, während der Aspekt der friedlichen Nutzung von Nuklearenergie zu aktiver Notwehr berechtigen soll. Die Antwort, daß die zivilen im Gegensatz zu militärischen Anlagen in der Reichweite von Demonstrationen liegen und daß man nur die Errichtung ziviler Anlagen verhindern könne, ist nicht überzeugend. Man kann gegen Regierungen und parlamentarisch Verantwortliche demonstrieren, die über die Waffensysteme beschließen, verfügen oder ihre Lagerung zulassen. Daß dies — wenn es um die nuklearen Waffen geht — nicht oder in vergleichsweise nur geringer Lautstärke geschieht, macht deutlich, daß die ökologisten ausschließlich dort zur Aktion schreiten, wo sie eine Massenmobilisierung erwarten können.

Ein Angriff auf die Verteidungsfähigkeit wäre — wenn er sich der gleichen Methoden bediente wie der Kampf gegen die Kernkraftwerke — ein offener Angriff auf das System. Der Angriff auf die ökonomische Basis des Systems aber läßt sich deklarieren und mißverstehen als Kampf um die Erhaltung der Umwelt Was es wirklich mit diesem Kampf auf sich hat, bleibt jedoch keineswegs verborgen, wenn behauptet wird, daß „die Atomenergie die Demokratie und die menschlichen Grundrechte (bedroht), da die hohen Sicherheitsvorkehrungen (Sabotageanfälligkeit) nur von einem totalitären Überwachungsstaat unter Kontrolle gehalten werden (können)" Planen die Herren also in Wirklichkeit nicht die Energieversorgung, sondern den Staatsstreich? Aber nein, dies wollen die ökologisten nicht unbedingt unterstellen. Die Herren seien nur unfähig einzusehen, daß sie das Unfallrisiko eines Völkermords auf sich nähmen und eine Entwicklung in Gang setzten, die eigengesetzlich in einen totalitären Überwachungsstaat führen müsse. Darum sei der Kampf um die Erhaltung der Umwelt der Kampf um die Erhaltung der Demokratie.

Damit sind wir wieder bei der mobilisierungsfähigen Verengung auf Umweltschutz, wobei der Kampf gegen die ökonomische Basis des Systems im Hintergrund bleibt. Ohne die Verengung auf diesen Teilaspekt blieben die Kämpfer gegen das System eine winzige Minderheit. Die Bauern von Gorleben würden niemals auf die Straße gehen, um die ökonomische Basis der Wohlstandsdemokratie anzugreifen, in der und von der sie leben. Sie wollen Gorleben in Gorleben verhindern.

Der Mobilisierung an einem Brennpunkt ist es also höchst förderlich, wenn die Bewegung als Single-Issue-Movement auftritt. Nur so können die Energien jener mobilisiert werden, die wirklich an dieser einen Sache interessiert sind. Sie engagieren sich als unmittelbar Betroffene der Sache, gegen die sie kämpfen oder für die sie eintreten, gleich, ob es sich um Kernkraftwerke, Industrieansiedlungen, den Bau von Straßen und Flughäfen, Fragen der Stadtsanierung, Tierschutz oder worum auch immer handelt. Eine Instrumentalisierung dieser verschiedenen Interessentenkreise ist gerade deshalb so wirksam, weil sie in keiner Weise eine Identifizierung mit dem ideologischen Kern der Bewegung voraussetzt. Überall, wo das ideologische Gesamtziel durch mangelnde revolutionäre Selbstbeherrschung in den Vordergrund gerückt wurde, kam es zu Spaltungen, weil die sachbezogenen Streiter rasch merkten, daß man sich ihrer zu eigentlich ganz anderen Zwecken bedienen wollte. Andererseits will der harte ideologische Kern seine Hauptsache nicht aufgeben: die Möglichkeit einer je nach Wirksamkeit zu treffenden Auswahl von Einzelkriegsschauplätzen an solchen Brennpunkten der Gesellschaft, die eine Bündelung unterschiedlicher Interessen versprechen.

Der harte ideologische Kern steht also vor der Frage, entweder zu lernen, auf die überbeto-nung seines Anspruchs in der Hauptsache zu verzichten — wozu ihn, wie wir gehört haben, Rudolf Bahro aufgefordert hat — oder fortlaufende Spaltungen zu riskieren, die schließlich zum Verlust der Aktionsbasis und in die Isolierung führen müßten.

Das Scheitern einer Grünen Partei wäre jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Scheitern der Bewegung selbst. Das Vetopotential kann auch ohne Bundespartei und auch ohne regionale Beteiligung an Wahlen funktionieren. Möglicherweise könnte es sogar besser funktionieren, wenn organisierte Bürgergruppen, die auf eigene Wahllisten verzichten, den „etablierten" Parteien mit Stimmenentzug drohen. Außerdem ist dieses Potential stark genug, jederzeit wieder neue Listenverbindungen oder Kleinparteien hervorzubringen. Die Verwirklichung der Drohung, den „Etablierten" parlamentarisch Konkurrenz zu machen, deutet also eher auf den schwächsten, vermutlich kontraproduktiven Teil eines reichhaltigen Instrumentariums. Ihr Wert liegt vor allem im Ankündigungseffekt, in der Furcht der betroffenen Parteien, jene Stimmen zu verlieren, die bei knappen Mehrheitskonstellationen über Sieg oder Niederlage entscheiden.

Der Bundesverband der Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) beobachtet die neue Grüne Partei mit Sympathie, legt aber Wert darauf, seine parteipolitische Unabhängigkeit zu betonen. In einem Grundsatz-Kommentar über

Der BBU und die Umweltparteien

„das Verhältnis der Bürgerinitiativen Umweltschutz zu den Umweltparteien" erklärte der geschäftsführende BBU-Vorsitzende Hans Günter Schumacher: „Der BBU steht schon deshalb diesen umweltpolitischen Gruppierungen nicht unbeteiligt und ohne inneres Engagement gegenüber, weil ihm ... ein hohes Maß an Vaterschaft zuzubilligen ist Wenn er trotz ...seiner satzungsmäßigen Verpflichtungen zur Überparteilichkeit eine gewisse öf19 fentliehe Zurückhaltung an den Tag legt, so geschieht dies in dem Bewußtsein, daß es in erster Linie Aufgabe des BBU ist, die Bürgerinitiativbewegung als Basisbewegung zu stärken und zu erhalten, und allem entgegenzuwirken, was eine Schwächung bedeuten könnte. Als außerparlamentarische Kraft müssen Bürgerinitiativen Umweltschutz bestehen bleiben. Es kann also nicht darum gehen, daß sich Bürgerinitiativen und Umweltparteien miteinander identifizieren. Jeder für sich sollte eine gewisse Eigendynamik bewahren beziehungsweise entwickeln und als politische Kraft wirken. Überparteilichkeit kann jedoch nicht mit politischer Enthaltsamkeit verwechselt werden, sondern gestattet durchaus Parteinahme für Kandidaten und deren Ziele, wenn diese denen des BBU und seiner Mitgliedgruppen entsprechen".

