Vorbemerkung
Jenes Risiko, das den Versuch sozialwissenschaftlicher Aktualitätserhellung oft genug bedroht, hat auch den vorliegenden Beitrag zum Wahlkampf 1980 in den USA eingeholt: das Unvorhersehbare, die nicht einkalkulierte weltpolitische Erschütterung mitsamt ihren Folgen problematisiert Annahmen, Befunde und Folgerungen der politischen Analyse. Das Manuskript war abgeschlossen, als die sowjetische Militärintervention in Afghanistan Ende Dezember 1979 die etablierten Beziehungen zwischen den Supermächten (ebenso wie bündnisinterne Konstellationen in beiden Lagern) zu bedrohen begann und Reaktionen der Carter-Administration auslöste, die auf den ersten Blick als abrupter Kurswechsel, als Absage an jahrelang beschworene Zielvorstellungen und Verhaltensmuster des Weißen Hauses erscheinen.
Und doch glaubt der Autor, seinen Aufsatz im wesentlichen unverändert veröffentlichen zu sollen, aus mehr als bloß historischem Interesse überdies. Denn einmal handelt der Versuch von den grundsätzlichen Schwierigkeiten, US-Politik unter den spezifischen inneren wie äußeren Systembedingungen der siebziger und frühen achtziger Jahre zu planen und zu exekutieren. Ob sie sich mit der Krise im Iran und in Afghanistan so radikal gewandelt haben, wie es manchen Beobachtern der weltpolitischen und inneramerikanischen Szenerie erscheinen will, läßt sich derzeit mit zweifelsfreier Sicherheit nicht entscheiden; nach Meinung des Autors spricht ebensoviel dagegen wie dafür. Zum zweiten gebietet es das Prinzip politischer Fairness, die Leistungen einer jeden US-Administration in jenem Zeitraum zu messen, in dem sie ohne allzu opportunistisches Taktieren im Hinblick auf bevorstehende Präsidentschaftswahlen beschließen und agieren kann; in eben den drei Jahren nach der Amtsübernahme, die im Falle Jimmy Carters just in dem Augenblick abgelaufen sind, da die Ereignisse in der islamischen Welt die aufbrechenden Wahlkampfemotionen der Amerikaner unheilvoll verstärken. Das gelegentlich zu vernehmende Argument, es sollte sich die Größe eines Präsidenten gegebenenfalls auch im Bescheiden mit einer Amtsperiode bekunden, um so die Rationalität seiner Politik für die gesamte Regierungszeit zu gewährleisten, verkennt die machtmäßigen und psychologischen Dimensionen der Politik, den Umstand etwa, daß ein Regierungschef dort keine Gefolgschaft mehr mobilisieren kann, wo er auf künftigen Herrschaftsanspruch verzichtet. Zum dritten schließlich haben nach Meinung des Autors die politischen Ereignisse der letzten Wochen den Kern seiner Analyse nicht erschüttert. Im Unterschied zu anderen Beobachtern der amerikanischen Szenerie sieht er in den Aktionen und Reflexionen Carters bloß ein partielles Abweichen von bislang eingenommenen Positionen, neben dem sich vielerlei Kontinuität behauptet, im positiven wie im negativen; letztere Behauptung muß freilich wenigstens ansatzweise begründet werden.
Die mannigfachen Vorwürfe der letzten Wochen an die Adresse Jimmy Carters lassen sich im wesentlichen auf zwei kritische Positionen verkürzen. Wo einem Lager sämtliche Aktionen und Reaktionen Carters auf sowjetische Herausforderungen in verschiedenen Teilen der Welt als ebenso sprunghaft wie unsicher gelten, beklagt das andere die Unverhältnismäßigkeit der jüngsten amerikanischen Antworten auf Moskaus Interventionen in der islamischen Welt. Im ersten Lager finden sich amerikanische Gegner Carters sehr unterschiedlicher politischer Provenienz, ehemalige Liberale, inzwischen als „Neokonservative" firmierend, und altgediente Falken im Senat und Repräsentantenhaus mit ausländischen Kritikern des Präsidenten zusammen, die im Fehlen berechenbarer Konstanz und konsequenter Härte das Markenzeichen der Carter-Administration erkennen wollen. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit ihrer Argumentation ausführlich auseinander; an dieser Stelle seien die Grenzen der handlungspolitischen Möglichkeiten Amerikas nur einfach konstatiert. Wenn etwa Henry Kissinger die Meinung verficht, daß weltpolitische Krisen beherrschbar, Verständigung auch zwischen rivalisierenden Mächten herstellbar, unterschiedliche Interessen ausgleichbar und militärische Konflikte letztlich vermeidbar seien, sofern intelligente „Real" -Politiker mit Sinn für historisch-politische Konstellationen und stringenten Handlungskonzeptionen den Gang der Weltgeschichte lenkten, so unterschlägt er eine wesentliche Einsicht der vergangenen Jahrzehnte: Das propagierte System rationaler Politik funktioniert bloß in der direkten Konfrontation der Weltmächte, auf Nebenkriegsschauplätzen hat es schlichtweg versagt. Wo innenpolitische Umwälzungen in Ländern der Dritten oder Vierten Welt zu Interventionen verführen oder wo sich religiöse Emotionen entladen, bleibt die Verständigung zwischen den Supermächten auf der Strecke, wird Machtgewinn um jeden Preis zur allgemeinen Devise. So ist Angola dem Sowjetblock zugefallen, als Kissinger höchstselbst noch als amerikanischer Außenminister amtierte; von effektivem „crisis-management" mit Rücksicht auf den Fortgang der Entspannungspolitik zwischen Moskau und Washington nicht die Spur. Kissinger selbst hat eingeräumt, daß seinem Lande in der iranischen Krise letztlich keine praktikablen Optionen zur Verfügung standen. Wenn aber rationale Krisenbewältigung weder in Angola noch in Äthiopien oder Persien praktiziert werden konnte, wie hätte Carter die Krise in Afghanistan steuern sollen, das doch seit langem von der Sowjetunion als Einflußsphäre reklamiert worden war, so wie etwa Mittel-und Südamerika von den USA?
