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Überlegungen zu einer demokratieorientierten • Dritte-Welt-Politik | APuZ 23/1980 | bpb.de

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APuZ 23/1980 Artikel 1 Wachsende Zukunftsrisiken für Umwelt, Beschäftigung und Demokratie? Eine Interpretation neuerer Langzeitprognosen Überlegungen zu einer demokratieorientierten • Dritte-Welt-Politik Die Liga der Arabischen Staaten Versuch einer Bestandsaufnahme

Überlegungen zu einer demokratieorientierten • Dritte-Welt-Politik

Theodor Hanf

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Zusammenfassung

Die Debatte über Dritte-Welt-Politik nach den Ereignissen im Iran und in Afghanistan läßt sich überspitzt wie folgt darstellen: Auf der einen Seite werden die Ereignisse in ihrer Bedeutung minimiert: Entwicklungspolitik mit dem Ziel einer Verminderung des Nord-Süd-Gegensatzes müsse fortgesetzt werden wie bisher, müsse unabhängig von den jevreiligen politischen Systemen möglichst wertneutral betrieben und von den Auswirkungen der Ost-West-Spannungen wie von eigenen außenpolitischen Zielen möglichst freigehalten werden. Für die andere Seite ist die Afghanistan-Invasion hingegen der Beweis, daß Dritte-Welt-Politik letztlich nichts anders sein dürfe als ein Instrument des Ost-West-Gegensat-zes mit anderen Mitteln und in anderen Regionen. Sie müsse in erster Linie dazu dienen, befreundete, strategisch und rohstoffpolitisch wichtige Staaten zu unterstützen. Die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte zeigen jedoch, daß beide Strategien nicht die gewünschte Wirkung erreichen. Die . unpolitische', technokratische Entwicklungspolitik trägt im wesentlichen dazu bei, den Status quo des jeweiligen Nehmerlandes zu stützen. Die Mehrzahl der Staaten der Dritten Welt weist autoritäre politische Systeme auf, getragen von einer schmalen Staatsbourgeoisie. Das Weiterbestehen des Gesamtsystems beruht auf dem massiven Gruppeninteresse der Privilegierten. Konflikte innerhalb der herrschenden Gruppe führen lediglich zu einem Kreislauf parasitärer Eliten, nicht aber zu einem Systemwandel. Unter diesen Gegebenheiten bedeutet technokratische Hilfe Förderung eines Status quo, der für die ökonomische Entwicklung alles andere als optimal, für die soziale Entwicklung oft schädlich und zur Förderung politischer Partizipation und zur Verwirklichung der Menschenrechte unwirksam ist. Aber auch eine Entwicklungspolitik als Instrument des Ost-West-Gegensatzes führt nach den bisherigen Erfahrungen in die Irre, da sie zwangsläufig aus Bündnisgründen auch autoritär-diktatorische Regime stützen, Befreiungsbewegungen aber bekämpfen mußte, was zur Unglaubwürdigkeit des gesamten Westens beitrug. Daß sogenannte Entwicklungsdiktaturen in der Lage seien, entscheidende Fortschritte einzuleiten und zu sichern, das hat sich während der letzten Dekaden ebenfalls als Mythos erwiesen. Eine dauerhafte Stabilität wird nur dann möglich sein, wenn eine Regierung die Zustimmung der Regierten findet Aus dieser einfachen Feststellung läßt sich die Notwendigkeit einer demokratieorientierten Dritte-Welt-Politik ableiten. Sozioökonomische Entwicklung gerade in den ärmsten Ländern bedarf aller Energie, aller Phantasie und allen Einsatzes, nicht nur einer schmalen Führungsgruppe, sondern der gesamten Bevölkerung. Diese Eigenschaften können aber nur dann mobilisiert werden, wenn freie Entfaltung von Individuen wie von Gruppen möglich ist und wenn alle in der Lage sind, in angemessener Weise am sozialen und am ökonomischen Fortschritt teilzuhaben. Projekte der Entwicklungspolitik sind daher verstärkt daraufhin zu überprüfen, ob sie über mehr Partizipation Voraussetzungen für mehr Demokratie schaffen. Dieses „demokratische Opportunitätsprinzip" wirkt letztlich auch auf den Westen zurück: Demokratie kann langfristig nicht überleben — und das ist das entscheidende Moment, wichtiger als Rohstoffpolitik und wichtiger als Stützpunktpolitik —, wenn sie nur auf kleine Wohlstandsinseln begrenzt bleibt.

Die Debatte über Dritte-Welt-Politik und über Entwicklungspolitik nach den Ereignissen in Afghanistan läßt sich idealtypisch überspitzt wie folgt darstellen: Auf der einen Seite werden die Ereignisse in Afghanistan in ihrer Bedeutung minimiert. Entwicklungspolitik mit dem Ziel einer Verminderung des Nord-Süd-Gegensatzes müsse fortgesetzt werden wie bisher, müsse unabhängig von den jeweiligen sozialen und politischen Systemen möglichst wertneutral betrieben, müsse von den Auswirkungen der Ost-West-Spannungen möglichst freigehalten werden, müsse von allgemeiner Außenpolitik möglichst unabhängig bleiben. Für die andere Seite ist die Afghanistan-Invasion hingegen der letzte und durchschlagende Beweis, daß Dritte-Welt-Politik lediglich nichts anderes ist als ein Instrument des Ost-West-Gegensatzes mit anderen Mitteln und in anderen Regionen. Entwicklungshilfe müsse daher in erster Linie dazu dienen, befreundete, strategisch und rohstoffpolitisch wichtige Staaten zu unterstützen. Sie müsse den Erfordernissen globaler Außen-und Sicherheitspolitik untergeordnet und als deren Instrument verstanden werden.

Diese gegensätzlichen Positionen sind keineswegs neu. Sie dominieren in mehr oder weniger scharf pointierter Form entwicklungspolitische Auseinandersetzungen, seit die Dritte Welt Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre Gegenstand politischer Bemühungen westlicher Staaten geworden ist. Die tatsächlich von den westlichen Staaten verfolgte Dritte-Welt-Politik war bis etwa in die Mitte der sechziger Jahre hinein eine Politik, die den Grundzügen der zweiten hier charakterisierten Position gefolgt ist. Entwicklungspolitik war in erster Linie ein Teil der Eindämmungspolitik gegenüber der Sowjetunion und im Fall der Bundesrepublik Deutschland — wir haben es fast schon vergessen — ein Instrument der damals verfolgten Deutschland-politik. Während der letzten anderthalb Jahrzehnte hingegen überwog die andere der dargestellten Positionen. Im Zeichen der Entspannung zwischen Ost und West wurde Entwicklungspolitik weniger instrumental gesehen, wurde ihre Eigengesetzlichkeit stärker hervorgehoben. Seit den kubanisch-sowjetischen Interventionen in Afrika und vor allen Dingen nach der Afghanistan-Invasion ist die alte Debatte wieder neu aufgebrochen. Auf der einen Seite will man dazu beitragen, Entspannung zu retten, indem man in der Entwicklungspolitik „business as usual" verkündet. Auf der anderen Seite wird gefordert, die Dritte Welt nur unter dem Gesichtspunkt einer neuen globalen Containment-Politik zu betrachten und die Entwicklungspolitik wiederum zur Magd der Außenpolitik zu machen.