Damit läßt es der BBU durchaus offen, auch Kandidaten der „etablierten" Parteien zu unterstützen, wenn sie die Ziele des BBU vertreten. Er kann also nicht nur mit der Drohung eines Stimmenentzugs auf die Parteien einwirken, sondern auch Einfluß auf einzelne Kandidaten und Gruppen der jeweiligen innerparteilichen Opposition ausüben. Dies ist ein sehr wirksames Mittel, auf das er verzichten müßte, wenn er sich offen mit Umweltparteien identifiziert. Auf der Landeskonferenz der rheinland-pfälzischen Jungsozialisten in Monzingen bei Bad hat der den Bundestag BBU-Sprecher im vertretenen Parteien erneut vorgeworfen, sie hätten es bisher nicht verstanden, eine zukunftsorientierte Umweltpolitik kontinuierlich und glaubhaft zu verwirklichen

kündigte Schumacher an, der BBU wolle im Bundestagswahlkampf aufzeigen, „wer die wahren der Bürgerinitiativen und Gegner sind in wer sich unserem Lande ständig gegen eine demokratische Öffnung im Sinne einer richtig verstandenen Bürgerbeteiligung sperrt". Dabei gäbe es nur noch geringe Unterschiede zwischen den Bonner Koalitions-und Oppositionsparteien. Falls die Parteien die Forderungen der Bürgerinitiativen nicht aufgriffen und verarbeiteten, könnte noch vor den Bundestagswahlen eine Situation entstehen, „in der die inhaltlichen Aussagen des BBU nur noch deckungsgleich mit denen einer . Grünen Partei sind, was de facto dann als alleinige Unterstützung dieser Partei ausgelegt werden könnte. Das aber wolle der , BBU absolut nicht"', versicherte Schumacher, der, wie die Frankfurter Rundschau berichtete, „nach seinem Referat mit Ovationen überschüttet" wurde.

Jusos und Judos — Partner der Grünen?

Johano Strasser, Mitglied der Grundwerte. Kommission der SPD und einer der Wortführer der Parteilinken, erklärte in einem Interview daß die SPD-Linke stärker geworden sei als auf dem Hamburger Parteitag vor zwei Jahren, zeige sich an der Abstimmung auf dem Berliner Parteitag 1979 über die Kernenergie-politik, bei der sich 41 Prozent der Delegierten für den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie ausgesprochen haben.

Auf die Frage, ob sich die Linken in der SPD mit dem Mehrheitsbeschluß zur Kernenergie abfinden oder ob sie weiter für den schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie kämpfen würden, sagte Strasser: „Zunächst einmal bedeutet die Entscheidung des Parteitages nicht ein einseitiges Ja zur Kernenergie. Für die Kernkraftgegner wird es jetzt darauf ankom-men, den Berliner Beschluß in den Punkten . Vorrang für die Kohle'und . Energiesparen entschlossen zu verwirklichen, so daß der Bau neuer Atomkraftwerke überflüssig wird. Im übrigen gibt uns das relativ gute Abschneiden der Kernkraftgegner auf dem Parteitag die Hoffnung, beim nächsten Parteitag in zwei Jahren eine Mehrheit fürden Ausstieg aus der Kernenergie zu finden.“

Auf die Frage, wie die SPD auf die Umweltschutzbewegung, insbesondere auf die „Grünen", reagieren sollte, meinte Strasser: „Gerade die SPD sollte die Umweltschutzbewegung ernst denn sie ist eine soziale nehmen, breite Bewegung, deren Bedeutung weit über eine wie immer geartete . Grüne'Partei hinausgeht. Wenn die SPD in den achtziger Jahres erfolgreich Reformpolitik betreiben will, mui Fragen dem soziales sie die ökologischen mit Anliegen der Arbeiterbewegung verbinden Auf eine kurze Formel gebracht: der Ent bei Wicklung einer humaneren Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung müssen wir stärker ah bisher natürlichen auch die Bedingungei menschlicher Existenz berücksichtigen, das heißt Abkehr vom industrialistischen Expan sionskurs, der Mensch und Natur zu zerstöre droht."

Die Jungdemokraten veröffentlichten an 18. Dezember 1979 einen Wahlaufruf wo nach sie sich „unter emotionalen Bauch schmerzen dazu durchgerungen haben, die FDP zu unterstützen". „Die Jungdemokraten", so heißt es in dem achtseitigen Strategiepapier, „werden daher auffordern, die FDP nicht wegen, sondern trotz ihrer Politik zu wählen, um eine noch schlimmere offen repressive Politik zu verhindern." Gleichzeitig äußern die Jungdemokraten jedoch Verständnis, wenn örtlich und regional Jungdemokraten diesen Wahlaufruf „wegen einer bei ihnen spezifischen FDP nicht vorrangig unterstützen und Bündnisse gegen Rechts eingehen".

Solche Stellungnahmen zeigen, daß sich Parteiminderheiten in SPD und FDP der ökologistischen Bewegung bedienen, um die Mehrheiten in ihren Parteien unter Druck zu setzen. Andererseits übt die ökologistische Linke Druck auf diese Minderheiten in SPD und FDP aus, indem sie mit ihnen um den Anspruch auf die unter den gegebenen Verhältnissen der Bundesrepublik „richtige" linke Strategie konkurriert. SPD und FDP pflegen seit einigen Jahren solche Stellungnahmen zu ignorieren. Damit wären wir an den Generationskonflikt zurückverwiesen. Die „Toleranz", mit der hier reagiert wird, vermeidet eine politische Antwort. Diese allerdings würde jene kritischen Gruppen aufwerten und könnte in der SPD einen Streit um die Sozialismusfrage auslösen, den man aus guten Gründen lieber im abgeklärten Klima von Grundwertekommissionen als im öffentlichen Schaukampf führt.

Autoritärer Führungsstil? Parteibasis und Mitgliedermehrheit Wenn es auch richtig ist, daß verbale Kraft-akte und gelegentliche Drohungen mit Massenaustritten für die Mehrheit der jungen Mitglieder von SPD und FDP nicht repräsentativ sind, so bleibt doch die Tatsache, daß diese Mehrheit desinteressiert, verunsichert, aber wohl auch schadenfroh dazu schweigt. Offenbar gelingt es SPD und FDP immer weniger, ihre innerparteilichen Meinungsbildungsprozesse so zu führen, daß ihre linken Minderheiten die Mehrheitsmeinungen respektieren, statt sie in aller Öffentlichkeit gerade noch zu ertragen. Die Mehrheitsmeinungen, so scheint es, werden von der linken innerparteilichen Opposition (vor allem der SPD) nur noch unter lautem Protest (und der Ankündigung, daß in absehbarer Zukunft alles ganz anders gemacht werde) als der eigentlich viel zu hohe Preis hingenommen, der nun einmal jetzt gezahlt werden müsse, um die Regierungsfähigkeit zu erhalten und noch Schlimmeres zu verhüten.

Die von den Mehrheiten, die die Bundesregierung tragen, erreichten und erreichbaren politischen Ergebnisse wirken in diesem Licht verkleinert und entstellt als das nur noch schwer zu Erkennende der von der „Basis“ eigentlich gewollten ganz anderen Politik. Die breite Mitte in SPD und FDP benutzt das wirksame Argument der Notwendigkeit, die Regierungsfähigkeit zu erhalten, zur Disziplinierung ihrer Parteiminderheiten. Im übrigen erwecken Sozialdemokraten und einige Liberale gelegentlich den Eindruck, als müßten sie ihre politischen Ergebnisse mit einem schlechten sozialdemokratischen oder liberalen Gewissen verteidigen. Einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der innerparteilichen Opposition weicht die Mehrheit weitgehend aus, weil sie meint, daß die gut funktionierende Disziplinierung durch Mehrheitsbeschluß auf die Öffentlichkeit besser wirkt als eine lang dauernde innerparteiliche Auseinandersetzung. Diese braucht allerdings mehr Zeit als ein Parteitag, der sich verpflichtet glaubt, schließlich einig enden zu müssen.

Wird der innerparteiliche Dissens über die Inhalte der „Politik, die man macht," verlagert auf eine Ebene, wo der Minderheit die Lust über die Inhalte der Politik zu streiten vergehen soll, wo Zeitdruck, Parteitagsregie und vor allem Appelle, ein Mindestmaß an Geschlossenheit zu wahren, wirksamer sind als alle anderen Argumente? So wird gefragt.