Der Vorwurf mangelnder Konstanz und Entschlossenheit derzeitiger Carterscher Außenpolitik stößt in einem wesentlichen Punkt ins Leere: Der Präsident hat seit seinem Amtsbeginn um die Grenzen gewußt, die innergesellschaftliche wie weltpolitische Konstellationen unserer Tage der Supermacht Amerika ziehen, in Angola ebenso wie in Äthiopien, im Iran genauso wie in Afghanistan.
Freilich relativieren „Carter-Doktrin" und forcierte Rüstungsaktivitäten die vorgetragene Auffassung und fordern die Kritik derer heraus, die um die Zukunft der Entspannungsbemühungen bangen — die Kritik einer Minderheit freilich bloß, zumindest was die USA anbelangt: denn dem Gros der Gesellschaft gilt der Ruf nach Mäßigung derzeit fast als Landesverrat. Der Strom des Antikommunismus und Nationalismus reißt ein Amerika in seine Strudel, das sich in Wahljahren ohnehin hemmungsloser Emotionalität ergibt. Muß man den Präsidenten da nicht eher bewundern, daß er dem Ruf nach Rache Grenzen setzen will? Mangel an „leadership“ auch noch mitten in der schwersten Herausforderung seiner Amtsperiode? Wohl kaum; schon eher geschicktes Taktieren, das durch partielle Zugeständnisse an die Militanz der öffentlichen Meinung (die selbst so liberale Blätter wie die „Washington Post" oder die „New York Times" erfaßt hat) das Staatsschiff vor heftigeren Kursänderungen zu bewahren sucht. Freilich haben die Konzeptions-und Aktionskorrekturen der letzten Wochen Breschen in überkommene Verhaltens-und Denkmuster der Carter-Administration geschlagen: Das Bekenntnis zur Vereinbarkeit von Politik und Moral hat heftige Stöße erfahren. Das Thema „Menschenrechte" ist derzeit in Vergessenheit geraten, der weltweite Kampf zur Überwindung von Umweltzerstörung, Atomkriegsgefahren, Hunger und Krankheit augenblicklich fast ganz eingestellt, das Bemühen um ausgewogene Beziehungen im Kräftefeld Moskau-Peking-Washington aufgelaufen, die Auseinandersetzung mit dem „militärisch-industriellen Komplex“ zugunsten des letzteren entschieden, was der geplante Bau der mobilen Interkontinentalrakete MX ebenso belegt wie die Produktion weitreichender Atomwaffen zur Dislozierung in Europa, die Aufstellung einer Eingreifreserve von 100 000 Mann für Interventionen in Übersee und die daraus resultierende Aufblähung des Wehretats. Solches einräumen heißt aber keineswegs den in der „ZEIT'und anderswo erhobenen Behauptungen zustimmen, Carters außenpolitische „Blauäugigkeit" sei in den Krisen des Vorderen Orients zerschellt, der Isolationist habe sich notgedrungen zum Neo-Interventionisten gemausert, die demonstrierte Härte dieser Tage bedeute das Eingeständnis früherer Schwäche. Der Aufsatz will den Nachweis führen, daß dem Präsidenten aus Georgia Begriffe wie „Realpolitik", „Interesse'oder „Macht“ während seiner Amtszeit nicht fremd gewesen sind; und umgekehrt bleibt der Entschluß zum „Frieden durch Stärke“ auch weiterhin an die Bereitschaft gekoppelt, mit der Sowjetunion Interessengemeinsamkeiten auszuloten und etwa durch Ratifizierung des SALT-II-Abkommens ein allzu ungehemmtes Wettrüsten zu vermeiden.