I. Technokratische Entwicklungspolitik als Förderung des politischen Status quo

Die Entwicklungspolitik der westlichen Staaten ist in der Regel unpolitisch. Dies ist zwar nicht aufgrund ihrer offiziellen Zielsetzungen der Fall. Regierungskonzeptionen und Partei-programme gehen von eindeutigen Wertvorstellungen aus. Die im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien etwa gründen ihre entwicklungspolitischen Vorstellungen auf die Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Parteien wie Regierung sehen Entwicklungspolitik als Instrument der Friedenspolitik. Sie wollen Grundbedürfnisse befriedi-Überarbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten am 4. März 1980 auf der außenpolitischen Fachtagung der CDUin Bonn, erscheint demnächst auch in: Helmut Kohl (Hrsg.), Der neue Realismus. Außenpolitik nach Afghanistan und Iran, Erb-Verlag, Düsseldorf. gen, den ärmsten Völkergruppen prioritär helfen und die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte fördern. Zu diesen politischen Akzenten stehen aber zwei Prinzipien in einem inhaltlichen Widerspruch, die für die Entwicklungspolitik ebenfalls gelten sollen, nämlich ein extensiv interpretiertes Nichteinmischungsprinzip zum einen und das sogenannte Antragsprinzip zum anderen.

Das Nichteinmischungsprinzip wird in der Regel so ausgelegt, daß Hilfe „unabhängig von den Formen des Regierungssystems" gewährt wird, vorausgesetzt, daß bessere Lebensbedingungen der Bevölkerung zu erwarten sind. Nach diesem Kriterium dürfte sich in jedem noch so totalitären Staat ein förderungswürdiges Projekt finden lassen. Das Antragsprinzip hingegen besagt, daß die Initiative zu konkreten Maßnahmen in der Regel, wenn nicht ausschließlich, von der Regierung des Nehmer-landes ausgeht. Und diese beantragt wohl kaum eine Maßnahme, die nicht in ihrem Interesse liegt. Die Respektierung dieser beiden Prinzipien führt also zu einer politischen und insbesondere einer gesellschaftspolitischen Entmannung der Entwicklungspolitik. In Reinkultur können wir sie bei der Hilfe der internationalen Organisationen und überhaupt der multilateralen Hilfe feststellen. Die bilaterale Hilfe besitzt noch einige Steuerungsmechanismen, die politisch genutzt werden können, nämlich einmal die Festlegung der absoluten Höhe von Hilfemaßnahmen für ein bestimmtes Land sowie die technische und finanzielle Vorprüfung von Maßnahmen, die man strenger oder großzügiger handhaben kann. Auf jeden Fall führt die Berücksichtigung der beiden Prinzipien zu einer vorwiegend technokratischen Entscheidungsfindung. Der Grad, in dem der verbleibende politische Spielraum genutzt wird, hängt von der jeweiligen politischen Weisheit der Technokraten ab — welche im übrigen gar nicht unterschätzt werden sollte. Dennoch: Der Spielraum ist gering.

Die technokratische Entwicklungspolitik ist strukturell im wesentlichen dazu verurteilt, den jeweiligen Status quo des jeweiligen Nehmerlandes zu stützen und zu fördern. Damit stellt sich die Frage, was für ein Status quo da nun eigentlich gefördert wird. Die Mehrzahl der Staaten der Dritten Welt weist mehr oder minder autoritäre politische Systeme auf, getragen in der Regel von einer schmalen Staats-bourgoisie. Wie sind diese Regime zustande gekommen? Die formalpolitische Unabhängigkeit der früheren Kolonien führte zur Universalisierung des Nationalstaates als politischer Organisationsform. Die daraus resultierenden Probleme sind bekannt Zahlreiche Staaten der Dritten Welt verdanken ihre Existenz den Zufälligkeiten kolonialer Grenzziehung. Sie entsprechen nur unvollkommen oder gar nicht den vorhandenen sozialen Einheiten, nenne man sie nun Stämme, Völker oder Gesellschaftsformationen, je nach politischer oder wissenschaftlicher Konfession. Diese Problematik führte eine Generation von Politikern dazu, ihre Hauptaufgabe im „nation building" zu sehen, im Schaffen einer Nation zur Ausfüllung des bereits vorhandenen und vorfabrizierten Nationalstaates. Es wurden unterschiedliche Konzepte von Nationalstaat übernommen.

Die daraus resultierende Problematik sei kurz an einem idealtypisch zugespitzten Beispiel erläutert. In Europa gab es zwei gegensätzliche Konzepte von Nation: ein völkisches und ein voluntaristisch-etatistisches. Dem völkischen Konzept zu Folge ist die Zugehörigkeit zu einer Nation von Geschichte und Schicksal bestimmt; nach dem etatistischen hingegen entsteht Nation aus dem Willen zur Zusammengehörigkeit und zur Gemeinschaft. Die völkische Nationalstaatsidee fand aus deutscher Provenienz ihren Weg in die arabische Welt. Die voluntaristisch-etatistische wurde von den wichtigsten europäischen Kolonial-mächten nach Schwarzafrika getragen. Die Folge war die Reproduktion zweier europäischer historischer Muster im Vorderen Orient bzw. in Afrika: Das Muster der Irredenta wiederholte sich im arabischen Orient und das des Metternichschen Europa in Schwarzafrika. Die im Orient von den europäischen Mächten etablierten Nicht-Nationalstaaten werden von einem übergreifenden völkischen Nationalismus permanent in Frage gestellt, während die ebenso etablierten afrikanischen Nicht-Nationalstaaten permanent durch ethnisch-kulturelle Partialnationalismen in Frage gestellt werden. Im Orient ist der Nationalstaat, vereinfacht gesagt, zu klein für das „Volk", in Schwarzafrika hingegen zu groß, und in anderen Regionen der Welt finB den wir ähnliche Probleme. Beiden Situationen ist eines gemeinsam: Der Staat stimmt nicht überein mit den historisch gewachsenen sozialen Einheiten, und er geht nicht aus diesen hervor. Er wurde von außen eingeführt und darauf ausgerichtet, gegenläufig zu den vorhandenen sozialen Einheiten „Nationen zu bauen". Nicht die Nation gab sich einen Staat, sondern der Staat sollte sich eine Nation schaffen.

Der Staat manifestiert sich in einer solchen Ausgangslage innergesellschaftlich in drei großen Institutionen, die zwar aus lokalem Personal rekrutiert sind und von lokalen Personen besetzt sind, institutionell aber vom kolonialen Staat, d. h. von außen, geschaffen wurden: die Administration, das Erziehungssystem und das Militär. Diese Institutionen transzendieren sämtlich die vorhandenen sozialen Einheiten und ändern durch ihr Vorhandensein die Gesellschaft und ihre Struktur. In traditio-nal stark geschichteten Gesellschaften führt die Schaffung von Verwaltung, Erziehung und Militär zur Bildung neuer Schichten, sie zwingt alte Führungsgruppen dazu, ihre Rolle im neuen Rahmen zu übernehmen oder sie bringt neue Gruppen an die Macht. Es gab aber auch außereuropäische Gesellschaften, die nur wenig gegliedert waren, etwa in Schwarzafrika. Dort ließ die Einführung des Staates zum ersten Mal Schichten entstehen. In beiden Fällen aber, und darauf kommt es an, wird die institutionelle Manifestation des Nationalstaates zum wichtigsten Faktor für die neue Schichtung.

Die Form der ökonomischen und politischen Konflikte in den meisten neuen Staaten wird bestimmt durch die Einführung staatlicher Institutionen in vorhandene soziale Einheiten, und zwar die Einführung von solchen Institutionen, die auf die vorhandenen sozialen Einheiten nicht passen. Die daraus resultierenden Probleme sind unterschiedlich in relativ wohlhabenden Staaten und in ganz armen Staaten. Die relativ wohlhabenden Staaten sind in ihrer Mehrzahl wirtschaftlich von Industriestaaten abhängig. Sie sind abhängig, weil es in ihnen etwas zu holen gibt, weil es in ihnen etwas auszubeuten gibt Die Oberschicht in diesen relativ reichen Staaten lebt von der Teilhabe an den Benefizien der ökonomischen Beziehungen mit dem Ausland. Es gibt aber andere Staaten, die ökonomisch relativ unabhängig sind, und zwar deswegen, weil es bei ihnen nichts Nennenswertes auszubeuten gibt. In diesen Staaten — und das trifft immerhin für etwa ein Drittel der Entwicklungsländer zu — muß die neue Oberschicht ihre Benefizien aus einem mehrheitlich noch in Selbstversorgungswirtschaft lebenden Volk herauspressen. Die ideologische Rechtfertigung ist mit dem Nationalstaat mitgeliefert worden. Sie heißt „nation building".

