Die Ausführungen von L. v. Balluseck zum Thema Extremismus und Exodus haben mich veranlaßt, meine eigenen Gedanken zu diesem Thema (z. B. „Schule zwischen Gott und Marx", B 25/74, „Ist parteiliche Wissenschaft noch Wissenschaft?", B 35/77) unter einem neuen Aspekt zu sehen. Balluseck betrachtet das Problem aus der Sicht der Psychoanalyse; ich betrachte es aus der Sicht des Kritischen Rationalismus. Die Ergebnisse stimmen teilweise überein, teilweise scheinen sie auch ohne Bezug zueinander, ohne inneren Zusammenhang.
Inzwischen meine ich, eine gemeinsame Erklärungsbasis gefunden zu haben, eine Basis, die sicher auch nicht isoliert gesehen werden darf, die aber doch einen hohen Erklärungswert haben dürfte: die biologische Verhaltensforschung.
Ich weiß, daß die Verhaltensforschung — man denke an die Namen Lorenz, Tinbergen, Eibl-Eibesfeldt, Hassenstein u. a. — sowohl auf Seiten christlicher als auch auf Seiten marxistischer Denker auf Mißtrauen und Ablehnung stößt. Ich weiß auch, daß die Verhaltensforschung rassenideologisch mißbraucht wurde und mißbraucht wird. Das darf jedoch kein Grund sein, die fundamentalen Erkenntnisse der Ethologie zu ignorieren.
Der vorliegende Beitrag ist den angeführten Überlegungen gemäß in sechs Schritten aufgebaut: 1. Die psychoanalytische Erklärung des Extremismus und Exodus von L. v. Balluseck 2. Extremismus und Dogmatismus aus der Sicht des Kritischen Rationalismus 3. Der Begriff des natürlichen Gleichgewichts in der Verhaltensforschung 4. Der Abbau von Aggressionen durch Gewalt und durch Drogen 5. Aggression und gutes Gewissen 6. Verhaltensforschung und politische Bildung.
1. Die psychoanalytische Erklärung von Extremismus und Exodus durch L. v. Balluseck
Die Ausführungen von v. Balluseck scheinen mir vor allem deswegen interessant zu sein, weil er versucht, für die Phänomene des Extre-mismus und des Exodus eine gemeinsame Wurzel aufzuzeigen. Balluseck ermittelt diese gemeinsame Wurzel mit Hilfe der Psychoanalyse und kommt dabei auf eine gestörte Ich-Entwicklung, auf eine „Ich-Schwäche". Diese 'st wiederum auf die fehlende Auseinandersetzung mit intakten Vaterfiguren zurückzuführen. Die Gesellschaft unserer Tage ist, wie schon Mitscherlich sagte, eine „vaterlose Gesellschaft", zumindest aber hat sie „ zu wenig Vater" (S. 7). Vor allem der männlichen Jugend „wurden in Familie und Schule nicht jene Koordinaten gesetzt, nach denen oder gegen die sie sich orientieren konnte. Hatte ihre Ich-Bildung unter der diktatorischen Vormundschaft der Älteren gelitten, so wurde sie jetzt durch das Ausbleiben vorgegebener Leitlinien geschädigt. Ausblieb damit das für das seelische Wachstum offensichtlich unerläßliche Kämpfen um, für und gegen diese Vorgaben. Und damit war dem im Werden befindlichen Ich ein Stück Nährboden entzogen. Es darf nie zu viel und nie zu wenig Vater geben.“ (S. 7) Balluseck erklärt auf diese Weise nicht nur den Drang nach Geborgenheit, nach blindem Glauben und Gehorsam (und damit die Anziehungskraft einiger Sekten), er erklärt damit auch das Phänomen der Verwöhnung, der „maßlosen Ansprüche" (S. 10) und des Nieder-ganges von Leistung. „Als Antipoden der Leistungsgesellschaft entziehen sich die , out-drops', wo irgend möglich, jedem mit Mühsal verbundenen Anspruch. Das erklärt ihre Vorliebe für das Bild gegenüber dem gedruckten Wort; am liebsten wird die Strapaze des Lesens vermieden, wie bei der Lektüre von Comics" (S. 7). Nebenbei bemerkt, sehe ich im Hinweis auf die „Vorliebe für das Bild" eine Bestätigung meiner eigenen Ausführungen zum Thema „Verwöhnung durch technische Medien" (v. Cube, 1978).
Die vaterlose Gesellschaft ist es also, die, nach Balluseck, den politischen Extremismus hervorbringt, „nicht soziales Elend und Ausbeutertum" (S. 9). Die fehlende Auseinandersetzung mit der Vaterfigur ist aber nicht nur für den Extremismus ursächlich, sondern auch für den „drop-out“ durch Alkohol, Drogen oder entsprechende Sekten.