Die Analyse der Amtsbilanz Carters hat Befunde erbracht, über deren Validität auch nach den Ereignissen der letzten Wochen ernsthaft diskutiert werden kann. Auch in den iranisch-afghanischen Krisen hat der Kongreß bloß patriotische Gefühlsausbrüche (Ende Januar verlangte der Senat einen Boykott der Olympischen Spiele in Moskau mit 88 zu 4 Stimmen, das Repräsentantenhaus mit 386 zu 12 Stimmen!) an den Tag gelegt. Der Präsident hat bereits bestehenden Zweifeln an seiner Fähig-keit, eine politische Gesamtstrategie zu entwickeln, die seinen Handlungen Stringenz vermitteln könnte, neuen Auftrieb gegeben. Die Koordination im Berater-Team des Weißen Hauses scheint immer noch nicht reibungslos zu funktionieren. Doch ebenso kontinuierlich hat Jimmy Carter an Statur gewonnen und scheint im Augenblick einer zweiten Amtsperiode näher zu sein als je zuvor. Daß sich die USA heute erneut zu weltpolitischer Verantwortung bekennen, muß dem Konto Carters gutgeschrieben werden, der beharrlich an der Überwindung der Watergate-und Vietnam-Traumata in der amerikanischen Gesellschaft gewirkt hat.
I. Einleitung
Die erste Amtsperiode der Carter-Administration geht ihrem Ende entgegen; der Wahlkampf ist durch eine Reihe von „primaries" (Vorwahlen) bereits eingeläutet Grund genug, so will es scheinen, um in der Rückschau eine vorläufige Bilanz der Präsidentschaft Jimmy Carters zu wagen, die möglicherweise Schlüsse zuläßt auf größere oder geringere Erfolgsaussichten der Demokraten und Republikaner bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen.
Legte man dieser Bilanz allein den Maßstab der Meinungsumfragen zugrunde, fiele das Urteil über die bisherige Amtszeit des Präsidenten aufs ganze gesehen negativ aus: Bis zum Spätherbst 1979 stürzte, abgesehen von kurzatmigen Aufschwüngen nach vollbrachtem Maklergeschäft Carters bei den ägyptisch-israelischen Verhandlungen in Camp David im September 1978 oder dem publikumswirksamen Fernsehauftritt vom 15. Juli 1979, der das Eingeständnis politischer Versäumnisse mit neuem Führungsanspruch und kühnen Visionen zur Bewältigung der Energiekrise verband, die Popularitätskurve Carters stetig ab und erreichte sogar den Watergate-bedingten Tiefstand Richard Nixons Der demoskopisch zutage getretene Unmut der amerikanischen Öffentlichkeit über die Amtsführung des Präsidenten fand (und findet) sein Echo in jener Dauerschelte, die sich in einflußreichen Presseorganen des In-und Auslands über die amtierende Administration ergießt: Von Konzeptionslosigkeit im Weißen Haus ist da ebenso die Rede wie von Führungsschwäche Carters und seiner Mannschaft, wobei die Washington Post und New York Times, Newsweek oder TIME, aber ebenso die Frankfurter Allgemeine, die ZEIT oder der Spiegel den Vorwurf des Dilettantismus im Zugeständnis guten Willens eher noch verschärfen.
Trifft solche Kritik ins Schwarze oder überzieht sie ihre Position in politischer Absicht bzw. fehlsamer Interpretation des außen-und innenpolitischen Geschehens in den USA? Die Frage kann erst am Ende unserer Analyse schlüssig beantwortet werden. Ganz sicher artikulieren sich aber in dieser Kritik nicht bloß Zweifel an der politischen Kompetenz der Demokratischen Administration, Klagen über ein Defizit an Regierungskunst, an staatsmännischer Weisheit Carters, das ja gegebenenfalls durch die Ablösung der Regierung in den anstehenden Wahlen beseitigt werden kann; vielmehr verrät sie auch ernst zu nehmende Sorgen prinzipieller Qualität um Funktionsfähigkeit und Legitimität des politischen Systems der Vereinigten Staaten am Ausgang der siebziger Jahre
Fairerweise gilt es gleich anzumerken, daß Zweifel an der Effizienz der staatlichen Institutionen oder an der gesellschaftlich vermittelten Rechtmäßigkeit der Herrschaftsordnung nicht allein auf das Konto der Carter-Administration gesetzt, sondern schon seit den sechziger Jahren mit wachsendem Nachdruck geäußert werden Dieser Hinweis mag einer unvoreingenommenen Bilanz der Carterschen Amtsführung zugute kommen: Sie darf nicht bloß Erfolge oder Mißerfolge abhaken, nicht bloß subjektive Faktoren in Rechnung stellen, den Provinzialismus des Ex-Gouverneurs von Georgia etwa, öffentlich ausgetragene Rivalitäten zwischen Kabinettsmitgliedern, erstaunliche Schwächen im Bereich der Personalauslese und anderes mehr, sie muß auch jene objektiven Vorgaben amerikanischer Politik in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre berücksichtigen, die jedem Präsidenten, gleich wel-eher Couleur, das Regieren schwer gemacht hätten. Führen wir sie stichwortartig auf, wobei auch gleich die Gliederung unseres Versuchs ins Visier gerät: Zum einen jenen Problemkreis, den Schlagworte wie „Watergate" und „imperiale Präsidentschaft“ beleuchten, in dem der Wandel herkömmlicher Interaktionsmuster von Exekutive und Legislative, innerorganisatorische Reformbemühungen des Kongresses