Der Aufbau einer Nation besteht in der Realität in erster Linie darin, daß vormals sich selbst begnügende und sich selbst regierende soziale Einheiten gezwungen wurden, zumindest soviel mehr zu produzieren, daß die Mittel abgeschöpft werden können, die zum Betrieb des Staatsapparates notwendig sind. Die bestehenden sozialen Einheiten dürfen also nicht mehr allein sich selbst wirtschaftlich genügen, sondern sie müssen auch den Bedürfnissen des Apparates genüge tun, und um dies durchzusetzen, muß der Apparat seine Herrschaft durchsetzen. Der Staatsapparat wird damit zu einer Art Selbstzweck. Um existieren zu können, muß er sich durchsetzen.

Faktisch wird der Staat zum Rechtfertigungsinstrument für die Privilegien einer Gruppe. Es ist die Gruppe, die den Staatsapparat personell besetzt, die Administratoren, die ihn handhaben, die Beamten des Erziehungswesens, die ihn produzieren und ihn reproduzieren, und schließlich die Militärs als die harte Speerspitze des gesamten bürokratischen Zentralsystems. Je ärmer ein Staat ist, um so wichtiger ist derjenige moderne Arbeitsmarkt, der durch die Errichtung des Staates geschaffen wird, nämlich der öffentliche Dienst. In der klassischen Formel des israelischen Soziologen Aveneris: „Government is the biggest bu-siness".

Damit wird die Eigentümlichkeit der Staatsbourgeoisie deutlich, die die meisten Staaten der Dritten Welt regiert. Es ist keine dynamische, unternehmensorientierte Bourgeoisie, wie die des europäischen Frühkapitalismus, es ist keine wendige Handelsbourgeoisie, es ist lediglich eine Gruppe, die für den Staat lebt und vom Staat lebt, eine weitgehend parasitäre administrative Bourgeoisie. Das Bildungswesen ist ein erheblicher Sektor dieser Verwaltung und darüber hinaus ihre Reproduk13 tionsstätte. Die Expansion des Bildungswesens führt in fast allen Entwicklungsländern zu einer Expansion der Administration. Das Bildungswesen produziert heute in fast allen Ländern der Dritten Welt mehr, als der moderne Arbeitsmarkt aufnehmen kann. Das bedeutet letztlich, daß immer mehr Arbeitslose produziert werden. Um diese zu beschäftigen, werden sie in die Administration integriert. Damit entsteht ein Teufelskreis wachsender Bedürfnisse des Staatsapparates und damit wachsender Belastung der nicht zu diesem Apparat gehörenden Bevölkerung. Wenn nun die extraktive Kapazität eines Staates nahezu erschöpft ist, wenn es nicht mehr möglich erscheint, die Mittel für eine weitere Expansion der Administration aufzubringen, dann tritt in der Regel ein als Revolution etikettierter Militärputsch ein. Die harte Speer-spitze der parasitären Administration ergreift die Macht und verteidigt mit bewaffneten Mitteln die Stellung, welche die unfähige, d. h. die zivile administrative Führungselite nicht mehr halten konnte.

In Zentralafrika werden die Administratoren von der Bevölkerung „wasungu wasasa" genannt: „Europäer von heute“. Sie sind die Nachfolger der Kolonialadministratoren, sie haben deren Funktion, deren Amtsbezeichnung und deren Büros und deren Wohnungen übernommen. Ihr Gehaltsniveau ist an der Aufrechterhaltung eines europäischen Lebensstandards, nicht an den Möglichkeiten des Landes oder gar am Lebensniveau der Gesamtbevölkerung orientiert. Man könnte sagen, sie sind, ohne es zu wollen, die Vertreter eines internen Kolonialismus, der den externen Kolonialismus abgelöst hat.

In der Bildungspolitik vieler Länder kann man sehr bemerkenswerte Phänomene feststellen. Es gibt massiven Widerstand gegen eine Anpassung der Lehrpläne und der Strukturen an die spezifischen Bedürfnisse des Landes. Diese Widerstände gibt es in erster Linie bei den Lehrern und bei den Verwaltungsbeamten. Versuche einer Ruralisierung des Erziehungswesens, einer Umformung des Erziehungswesens im Hinblick darauf, daß 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft leben, der man aber bisher ein Bildungswesen angeboten hat, in dem die Landwirtschaft überhaupt nicht vorkam, sind in der Regel sabotiert worden oder gar nicht erst zustande gekommen, weil sie nicht im Interesse der Administration liegen. Die Oberschicht verdankt ihre privilegierte Position ja gerade einem Erziehungswesen nach europäischem Muster, das die Unterschiede zur übrigen Bevölkerung legitimiert.

Die Militärs tendieren fast überall zu einer Überbewaffnung ihrer Armeen, zu einem Rüstungsniveau, das zur auswärtigen Verteidigung keineswegs erforderlich ist.

Je ärmer ein Land ist, um so weniger hat die Linie zwischen den Privilegierten und den Unterprivilegierten mit dem Besitz an Produktionsmitteln oder mit der Verfügung über Produktionsmittel zu tun. Die Linie zwischen den „Haves" und den „Have Nots" wird bestimmt durch die Verfügungsgewalt über die extraktiven Möglichkeiten des Nationalstaates. Wer ein Gehalt bezieht — und ein Gehalt wird in der Regel vom Staat gezahlt —, der gehört auf die eine Seite, und wer keins bezieht, der gehört auf die andere. Das Weiterbestehen des Gesamtsystems beruht also auf dem massiven Gruppeninteresse der Privilegierten. Instrument der Verfestigung ist eine Art säkularisti-sehe Sakralisierung des Nationalstaates in den kolonialen Grenzen. Das einzige Prinzip etwa der Charta der Organisation der afrikanischen Staaten, das bisher allgemeine Beachtung gefunden hat, ist die Aufrechterhaltung der kolonialen Grenzen. Je sinnloser die koloniale Grenzziehung, je wirtschaftlich lebensunfähiger ein Staat ist, desto stärker ist das Interesse der Staatsbürokratie an der Aufrechterhaltung des Status quo. Je knapper die extrahierbaren Mittel, um so stärker ist das Bedürfnis der Abgrenzung der Minderheit gegenüber der Mehrheit. Konflikte innerhalb der herrschenden Gruppe ändern nichts an diesen Grundmustern. Sie führen lediglich zu einem Kreislauf parasitärer Eliten, einem Kreislauf, der eine zunehmende Tendenz zur Repression aufweist.

Diese Konflikte innerhalb der Führungsgruppe bringen keine Revolutionen hervor, sondern lediglich Putsche zur Beförderung und Beschleunigung dieses Kreislaufs. Eines ist wichtig: Wie die jeweilige Machtelite sich ideologisch artikuliert, ist angesichts der dargestellten strukturellen Grundmuster relativ unerheblich. In einem Land mag sie sich als Bollwerk der Freiheit gegen kommunistische Unterwanderung darstellen, in einem anderen als Vorhut des Sozialismus — bei gleichen oder ähnlichen Strukturen und in der Regel mit großer subjektiver Überzeugung.