Die Frage allerdings, warum der eine zum Terroristen wird, der andere zum Alkoholiker, zum Sektenanhänger oder zum Selbstmörder, kann, wie Balluseck selbst sagt, aus der gemeinsamen Ursache heraus noch nicht beantwortet werden. Hier fordert Balluseck systematische Untersuchungen in einem hierfür einzurichtenden Forschungszentrum.
Als Nicht-Psychoanalytiker kann ich mir über den Erklärungsgehalt und über die Tragweite des psychoanalytischen Ansatzes von Balluseck kein Urteil erlauben; ich stelle jedoch fest, daß Balluseck zu einigen Ergebnissen gelangt, die mit meinen eigenen, aus der Wissenschaftstheorie stammenden Überlegungen übereinstimmen: Ich denke z. B. an Aussagen zum Dogmatismus, zur Emanzipation, zur Verwöhnung usw. Andererseits enthält der Beitrag von Balluseck freilich auch Behauptungen, denen ich nicht zustimmen kann, z. B. die Behauptung, daß Ideologien „zerbröckeln" würden und „Feindbilder verblassen" (S. 14).
Bevor ich ein ähnlich umfassendes Erklärungssystem darstelle — die biologische Verhaltensforschung —, möchte ich zunächst die Gedanken zum Extremismus und Dogmatismus, wie sie sich aus der Sicht des Kritischen Rationalismus darstellen, kurz zusammenfassen.
2. Extremismus und Dogmatismus aus der Sicht des Kritischen Rationalismus
Der Streit darüber, was als Wissenschaft zu bezeichnen ist, wird oft als akademisch angesehen, als unpolitisch und unwichtig. Das Gegenteil trifft zu! Es ist nicht nur eine akademische Frage, ob man unter Wissenschaft ein System logisch-empirisch überprüfbarer und damit wertfreier Aussagen versteht, oder ob man auch wertende Aussagen als wissenschaftliche akzeptiert.
Eine als wertfrei definierte Wissenschaft führt zu einer klaren Trennung zwischen Wissenschaft und Politik: Wissenschaftliche Aussagen kann man objektiv als wahr oder falsch überprüfen, politische (oder moralische) Aussagen bringen subjektive Werte und Überzeugungen zum Ausdruck; sie sind eben nicht wahr oder falsch, es handelt sich vielmehr um Entscheidungen, die prinzipiell auch anders getroffen werden können.
Eine „wertende Wissenschaft" ist im Grunde eine Täuschung, ein Etikettenschwindel. In Wirklichkeit handelt es sich um ein System subjektiver Aussagen, beispielsweise also um ein System politischer Aussagen, das aber mit dem Prestige und mit dem Anspruch objektiver Wahrheit auftritt. Dieser Vorwurf trifft insbesondere den sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus: Die klassenlose Gesellschaft erscheint hier nicht einfach als eine politische Zielvorstellung, die auch andere Zielvorstellungen zuläßt, sondern als „wissenschaftliche Erkenntnis". Der Marxismus wird nicht müde, das „historische Gesetz“ mit allen Konsequenzen als Wissenschaft zu deklarieren. Ich zitiere aus dem Philosophischen Wörterbuch (Klaus/Buhr, 1972, S. 441): „Das Prinzip der unbedingten Einheit von strengster wissenschaftlicher Objektivität und revolutionäB rer Parteilichkeit ist daher das grundlegende Prinzip der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaft." Im Parteiprogramm der KPdSU (kommentiert von Thomas, Köln 1962, 5. 118) steht: „Der dialektische und historische Materialismus als Wissenschaft von den allgemeinen Entwicklungsgesetzen der Natur, der Gesellschaft und des menschlichen Denkens muß weiterentwickelt und standhaft verteidigt und ausgebreitet werden." Walter Ulbricht schreibt im Geleitwort zu einem weit verbreiteten Schulungsbuch der DDR: „In dem vorliegenden Buch wird, ausgehend von den Erkenntnissen der fortgeschrittensten Wissenschaft, der Sowjetwissenschaft, die Entwicklung in Natur und Gesellschaft dargelegt..."
Die entscheidende Konsequenz aus einem solchen wertenden Wissenschaftsbegriff ist die, daß politische Aussagen „wissenschaftlich“ legitimiert werden, daß sie mit dem Anspruch objektiver, allgemeiner Gültigkeit versehen werden.