mit Auswirkung auf seine Leistungsfähigkeit und Forderungen der Öffentlichkeit nach einer Rückkehr zu demokratischer Regierungsweise angesiedelt sind; zum zweiten jenen Krisenkomplex, gemeinhin durch das Etikett „Vietnam" markiert, in dem die angemessene Definition der weltpolitischen Rolle Amerikas nach dem Desaster in Südostasien, das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu einer neuerlich auf Expansionskurs segelnden Sowjetunion sowie die Festlegung gegenwärtiger und künftiger Verhaltensmuster gegenüber den Verbündeten und der „Dritten Welt“ zur Debatte stehen; zum dritten schließlich jene fortschwelenden Konflikte der amerikanischen Innenpolitik, der Streit um die künftige Gestaltung des sozialen Sicherungssystems etwa oder die angemessene Bewältigung der grassierenden Arbeitslosigkeit, die urbanen Sanierungsprobleme und die sich zuspitzende Energiekrise — Konflikt-herde zuhauf, welche gesamtgesellschaftliche Desintegrationstendenzen befördern und angesichts anhaltender wirtschaftlicher Instabilität noch an Brisanz gewinnen. Vergegenwärtigen wir uns fürs erste die aufgeführten Vorgaben amerikanischer Außen-und Innenpolitik in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre. Diese Analyse erlaubt Rückschlüsse auf derzeitige Chancen und Grenzen präsidialer Macht im komplizierten Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß eines pluralistisch verfaßten Gemeinwesens. Das so gewonnene Bild soll dann durch die Betrachtung der subjektiven Faktoren erweitert werden, der programmatischen Zielsetzungen der Carter-Administration also und ihrer praktischen Politik. Im Resümee muß eines mit dem anderen vermittelt werden, wobei das so gewonnene Urteil jedoch der Gefahr preisgegeben bleibt, aus ungenügender Distanz zum Gegenstand seine Objektivität zu verfehlen.
II. „Watergate" und „imperiale Präsidentschaft" als Vorgabe amerikanischer Politik in den siebziger Jahren
Der „Watergate" -Komplex als Kette von Verfehlungen des Republikaners Nixon stellt den Höhe-und (vorläufigen) Wendepunkt in einer amerikanischen Verfassungswirklichkeit dar, die seit den Tagen des Zweiten Weltkrieges allmählich Gestalt gewinnt, sich während der sechziger Jahre stetig verdichtet, um dann in Nixonscher Hybris zu kulminieren. Der Historiker Arthur Schlesinger jr. hat diese Verfassungswirklichkeit auf den Begriff gebracht und prägnant beschrieben Die „imperiale Präsidentschaft", in manchen ihrer Züge zwar schon in früheren Epochen amerikanischer Geschichte da und dort durchbrechend, ist als Phänomen der Gegenwart erwachsen aus dem Führungsanspruch der Exekutive in Kriegs-und Krisenzeiten, aus sozialstaatlichen Interventionszwängen, den Versuchungen eines stetig sich erweiternden technischen und personellen Machtapparates des Weißen Hauses und der Bereitschaft mindestens zweier Präsidenten, des Demokraten Lyndon B. Johnson und des Republikaners Richard Nixon, diesen Versuchungen nachzugeben — ein Phänomen, in dem sich objektive Entwicklungstendenzen moderner Industriegesellschaften mit subjektiven Unzulänglichkeiten bis zu den kriminellen Verfehlungen eines Mannes verknäueln, der mit dem Anspruch angetreten war, als „großer" Präsident in die US-Historie einzuziehen und den zuletzt nur noch der schimpfliche Rücktritt vor einem aussichtsreichen „impeachment'-Verfahren retten konnte.
In einem Bericht zur „Lage des Kongresses" vom 1. Februar 1974 sammelte der damalige Demokratische Fraktionsführer im Senat, Mike Mansfield, die gängigen Beschwerden gegen die Auswüchse einer Präsidentschaft, deren „imperialer" Charakter den Intentionen der Verfassungsväter strikt zuwiderlief. Im Stile frühkonstitutioneller Monarchen hatten Johnson und mehr noch Nixon versucht, ihre übersteigerten Machtansprüche gegen die konstitutionellen Befugnisse des Kongresses durchzusetzen. Sie beschnitten die parlamentarische Gesetzgebungs-und Haushaltskompetenz mit zwielichtigen Verfassungsmanö-vern wie der exzessiven Anwendung des „Executive Agreement", oder des „Selective Enforcement of Law", mit Hilfe des „Pocket Veto" und ähnlichen Praktiken Nixon not allem suchte die Ausübung parlamentarischer Informations-und Kontrollfunktionen durch eine Überdehnung jenes Verfassungsbrauchs drastisch zu beschneiden, der unter dem Begriff des „Exekutive Privilege" die amerikanische Geschichte begleitet hat. Als die zweite Amtsperiode Nixons in den Strudeln von Watergate zu kentern drohte, geriet das Privileg des Präsidenten, sich und seine engsten Vertrauten nicht von Kongreßausschüssen laden und — befragen lassen zu müssen, zum vorläufigen Rettungsanker, der über Monate hinweg den Fortbestand des korrupten Regimes sicherte: diente zur Verschleierung illegaler Amtsvorgänge in Ministerien, zur Verweigerung wichtiger Informationen, zur Abschottung der Exekutive gegen Investigationen der Legislative und Judikative.