Es wäre im übrigen abwegig, die jeweiligen Überzeugungen moralisierend zu beurteilen und den jeweiligen Eliten das Scheitern demokratischer Ansätze in ihren Ländern persönlich anzulasten. In den meisten ehemaligen Kolonien waren demokratische Institutionen erst kurz vor der Unabhängigkeit eingeführt worden; zu ihrer Erprobung und Bewährung blieb keine Zeit. Zuvor waren die meisten kolonialen Territorien autoritär regiert worden, nämlich von der Kolonialverwaltung, deren Herrschaft der Kontrolle und der Beeinflussung durch die Beherrschten völlig entzogen war. Die kolonial ausgebildeten einheimischen Administratoren waren verständlicherweise oft versucht, so zu administrieren, wie sie es vor der Unabhängigkeit gelernt hatten, nämlich ohne Kontrolle demokratischer Institutionen. So erklärt sich der berühmte und etwas zynische Spruch über Demokratie in Afrika: „One man, one vote, one election, once". Es ist die Erfahrung des kolonialen Staates mit einem sehr spät übergestülpten parlamentarischen System, die schnurstracks zu dieser Entwicklung hingeführt hat. Diese Eliten sind subjektiv der Überzeugung, daß sie das Bestmögliche tun. Aber diese Überzeugung ist nahezu zwangsläufig mehr von ihrem Gruppeninteresse als vom Gesamtinteresse bestimmt.

Was ist die Schlußfolgerung für die politisch abstinente oder technokratische Entwicklungshilfe? Das Antragsprinzip führt dazu, daß solche Maßnahmen die Prioritäten erhalten, welche im Interese der Führungsgruppe liegen, aber nicht notwendigerweise im Interesse der Gesamtbevölkerung. Besonders deutlich läßt sich das beobachten an einer ganzen Anzahl von Staaten, die mit der Europäischen Gemeinschaft assoziiert sind, nachdem durch das Lom-II-Abkommen die Spielregeln verändert wurden und die Nehmerländer den überragenden Einfluß auf die Verwendung der Mittel erlangten: Wesentlich mehr Infrastruktur, wesentlich weniger Landwirtschaft; keine Kartoffeln, sondern Beton; keine Projekte, die der breiten Bevölkerung zugute kommen, sondern die in erster Linie den Interessen der Minderheit dienen.

Die Interessenpolitik der Eliten kann nicht nur optimalen Ressourceneinsatz verhindern, sondern sie kann bisweilen direkt zum Entwicklungshindernis geraten. Als besonders eklatantes Beispiel dafür sei die Agrarpreispolitik vieler Staaten angeführt. Insbesondere Lebensmittelpreise werden häufig künstlich niedrig gehalten. Man will die Bevölkerungsmassen der Hauptstädte ruhig halten; denn was die Regierung gefährden kann, ist Unruhe in den Hauptstädten. Was auf dem Land passiert, ist weniger wichtig. Man drückt also die Lebensmittelpreise. Die Folge ist, daß es für die Bauern unattraktiv wird, für den Markt zu produzieren; sie produzieren im Extremfall nur noch für ihre Selbstversorgung. In vielen afrikanischen Staaten war dies nach der Unabhängigkeit der Fall. Das führt zu absurden Situationen. Die Provinz Kivu im Osten des Zaire, eine der reichsten Gegenden des Kontinents, in der vier Ernten im Jahr möglich sind, muß heute Lebensmittel importieren. Zusammenfassend läßt sich festhalten: Die unpolitische und damit notwendigerweise technokratische Entwicklungshilfe hat durchaus massive politische Konsequenzen, nämlich die Förderung des Status quo. Unter den konkreten Gegebenheiten bedeutet das die Förderung eines Status quo, der für die ökonomische Entwicklung keineswegs optimal ist, für die soziale Entwicklung oft schädlich und zur Förderung politischer Partizipation und zur Verwirklichung der Menschenrechte bestenfalls unwirksam ist.

II. Außenpolitisch determinierte Entwicklungspolitik -eine Alternative?

Ist eine außenpolitisch und sicherheitspolitisch determinierte Entwicklungspolitik eine Alternative zu einer . unpolitischen'Entwicklungspolitik? Wie eingangs erwähnt, haben sich gerade in den letzten Wochen die Stimmen gemehrt, die einer eindeutigen Unterordnung der Entwicklungspolitik unter die Außen-und insbesondere unter die Sicherheitspolitik das Wort reden. Ein scheinbar klares Kriterium für eine Prioritätensetzung wird vorgeschlagen, nämlich „bevorzugt unseren Freunden zu helfen". Wer sind diese Freunde? Kürzlich wurde von einem prominenten Politiker vorgeschlagen, nach den Erfahrungen in Afghanistan zur Verhütung von Schlimmerem im südlichen Afrika den weißen Südafrikanern zu helfen. Ein bekannter deutscher Journalist charakterisierte einen anderen Freund wie folgt: „Zwar hält er nicht viel von demokratischer Freiheit, jedenfalls nicht viel mehr als seine Nachbarn, und er scheute sich ebenso wenig wie andere mittelöstliche Staatschefs, sich unbekümmert die Taschen zu füllen. Aber im Sinne des Programms seines Vaters blieb dennoch Europa stets ein Vorbild für ihn. Auf die Verläßlichkeit seiner westlichen Bundesgenossen hat er als Herrscher immer vertraut." Die Rede ist von Schah Reza Pahlevi. Solche Überlegungen lassen aufhorchen. Ähnliche Räsonnements haben bereits vor 20 und 30 Jahren westliche Dritte-Welt-Politik, die freilich damals noch nicht so hieß, in mannigfache Sackgassen geführt.

Die Entwicklungspolitik war in ihren Anfängen eine ziemlich ungeliebte Stieftochter des Kalten Krieges, der Containment-Politik gegenüber Expansionsversuchen der Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ihre ersten Zielländer waren unmittelbar von der Sowjetunion bedrohte Staaten: Griechenland, die Türkei, Iran und Pakistan. Aus der Einsicht, daß rein militärische Hilfe mittelfristig unwirksam bleiben muß, wenn wirtschaftliche und soziale Verhältnisse unstabil sind, entstand das erste größere Entwicklungshilfeprogramm: das Harry Trumans Point-Four-Program. Point four war ein Punkt eines Programms, das ansonsten vorwiegend militärische und bündnispolitische Punkte aufwies. Aus diesen Anfängen in einem eng umgrenzten Raum dehnte sich dann die Entwicklungspolitik schubweise auf immer neue Regionen aus, jeweils in Reaktion auf tatsächliche oder perzipierte kommunistische Gefahr: Nach den „Nördlichen Drei“, den unmittelbaren Nachbarn der Sowjetunion, der gesamte Vordere und Mittlere Orient, Jahre später Schwarzafrika, wiederum Jahre später Lateinamerika. Eng verknüpft war diese Politik mit Versuchen, die Nehmerstaaten durch Pakte und Bündnisse an die westliche Welt zu binden. Am Falle des Bagdad-Paktes läßt sich exemplarisch studieren, wie Wirtschaftshilfe dazu genutzt wurde, Verbündete zu gewinnen.

Auf dem Papier zumindest brachte diese Politik Erfolge. An das Gebiet des Nordatlantikpaktes schloß sich der Cento-Pakt an, an diesen die SEATO. Auf der Weltkarte war die Einkreisung der Sowjetunion durch pro-westliche Bündnissysteme gelungen. Auf wirtschaftlichem, sozialem und politischem Gebiet aber erwiesen sich diese Erfolge bald als sehr zweifelhaft. Nur in Westeuropa bewirkte das Zusammenwirken von NATO und Marshall-Plan eine schnelle und spektakuläre Stabilisierung, während in allen anderen Weltteilen die innerstaatliche Stabilisierung der Verbündeten ausblieb. Zweifellos sind für Erfolg in Europa und Fehlschlag in der Dritten Welt innere Gegebenheiten und Voraussetzungen der jeweiligen Staaten von ganz erheblicher Bedeutung. Es war eine Sache, Frankreich aus den Ruinen des Weltkriegs wiederaufzubauen und eine andere, Pakistan oder den Irak zu „entwickeln".