Und es wird weiter gefragt: Sind deswegen alle anderen Argumente nur noch Material für Grundsatzkommissionen, die sie unter Bergen von Papier begraben? Sind diese Argumente von der „Politik, die wirklich gemacht wird," so weit entfernt, daß man sich konkret über sie nicht mehr zu streiten braucht? Dient die Binsenwahrheit, daß Politik zuerst Handlungsfreiheit voraussetzt, als Alibi, um schwierige Konfliktlösungen zu umgehen unter dem Vorzeichen des einfachen Machtkalküls? Ist es . gesund', wenn in zahlreichen Versammlungen der sozialdemokratischen Parteibasis die Meinungsbildung und das Ergebnis von Abstimmungen weitgehend den Linken überlassen bleibt, weil die überwiegende Mehrheit der Mitglieder, die auf allen Parteiebenen Mehrheiten bilden könnte, an diesen Versammlungen nicht teilnimmt? Dies läßt sich nicht einfach damit erklären, daß schon immer wenig mehr als zehn Prozent der Mitglieder aktive Versammlungsbesucher in den SPD-Ortsvereinen waren. Diese rund zehn Prozent aktiver Versammlungsbesucher vertraten jedoch noch bis in die sechziger Jahre das Meinungs-Spektrum der Gesamtpartei, während heute an der Basis der linke Flügel mehr als alles andere die Abstinenz der Mitgliedermehrheit repräsentiert, die sich der innerparteilichen Auseinandersetzung versagt. Für die auf diese Weise zustandegekommene und öffentlich vorgetragene Meinung lokaler Mehrheiten ist dann gelegentlich Bundeskanzler Schmidt nicht wegen seiner sozialdemokratischen Politik der beste Kanzler, sondern weil es zu ihm, obwohl er kaum sozialdemokratische Politik mache (oder machen dürfe), keine Alternative gäbe.

Die Abstinenz der Mitgliedermehrheit, die sich weigert, ihrer Meinung an der Basis Gewicht zu verschaffen (weil sie lieber vor dem Fernseher sitzt und meint, der nächste Parteitag werde schon alles ins rechte Lot bringen), läßt die SPD vor allem aus der Sicht der jungen Wähler als eine Partei erscheinen, deren Politik von der „eigenen" Regierung auf kaum erträgliche Weise opportunistisch verfremdet und gelegentlich, wie in Fragen des „Radikalenerlasses", der Energiepolitik, des Umweltschutzes, der Finanzpolitik und der Abrüstung — um einige der wichtigsten zu nennen — in ihr Gegenteil verkehrt wird. Dennoch soll aber gerade diese Politik den Wähler überzeugen, sozialdemokratisch zu wählen. Unter dem Eindruck solcher hausgemachten Konfusion wenden sich viele junge Wähler den grün-bunten Gruppierungen zu.

Es geht hier nicht um das natürliche Spannungsverhältnis zwischen einer Partei und Vertretern dieser Partei, die als Abgeordnete und Regierungen in Koalitionen Kompromisse akzeptieren müssen; es geht vielmehr darum, daß die in Koalitionen gemachte sozialdemokratische Regierungspolitik in zahlreichen Verlautbarungen der Parteiopposition nicht mehr als sozialdemokratische, sondern nur als widerwillig ertragene, of gegnerische Politik verstanden wird. Die Massenmedien spiegeln und vergrößern diesen Eindruck, der dann auf die Gesamtpartei projiziert wird. Diesem Eindruck folgend, konnte man meinen, es müsse dem Bundeskanzler auf dem Berliner SPD-Parteitag nicht leichtfallen, für die Entscheidungen seiner Regierung zur Sicherung der Energieversorgung und zu Modalitäten der Nachrüstung eine deutliche Zustimmung der Mehrheit zu finden. Eine solche Annahme, die sich auf überproportional vergrößerte Meinungsäußerungen der linken (lokalen) Partei-opposition stützte, war natürlich falsch. Denn wenn es um wichtige Entscheidungen geht, stellt sich heraus, daß es gar keiner großen Anstrengung bedarf, um die wirkliche Mehrheitsmeinung in die Waagschale zu werfen. Dabei fällt nicht einmal ins Gewicht, daß die Vertreter der opponierenden Minderheit dank der Abstinenz der lokalen Mehrheiten weit mehr Delegierte zu den Parteitagen entsenden können, als dies bei stärkerer Beteiligung der gesamten Mitgliedschaft am Parteileben der Fall wäre. Ihre sachpolitischen Argumente, denen zu Hause mangels Publikum nur wenige wi-dersprachen, erweisen sich auf dem entscheidenden Parteitag schließlich als wirkungslos. Jetzt gilt nur noch die „Nagelprobe", die Regierungsmeinung schließlich hinzunehmen oder die Regierungsund Handlungsfähigkeit der Partei aufs Spiel zu setzen. Also übt sich die in-1 nerparteiliche Opposition in Solidarität und i führt zu Hause — wo sie es so leicht hat — den innerparteilichen Dissens in einer Weise fort, als ob es die Parteitagsbeschlüsse gar nicht gäbe.

Bestätigung alter Vorurteile Wer die Repräsentation der lokalen Parteibasis weitgehend einer Minderheit überläßt, die ständig die „Defizite" der Regierungspolitikbeklagt und sich dabei aufführt, als sei sie die „eigentliche Basis“ der Partei, darf sich über entsprechende Auswirkungen auf das allgemeine Politikverständnis nicht wundern. So kultiviert man die Legende von der Politik, die sich in der Wirklichkeit ihres Vollzugs immer in schlechte verwandelt. Solche Sicht bestätigt alte, hierzulande stark verwurzelte Vorurteile. Wer um die bestmögliche, jetzt machbare Politik nicht kämpfen will, bewegt sich gern in der reinen Luft der Werte, wo er seine Kraft den großen Entwürfen zuwenden kann, unverantwortet, in weiter Entfernung von den Schmutzspritzern der tatsächlichen Verhältnisse. Was für die „Politik, die wirklich gemacht wird," dann übrigbleibt, erscheint nur noch als häßliches Geschäft. Dieser Vorführungsstil aber wirkt abschreckend in einer Zeit, in der die parlamentarische Demokratie mehr denn je von der Partizipation kritischer Bürger abhängig ist.

Politisches Engagement soll die eigenen Ansprüche an den Schwierigkeitsgraden der Politikverwirklichung messen, sonst bleibt es steril oder muß nach alternativen Möglichkeiten suchen. Dann wird der Boden bereitet, auf dem Protestbewegungen wachsen. „Expertokratie, fortschreitende sachpolitische Austrocknung der innerparteilichen Diskussion als Ursache und Folge der Abstinenz einer Vielzahl träge gewordener Mitglieder und einer dauernden Überbelastung der leider zu geringen Zahl solcher Parteimitglieder, die sich aufopfernd bemühen, ihre Arbeit mit dem Bürger zu leisten, kennzeichnen das veröffentlichte Bild aller Parteien.

Ist der „autoritäre Führungsstil" unserer Parlamentsparteien die Ursache oder die Folge dieser Verhältnisse? Ihre Hauptursache ist jedenfalls nicht die vielfach beklagte manipulative Geschicklichkeit der Parteiführungen, sondern die Trägheit der breiten Mitgliedermitte. Diese will sich lieber auf die Führung verlassen, der sie zustimmt, als zeitraubend mit einer Minderheit diskutieren, die sie ohnehin bei jeder wichtigen Entscheidung leicht überstimmen kann.