Auch innerhalb der Administration trieben Geheimhaltungswahn, Persönlichkeitsdefizite und Machtverlockungen den Präsidenten zur Anwendung von Herrschaftspraktiken, die dem Wesen demokratischer Regierungsweise Hohn sprachen. So verlagerte er die eigentlichen Entscheidungsstränge von den Ministerien auf seinen persönlichen Stab, auf Berater wie Kissinger, Haldeman und Ehrlichman, schirmte sich völlig gegen „amtliche" Kabinetts-und Regierungsmitglieder ab, ließ ohne die gesetzlich vorgeschriebene gerichtliche Kontrolle Telephone von Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates anzapfen und suchte exekutive Informationskanäle nach „draußen", zu den Massenmedien vor allem, zu verstopfen. Zuletzt überzog er die Öffentlichkeit mit einem dichten überwachungs-und Spitzel-netz, um potentielle oder tatsächliche „Oppositionsherde" einzuschüchtern oder auszuräumen. Freilich hätten die extrakonstitutionellen Wucherungen der „imperialen Präsidentschaft" durch einen machtbewußten und aktionswilligen Kongreß rechtzeitig beschnitten werden können. Wo von Verfassungsverstößen des Weißen Hauses die Rede ist, muß unzweifelhaft auch vom Versagen einer Legislative gesprochen werden, die sich zuweilen korrumpieren, fast immer auseinanderdividieren und angesichts eigentümlicher Strukturmerkmale wie „Cross-Voting", fehlender Fraktionsdisziplin, entscheidungsorganisatorischer Fragmentierung, antiquierter Geschäftsordnungspraktiken und undemokratischer Personalpolitik kaum je zu energischer Abwehr präsidentieller Hybris, zu entschlossener Nutzung der eigenen Kompetenzen bewegen ließ. • Im erzwungenen Rücktritt des Republikaners Nixon sind dann aber doch Selbstheilungskräfte des sozio-politischen Systems der Vereinigten Staaten virulent geworden, die das Übergangsregime Ford, mehr noch die Präsidentschaft Jimmy Carters mit Handlungsbedingungen und -beschränkungen konfrontiert haben, wie sie seit den Tagen Franklin Delano Roosevelts keiner Administration mehr gesetzt waren. 1. Die Revitalisierung und Reorganisation des Kongresses nach Watergate: Konsequenzen für das politische System „Die Tyrannei der Legislative ist in Wirklichkeit die am meisten zu fürchtende Gefahr, und sie wird es für viele Jahre bleiben", schrieb Thomas Jefferson im Jahre 1789, sechs Wochen vor Washingtons Amtsantritt, an James Madison und fuhr fort: „Die Tyrannei der Exekutive wird sie einmal ablösen, aber erst in einer fernen Zukunft." Der Weitblick erstaunt, mit dem einer der Gründerväter die zukünftige Entwicklung amerikanischer Politik skizziert hat, deren verfassungsrechtliche Normen doch gerade das balancierte Zusammenwirken der getrennten Gewalten zum Beweger staatlicher Willensbildungs-und Entscheidungsprozesse erklären; es mag freilich sein, daß Jefferson eher an lineare als an zyklische Entwicklungsbahnen dachte und auch die auf Dominanz zielende Dynamik, wie sie von allem Anfang an im Präsidentenamt angelegt war, in ihrer Nahwirkung unter-schätzte. Denn insgesamt bestimmen zwei Tendenzen den Gang der US-Verfassungsgeschichte: zum einen die immer stärkere Machtentfaltung im Weißen Haus mit ihrem vorläufigen Kulminationspunkt im Phänomen der „imperialen Präsidentschaft“; zum anderen der regelmäßige Wechsel zwischen Perioden präsidentieller Suprematie und Zeiten des „Congressional Government“
Die Ära Johnson/Nixon hat einer Verfassungswirklichkeit Platz machen müssen, die vom Übergewicht der Legislative bestimmt wird; und Jimmy Carter muß mit einem Kongreß leben, der allen seinen politischen Absichten und Zielvorgaben zunächst einmal prinzipiell mit Opposition begegnet. Zu unrecht wird der Demokrat im Weißen Haus für alle Flauten in der Innen-und Außenpolitik der Vereinigten Staaten gescholten; mehr noch als unzweifelhafte (freilich noch zu erklärende) Führungsschwächen Carters lähmt die veränderte Machtkonstellation in Washington die Effizienz des politischen Systems. Zweifach erschwert die Legislative derzeit den Ablauf politischer Entscheidungsprozesse: Der revitalisierte Wille parlamentarischer Machtbehauptung sucht bei jedem Anlaß die Konfrontation mit dem Weißen Haus; und partielle Strukturreformen bei gleichzeitigem Beharren auf hergebrachten Funktionsweisen und Organisationsprinzipien versetzen den Kongreß in einen chaotischen Zustand, der Sand in das Getriebe des ohnehin komplizierten Zusammenwirkens von Weißem Haus und Kapitol streut.