Ich meine, daß man zwei Typen von Vertretern einer solchen „Wissenschaft" unterscheiden muß: Der eine weiß sehr wohl, daß es sich am politische Konzeptionen im Gewände von Wissenschaft handelt, verwendet aber den Wissenschaftsbegriff als Strategie zur Durchsetzung seiner politischen Überzeugungen. Dieser Typ ist zwar moralisch anfechtbar, aber er ist wenigstens nicht dogmatisch. Der andere Typ ist derjenige, der von der objektiven Wahrheit seiner politischen Vorstellung zu-tiefst überzeugt ist. Er ist der eigentliche Dog-matiker;
er ist durch nichts zu beirren, auch wie Balluseck richtig sagt, durch Logik. licht, Menschen aber, die die „Wahrheit" besitzen, lühlen sich als Auserwählte, sie fühlen sich als der Geschichte oder anderer Vollzugsorgan transzendenter Mächte.
An dieser Stelle zeigt sich, daß der Dogmatismus nicht allein auf „Wissenschaft" zu beruhen braucht:
Die andere (und ältere) Wurzel des Dogmatismus liegt in der Verabsolutierung re-
giöser oder anderer metaphysischer Vorstel-ungen.
Der Effekt ist derselbe: Der Dogmatiker befindet sich im Besitz der Wahrheit, er hat den . Auftrag", dieser Wahrheit zum Siege U verhelfen und scheut dabei auch nicht vor 'erechtigter Gewalt" zurück.
Zusammenfassend möchte ich in aller Deutlichkeit wiederholen: Jede Art von Dogmatismus — sei es ein pseudowissenschaftlicher oder ein religiöser — führt zwangsläufig zur Diktatur: Wer im Besitz der absoluten Wahrheit ist, kümmert sich nicht um die Meinung anderer; er kennt das Ziel, er braucht keine Abstimmung und keine Demokratie (es sei denn zur Erlangung der Macht). Der wissenschaftliche Sozialismus ist so wenig mit Demokratie zu vereinbaren wie eine islamische Republik: In beiden Fällen geht es um die Verwirklichung unverrückbarer Ziele und nicht um den Willen des Volkes. Wer sich dem metaphysischen Auftrag entgegenstellt, begeht ein Sakrileg und wird (real oder übertragen) beseitigt. Das war in vergangenen Diktaturen so und ist in den heutigen Diktaturen nicht anders. Freilich: Solange die Dogmatiker (noch) nicht an der Macht sind, halten sie in der Regel mit Gewalt und Terror zurück — nicht aus Über-zeugung, sondern aus Überlegung. Um an die Macht zu kommen, gibt es ja „bessere" Strategien, Strategien, die nicht so offen auf das Ziel zusteuern und daher von vielen gar nicht bemerkt werden. Man denke z. B. an die Strategie des Versprechens: Man greift Mißstände der Gesellschaft heraus, verallgemeinert sie, bauscht sie auf und verspricht dann die friedliche, harmonische, konfliktfreie, herrschaftsfreie Gesellschaft; diese Strategie war schon immer wirkungsvoll. Eine andere Strategie besteht im Umfunktionieren von Begriffen: Man denke etwa an die Begriffe Wissenschaft, Kritik, Emanzipation, Demokratie und Privileg: So wird aus der wertfreien Wissenschaft die wertende, um politische Ziele als Wissenschaft bezeichnen zu können; aus der Kritik als ständiger Reflexion auch auf eigene Wert-systeme wird der Vergleich eines verabsolutierten Wertsystems mit allem, was nicht hineinpaßt; aus der Emanzipation als Herauslösung von Abhängigkeiten wird die herrschaftsfreie Gesellschaft; aus Demokratie als ständiger Willensbildung der Bürger wird die Diktatur derjenigen, die die Wahrheit schon kennen; aus dem sozialen Aufstieg durch Leistung wird das geschmähte Privileg, das natürlich abgebaut werden muß usw. Die Liste der Strategien ist lang — ich deute sie hier nur an.
3. Der Begriff des natürlichen Gleichgewichts in der Verhaltensforschung
Halten wir folgendes fest: Die Psychoanalyse zeigt eine gemeinsame Wurzel von Extremismus und Exodus auf. Zentrale Gedanken dabei sind: fehlende Auseinandersetzung mit einer angemessenen Vaterfigur, fehlende Anforderungen und Leistungen, Verwöhnung, hohe Ansprüche und Unzufriedenheit.
Der Kritische Rationalismus zeigt eine andere Wurzel des Extremismus auf: der pseudowissenschaftliche oder metaphysische Dogmatismus. Das Dogma verschafft der Gewalt die Rechtfertigung, das „gute Gewissen".
Die Frage, um die es nun geht, ist die: Was verbindet diese beiden Ansätze miteinander? Wer ist es, der zum Extremisten wird, zum Terroristen? Wer übt Gewalt (mit gutem Gewissen) aus, und wer verfällt dem Alkohol oder anderen Drogen? Ich meine, daß die Verhaltensforschung eine Antwort auf diese Frage geben kann, und zwar eine einfachere und zugleich tiefergehende als die Psychoanalyse. Ich möchte daher versuchen, einige grundlegende Erkenntnisse der Verhaltensforschung darzustellen.