Neben den fundamentalen Unterschieden in wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen zwischen einem — wenn auch kriegszerstörten — Europa und Ländern der Dritten Welt, begründet in gänzlich verschiedenen historischen Ausgangslagen, sollte man aber auch nicht vergessen, daß es erhebliche Unterschiede gab in der Art und Weise, wie die Wiederaufbaupolitik in Westeuropa einerseits und die Entwicklungspolitik der westlichen Welt in den Ländern der Dritten Welt andererseits betrieben wurde. Zu nennen ist zunächst der Unterschied in der Seriosität der gewährten Wirtschaftshilfe. Was den Verbündeten in der Dritten Welt damals an Hilfe gewährt wurde, war nur ein Bruchteil der Investitionsmittel, die Europa im Rahmen des Marshall-Planes erhielt. Es wurde zwar genau so viel darüber geredet, die Substanz war aber erheblich geringer.

Als vielleicht noch wichtiger erwies sich aber der Unterschied in der politischen Orientierung. Das Nordatlantische Bündnissystem wurde von Anfang an als ein Pakt demokratischer Staaten konzipiert, sieht man von den mildernden Umständen ab, welche dem Portugal Salazars gewährt wurden. Die Bundesrepublik wurde erst nach einer mehrjährigen Quarantäne zugelassen, Francos Spanien mußte draußen bleiben. Das Rationale des Bündnisses — Schutz der liberalen Demokratien — erhielt so erhebliche Glaubwürdigkeit. Diese Glaubwürdigkeit hingegen fehlte der Bündnis-und Hilfepolitik außerhalb des europäischen Bereiches. Hier zählte Demokratie wenig. Der Feind des Feindes wurde zum Freund erklärt; strammer Antikommunismus wurde zum wichtigsten Kriterium der „Freundschaft". „Neutralismus" wurde ein Schimpfwort, auch wenn der Neutralist achtenswerte Leistungen beim Aufbau einer Demokratie aufwies wie Indien oder genuine sozialreformerische Ansätze vorzuweisen hatte wie etwa Ägypten in den frühen Jahren Abdel Nassers. Als Bündnispartner akzeptiert und bevorzugt mit Hilfe bedacht wurden aber eine Anzahl von Regimen, die sich außer durch Antikommunismus lediglich durch repressive Regierungsformen und Aufrechterhaltung massiver sozialer und ökonomischer Gegensätze auszeichneten. Die Freundschaft mit solchen Regimen, manchmal salopp aber zutreffend als „Drakularegime" bezeichnet, machte den Westen in weiten Teilen der Dritten Welt politisch und moralisch unglaubwürdig, ebenso wie die Unterstützung und Duldung bereits längst unhaltbar gewordener kolonialer Herrschaft.

Befreiungsbewegungen, die sich gegen solche Regime wandten, wurden als kommunistisch denunziert zu einem Zeitpunkt, als sie in Wirklichkeit noch nationalistische und antikoloniale, auch sozialreformerische Kräfte ohne klare ideologische Zuordnung darstellten. Ein Agostinho Neto hat in der ersten Hälfte der sechziger Jahre die Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung gesucht, anfang der siebziger Jahre noch die der deutschen Sozialdemokratie. Er hat sie nicht bekommen; die Hilfe wurde nicht gewährt aus Rücksicht auf „Freunde und Verbündete". Wer dann schließlich die Hilfe gewährte, war die Sowjetunion und ihre Verbündeten. Die Folgen dieser Politik liegen auf der Hand. Die Bündnissysteme im Nahen und Mittleren Osten und in Asien liegen in Scherben. Auf den Trümmern antikommunistischer Drakularegime in Kuba, Vietnam und Äthiopien sind echte Kommunisten an die Macht gekommen, ebenso wie sie die Nachfolge des portugiesischen „Bollwerks des Abendlands" in Afrika angetreten haben.

Diese Erfahrungen westlicher Dritte-Welt-Politik in der Periode des Containment sollten nicht vergessen werden, wenn sich der Westen heute anschickt, ein neues Containment zu organisieren, das durch den neuen Expansionismus der Sowjetunion notwendig geworden ist. Churchill hat gesagt: „Nationen lernen nicht häufig aus Fehlern der Geschichte" — aber ein solches Lernen ist auch nicht unmöglich. Freilich, die ersten, hastigen Reaktionen auf die Afghanistan-Invasion lassen befürchten, daß die alten Fehler wiederholt werden könnten. Das unpopuläre Militärregime Pakistans, der Herstellung einer Atomwaffe verdächtig, ist schlagartig erneut zu einem gesuchten Partner des Westens avanciert, wenn auch, wiederum wie damals, vorerst nur verbal. Die bisher angebotene Hilfe ist — hier hat Präsident Zia völlig Recht — lächerlich gering. Die eigentliche Dimension hat etwa Klaus Na-torp umrissen: „Es geht ja nicht nur darum, daß die veralteten Waffen der pakistanischen Streitkräfte in moderne umgetauscht werden, es geht auch darum, Pakistan auf eine solide wirtschaftliche Grundlage zu stellen, denn nur auf fester ökonomischer Basis kann politische Stabilität gedeihen. Ohne politische Stabilität müssen auch noch so moderne Waffen keinen Schutz vor weiterem Vordringen der Sowjetunion bieten. Ist der Westen bereit, diesen hohen Preis zu zahlen?"

Der hohe Preis ist freilich nicht das einzig Erforderliche. Ihn zu zahlen, ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für die Schaffung politischer Stabilität — zumindest einer politischen Stabilität dauerhafterer und qualitativ anderer Art als die vormalige Stabilität eines Batista-Regimes oder der portugiesischen Herrschaft in Angola und Mo-zambique. Dauerhafte Stabilität wird nur dann möglich sein, wenn eine Regierung die Zustimmung der Regierten findet. Aus dieser Feststellung läßt sich die zentrale These der hier vorgelegten Überlegungen ableiten.

III. Demokratieorientierte Dritte-Welt-Politik: Notwendigkeit und Möglichkeit

Westliche Dritte-Welt-Politik sollte darauf abzielen, demokratische Regierungssysteme in Afrika, Asien und Lateinamerika zu ermöglichen, ihr Entstehen zu fördern und vorhandene Demokratien zu sichern.

Wie läßt sich dieses Postulat begründen? Im ersten Teil wurde versucht aufzuzeigen, daß autoritäre Regierungssysteme in der Dritten Welt strukturell kaum in der Lage sind, sozioökonomische Entwicklung einzuleiten, ja, daß viele von ihnen massive Entwicklungshindernisse darstellen. Daß sogenannte Entwicklungsdiktaturen in der Lage seien, entscheidende Fortschritte einzuleiten und zu sichern, das hat sich während der letzten Dekaden als Mythos erwiesen. Für den „Entwicklungsdiktator" gilt im Grunde die gleiche Argumentation, welche die Staatstheorie schon seit langem zum Thema des „guten Diktators" entwik-kelt hat. Es gibt ihn selten, und niemand kann für seine „Güte" noch für seine Entwicklungsleistung garantieren. Noch weniger ist aber zu erwarten, daß unter den Bedingungen erheblicher Knappheit eine gesamte Staatselite auf die Wahrung eigener Vorteile verzichtet und Tätigkeitsmerkmale aufweist, die der Heilig-mäßigkeit nahekommen müßten, um eine „gute" kollektive, „entwicklungsautoritäre" dynamische Kraft abzugeben.