Im Widerspruch zu einem angeblich autoritären Führungsstil steht auch die Realität des Parteilebens. Der innerparteilichen Opposition wird mangels Anwesenheit der Mitgliedermehrheit ein Spielraum zur Selbstdarstellung überlassen, der weit über das Gewicht dieser Minderheiten in der Gesamtpartei hinausgeht. Außerdem ist der Eindruck, es gebe in der Mitgliedschaft kein ausreichendes Betätigungsfeld für sachpolitisches Engagement, mit einer nicht abreißenden Flut sachpolitischer Anträge zu den Parteitagen zu widerlegen. Der Vorwurf einer autoritären, manipulierenden Parteiführung entpuppt sich also bei näherem Hinsehen als Schutzbehauptung einer keineswegs von der Parteiführung, sondern von der breiten Parteimitte allein gelassenen innerparteilichen Opposition. Die laute Klage über mangelnde innerparteiliche sachpolitische Diskussion — soll sie nicht übertönen, daß die eigenen Beiträge von der Mitgliedermehrheit zurückgewiesen werden? Und ist das Verdikt über die mangelnde Bereitschaft, ausdauernd über Sinngehalte der Politik zu diskutieren, nicht der Ausdruck der Enttäuschung darüber, daß die Mitgliedermehrheit zu diesen Fragen völlig andere Ansichten vertritt?

Hermann Scheer hat darauf hingewiesen, . daß in manchen... Parteitheorien über oligarchische Parteistrukturen offenkundig die unausgesprochene oder vielleicht auch unbewußte Prämisse (steckt), nur eine . konsequente Minderheit'stelle die eigentliche Parteibasis dar, weil sie allein das richtige Bewußtsein vom richtigen Weg einer gesellschaftlichen Demokratie hat. Die zahlenmäßige Mehrheit wird zu einer qualitativen Minderheit uminterpretiert, da diese Mehrheit nur das erfolgreich verführte und ständig genasführte Produkt der Parteioligarchie sei. Die Parteioligarchie hindere die Mitgliedermassen daran, ihre wahren Interessen zu erkennen, und behindere mit undemokratischen Mitteln die bewußte Minderheit am Erfolg zur Mehrheit. Auf diese Weise wird die Minderheit zur-eigentlichen Mehrheit umgeschrieben, die nur nie zum Tragen käme.“

Auf der Grundlage einer solchen Theorie, die, obwohl sie von links stammt, auch gern von rechten Kritikern der Parteien übernommen wird, kann der Verdruß der Minderheit an der Mehrheit rationalisiert werden:

— Die Mehrheit hat ein falsches Bewußtsein; hätte sie ein richtiges, würde die Minderheit die Mehrheit gewinnen.

— Die Mehrheit wird von der Parteioligarchie verführt und die Minderheit von dieser Oligarchie am Erfolg zur Mehrheit gehindert.

— Schuld am Mißerfolg der Minderheit hat also nicht die Mehrheit, sondern die Partei-oligarchie. Solcherart Verdrängung bewahrt die Minderheit vor der für sie unerträglichen Einsicht, daß die Mehrheit die Ansprüche der Minderheit einfach deswegen zurückweist, weil sie ihre anderen, eigenen Forderungen durchsetzen will. Die Konsequenz dieser Einsicht wäre, daß die Minderheit sich mit den Argumenten der Mehrheit auseinandersetzen und diese als ein gleichrangiges Recht auf Meinung respektieren müßte, statt sie von vornherein als Produkt eines ferngesteuerten falschen Bewußtseins zu diskreditieren. Freilich bleibt so der überzeugungswert der Argumente des „richtigen“ Bewußtseins vor jeglicher Prüfung verschont. Der Mißerfolg ist anscheinend immer dann das Werk von Manipulationen, wenn er als Ergebnis einer demokratisch geführten Auseinandersetzung nicht wahr sein darf. Der Realitätscharakter der politischen Forderungen der Minderheit wird so der kritischen Prüfung entzogen, der Realitätsverlust kann gehegt werden.

Auf die Öffentlichkeit aber wird diese Larmoyanz vornehmlich linker Minderheiten übertragen als Ausdruck der allgemeinen Verdrossenheit über oligarchisch verkrustete Parteien, die ihre Mitgliederbasis, und erst recht die Bürger außerhalb, an der Partizipation hindern. Dieser Erklärungsversuch fließt ein in eine Grundströmung hochgespannter Erwar23 tungen und entsprechender Enttäuschungen über das, was von der Politik verlangt wird. In ihr vermischen sich systemgerechte Parteien-kritik und vordemokratischer Antiparteienaffekt zu einem verwirrenden Zerrbild unserer demokratischen Realität.

Wissen die Linken eigentlich, was sie der Demokratie mit ihrer Weigerung antun, ihren Realitätsverlust in der Sachauseinandersetzung mit der Mehrheit abzuarbeiten? Wissen sie, welchen Interessen sie dienen, wenn sie die Schuld an ihrem Unvermögen, demokratische Niederlagen zu ertragen, auf die „Herrschaftsstrukturen''des Systems projizieren?

Jean Amery: „Vor uns liegt nicht das . letzte Gefecht"'

Jean Amery spricht in einem seiner letzten Essays von der Restauration, „die ein Land geschaffen hat, in dem sich leben ließ und läßt und das als . faschistoid'zunächst nur von jenen attackiert wurde, die seine verwöhntesten, privilegiertesten Kinder waren: von einer studentischen Jugend, die weniger . entfremdet'war, als sie es sich eingestehen wollte, vielmehr, sofern sie mit sich ehrlich war, die . Konsumpeitsche', von der sie redete, auf so wonnige Weise verspürte, wie der Masochist die Prügel des Meisters, den er sich gewählt Angeführt war sie von einer Anzahl, oh, wie hochdistinguierter, verfeinerter, ästhetisch empfindlicher Universitätslehrer, die luxuriös wohnten, reisten, dachten. Die Revolution, beziehungsweise ihr Mythos, wurde selber zum Konsumgut ...

Gegen die realen Gefahren einer „kerndeutschen Obrigkeitsstaatlichkeit, die in den Tagen des Wilheiminismus auskam ohne Tortur, ohne alle Anzeichen physischer Brutalität", könne die Linke nicht ankommen mit Begriffen, die dem Volk nichts sagen, auch nicht mit verhängnisträchtigen Schlagworten, wie dem von der „großen Weigerung“. „Was uns obliegt, ist zunächst einmal jene Zivilcourage, die ich heute ebenso vermisse wie in den Jahren, da man mit einem offenen Wort nicht etwa eine lukrative Karriere riskierte, sondern den Kopf ... Unsere nimmermüde Wachsamkeit darf uns (heute) nicht dazu verleiten, . Feurio!'zu schreien, wenn noch keine Flammen aufzuk. ken ... Wir werden ohne Heroismus und persönliches Heilsvorhaben auskommen müssen ... Vor uns liegt... nicht das große Drama... eines blutigen letzten Gefechts. Wir müssen uns damit abfinden, Kleinkriege zu führen, die vor allem in geduldiger Aufklärungsarbeit bestehen: sie werden der Bevölkerung auch plausibel werden, nicht die schrillen Alarmschreie, die manche unter uns ausstoßen, und schon gar nicht die heil-und trostlosen Begriffsspekulationen, auf die keiner hinhört und die wir ja immerhin als eine Art von politischen Freizeitvergnügen pflegen können, wenn es uns danach gelüstet. Der Hitler, den wir erlebten, wir und nur wir, nicht die jungen Assistenten in zeitgeschichtlichen Seminaren, ist einfach nicht da ..."

Wer analysiert die Analysen?