Eine erste Erkenntnis ist die, daß der Mensch am Ende einer jahrmillionenlangen Entwicklung steht, daß er als biologischer Organismus phylogenetisch programmiert ist. Er ist ein „Säugetier", hat ganz bestimmte Sinnesorgane und Gliedmaßen, sein Organismus wird weitgehend automatisch gesteuert und geregelt usw. Aber nicht nur seine organischen Formen und Funktionen sind biologisch determiniert, auch sein Verhalten wird von biologischen Determinanten beeinflußt. Man denke an den Nahrungstrieb oder an den Sexualtrieb. Hier handelt es sich um phylogenetisch entstandene Überlebensprogramme, die als solche nicht wegerzogen oder sonstwie beseitigt werden können. Gewiß ist der Mensch durch die enorme Entwicklung des Großhirns zu einem „ganz besonderen Tier" geworden: Er kann die Verhaltensprogramme des Stammhirns durch Lernen und Denken bis zu einem gewissen Grade steuern, er kann mit den Trieben umgehen, er kann sie aufschieben, verlagern, anreizen usw. Während z. B. ein Tier seinen Hunger stillt und (wahrscheinlich) dabei auch eine Be-B friedigung erfährt, kann der Mensch auch ohne Hunger essen (und damit einen Lustgewinn erzielen): Er braucht nur gemäß dem Gesetz, daß Triebstärke und Reizauslösung umgekehrt proportional sind, einen entsprechend höheren Reiz. Mit anderen Worten: Er braucht, wenn er sich den Genuß des Essens verschaffen will, obwohl er satt ist, noch etwas besonders Leckeres. Ähnlich verhält es sich beim Sexualverhalten: Der sexuell Gesättigte braucht besonders exklusive Reize, besondere Perversionen, um sich (dennoch) Befriedigung und Lust zu verschaffen.
Die zweite Erkenntnis betrifft den Begriff des biologischen Gleichgewichts. Dieser Begriff ist durch Kybernetik und Ökologie heute zum Allgemeingut geworden — mir scheint jedoch, daß er immer noch nicht in seiner vollen Tragweite erkannt wird. So spielt das biologische Gleichgewicht auch beim tierischen und menschlichen Verhalten eine wesentliche Rolle. Das Triebpotential und das durch die natürliche Umwelt geforderte Verhalten stehen in einem Gleichgewicht, genauer: das Energiepotential der Triebe wird durch die Reize und durch den Widerstand der Umwelt abgerufen, es wird durch Aktivität „verausgabt“, was zur Befriedigung (auch im Sinne von Lustempfindung) führt.
Das wild lebende Tier muß ja etwas tun, muß aktiv sein, um seinen Nahrungstrieb oder Sexualtrieb zu befriedigen: Es muß Nahrung suchen, Beute jagen, um Nahrung oder Sexual-partner kämpfen; es muß sich anstrengen, muß Gefahren bestehen etc. Der zivilisierte Mensch hat diese Anstrengungen nicht mehr nötig; Gesellschaft und Technik nehmen ihm die phylogenetisch programmierten Aktivitäten weitgehend ab. Andererseits möchte der Mensch aber nicht auf die mit der Triebreduktion verbundene Lust verzichten — schließlich kann er ja über sein triebbedingtes Verhalten bis zu einem gewissen Grade verfügen. Im Bereich des Nahrungs-und Sexualtriebes führt dies zu einem vorzeitigen Abbau des Potentials durch immer stärker werdende Reize. Ich spreche hier von bekannten Erscheinungen der Verwöhnung. Im Bereich der Aggression führt die Verwöhnung durch mangelnde Anstrengung zu weit gefährlicheren Konsequenzen.
Lorenz (1974) hat die Theorie aufgestellt, daß Aggression auf einem Trieb beruhe, und er führte dazu eine Fülle von Tatsachen und Erklärungen an. Man denke etwa an das aggressive Revierverhalten mit seiner arterhaltenden Konsequenz, an das Rangordnungsverhalten, an die Aggression im Zusammenhang mit sexuellem Verhalten, an das explorative Verhalten insbesondere junger Tiere (und Menschen) und nicht zuletzt an die persönliche Bindung, die nach Lorenz ebenfalls einen aggressiven Ursprung aufweist. Geht man aber von der Richtigkeit der Lorenz'schen Theorie aus, so muß auch bezüglich der Aggression ein natürliches Gleichgewicht existieren: Das Ag-gressionspotential wird vom Organismus stets neu bereitgestellt und durch die natürliche Umwelt immer wieder abgerufen und verbraucht. Daß es sich dabei um einen äußerst sinnvollen Überlebensmechanismus handelt, fegt auf der Hand: Das Aggressionspotential nuß ständig zur Verfügung stehen, da ein Aufbau für die jeweiligen Situationen zu viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Die Anforderungen aus der (natürlichen) Umwelt und die damit verbundenen Aktivitäten stehen mit dem sich stets regenerierenden Triebpotential in einem natürlichen Verhältnis.