Das Bildungssystem der Entwicklungsländer produziert eine ständig wachsende Zahl von Aspiranten auf Elitenpositionen, für die auch bei hypertropher Ausweitung der Staatsbürokratie nicht genügend Positionen geschaffen werden können, die den Erwartungen genügen. Die Alternative lautet: Kampf mit allen Mitteln um rarer werdende Elitepositionen, oder demokratische Regelung von Interessen-konflikten. Wo Verteilungskämpfe über längere Zeit hinweg nicht friedlich und demokratisch geregelt werden, da gibt es in der Regel nicht mehr viel zu verteilen. Umverteilung des Vorhandenen ist sicherlich in einer Anzahl relativ wohlhabender Staaten geeignet, die Regelung sozialer Konflikte zu erleichtern. Wo es aber sehr wenig gibt, da bringt Umverteilung wenig. Sozialökonomische Entwicklung gerade in den ärmsten Ländern bedarf aller Energie, aller Phantasie und allen Einsatzes, nicht nur einer schmalen Führungsgruppe, sondern der gesamten Bevölkerung. Diese Eigenschaften aber können in der Regel nur dann mobilisiert werden, wenn eine freie Entfaltung von Individuen wie Gruppen möglich ist und wenn alle in der Lage sind, in angemessener Weise am sozialen und am ökonomischen Fortschritt teilzuhaben. Kurz, es bedarf eines freiheitlichen und sozial gerechten politischen Systems.

Häufig wird eingewandt, auch der Zwang könne schnellen wirtschaftlichen Fortschritt bewirken, wie etwa in der Sowjetunion der Zwischenkriegszeit, übersehen werden hierbei die spezifischen Bedingungen dieses Fortschritts: fast vollständige Abschließung von der Außenwelt, das Fehlen des Vergleichs mit Konsumgesellschaften. Diese Bedingungen lassen sich für die Dritte Welt der Gegenwart nicht reproduzieren, es sei denn um einen sozialen Preis, der den von den Bürgern der Sowjetunion bezahlten um ein Vielfaches übersteigen müßte — er war hoch genug. Und im übrigen sollte man nicht vergessen, daß „soziale Kosten" nichts anderes als ein sozialtechnologischer Euphemismus für massives menschliches Leid sind.

Zwang wird also kaum helfen können. Wenn Menschen in den Entwicklungsländern durch ihre eigenen Anstrengungen ihre elementaren materiellen Bedürfnisse befriedigen können, wenn sie erfolgreich ihren eigenen Lebensbereich gestalten, dann — das kann man überall feststellen — wollen sie auch ihr politisches Schicksal selbst bestimmen. In diesem Sinne ist politische Partizipation ein Grundbedürfnis. Eine Grundbedürfnisstrategie, die nicht politische Partizipation einschließt, gleicht eher einem Gefängnisbewirtschaftungsplan als einem Entwicklungsprogramm.

Aus der Interessenperspektive der Menschen in den Entwicklungsländern läßt sich also eine demokratieorientierte Dritte-Welt-Politik durchaus ableiten. Wie läßt sie sich aus den Interessen der westlichen Industriestaaten begründen? Der Zusammenhang zwischen der politischen Verfaßtheit von Staaten und dem Weltfrieden ist in klassischer Form bereits in Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ aufgezeigt: „Die bürgerliche Verfassung in jedem Staate soll republikanisch sein...". Diese Überlegungen sind gerade heute sehr bedenkenswert. Die Republik im Sinne Kants beruht auf den Prinzipien der Freiheit des Rechtsstaates und der staatsbürgerlichen Gleichheit Dauerhafter Frieden kann für Kant nur dann zwischen den Staaten bestehen, wenn in den Staaten diese Prinzipien verwirklicht werden. Wer den Frieden will, der hat demnach ein legitimes Interesse daran, Demokratie in möglichst vielen Staaten verwirklicht zu sehen. Wendet man Kants Überlegungen auf die Politik der westlichen Staaten gegenüber den Staaten der Dritten Welt an, so ergeben sich ganz klare Perspektiven für das wohlverstandene Eigeninteresse der liberalen Demokratien: Demokratie darf kein Privileg reicher westlicher Staaten bleiben, wenn sie nicht unglaubwürdig werden will wenn sie ihre eigenen Werte ernst nehmen will Demokratie kann langfristig nicht überleben — und das ist das entscheidendste . Argument, wichtiger als Rohstoffpolitik und wichtiger als Stützpunktpolitik —, wenn sie nur auf kleinen Wohlstandsinseln besteht, wenn die Mehrheit der Menschheit sich von ihr abwendet Da liegt das entscheidende Interesse an einer demokratiepolitisch orientierten Dritte-Welt-Politik.

Wenn an der Wünschbarkeit von mehr Demokratie sowohl aus der Sicht der Beteiligten wie aus unserer eigenen kein Zweifel bestehen dürfte, dann stellt sich die Frage nach ihrer Möglichkeit, Häufig wird angenommen. Demokratie sei nur möglich, wenn bestimmte wirtschaftliche und bildungsmäßige Voraus

Setzungen vorhanden sind. Überspitzt: Demokratie sei eine Regierungsform, die für Arme und für Analphabeten untauglich ist Die Ergebnisse der empirischen Demokratieforschung haben diese Annahme jedoch keineswegs bestätigt. Sicher, Wohlstand und hohe Bildung eines Volkes fallen oft mit demokratischer Regierungsform zusammen. Es ist aber schwierig zu bestimmen, ob Wohlstand und Bildung Demokratie befördern oder ob Demokratie mehr Wohlstand und mehr Bildung schafft Eins steht fest: Es gibt kein ehernes Gesetz, demzufolge Wohlstand und Bildung eine notwendige Vorbedingung für demokratische Verhältnisse sind. Umgekehrt sind Wohlstand und Bildung auch keine Garantie. Ein ökonomisch so kärgliches Land wie Island hat seit Jahrhunderten eine freiheitliche Demokratie aufzuweisen. Die schweizer Demokratie hat lange funktioniert bevor das Land alphabetisiert wurde. Umgekehrt hat fortgeschrittene Industrialisierung und die Weisheit ihrer hohen Schulen weder Deutschland noch Italien vor Nationalsozialismus und Faschismus bewahrt Es gibt kurz gesagt keinen sozialökonomischen Automatismus, der Entwicklungsländer an demokratischer Entwicklung hindern würde. Es gibt weiterhin keinen kulturellen Determinismus, welcher außereuropäische Länder demokratieunfähiger machen würde als solche europäischer Tradition. Gewiß, es gab traditionale Herrschaftsformen in Afrika und Asien, die monarchisch oder oligarchisch angelegt waren, aber solche gab es auch in Europa. Es gab auch traditionale Re-

gierungssysteme, die auf intensiver Partizipa-tion der Regierten beruhten, Systeme, die Machtkontrolle und die Möglichkeit eines friedlichen Machtwechsels kannten — kurz, traditionale politische Systeme, welche die Wesensmerkmale von Demokratie aufgewiesen haben.

Die eingangs analysierten heutigen autoritären Systeme der Dritten Welt beruhen nicht auf eigenständiger kultureller Tradition der Entwicklungsländer, sie sind vielmehr ''-. vir, tierte autoritäre Systeme, ungeachtet mancher geschichtsklitternder Symbolik, deren sich manche der heutigen Herrscher bedienen mögen. Die europäische Kolon-es sei wiederholt war autoritär, und sie war in der Regel angelegt nach dem phantasielosesten Staatsmodell das sich Europa hat ei-Wplas-sen, nämlich dem zentralistischen Einheitsstaat. Der Einheitsstaat mag homogenen Gesellschaften und einheitlichen politischen Kulturen angemessen sein; auf komplexe kulturell, religiös, linguistisch oder ethnologisch fragmentierte Gesellschaften übertragen, verführt er leicht zu einseitiger und undemokratischer Regelung notwendigerweise auftretender Gruppenkonflikte. Angesichts dieses Erbes — und nicht aufgrund eigener Tradition — ist es kaum verwunderlich, daß zahlreiche junge Demokratien der Dritten Welt gescheitert sind.

Aber man soll auch die ermutigenden Beispiele nicht übersehen. Trotz aller Widrigkeiten gibt es eine Anzahl von genuinen Demokratien in der Dritten Welt. Es gibt afrikanische Staaten, die von der Militärherrschaft zu freier Wahl zurückkehren. Es gibt die größte Demokratie der Welt, Indien, die eine Regierung abwählte und ihre Nachfolgeregierung wiederum abwählte. Das hat es in einer Anzahl von anderen Staaten überhaupt noch nie gegeben. Trotz erbitterter innenpolitischer Konflikte, trotz Unterentwicklung, trotz Analphabetismus gibt es in Indien friedlichen Machtwechsel und Machtkontrolle.