Die größte Gefahr des Zerrbildes von der Auszehrung demokratischer Energien liegt darin, daß diese Gefahr wächst, je mehr man daran glaubt. Diese Gefahr scheint von einem sich allgemein ausbreitenden Pessimismus auszugehen, der alles Erreichte und Erreichbare in einen Abgrund der Enttäuschung irreal überzogener Ansprüche fallen läßt. Verbreitet sich ein Grundverständnis von Politik, das schon in vergleichsweise ruhigen Zeiten die Ergebnisse ihres Vollzugs nur noch widerwillig als das um den eigentlichen Hauptgewinn verkürzte, kaum noch Erträgliche hinnimmt, so muß man sich fragen, welche Reaktionen in Zeiten schwerer Belastungen zu erwarten wären. Die politisch Verantwortlichen, vor allem die zu Sündenböcken erkorenen Parteien, tun also gut daran, ernsthaft zu prüfen, ob der sich verbreitende Eindruck, die Diskrepanz zwischen politischen Ansprüchen und der Erfüllung dieser Ansprüche würde sich ständig vergrößern, zutreffend ist. Wenn er zutreffend ist wo liegen dann seine Ursachen? Wenn er unbegründet ist, warum ist er dann so weit verbreitet? Wir alle leben mit Vor-Urteilen, die uns aus philosophischem oder religiösem Glauber und daraus abgeleiteten Ideologien je nach dem Verlauf unserer persönlichen Erfahrungen zugewachsen sind. Folglich leben auch die Sozialwissenschaften, die heute mit ihrer wichtigsten Hilfsdisziplin, der empirischer Umfrageforschung, „die Physiognomie einer Staatsgesellschaft messen und erkunden, wie sie sich aus den verschiedensten und im weitesten Sinne des Wortes politischen Orientierungen ihrer Bevölkerung ergibt" in der ständigen Gefahr des grenzüberschreitenden Mißbrauchs ihrer nach bestimmten Kriterien in einem bestimmten Bezugsrahmen gewonnenen Ergebnisse. Diese können — woran weder Sozialwissenschaftler, noch deren Auftraggeber, noch deren Multiplikatoren völlig unschuldig sein müssen — leicht als Resultate exakter Wissenschaft die Meinungen jener manipulieren, die eigentlich objektiv zu erkunden wären.

Martin und Sylvia Greiffenhagen haben verdienstvollerweise darauf hingewiesen, daß die Gründe der Skepsis gegenüber dem gewiß zur „politischen Kulturforschung" unentbehrlichen Hilfsinstrument der empirischen Umfrageforschung „so zahlreich sind wie die Methoden, die der Umfrageforscher anwendet, die Theorien, diesen Methoden zugrunde -die lie gen, die Gesellschaftsbilder und Staatsvorstellungen, denen der Demoskop selber sich wissentlich oder unwissentlich verbunden fühlt. Objektivität ist der Maßstab seines Tuns, bleibt aber selten genug festzustellendes Ergebnis".

Wir alle stehen unter Ideologieverdacht Die demoskopischen Daten — mehr noch die weitergehenden Interpretationen sozialwissenschaftlicher Strukturanalysen, die manchmal in politische Theologie ausarten — sollten nicht nur nach der Art ihres Materials und ihrer Methodik hinterfragt werden. Wer über das Instrumentarium zur Erforschung der politischen Kultur, die Möglichkeiten zur Interpretation von (Teil-) Ergebnissen und. die Art ihrer Veröffentlichung verfügt, wirkt in so gravierender Weise auf den wechselseitigen Prozeß der Bildung und der Verbreitung von Meinungen, daß er selbst in die Analyse einbezogen werden sollte. Weit davon entfernt, Wissenschaftler, Interpreten, Auftraggeber und Multiplikatoren in den Medien zu Sündenbökken zu machen, darf gefordert werden, daß auch deren Motivationen nach Kriterien bewertet werden, mit denen sich die Experten den Objekten ihrer Untersuchungen zuwenden. Auch sie stehen, wie wir alle, unter Ideologieverdacht. Dies gilt um so mehr, je weniger der Anteil ihrer Sachautorität und die Reichweite ihres Instrumentariums in den Wechselwirkungen der Meinungsforschung, der Meinungsbildung und der veröffentlichten Meinung hinterfragt bleiben.

Auf das Thema der ökologistischen Bewegung bezogen sei daher die Frage gestattet, in welchem Maße die den Mittelschichten angehörenden analysierenden Kulturforscher, Demoskopen und Multiplikatoren ihre eigenen, vielleicht ähnlichen Bedürfnisse nach postmaterialistischen Modellen auf Fragestellungen und Ergebnisse ihrer Analysen projiziert haben. Den zu erwartenden Protest, daß hier der Bote bestraft werden soll, der eine unangenehme Nachricht bringt, sollten wir gelassen hinnehmen. Es geht nicht um Beschuldigungen, sondern allein um das vernünftige Recht, auch jenen kritische Fragen zu stellen, deren Beruf es ist, unser Bewußtsein kritisch zu untersuchen, aber nicht priesterlich zu verwalten. Da fällt nun zunächst auf, daß uns die Entstehungsbedingungen der ökologistischen Bewegung an Erklärungsmustern verdeutlicht werden, die offenbar aus den gleichen Motivationsquellen stammen wie die Erklärungsmuster der ökologistischen Bewegung selbst. Letztere sind natürlich der Ausgangspunkt der Analysen. Aber liegt es wirklich nur an der objektiven Wiedergabe der mit wissenschaftlicher Methode gewonnenen Informationen, daß manche Auswertungen die Motivationen und Projektionen der ökologistischen Bewegung eher auch ihrerseits auf das Bild der Gesellschaft übertragen als Aufschluß darüber geben, ob es sich hier um Realitätsgehalte gruppenspezifischer Selbstspiegelungen handelt oder um die Realitätsgehalte gesellschaftlicher Veränderungen? Ohne Zweifel sind auch solche Selbstspiegelungen eine Realität. Sie unterscheiden sich jedoch von der Wahrnehmung gesellschaftlicher Fakten durch die Täuschung, das Spiegelbild der Vorstellung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe von der Gesellschaft sei das Spiegelbild der Gesellschaft selbst.

Referieren nicht die weitaus meisten Ergebnisanalysen die „Sinnkrise" und die „Strukturdefizite" hochindustrialisierter Gesellschaften als Symptome empirisch nachzuweisender Systemschwäche? über die Zumutung, einmal mit gleicher Intensität über das Gegenteil nachzudenken, würden manche Sozialwissenschaftler vermutlich fassungslos staunen oder in lautes Gelächter ausbrechen. Könnte es denn nicht sein, daß die „Sinnkrise" Ausdruck des Unbehagens an der geistigen Freiheit ist? Ist es aber für viele nicht eine Lust, in einer Gesellschaft zu leben, die darauf verzichten kann, den Lebenssinn kollektiv zu verordnen? Und lohnt es sich nicht, dafür einen hohen Preis zu zahlen? Sind die Strukturdefizite der entwickelten Industriegesellschaften nur eine Folge ihrer Schwächen und nicht auch ihrer Kraftentfaltung als der Preis, den diese Kraftentfaltung fordert? Verstärkt sich nicht der Eindruck des Ausmaßes solcher Struktur-schwächen mit der Verfeinerung des Instrumentariums, das diese Schwächen registriert und die Impulse zu Reformen auslösen kann? Und ist nicht das Potential dieser Reformen und der ständig wachsende Anspruch an ihre Qualität — also das Bewußtsein immer größerer Defizite — ein Produkt dieser Entfaltung, für das wir einen Preis zu zahlen haben?

Ist das wachsende soziale Anspruchsniveau nur eine Folge alter sozialer Mißstände, oder ist es auch das Ergebnis kontinuierlicher Erfüllung der Bedürfnisse von Menschen, die das Recht haben, vom sicheren Sockel eines erreichten Besitzstandes, die Befriedigung neuer Bedürfnisse auf einem noch höheren Niveau zu fordern? Und ist der Preis für diese Freiheit nicht ein sich ständig nach vorn verschiebendes soziales Defizit?