Auch diesen Gleichgewichtszustand hat der Mensch in Unkenntnis der Zusammenhänge gestört:
Eine Störung besteht darin, Aggression, insbesondere kindliche Aggression, zu unterdrük-ken oder wegerziehen zu wollen. (Es gab auch schon Zeiten und Ideologien, in denen er versuchte, Sexualität zu unterdrücken oder wegzuerziehen: Der „Erfolg" war erschreckend: lebenslange Verhaltensstörungen, Neurosen, Selbstmord.)
Eine andere Störung des Gleichgewichts ist weniger augenfällig, dafür aber um so explosiver: Der mangelnde Abbau des Aggressionspotentials durch mangelnde Leistungsanforderungen der Umwelt. Diese Art von Verwöhnung möchte ich im folgenden näher erörtern.
4. Der Abbau von Aggression durch Gewalt und durch Drogen
ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß'das latürliche Aggressionspotential in unserer heutigen technischen Zivilisation und unserer is ins Detail geregelten Gesellschaft nicht »ehr hinreichend abgerufen wird. Es mangelt « 1 Möglichkeiten zu explorativem Verhalten, in individueller, kreativer Leistung, an zielge-ichteter, engagierter Aktivität, an selbstemp-indenem Risiko und Abenteuer (Lorenz), «he geregelte, passive, gleichförmige Arbeit m Fließband, an der Schreibmaschine oder m Schreibtisch ist kein Äquivalent für einen befriedigenden oder gar lustvollen Abbau ag-
essiver Energien. Im Gegenteil: Tätigkeiten, ie nicht als befriedigend erlebt werden, kön-en zu einer Verstärkung der Aggression bei-Tagen. u einem natürlichen Abbau von Aggression Chören Aktivität, Leistung, Auseinanderset-tng, Konflikt und Konkurrenz. Zum Abbau lon Aggression gehört aber auch, daß Aktivi-äten und Leistungen zielgerichtet sind, sinn-oll und erfolgreich, daß Auseinandersetzun9 gen und Konkurrenzsituationen bestanden und Konflikte gelöst werden, daß sich Erfolgs-erlebnisse einstellen und Befriedigung empfunden wird. Auch die persönliche Bindung, Liebe, Freundschaft und Kommunikation, spielt (wie die Verhaltensforschungzeigt) beim Verbrauch aggressiven Potentials eine wichtige Rolle.
Bezeichnet man die angeführten, dem Aggressionspotential zugeordneten Aktivitäten zusammenfassend als „Leistung", so bestätigt sich die Hypothese vermehrter Aggression durch mangelnde Leistung durch das Phänomen der Langeweile: Der Gelangweilte ist nicht weniger aggressiv, sondern mehr! Das Aggressionspotential wird nicht abgerufen, es wird so hoch, daß der geringste Reiz ausreicht, Aggression zu realisieren (man denke hier an die berühmte Fliege an der Wand).
Wichtig ist, daß der natürliche Abbau von Aggression mit beiden Phänomenen gekoppelt ist: Mit Leistung (Anstrengung, Anspannung) und mit Befriedigung (Entspannung, Lustempfindung). Nur wenn beide Phänomene auftreten, ist das verhaltensbiologische Gleichgewicht erfüllt.
Sieht man die Aussagen Ballusecks unter dem angeführten Aspekt, so ergibt sich ein faszinierender Zusammenhang: Nicht nur „zuviel Vater" kann schädlich sein im Sinne eines Aggressionsstaus, auch „zuwenig Vater" kann zu diesem Effekt führen. „Zuwenig Vater" heißt dabei: zu wenig Auseinandersetzung mit der Vaterfigur, zu wenig Leistung im genannten Sinne, zu wenig Bindung und Engagement. Dem Menschen unserer Zivilisation wird, wie Balluseck richtig sagt, nicht einmal mehr das Lesen zugemutet; er bekommt die „Wirklichkeit", das Abenteuer, die Spannung technisch einwandfrei ins Haus.
Der Zusammenhang mit Gewalttätigkeit und Drogenkonsum ergibt sich jetzt als Konsequenz: Wird das Aggressionspotential nicht durch Leistung im weitesten Sinne abgebaut, liegt also bezüglich der Leistungsanforderungen eine Verwöhnung vor, so bieten sich offenbar zwei Möglichkeiten des (lustvollen) Aggressionsabbaus dar: Abbau durch Gewalttätigkeit und Abbau durch Alkohol-oder Drogenkonsum.