Wenn Demokratie nun unter den schwierigen Bedingungen der Dritten Welt nicht unmöglich ist, dann kann sie auch gefördert werden. Gefördert werden müssen zunächst alle elementaren Voraussetzungen. Demokratie bedarf zwar als Voraussetzung nicht des Wohlstands, aber auf der anderen Seite ist es klar, daß Hunger jedem Regierungssystem schlecht bekommt und daß Staatsbankrott jedes Regieren unmöglich macht. Welche Quellen man immer benutzt, welche Studien man zugrunde legt und welche Berechnungen man anstellt, in der Dritten Welt geht nichts ohne eine massive Erhöhung des Ressourcentransfers von den Industriestaaten. Entscheidend ist aber das Wie dieses Transfers. Ob Handel oder Hilfe oder beides: Die Hilfe kann Tyrannen an der Macht halten oder sie kann Demokratien fördern. Jeder Transfer — und das ist die Operationalisierung der zentralen These — sollte daraufhin befragt werden, welche sozialen und politischen Folgen er haben kann. Und es sollte versucht werden, so weit wie möglich jeden Transfer zum Besten demokratischer Zustände zu steuern.

Selbstverständlich wäre es wenig sinnvoll, das Bestehen von Demokratie zu einer Voraussetzung für Hilfe zu machen. Welches Land der Dritten Welt man immer ex cathedra für kommunistisch oder faschistisch erklären mag — die Anzahl der genuinen Demokratien bliebe auf jeden Fall ziemlich gering. Ein gangbarer Weg könnte vielmehr in der Anwendung eines „demokratischen Opportunitätsprinzips" bestehen: Jede einzelne Maßnahme und jedes Projekt der Entwicklungshilfe sind darauf zu befragen, ob sie im je gegebenen Kontext bessere Voraussetzungen für Demokratie schaffen und Spielraum für Demokratie verbreitern. Bessere Voraussetzungen für Demokratie sind z. B. eine gleichmäßigere Verteilung ökonomischer Benefizien, mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit von einzelnen wie von Gruppen, Entstehen von Selbsthilfebewegungen, von lokalen oder regionalen Initiativen. Mehr Spielraum für Demokratie wird geschaffen, wenn eine Maßnahme dazu beiträgt, Macht zu kontrollieren, zu diversifizieren, Gleichgewichte zu schaffen. Und das liegt durchaus, zumindest teilweise, in der Reichweite dessen, was durch Maßnahmen der Industriestaaten zu beeinflussen ist.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit beschäftigt sich intensiv mit der Frage, wie soziale Auswirkungen von Maßnahmen antizipiert und gesteuert werden können. Ziel dieser Bemühungen ist eine Prüfung der „social feasibility", genauso, wie man bisher bereits eine technische und eine finanzielle Prüfung durchführt. Im Sinne einer demokratiepolitisch orientierten Entwicklungshilfe wäre diese Zielsetzung zu erweitern und zu vertiefen. Sie sollte die Frage nach Schaden oder Nutzen einer Maßnahme für demokratische Entwicklung einschließen. Eine Praxeologie müßte erarbeitet werden, die auf Mehrung sozialer Gerechtigkeit und Minderung unkontrollierter Macht ausgerichtet ist. Das mag sehr theoretisch klingen. Ein knappes Beispiel aus der Praxis mag jedoch belegen, daß die administrative Gestaltung einer Maßnahme die Beachtung oder Nichtbeachtung von Menschenrechten, das Bestehen von mehr Freiheit oder weniger Freiheit in einem ganz gewöhnlichen Entwicklungsprojekt beeinflussen kann. Zu vergleichen sind zwei Projekte in demselben afrikanischen Land; beide sind Plantagenprojekte, beide erfordern die Mitwirkung der einheimischen Bauern. In dem einen Projekt gibt es eine Vorlaufphase, in der die Bauern informiert werden, in der sie motiviert werden. Sie arbeiteten dann freiwillig und gerne im Projekt mit. In dem anderen Projekt unterblieb durch einen Planungsfehler die Vorlaufphase. Dort wurden die Bauern von der Polizei an die Arbeit geprügelt. Sie taten die geforderte Arbeit, solange sie sie machen mußten. Einige besonders Renitente wurden für einige Jahre ins Gefängnis gesteckt, und einige sind dabei umgekommen. Die gesamte Maßnahme fiel in sich zusammen, sobald der unmittelbare physische Druck wegfiel — weil die Bauern den Sinn der Sache nicht einsahen und weil sie die Maßnahme inzwischen haßten. Das gleiche Projekt mit dem gleichen ökonomischen Ziel führte in dem einen Fall zum Erfolg, im anderen Fall zum Mißerfolg, in einem Fall zu freiwilliger Mitarbeit, im anderen zu brutalem Zwang. Der Unterschied lag in einer rein „administrativen" Vorkehrung.

Dieses Beispiel zeigt die Reichweite und die Möglichkeit einer ausgearbeiteten Praxeologie auf, die sich auf Demokratie richten kann und richten sollte. Gerade in den ärmsten Staaten ist der Einwirkungsbereich der westlichen Entwicklungshilfepolitik sehr viel größer, als wir uns das manchmal vorstellen. Ein weiteres ist wichtig an diesem Beispiel: Die Intervention, die hier in dem einen Fall erfolgte und in dem anderen nicht, blieb unterhalb einer Schwelle verbaler Politisierung. Das heißt: Demokratiepolitik durch gute Planung und gute Administration ist möglich.

Darüber hinaus verfügt gerade die Bundesrepublik ein über sehr flexibles zusätzliches -In strumentarium, nämlich die Förderung freier Träger in der Entwicklungshilfe. Wir haben politische Stiftungen, wir haben Kirchen, es gibt Freiwilligenorganisationen. Diese verschiedenen freien Träger könnten — und manchmal tun sie es auch — mutige oder auch riskante Dinge tun, um Demokratie da zu fördern, wo der staatlichen Hilfe die politische Klugheit Grenzen setzt. Die Existenzberechtigung der freien Träger ist im Grunde nur von dieser Möglichkeit her effektiv zu begründen. Und sie müssen sich gelegentlich auch die Frage gefallen lassen, ob sie wirklich das Optimale für mehr Demokratie in der Dritten Welt leisten.

Die Administratoren der Entwicklungspolitik, der staatlichen wie der freigesellschaftlichen, werden mit Sicherheit stöhnen, wenn sie diese Vorschläge für demokratiepolitische Kriterien in ihrer Arbeit zur Kenntnis nehmen. Die Verwirklichung dieser Vorschläge würde zweifellos die konkrete Arbeit weiter erschweren und komplizieren. Ein weiterer und berechtigter Einwand wäre dann die Frage nach den Erfolgschancen. Kein Zweifel: Eine konsequente demokratiepolitisch orientierte Entwicklungspolitik wäre ein sehr mühseliges Geschäft. Sie müßte mit vielen Fehlschlägen rechnen. Es gäbe weitere Probleme, etwa der Mittelabfluß würde weiterhin erschwert. Aber: Die Alternative zu einer solchermaßen umrissenen Entwicklungspolitik ist nicht die unpolitische Entwicklungspolitik, denn wie bereits aufgezeigt: die gibt es nicht. Ob Entwicklungspolitik unpolitisch konzipiert und administriert wird oder nicht, sie beeinflußt die Verhältnisse in der Dritten Welt. Wenn sie nicht politisch geplant ist, dann beeinflußt sie eben in ungeplanter, unkontrollierter Weise. Die Dritte Welt ist voll von Beispielen ungewollter, aber sehr politischer Folgen der westlichen Politik.