Ist Parteienverdrossenheit, ja, Staatsverdrossenheit, nicht die äußerste Wohltat freiheitlich verfaßter Gesellschaften, eine systemimmanente Qualität aller Gesellschaften, die es sich leisten können, sie nicht von Gesetzes wegen zu verbieten? Und gewinnen wir nicht aus diesem Freiheitsrecht die Möglichkeiten, die von uns erkannten Mißstände offen zu bekämpfen und für immer bessere Zustände zu sorgen? Muß also nicht unsere Verdrossenheit in dem Maße wachsen, in dem wir auf der Grundlage des Erreichten sensibler werden; und lohnt es sich nicht, dafür zu ertragen, daß wir immer verdrossener werden müssen, je anspruchsvoller wir sind?

Diese Fragen sind zu stellen — und es ist zu fragen, aus welchen Gründen sie bisher nicht oder doch nicht hartnäckig genug gestellt werden. Dem ist die Frage hinzuzufügen, von wem sie nicht gestellt werden. Offensichtlich werden diese Fragen noch von allen gestellt, die sich bewußt sind, daß jede Forderung ihren Preis hat. Das sind vor allem die aufrückenden breiten Schichten, die Mitglieder der Industriegewerkschaften, die kleinen und mittleren Beamten, die Bauern und die kleinen und mittleren freiberuflich Tätigen, die breite Mehrheit der Wähler also, die sich noch nicht zu der Erkenntnisstufe des richtigen Bewußtseins von den Defiziten emanzipiert hat, unter dem die Söhne und Töchter der gehobenen Mittelschichten so unsäglich zu leiden haben.

Vorläufig: „Man weiß, daß nicht nur politische Partizipationsbereitschaft, sondern ebenso Partizipationsfähigkeit noch vorwiegend auf die Mittelschichten beschränkt sind. Bei Industriearbeitern mißt man dagegen eine gegenwärtig wachsende Unfähigkeit, überhaupt noch zu einer Bewertung gesellschaftlicher Zusammenhänge zu kommen (Kern/Schu-mann, 1970). Einstellungen zu politischen Einzelfragen verbinden sich bei der Mehrheit der Bevölkerung noch nicht zu einem widerspruchsfreien Gesamtbild, weil das Interpretationsschema fehlt, das Raster, welches die politischen Einzelphänomene in ihrem sozialen Kontext verknüpfen könnte. Mit wachsendem Bildungsniveau wächst dagegen die politische Orientierungsmöglichkeit und damit die Chance zur Folgebereitschaft gegenüber einer demokratischen Führung, auch in schwierigen Zeiten.“

Man höre und staune: die Industriearbeiter und ihre Arbeiterbewegung, die in allen Industrieländern des Westens einen entscheidenden Beitrag zur Erkämpfung demokratischer Grundrechte leisteten, die Industriearbeiter, die den Arbeitnehmern in der Bundesrepublik Deutschland eine Ausgangsposition wirtschaftlicher Mitbestimmung (also Partizipation) erstritten haben, die in der Welt ihresgleichen sucht, die Industriearbeiter, die den wertvollsten Teil unseres Sozialprodukts erarbeiten und nicht erklären, diese Industriearbeiter, die ohne zu murren einen hohen Teil der Rechnung zur akademischen Selbstverwirklichung der Söhne und Töchter der gehobenen Mittelschichten zahlen — diese Industriearbeiter seien wachsend unfähig zur Partizipation? Und erst mit dem Bildungsniveau wachse die politische Orientierungsmöglichkeit und damit auch die demokratische Konfliktfähigkeit? Da muß nun gefragt werden, welche Art von Bildungsniveau gemeint ist. Hat die Zeit des Nationalsozialismus in diesem Land nicht eben erst bewiesen, daß das Bildungsbürgertum das am wenigsten konfliktfähige und darum anfälligste Element der Gesellschaft für die Diktatur war? Es waren doch nicht die Ar-beiter oder die Angehörigen der Oberschicht, die den Nationalsozialismus schon in der Anfangsphase seiner „Machtergreifung" in zahllosen Dissertationen und sonstigen Bekenntnissen verinnerlichten! Es war auch nicht das Bildungsbürgertum, das im Widerstand den höchsten Blutzoll leistete, sondern die „kleinen Leute" und Vertreter der „reaktionären Militärkaste".

Das Bildungsbürgertum hat sich in Deutschland allemal zur Anpassung bereitgefunden — mit der einen wichtigen Einschränkung, daß sein besonderer Status durch die „Nivellierung" mit den Massen des minderen Status, also wachsender Egalisierung der Chancen, nicht gefährdet wird. Dann nämlich reagiert es mit Ausgliederungsdrohungen, die in der nun erreichten Entwicklungsphase der Bundesrepublik als einer hochentwickelten Industriegesellschaft zum ersten Mal auch im „linken“ Gewände auftreten.

Diese Verkleidung ist zunächst nicht leicht zu erkennen, weil sie vorgibt, gerade die Rückstände der Chancen-Egalisierung, die angebliche Blockade weiterer Emanzipation, zu bekämpfen. Sie ist aber durchaus zu erkennen, wenn die Argumente im Kontext mit den spezifischen Bedürfnissen derer analysiert werden, die sie uns vortragen. Hier zeigt sich deutlich, daß sich die Argumente gegen die ökonomische Basis wenden, die aus ihrem Überfluß die Voraussetzungen für den Zugang der Massen zu den Lebensbedingungen der Mittel-schichten schafft. Dies aber wird geleugnet. Wer nämlich anerkennen muß, daß Egalisierung der Chancen heute in weit stärkerem Maße als jemals zuvor den Nachrückenden sozialen Zugang zu den Lebensbedingungen der Mittelschichten ermöglicht, der müßte auch den daraus entstehenden wachsenden Wettbewerbs-und Leistungsdruck im Korridor der

Status gewährenden Berufe als einen dafür zu zahlenden Preis anerkennen, statt ihn als eines der schlimmsten heutigen Übel unseres Sytems zu attackieren.

Wer diesen Preis also nicht für ein sehr notwendiges Übel hält, könnte Gründe haben, die keineswegs dem System anzulasten sind. Einer dieser Gründe ist offensichtlich, daß wachsende Chancen-Egalisierung die Chancen derer einschränkt, die bisher ungestört von vielen anderen — die jetzt ihrerseits gleichrangige Ansprüche anmelden — darüber verfügen konnten. Ihren tiefen Unmut gegen weitere Öffnungen verbergen die Bedrängten hinter Attacken auf das System, das diese Öffnungen vorantreibt, die sie aber verleugnen, weil sie sich als Marxisten (die sie ja merkwürdigerweise sein wollen) ihrer wahren Motive schämen müßten. Also behaupten sie, die wirkliche Emanzipation könne nur eine Revolution bringen oder mindestens eine radikale Reform an Haupt und Gliedern der sozialstaatlich getarnten kapitalistischen, expansionistischen, selbstmörderischen Wettbewerbs-und Leistungsökonomie.

Ist aber die ökonomische Basis verspielt, die den Bedingungsund Leistungsrahmen für eine sozialfriedliche Konfliktlösung der Verteilungskämpfe in einem fortschreitenden Emanzipationsprozeß geschaffen hat und aufrechterhält, so wird die Emanzipation entwir-klicht. Sie wird zu einer Utopie, die sich mangels realer Voraussetzungen nicht mehr konkretisiert. Für die Arrivierten kann sie Popanz sein, den sie dann zu Repressionen bei der Verteidigung ihrer Privilegien benötigen. Den Revolutionären dient sie zur Rechtfertigung ihres elitären Anspruchs als Avantgarde einer egalitären Gesellschaft, den sie bei gelungener Revolution, ungestört von den Massen, monopolartig zu verwalten wünschen.

Muster des Wertwandels — Import oder Eigenwuchs?