Ein neues politisches Selbstbewußtsein läßt den Kongreß seit Jahren nach Wegen suchen, verlorengegangene Autorität und eingebüßte Macht zurückzugewinnen Als wichtiges Datum wird der 7. November 1973 in die Verfassungsgeschichte der USA eingehen, jener Tag, an dem der 93. Kongreß mit großen, überparteilichen Mehrheiten das Veto Richard Nixons gegen ein Gesetz überstimmte, das die Entscheidungsgewalt der Legislative über Krieg und Frieden kodifiziert und den Zwang zu Konsultation und Kooperation der Gewalten auf diesem Gebiet rechtlich eindeutig fixiert. Nixonsche Anmaßung in der Budgetpolitik veranlaßte den Kongreß, seine fundamentale Schwäche im Haushaltsprozeß durch stärkere Zentralisierung zu überwinden und ein legislatives Gegengewicht zum Haushaltsbureau des Präsidenten zu schaffen. Das 1974 ins Leben gerufene „Congressional Budget Office" versieht unter der Aufsicht von gleichzeitig geschaffenen Haushaltsausschüssen die Kongreßmitglieder mit solchen Informationen, die ihnen eine unabhängige Urteilsbildung und Chancen gewähren, sowohl in Haushaltsfragen parlamentarische Initiativen zu ergreifen als auch den Budgetentwurf des Weißen Hauses stärker als zuvor im Detail zu prüfen. Im Senat reißt seit Beginn der siebziger Jahre die Debatte darüber nicht mehr ab, ob ihm aus seiner „Treaty-Power" nicht auch ein weiterreichendes Mitsprache-und Kontrollrecht bei den „Executive Agreements", den Regierungsund Verwaltungsabkommen also, erwachse; und beide Häuser mühen sich derzeit um institutionell verankerte Möglichkeiten, mehr als in der Vergangenheit am Herrschaftswissen der Exekutive zu partizipieren, das beispielsweise aus nachrichtendienstlichen Quellen stammen kann. Fügt man dem Bild die individuelle Stimmungslage der Abgeordneten hinzu, die heute in den Wahlkreisen von dezidierter Distanz zum Weißen Haus profitieren, zeichnen sich die objektiven Schwierigkeiten Carters im Umgang mit dem Kapitol in scharfen Konturen ab.
Daß revitalisierter Selbstbehauptungswille, daß erneuertes Machtbewußtsein des Kongresses nicht unbedingt mit gesteigerter Rationalität amerikanischer Politik einhergehen, ist von vielen Betrachtern der transatlantischen Szenerie während der siebziger Jahre kritisch vermerkt worden. Als die kommunistische Revolutionsregierung von Kambodscha im Mai 1975 das amerikanische Frachtschiff „Mayaquez" kapern ließ, überbot die Legislative als institutionalisiertes Gegengewicht zu möglicherweise unbedachtem Vorgehen der Exekutive den Präsidenten noch an opportunistisch-kraftmeierischem Gehabe. Ohne zureichende Informationen übten sich fast alle Abgeordneten in militanter Rhetorik.
Und die parlamentarischen Beratungen der vergangenen Jahre haben den Eindruck verstärkt, die US-Legislative verwechsle die bloße Demonstration vermehrter Einflußnahme mit dem Vermögen, die Geschicke des Landes im Bereich der Außen-und Innenpolitik vom Kapitol aus mit der gebotenen Umsicht lenken zu können. Erst setzte der Kongreß im Dezember 1974 bei der Verabschiedung eines neuen Handelsgesetzes das sogenannte Jackson-Amendment durch, welches der Sowjetunion die Meistbegünstigung nur unter der Voraussetzung einer liberaleren Auswanderungspolitik einräumen will, und provozierte damit nicht bloß Moskaus Nein zum vereinbarten Handelsabkommen, sondern auch neue Belastungen für den Versuch, das gegenseitige Verhältnis der Supermächte zu stabilisieren. Anschließend blockierte das Kapitol im Nahen Osten geraume Zeit präsidentielle Intentionen, Jordanien durch die Lieferung von gewünschten Boden-Luft-Raketen wieder fester an den Westen zu binden; es ließ fast das zweite Sinai-Abkommen vom September 1975 an der Frage auflaufen, ob und unter welchen Bedingungen amerikanische Techniker zur Bedienung eines Frühwarnsystems in der Pufferzone zwischen Israel und Ägypten entsandt werden dürften; es versuchte die Türkei durch Verhängung eines Waffenembargos im Januar/Februar 1975 zur Mäßigung im Zypernkonflikt zu zwingen, mit dem Erfolg, daß die türkische Regierung die amerikanische Flagge auf 25 US-Basen einholte; es gab 1975/76 die pro-westliche Befreiungsbewegung FNLA in Angola durch Verweigerung finanzieller und militärischer Hilfsmittel dem Untergang preis und brüskierte schließlich mit dem Streit um Waffenlieferungen an Saudi-Arabien den vormals engsten Verbündeten der USA im nahöstlichen Raum. Auch die außenpolitischen Aktivitäten des 95. und 96. Kongresses nehmen sich nicht vorteilhafter aus: Allein schon das befremdende Gebaren bei der Ratifikation des Panamakanal-Vertrags oder die Auseinandersetzungen im Vorfeld der SALT-II-Ratifikation haben erheblichen Zweifel am Weitblick und Sachverstand der US-Legislative geweckt; und niemand mag derzeit nennenswerte Beiträge des US-Parlaments zur nationalen Krisenbewältigung in Sachen Vorderer Orient bzw. Indischer Ozean auszumachen.