Der schwerwiegendste Einwand, der häufig gegen eine klare demokratiepolitische Orientierung unserer Dritte-Welt-Politik vorgebracht wird, sei abschließend erörtert. Er lautet: Niemand habe das Recht, seine eigenen politischen und ideologischen Überzeugungen und Werte anderen, und gar Angehörigen anderer Kulturen, aufzudrängen — dies sei neuer paternalistischer Ideologieexport. Dieses vor Argument scheint auf Respekt dem kulturellen Erbe anderer zu beruhen. Merkwürdigerweise gefällt es sowohl extrem konservativen als auch manchen Leuten, die sich für progressiv halten. Dennoch: Es beruht auf einer Anzahl von Fehlannahmen und Fehlschlüssen — oder aber auf eigenem Zweifel am Wert der liberalen Demokratie.

Die erste Fehlannahme ist die Vermutung, andere Kulturen hielten weniger als wir von sozialer Gerechtigkeit und von Freiheit. Diejenigen, die in anderen Kulturen, ebenso wie in der unsrigen übrigens, nichts von sozialer Ge21 rechtigkeit und Freiheit halten, sind in der Regel auch diejenigen, die von Ungerechtigkeit und Unfreiheit profitieren. Die anderen sind anderer Meinung — oder sie sind nie gefragt worden.

Man sollte nicht vergessen, daß es in den zwanziger und dreißiger Jahren viele Leute gab, die behaupteten, liberale Demokratie widerspreche deutscher Kultur, deutschem Wesen und deutscher Tradition. Offensichtlich aber gedeiht inzwischen die Demokratie hier gar nicht so schlecht. Warum soll das, was für uns gilt, nicht auch für andere gelten?

Die Gesellschaften der Dritten Welt werden ihre Formen von Demokratie finden, die sehr vielfältig sein können, wie Kulturen und Traditionen vielfältig sind, und, daß sollte man nicht vergessen, wie die europäischen Formen der Demokratie sehr vielfältig sind, vom französischen Einheitsstaat bis zur Konkordanzdemokratie der Schweizer. In Afrika, in Asien und in der arabischen Welt gibt es traditionale Gesellschaften, die genuine demokratische Traditionen besitzen, wenn wir Demokratie nach ihren universellen Wesenselementen definieren: Partizipation, Machtkontrolle und die Möglichkeit friedlichen Machtwechsels. Es gibt in der Dritten Welt auch nichtdemokratische Traditionen und Kulturelemente — wie bei uns auch. Die derzeit bestehenden autoritären Systeme der Dritten Welt entstammen aber in der Mehrzahl nicht traditionalen Kulturen, sondern, es sei wiederholt, dem kolonialen Export eines autoritären Systems europäischer Herkunft. Wenn Europa sich ungerechtfertigten Ideologieexport zuschulden kommen ließ, dann handelte es sich wohl kaum um Demokratieexport.

Wenn man mit einfachen Leuten in Ländern der Dritten Welt redet, mit afrikanischen Bauern oder syrischen Handwerkern, seien sie Analphabeten oder nicht, dann kann man immer wieder feststellen, daß sie sehr genaue und klare Ansichten haben über das, was in ihrem Staat vor sich geht, daß sie wissen, auf was es ihnen ankommt. Und das Wesen der Demokratie besteht darin, daß Menschen sagen können, was sie wollen, und daß sie bei Entscheidungen mitreden können. Demokratieorientierte Dritte-Welt-Politik bedeutet nicht den Export des amerikanischen Verfassungsgerichtes, des deutschen Bundesrates oder des französischen Rechnungshofes, sondern kleine Beiträge dazu, daß Menschen über ihr eigenes Schicksal mitreden können.

Die zweite Fehlannahme besteht darin, daß eine nicht spezifisch politisch orientierte Entwicklungspolitik keine politischen Folgen habe — sie wurde bereits widerlegt. Jede Maßnahme, sei es ein Kredit oder ein Projekt der technischen Hilfe, stellt einen Eingriff von außen dar, oder, wenn man so will, eine „Einmischung". Die Frage ist lediglich, ob diese Einmischung politisch reflektiert und gezielt ist oder nicht, mit anderen Worten, ob wir wissen und wollen, was wir politisch anrichten oder nicht. In jedem Falle aber richten wir politisch etwas an.

Außenpolitik westlicher Staaten kann sich sicher nicht ihre Partner nach dem Grad ihrer demokratischen Reife aussuchen, weder in der Zweiten noch in der Dritten Welt. Entwicklungspolitik aber kann sich sehr wohl ihre Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt aussuchen, daß sie zu mehr Gerechtigkeit und mehr Freiheit beitragen.

Jede Maßnahme wird von einem Entwicklungsland beantragt oder zumindest toleriert. Weder staatliche noch nichtstaatliche Zusammenarbeit kann Maßnahmen gegen den erklärten Willen des betreffenden Landes durchführen. Wir aber haben das Recht und die Pflicht zu überlegen, was dabei für die Menschenrechte und die Demokratie herauskommt. Hat man kein politisches Ziel, dann unterstützt man das, was sich ungeplant abspielt — und das kann ungewollte Beihilfe zur Sklaverei bedeuten.

Letztlich ist die Frage zu stellen, ob die Grundwerte von Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit, zu denen sich alle unsere Parteien bekennen, auch in der Dritte-Welt-Politik ernst genommen werden oder nicht. Wer politische Freiheit exportieren will, ohne von Gerechtigkeit zu reden, oder wer Gleichheit ohne Freiheit exportieren will, der muß sich auch die Frage gefallen lassen, ob für ihn die Menschen in den Industriestaaten gleicher sind als andere, um an die Fabel vom Tierpark zu erinnern. Vordergründiger Respekt vor anderen angeblich nicht demokratischen Kulturen erweist sich schnell als eine neue Form von diskrimie-rendem Ethnozentrismus. Menschenrechts-und demokratieorientierte Dritte-Welt-Politik wird mühselig und schwierig sein. Viele Maßnahmen, vielleicht die Mehrzahl, werden wohl nicht so zu steuern sein, wie man erhoffen möchte. Das ist jedoch kein Grund, es nicht wenigstens zu versuchen.

Hoffnungslos ist die Aufgabe nicht. Es gibt Tausende von Fällen, in denen durch ganz kleine Schritte konkreter Entwicklungspolitik mehr an sozialer Gerechtigkeit und mehr an Freiheit bewerkstelligt worden ist. Bei allem Realismus sollten die Möglichkeiten nicht unterschätzt werden.

Da schließen sich irgendwo in der Dritten Welt Bauern zusammen, sie helfen sich gegenseitig, sie diskutieren ihre Probleme. Sie organisieren sich und tragen ihre Forderungen vor. Das ist ein Anfang von Demokratie. Sie artikulieren ihre Interessen. Weil sie viele sind und weil sie organisiert sind, finden sie Gehör. Der, welcher die Macht hat, wird sich überlegen, ob er Ärger mit vielen Leuten riskiert, oder ob er lieber einige Abstriche von seinen Privilegien macht. Das ist dann ein wenig mehr an Demokratie.

Was immer in einem solchen Fall an auswärtiger Hilfe erfolgt: Es kann dazu beitragen, den großen Knüppel dessen, der das Draufschlagen gewohnt ist, noch ein wenig schwerer zu machen — es kann aber auch helfen, den Menschen die Hände zu stärken, die versuchen, den Knüppel festzuhalten.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Theodor Hanf, Dr. phil., geb. 1936; o. Prof., Direktor des Arnold-Bergstraesser-Instituts, Freiburg. Veröffentlichungen u. a.: Das Erziehungswesen in Gesellschaft und Politik des Libanon, 1969-, Mitverf.: Education et Developpement au Rwanda, 1974; Sozialer Wandel, 2 Bde., 1975; Südafrika — Friedlicher Wandel?, 1978 (engl. 1979).