Es ist gewiß alles andere als Aufgabe der Sozialwissenschaften, das System unserer Gesellschaft zu rechtfertigen, und niemand schützt sie vor Mißbrauch ihrer kritischen Analysen, die ihr Geschäft sind, als wir selbst. Wissenschaftler und wissenschaftliche Multiplikatoren müssen sich jedoch einer Kritik stellen, die danach fragt, ob eine undifferenzierte, eher modische Anwendung von „Mustern des Wertwandels im Übergang zur postindustriellen Gesellschaft", die vornehmlich aus der amerikanischen Sozialforschung stammen (und dort vor einem vom deutschen völlig verschiedenen Erfahrungshintergrund auf ganz andere Weise, vor allem viel gelassener, rezipiert werden), nicht zu einer schablonenhaften Bewertung unserer hiesigen gesellschaftlichen Entwicklung geführt haben. Der Eifer, mit dem solche gewiß interessanten Spekulationen auf deutsche Verhältnisse übertragen werden — ohne die Vermittlung der spezifischen Bedingungen dieser Analysen und der Einschätzung ihres Stellenwerts durch das amerikanische Publikum — schmeckt nach Provinzialität.

Die geistigen Wurzeln unserer Studentenrevolte und der darauf folgenden ökologistischen Bewegung sind Importe aus den USA, die dann in deutscher Verpackung als Phänomene „der" fortgeschrittenen Industriegesellschaft nach den auf eine ganz andersartige Gesellschaft bezogenen amerikanischen Erklärungsmustern interpretiert wurden. Selten wurde danach gefragt, was denn an diesen Bewegungen bundesrepublikanischer Eigen-wuchs oder eine Folge der von den Massen-kommunikationsmitteln stimulierten Nach-hol-und Nachahmungszwänge war. Das gilt sowohl für den wissenschaftlichen als auch für den kulturrevolutionären Fundus, und es gilt vor allem für den publizitätswirksamen Vorführungsstil dieser Bewegungen.

Während deutsche Studenten für die Beendigung des Vietnamkrieges zu kämpfen glaubten und das amerikanische System als Ursache aller Übel attackierten, übersahen sie, daß eben nur dieses System eine Protestbewegung hervorbrachte und ertrug, die genügend Kraft entfalten konnte, der größten Militärmacht der Welt von innen Einhalt zu gebieten.

Während die ökologistische Bewegung die Kräfte gegen einen angeblich die Menschheit vernichtenden Industrialismus sammelt, der in den Vereinigten Staaten von Nordamerika sein höchstes Potential entfaltet hat, sollte sie sich gelegentlich daran erinnern, daß sie den Fundus ihrer wissenschaftlichen Information, ihrer ideologischen Erklärungsversuche und ihren publizitätswirksamen Vorführungsstil der Urheberschaft dieses „mörderischen" Systems verdankt, das in seinem Überfluß solche Selbstregulierungskräfte hervorbringt und nicht nur toleriert, sondern existentiell sichert. Die Belastbarkeit dieses amerikanischen Systems entspricht seiner Toleranz im Common-sense-Grundvertrauen auf eine Integrationsfähigkeit, von der wir nur träumen können.

Stellen wir nun die Frage, was an der bundesdeutschen ökologistischen Bewegung eigenwüchsig und auf den realen Zustand unserer Gesellschaft wirkt und was als Übertragung modischer Klischees und als Projektion von Bedürfnissen in riesenhafter Vergrößerung als etwas erscheint, was es in Wirklichkeit gar nicht ist. Was bleibt nach Abzug des Importanteils übrig?

Eigenwüchsig ist der Eifer, mit dem ein Teil unserer Sozialwissenschaftler und deren publizistische Multiplikatoren gesellschaftliche Realitäten in Interpretationen spiegeln, die in einen völlig anderen Kontext gehören. Eigenwüchsig ist das Übergewicht der daraus abgeleiteten Hypothesen, die gruppenspezifische modische Bedürfnisse und Vorstellungen gesellschaftlicher Zustände auf das Bild der Gesamtgesellschaft übertragen. Eigenwüchsig ist der unheilverkündende tiefe deutsche Ernst, mit dem dies geschieht, während sich Angloamerikaner und Franzosen temperamentvoller und einfallsreicher auf hypothetischen Spielwiesen zu tummeln pflegen, aber nicht so leicht der Täuschung verfallen, das Abbild solcher Spielwiesen mit der Gesellschaft zu verwechseln. Eigenwüchsig ist die nostalgische Naturromantik und die Stilisierung bundesrepublikanischer Müllhalden zur Szene der Götterdämmerung. Eigenwüchsig ist die neuerdings die Neue Linke mit der Neuen (und alten) Rechten verbindende Geringschätzung angelsächsisch-demokratischer Tugenden, die gemeinsame Verachtung der Rationalität der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, die Verachtung des pluralistischen Interessenausgleichs, der nicht mehr differenzierend kritisiert, sondern schlicht geleugnet wird: die Verachtung des „seichten" common sense.

Eigenwüchsig ist ein Ausspruch wie dieser: „Ich kann nicht leugnen, daß ich von diesem deutschen Hang zum Absoluten, von dieser Verbohrtheit und Dickschädeligkeit auch fasziniert bin, den Sachen auf den Grund gehen, auch auf den Grund des Schreckens, nicht beim.seichten common sense stehenbleiben. Tief, unergründlich, rätselhaft sein. Gegenpart dazu sind die angelsächsischen Kulturen: verschiedene Ansätze, Lebensweisen, können nebeneinander bestehen. Das ist auch wirklich faszinierend: verschiedenes kann tatsächlich auch nebeneinander bestehen, wird akzeptiert — die angelsächsische Toleranz ist eine Tugend, und uns Deutschen geht sie weitgehend ab. Aber sie hat auch ihr Negatives: alles dulden, an der Oberfläche bleiben, alles mit allem vereinbaren und versöhnen wollen: Seichtigkeit ... Ich werde die deutschen Schrecken gewiß nicht vergessen, überspielen. Wo das deutsche Grauen liegt, da liegt auch ganz nah dabei die deutsche Faszination. Und ich möchte mich beidem nähern. Gefährlich ist das gewiß — wer das aber faschistoid nennt, der beeindruckt mich nicht mehr ... Kurz und gut: ich denke, wir werden mit dem deutschen Schrecken nur umgehen können, wenn wir unser Deutschsein nicht länger leugnen. Ich bin diesem Deutschland nicht nur verhaftet, ich liebe es auch. Und ich will eine Linke, die nicht . kosmopolitisch', sondern auch .deutsch'ist. Die den Mangel an politischer Kultur in Deutschland nicht dadurch aufheben will, daß sie auf den Zug der anderen Länder aufspringt, sondern dadurch, daß sie eine spezifisch deutsche Kultur entwickelt ...

Trotz aller Erfahrungen: Wird Bonn doch Weimar?

Die Parteien unterschätzen die Herausforderung

Die Quintessenz dieser und aller anderen hier behandelten Fragen zielt auf die Ursachen eines Realitätsverlustes, dessen gefährlichste Symptome sich im Zusammenfluß rechter und linker Ausgliederungsbedürfnisse zeigen. Sie zielt auf die Fähigkeit vor allem der herausgeforderten Parteien, die Eigenart und den Grad dieser Herausforderung zu verstehen. Dies setzt eine Bereitschaft zur Selbstanalyse in allen Parteien voraus. Hierzu sollen abschließend einige Anhaltspunkte gegeben werden: 1. Die quantitative Herausforderung durch die Protestbewegung wirkt unmittelbar, aber unterschiedlich, auf alle Parteien als Drohung des Stimmenentzuges. Sie wird von SPD und FDP aufgrund ihrer Wählerstruktur (vor allem wegen ihres Anteils an Wählern der jüngeren Altersschicht) zunächst als Störfaktor empfunden, während die Unionsparteien, in Verkennung möglicher späterer Wirkungen, die sich auch gegen sie selbst richten können, diesen Störfaktor per Saldo in ihr Erfolgskalkül einbeziehen. Weitgehend übersehen wird dabei, daß die, vordergründig betrachtet, geringe Quantität eines jetzt in Wahlen realisierbaren Protestpotentials von etwa drei bis fünf Prozent über die Qualität der Herausforderung hinwegtäuscht, die in bestimmten Konstellationen auch einen weit größeren Teil des Sympathiepotentials jüngerer Wählerschichten von SPD und FDP, längerfristig aber auch der Unionsparteien, mobilisieren könnte.