Doch auch im Innern konnte sich der Kongreß in den vergangenen Jahren nicht zu wegweisenden Taten aufraffen. Ob Energieversorgung oder Konjunktursteuerung, Gesundheitsfürsorge oder Daseinsvorsorge, ob Städtesanierung oder Umweltschutz: zu mehr als einer zermürbenden Verschleppung von Lösungsvorschlägen hat es kaum je gereicht.
Solche Lähmungserscheinungen im Entscheidungsprozeß der Weltmacht USA gehen zunächst einmal auf das Konto eines Kongresses, dessen innerem Zustand das Attribut „chaotisch" durchaus gerecht wird. Der Vorsatz, künftigen Präsidenten zu zeigen, „was eine Harke ist", beflügelt selbst altgediente Parlamentarier bis hin zur Obstruktion. Mehr noch: Allzu viele Kongreßmitglieder orientieren sich heute ausschließlicher als zuvor an Karriere-und Überlebensgedanken, betrachten sich weniger als Repräsentanten der Gesamtnation denn als Agenten ihres Wahlkreises oder als Advokaten einflußreicher Interessenverbände. Die wachsende Fragmentierung der US-Gesellschaft spiegelt sich in parlamentarischen Desintegrationsprozessen wider; und Klagen über die „Tyrannei der Mediokrität" kommen in zunehmendem Maße aus dem Kapitol selbst, von solchen Abgeordneten freilich, die um die Gefahren bloßer Kirchturmpolitik wissen. Klare Mehrheitsverhältnisse für die Demokratische Partei schlagen für Jimmy Carternicht zu Buche: denn Partei-bzw. Fraktionsdisziplin existieren bestenfalls in rudimentären Formen; und Loyalität zum Demokratischen Präsidenten ist für die Demokratischen Kongreßmitglieder kein wesentliches Kriterium ihres politischen Verhaltens. Lobbies, ethnische Lobbies zumal, üben augenblicklich kaum zu konterkarierende Macht in den Häusern der Legislative aus: Gegen die griechische Lobby, die das jahrelange Waffenembargo über die Türkei erzwang, scheint ebensowenig ein Kraut gewachsen wie gegen die israelische Lobby, die sich als Wächter über die amerikanische Nahostpolitik geriert 9a).
Freilich liegen dem chaotischen Zustand des Kongresses am Ausgang der siebziger Jahre nicht bloß herkömmliche „Schwächen" des Parteien-und Fraktionswesens, nicht bloß hinlänglich bekannte Qualitätsdefizite oder provinzielle Perspektivenverengungen in den Reihen der Kongreßmitglieder zugrunde — „Schwächen" übrigens, die gelegentlich das Funktionieren des Regierungsprozesses durchaus befördern mochten. Vielmehr haben Ansätze zu institutioneilen Reformen, zu einem Mehr an Demokratisierung und Transparenz im Kongreß die erwähnten Übel fürs erste eher noch verstärkt: Indem sie überkommene Funktionsweisen, Organisations-und Steuerungsprinzipien der Legislative mit gutem Grund teilweise veränderten, haben sie mindestens zeitweilig Unsicherheiten im Beziehungsgeflecht Exekutive-Legislative wie innerhalb der hochdifferenzierten Parlamentsmaschinerie geschaffen. Bis in die siebziger Jahre hinein ließ sich die Hierarchie des Kongresses ohne Mühe orten, beherrschten eingespielte Kooperationsmuster die Beziehungen der „antagonistischen Partner" im Weißen Haus und auf dem Kapitol. Die Sprecher beider Häuser, die Führer der jeweiligen Mehrheits-und Minderheitsparteien in beiden Kammern samt ihren engeren Fraktionsführungsstäben bedienten zusammen mit den Vorsitzenden der wichtigsten Ausschüsse die Schaltstellen parlamentarischer Macht. Durch informell-exklusive Führungszirkel nominiert, über das altehrwürdige Verfahren der Anciennität („Seniority Principle") bestellt, durch Ämterhäufung und Personalunion mit vermehrtem Einfluß ausgestattet, lenkte diese Machtelite die parlamentarischen Aktivitäten, koordinierte sie das Zusammenwirken mit Regierung und Bürokratie; „undemokratisch" alles dies unter Aspekten der Chancengleichheit, der „Intraorgankontrolle" oder Transparenz ganz ohne Zweifel, doch von gelegentlich verblüffender „Effizienz", wo sie geboten schien.