Terrorismus, Rockertum, Zerstörungswut Jugendlicher etc.setzt m. E. ein nicht abgebautes Aggressionspotential voraus. Es bedarf nur geringer Reize, Aggression zu realisieren. Zudem ist anzunehmen, daß ein mit Gewalt verbundener Abbau von Aggression durchaus lustvoll erlebt werden kann.
Die andere Möglichkeit der „Aggressionsentlastung" (Hacker S. 164) besteht in der Vernichtung des Energiepotentials durch Alkohol oder Drogen. Angestaute Aggressionen werden „weggeschwemmt" — handle es sich nun um nicht ausgetragene Konflikte, um eintönige Arbeiten, um zuwenig Aktivität oder schlicht um Langeweile. Auch diese Art des Abbaus aggressiven Potentials wird als lustvoll erlebt.
Eine Bestätigung dieser Auffassung scheint mir im Zusammenhang der beiden „Abbauformen" zu liegen: Der Alkohol (oder ähnlich wirkende Drogen) setzt zunächst Aggressionen frei, bevor er die Energiequelle selbst zerstört So schreibt Hacker (S. 163): „Alkohol erhöht bereits in kleinen Dosen das Gewaltpotential durch Urteilstrübung und Enthemmung. Alkohol in stärkeren Dosen führt durch Einfluß auf die höheren Gehirnzentren regelmäßig zu Triebenthemmung, wenn auch keineswegs zu oft subjektiv verspürter Triebverstärkung, etwa erhöhter Potenz. Jede Kriminalstatistik zeigt die deutlich positive Korrelation von Alkoholmißbrauch mit Gewaltverbrechen und selbstzerstörerischer Unfallneigung."
Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich dringend vor dem Umkehrschluß warnen: Die von mir angedeutete Theorie geht von einem durch mangelnde Leistung gestörten verhaltensbiologischen Gleichgewicht aus und besagt, daß das Aggressionspotential sich durch Gewalt oder Drogen (oder beides) abbauen kann. Der umgekehrte Schluß ist nicht erlaubt: Es kann durchaus auch andere Gründe für Gewalttätigkeit, Alkoholismus oder Drogensucht geben.
5. Aggression und gutes Gewissen
Ich möchte jetzt auf meine Ausführungen über Extremismus und Dogmatismus unter dem Aspekt des Kritischen Rationalismus zurückkommen. Das Ergebnis war, daß Dogmatismus zur Diktatur führt: Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, fühlt sich im Recht; er handelt im höheren Auftrag, er muß der Wahrheit zum Siege verhelfen. Das Dogma liefert das gute Gewissen. Zugleich stellte ich jedoch dar, daß der Dogmatiker über viele Strategien verfügt, seine Vorstellungen durchzusetzen; die Gewaltanwendung war nur eine von diesen. Es erhebt sich somit die Frage, welche Bedingungen die Gewaltanwendung begünstigen, wer also potentiell zum Terrorismus neigt.
Mir scheint, daß diese Frage im Zusammenhang mit der Verhaltensforschung nunmehr präziser beantwortet werden kann: Zur tatsächlichen Ausübung von Gewalt, insbesondere zur Ausübung sadistischer Formen von Gewalt, scheint mir ein extrem hohes Aggres ionspotential erforderlich zu sein. Damit wird erjenige zum Terroristen (im weitesten Sin-e), bei dem beide Komponenten (Aggres-ionsüberschuß und Dogmatismus) zusam-lentreffen. Auch Fetscher (1977) stellt im Hinlick auf den Terrorismus einen Zusammenang von Dogmatismus und Aggression fest Die politische Wirklichkeit des Terrorismus cheint diese These zu stützen: Um Dogmatier (in den letzten Jahren vorwiegend um narxistische) handelt es sich in jedem Falle; ußerdem gibt es Hinweise dafür, daß in der ozialisation der Terroristen das Zuviel oder uwenig an Vater eine wesentliche Rolle ge-pielt hat, in jedem Falle also der Aufbau eines efährlichen Aggressionspotentials.
Jur Erklärung des Terrorismus (Aggression egen die Gesellschaft, gutes Gewissen) und les Alkoholismus (Aggression gegen sich Zerstörung der Leidensquelle) ist m. E. elbst, loch ein weiterer Faktor heranzuziehen: die Milieutheorie. Vom Standpunkt der Verhalensforschung aus handelt es sich hier freilich her um eine Milieu-Ideologie als um eine Milieu-Theorie. Dabei ist es keineswegs so, daß fe Verhaltensforschung den Determinismus der Milieutheorie auf das phylogenetische Programm verlagern würde: Lorenz hat immer »ieder darauf hingewiesen, daß wir zwar mit ten Trieben leben müssen, insbesondere mit der Aggression, daß wir aber über SteuerungsMöglichkeiten und damit über Entscheidungsteiheit verfügen. Wir haben z. B. die Möglichleit, Aggression durch Leistung (im weitesten inne) abzubauen, wir haben die Möglichkeit es Triebaufschubes, der Kontrolle und vieles Mehr. Nein — die Verhaltensforschung entsündigt den Menschen nicht, sie zeigt seine iologischen Bedingungen auf, aber sie entlaßt ihn nicht von der Verantwortung.