SPD und FDP betrachten mit süßsäuerlichem Wohlwollen die Bemühungen von Jungsozialisten und Jungdemokraten, ein abdriftendes Potential junger Wähler zu halten, indem sie sich zum Teil mit der Protestbewegung gegen ihre eigenen Parteien solidarisieren. Diese Integrationsversuche verlaufen hart am Rande einer Desintegration von Jungsozialisten und Jungdemokraten aus ihren Mutterparteien. Jungsozialisten und Jungdemokraten bedienen sich zum Zweck der Integration junger Wähler oft der gleichen Argumente wie die Systemopposition, ohne daß ihnen die Mehrheit in ihren Mutterparteien dabei auch nur widerspräche. Der auf diese Weise vermittelte Eindruck wirkt als Integrations-und Orientierungsschwäche der Parteien auf die allgemeine Einschätzung der Parteien.

2. Die Parteien haben die Art der Herausforderung nicht verstanden. Sie sehen sich mit einem Sammelsurium von Bewegung konfrontiert, gegen das sie sich nur punktuell verteidigen, wo sie punktuell angegriffen werden. Sie sehen in der vielschichtigen und unstimmigen Radikalität der Bewegung unauflösliche, die Handlungsfähigkeit der Bewegung lähmende Widersprüche. Sie verkennen, daß gerade diese widersprüchliche Offenheit die Bewegung befähigt, die Teilinteressen unmittelbar Betroffener an den empfindlichsten Schwachstellen der Gesellschaft, ungeachtet der Verantwortung einer Güterabwägung, zu mobilisieren. 3. Die Parteien verkennen, daß der ideologische Kern der Bewegung mit dem Angriff auf die ökonomische Basis den Grundkonsens aufkündigt, der auf Gedeih und Verderb zur kontinuierlichen, sozialfriedlichen Egalisierung der Chancen von den Voraussetzungen abhängt, die die Leistungsfähigkeit und damit die Realisierbarkeit von Reformen bei wachsenden Ansprüchen sichern.

4. Das System der parlamentarischen Demokratie wird gefährdet, wenn es die Parteien versäumen, die Schwierigkeitsgrade der Güterabwägung im pluralistischen Interessenausgleich transparent zu machen. Die Erhaltung der Parlamentarischen Demokratie hängt mehr denn je unmittelbar ab von ihrer Kraft, die Prioritäten der Güterabwägung offen zu diskutieren. Breite Partizipation an sachpolitischen Entscheidungen muß ein Grundverständnis von Politik festigen, das die Konfliktfähigkeit im Interessenkampf stärkt. Ideologische Polarisierung führt zur Desintegration des nicht genutzten sachpolitischen Partizipationsangebots der Bürger und fördert Ausgliederungstendenzen, die entweder in Protestbewegungen oder in Resignation münden. 5. Die ökologische Problematik stellt die Parteien vor die hohe Belastungsprobe, Schwierigkeitsgrade der Güterabwägung zu vermitteln, die das bisher als verträglich angesehene Maß von Unpopularität bei weitem überschreiten. Sie können dieser Belastungsprobe nicht länger ausweichen, auch wenn plötzlich auftretende Einbrüche (wie die Afghanistan-Krise etc.) oder eine als Reaktion auf solche Ereignisse ohne große Störung gewonnene Wahl das Interesse am Thema aus den Schlagzeilen verschwinden läßt, als sei es nie dagewesen. Sie können sicher sein, daß das Thema bei nächster Gelegenheit genauso rasch wieder auftaucht, denn es ist und bleibt eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Thema unserer Gegenwart und Zukunft. 6. Es ist darum unerläßlich, daß sich die Parteien dem ökologischen Thema stellen, vorbehaltlos offen in der Abwägung der Risiken und des Preises aller möglichen Alternativen. Nur die keine Unpopularität scheuende schonungslose Transparenzkonfliktreicher Güter-abwägung kann den Weg in einen Dialog öffnen, in dem sich die ökologisch Engagierten vom Systemangriff eines revolutionären Okologismus distanzieren werden. Nur dann wird es möglich sein, die latent bleibende Gefahr zu bannen, in der sich die Enttäuschung zurückgewiesener Partizipationsbereitschaft mit der Aggressivität der unversöhnlichen Gegner unserer Ordnung zu einer systemsprengenden Kraft vereinigen könnte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So Herbert Gruhl, MdB, Vorsitzender der Grünen Aktion Zukunft (GAZ), anläßlich des GAZ-Parteitages am 8. September 1979 in Stuttgart-Böblingen.

  2. Siehe dazu die Studie von Hans-Joachim Fietkau, Umweltbewußtsein und Wahlverhalten, in: Papers aus dem Internationalen Institut für Umwelt und Gesellschaft des Wissenschaftszentrums Berlin, III/78 — 24, veröffentlich in: Zeitschrift für Umweltpolitik, Frankfurt am Main, 1/1979.

  3. P. C. Mayer-Tasch, Die Bürgerinitiativbewegung. Der aktive Bürger als rechts-und politikwissenschaftliches Problem, Reinbek 1976, S. 10ff.

  4. Europawahlprogramm der Grünen.

  5. Ebd.

  6. Ebd.

  7. Ebd.

  8. Mehr als fünf Millionen Bundesbürger sind derzeit in der Bundesrepublik in 1 138 regionalen und 130 überregionalen Umweltschutzgruppierungen organisiert. Die Zahl der Verbände ist in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Nachdem von 1976 bis 1978 dreißig Prozent Zuwachs verzeichnet wurde, ist nach Mitteilung des Präsidenten des Umwelt-bundesamtes in West-Berlin, Heinrich von Lersner, die Zahl der bei der Behörde registrierten Gruppierungen 1979 um fünfzig Prozent emporgeschnellt. Allein in den vier großen Dachverbänden — Deutscher Naturschutzring, Bundesverband der Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), Bund Umwelt-und

  9. Hans Günter Schumacher, Verhältnis des Bundesverbandes Bürgerinitiativen Umweltschutz zu den Umweltparteien, in: Rudolf Brun (Hrsg.), Der grüne Protest. Herausforderung durch die Umwelt-parteien, Frankfurt 1978.

  10. Frankfurter Rundschau, 4. Februar 1980.

  11. Frankfurter Rundschau, 17. Dezember 1979.

  12. Frankfurter Rundschau, 19. Dezember 1979.

  13. Hermann Scheer, Parteien kontra Bürger? Die Zukunft der Parteiendemokratie, München 1979,

  14. Jean Amry, In den Wind gesprochen, in: Die zornigen alten Männer. Gedanken über Deutschland seit 1945, herausgegeben von Axel Eggebrecht, Reinbek 1979, S. 273 ff.

  15. Martin und Sylvia Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur Deutschlands, München 1979, S. 19.

  16. Ebd., S. 21 ff.

  17. Ebd.

  18. Äußerung Thomas Schmids, in: H. Brüggemann u. a., über den Mangel an politischer Kultur in Deutschland, Berlin 1978.

Weitere Inhalte

Harry Tallert, Journalist, geb. 1927 in Beuthen (Oberschlesien); Mitglied der Bremischen Bürgerschaft (Landtag) von 1955— 1965; 1953— 1965 Redakteur der Bremer Bürger-Zeitung; 1965— 1972 Mitglied des Deutschen Bundestages; 1974 bis 1975 bei den Vereinten Nationen in Genf: Einführung eines deutschsprachigen Informationsprogramms über Nord-Süd-Fragen.