Genau das mache ich der Milieu-Theorie (in hrer überzogenen Form) zum Vorwurf: Die extreme)
Milieu-Theorie entmündigt den Menschen, indem sie ihn als Produkt der so-Sälen Umwelt auffaßt. Er kann ja „nichts dafür", wenn er keine Leistung erbringt (daran war die unglückselige Sozialisation schuld); er kann nichts dafür, wenn er gewalttätig wird (daran sind die Frustrationen der Gesellschaft schuld); er kann nichts dafür, wenn er dem Alkohol verfällt (auch daran ist die Gesellschaft schuld), usw.
Sicher übt die soziale Umgebung einen erheblichen Einfluß auf den Menschen aus, insbesondere im Säuglings-und Kindesalter; selbstverständlich gibt es Fälle von Verhaltensstörungen, die eindeutig auf frühkindliche Phasen zurückgehen — das gibt dem erwachsenen Menschen jedoch nicht das Recht, sich bei jeder Gelegenheit als Opfer seiner Sozialisation zu sehen.
Im übrigen widersprechen sich die Milieu-theoretiker, insbesondere die Marxisten und kritischen Theoretiker, selbst: Auf der einen Seite ist der Mensch durch die Gesellschaft determiniert, auf der anderen Seite ist es dem Funktionär der Ideologie aber durchaus möglich, sich durch Reflexion über seine eigene Sozialisation hinwegzusetzen und die Gesellschaft zu „durchschauen" und zu verändern.
Im vorliegenden Zusammenhang ist nur folgendes wichtig: Die Milieu-Theorie gibt dem Menschen die Möglichkeit, die Schuld an seinem Zustand der Gesellschaft anzulasten. Das bestärkt sein gutes Gewissen; das bestärkt ihn, gegen die Gesellschaft zu kämpfen oder sich selbst mit dem Ausspruch zu zerstören: „Da seht ihr, was ihr angerichtet habt.“ (Auch in diesem Punkte komme ich — auf anderen Wegen — zu einem ähnlichen Ergebnis wie Balluseck.) Man kann auch so sagen: Die Milieu-Theorie läßt den durch Aggression und Dogmatismus gekennzeichneten Menschen die jeweils gegenwärtige gesellschaftliche Situation emotional als eine schuldhafte erleben. Dadurch wird die kognitive Seite des Dogmatismus emotional unterstützt, die Aggression erhält ein konkretes Ziel.
6. Verhaltensforschung und politische Bildung
Die Konsequenzen, die sich aus den Ergebnissen der Verhaltensforschung ziehen lassen, sind nicht nur überraschend, man kann sie geradezu als sensationell bezeichnen: Sie besagen nichts weniger, als daß das sozialistische Ideal der Gleichheit der Menschen keineswegs zu einer harmonischen, klassenlosen oder herrschaftsfreien Gesellschaft friedlicher Bürger führt. Im Gegenteil: Die (politisch erzwungene) Gleichheit führt zu einer hochaggressiven Gesellschaft mit allen Konsequenzen bis hin zu Gewalt und Terror.
Diese Behauptung läßt sich durch die vorangegangenen Überlegungen begründen: Um nämlich Gleichheit zu erreichen — nicht nur Chancengleichheit, sondern Gleichheit im Ergebnis —, muß all das abgebaut und verhindert werden, was Ungleichheit verursacht Ungleichheit wird aber in erster Linie durch Leistung verursacht: Im Bereich der produktiven, intellektuellen oder praktischen Leistung zeigen sich ja die individuellen Unterschiede am deutlichsten, und es ist politisch nur schwer durchsetzbar, trotz unterschiedlicher Leistung Gleichheit zu erzeugen oder aufrechtzuerhalten. Also wird im Namen des wissenschaftlichen Sozialismus Leistung desavouiert.
Ich erinnere hier an die Verteufelung des Leistungsbegriffes durch linke Studenten, an die Abschaffung von Leistungshierarchien, Prüfungen etc. Ich verweise aber auch auf die Diskussion um die Gesamtschule: Daß hier die Leistung zugunsten von Chancengleichheit und sozialer Integration an die zweite oder dritte Stelle gerückt ist, braucht nicht unterstellt zu werden — es ist das erklärte Ziel der Gesamtschule. Dies geht auch aus deren Organisation eindeutig hervor (v. Cube, 1972).
Aber nicht nur im Bildungsbereich wurde und wird Leistung abgewertet, auch im Orientierungsrahmen '85 wird der »herkömmliche Leistungsbegriff 11 als zu eng abgelehnt; der Begriff wird daher umfunktioniert und u. a. auf „Kooperationsfähigkeit''und „moralische und soziale Empfindsamkeit“ ausgedehnt. Die Abwertung des bisherigen Leistungsbegriffes steht aber nicht nur im Programm — linke Politiker drängen immer wieder, Leistung abzubauen oder gar, z. B. durch die Steuer-und Einkommenspolitik, zu bestrafen.
Ich möchte hier jedoch nicht weiter auf ParteiPolitik eingehen, sondern folgendes wiederholen: Die politische Strategie, daß man über Abwertung und Verhinderung von individueller und produktiver Leistung zu Gleichheit gelangt und dadurch zu einer herrschaftsfreien, harmonischen und friedlichen Gesellschaft, ist schlicht falsch! Die Abwertung von Leistung führt zu mangelndem Abbau des natürlichen Aggressionspotentials und damit zum genauen Gegenteil des angestrebten Zieles. Das Ideal der Gleichheit zerstört aber nicht nur Leistung, es zerstört (selbstverständlich) den „Vater“, es verhindert die Auseinandersetzung, den Wettbewerb, die notwendigen Konflikte, die Bewährung; es zerstört die persönliche Bindung, das persönliche Engagement u. a. Das Ideal der Gleichheit führt weiter (im Zusammenhang mit der Milieu-Theorie) zur Wegnahme der eigenen Verantwortung, zur „organisierten Unverantwortung''(wie Bahro richtig feststellt); es führt zur Anonymität und Kollektivität, zur Maßlosigkeit in den Ansprüchen, zu Langeweile usw. Insgesamt führt die Verwirklichung von Gleichheit zu Aggression und Gewalt, zu Unzufriedenheit und Selbst-zerstörung. Die Verhaltensforschung zeigt eindeutig: Die Ziele des Sozialismus sind nicht erreichbar. Wir können unsere biologische Entwicklung nicht ignorieren oder wegerziehen; wir müssen vielmehr, wie Lorenz sagt, mit unserer Stammesgeschichte leben, insbesondere mit der Aggression. Was wir (dank unserem Großhirn) tun können, ist folgendes: Wir können mit dem biologischen Erbe umgehen, d. h. wir können steuern und kontrollieren. Dies bedeutet (in aller Kürze) für Politik und politische Bildung mindestens dreierlei: 1. Abbau der Aggression durch produktive Leistung, durch positive Auseinandersetzung, persönliche Bindung, eigene Verantwortung. Wichtig sind dabei Erfolgserlebnisse, die sich indessen nur dann einstellen, wenn man auf die Fähigkeiten des einzelnen eingeht (vgL hierzu das Modell der „Offenen Schule", V. Cube, 1972).
2. Kontrolle der Aggression und Kontrolle der Macht. Nicht die herrschaftsfreie. Gesellschaft ealistisch, sondern die dynamische, in der Triebpotentiale sinnvoll genutzt werden. Gefährlichkeit der Aggression kann dabei it dadurch beseitigt werden, daß man die ression selbst beseitigt, sondern daß man e einer mehrfach gesicherten Kontrolle erwirft. M. E. gelingt dies am besten durch ! institutionalisierte Machtverteilung und : htkontrolle, wie sie in unserer Verfassung gelegt ist.
itellektuelle Redlichkeit. Nicht die Abwe-heit eines Triebpotentials ist für den Men-en charakteristisch, sondern die Möglich-: der Steuerung und Kontrolle durch seine llektuellen Fähigkeiten. Hier liegt die te Instanz unseres Verhaltens und unserer antwortung; ihre Ausbildung ist daher für 5 Gesellschaft lebenswichtig. Unter intellektueller Redlichkeit verstehe ich dabei (im Sinne des Kritischen Rationalismus) die unbestechliche Anwendung der Logik und die ständige harte Prüfung des Denkens und Handelns. Insbesondere gehört zur intellektuellen Redlichkeit die Erkenntnis, daß jeder Dogmatismus zur Zerstörung von Freiheit und Demokratie führt.
Literatur:
F. v. Cube, Gesamtschule — aber wie?, Stuttgart 1972 F. v. Cube, Werden wir durch technische Medien verwöhnt?, in: technic-didact, 4— 5/78 I. Fetscher, Terrorismus und Reaktion, Köln/Frankfurt 1977 F. Hacker, Aggression, Wien/München/Zürich 1971 K. Lorenz, Das sogenannte Böse, München 1974