Vor dem Ansturm von Demokratisierungsparolen, seit Ende der sechziger Jahre vor allem vom „linken" Flügel der Demokratischen Partei artikuliert, und vor dem reformerischen Elan jener Parlamentsneulinge der Demokratischen Partei, welche die „Protest" -Wahlen vom November 1974 in den Kongreß schwemmten, sind diese traditionellen Machtstrukturen zerbrochen. Die Besetzung der Ausschuß-und Unterausschußpositionen wird seither nicht mehr in gewohntem Umfang durch Anciennitätsprinzip, Protektion und Kuhhandel vorgenommen, sondern im größeren Kreis eines „Steering Committee", eines Lenkungsausschusses der Demokratischen Partei, der überdies verstärkter Kontrolle durch die Gesamtfraktion unterworfen ist. In beiden Häusern ist die Möglichkeit eingeschränkt worden, daß ein und dasselbe Mitglied mehreren Komitees präsidieren kann, was den Aufstieg von . Junioren“ in einflußreiche Machtpositionen begünstigt Wo im Repräsentantenhaus aus eben diesem Grunde die Zahl der Ausschußmitglieder generell erhöht und gleichzeitig die Zahl der Unterausschüsse vermehrt wurde, hat der Senat die Zuständigkeit seiner Komitees neu definiert und den Anteil der (Republikanischen) Minderheit an Ausschußsitzen gerechter festgelegt Die Abschaffung des Senioritätsprinzips, das früher die „Längerdienenden" automatisch in die Schlüsselpositionen der beiden Häuser beförderte, hat „milder Anarchie“ den Weg ins Parlament bereitet
Die Demokratisierung verhindert heute die Etablierung einer starken Führung in Senat und Repräsentantenhaus; Parlamentsführer vom Schlage eines Sam Rayburn oder Lyndon Johnson, die Gesetze durchbrachten, Aktionen mit der Exekutive koordinierten und Mehrheiten beschafften, werden sich künftig nur noch schwer profilieren und halten können. Weil sich die Machtpositionen der Abgeordneten weitgehend angeglichen haben, weil sich die ohnehin hochgradig differenzierten und spezialisierten Formen parlamentarischer Mehrheitsfindung heute noch stärker ausgefächert und durch „Transparenz'-Forderungen in ihren Arbeitsweisen verändert haben, fehlt es dem Weißen Haus zum einen an einflußreichen Partnern für politische Geschäfte, für „do ut des“ -Aktionen, fehlt esder Bürokratie zum anderen an vertrauten Anlaufstationen im komplexen Gestrüpp einer arbeitsteiligen Legislative. Wo früher „Bargaining“, wo „Log-Rolling" ein Minimum an Effizienz in einem strikt gewaltenteiligen Herrschaftssystem gewährleisteten, Verbindungsleute der Ministerien mit Komiteevorsitzenden um Gesetzesvorlagen feilschten, die ihrerseits durch Gewähr oder Entzug von Vergünstigungen Ausschuß-mehrheiten mobilisieren konnten, sind heute solche Praktiken ins Kreuzfeuer innerorganisatorischer Demokratiepostulate geraten, ohne daß freilich schon neue Kooperationsmuster den Test der Praktikabilität bestanden hätten.
Die Beschneidung präsidentieller Handlungsmöglichkeiten in der unmittelbaren Gegenwart resultiert, soviel ist deutlich geworden, zuvörderst aus veränderten Machtkonstellationen auf dem Kapitol. Der reduzierte Entscheidungsspielraum des Weißen Hauses ist aber Ausfluß auch des Carterschen Wahlkampfversprechens, die Macht des hohen Amtes nach den unseligen Erfahrungen „imperialer Präsidentschaft" nicht mehr bis auf den letzten Trumpf auszureizen, ein „Mehr an Demokratie“ auch im eigenen Führungstil zu verwirklichen. 2. Die „demokratische“ Regierungsweise Jimmy Carters Wie sehr die Etablierung und Sicherung politischer Herrschaft im Weißen Haus, wie sehr Chancen der Information und Innovation, Kontrolle und Koordination, Planung und Entscheidung von der Auslese geeigneter Mitarbeiter, von sachgerechter Zuordnung der Ämter und Funktionen abhängen, ist am Schicksal vieler Administrationen abzulesen. Richard T. Johnson, langjähriger Mitarbeiter des Weißen Hauses, hat in seiner Analyse präsidialer Mitarbeiterführung und Amtsorganisation drei Verhaltensmuster unterschieden und ihre eigentümlichen Vorzüge bzw. Nachteile beschrieben: das formalistische, das kompetitive und das kollegiale Truman, Eisenhower und Nixon bevorzugten einen klar strukturierten Ablauf der Entscheidungsfindung und peilten eher die „beste“ Problemlösung an als den Kompromiß zwischen divergierenden Positionen. Sie scheuten Konflikte mit Mitarbeitern und suchten den analytisch-distanzierten Beratertyp wie Sherman Adams oder Henry Kissinger. Eine formali-sierte Stabsstruktur, eindeutig vorgegebene Informationskanäle und die „unpolitisch" -rationale Präsentation alternativer Handlungsentwürfe mit ihrem Für und Wider lokalisierten die verbindliche Entscheidung, die Wahl der „optimalen" Lösung beim Präsidenten; der technologische dominierte über den politischen Entscheidungsaspekt Roosevelt dagegen hat, wo immer möglich, das persönliche Engagement und die unmittelbare Konfrontation gesucht. Indem er aggressive Verfechter gegensätzlicher Positionen in seinem Stab einander konfrontierte, Leute wie Harry L Hopkins, Henry Morgenthau oder Harold L. Ickes, Verantwortung und Autorität in sich überschneidenden Segmenten delegierte, hat der Pragmatiker im Weißen Haus politische Macht und Kontrolle ausgeübt: Die Konflikte unter den Mitarbeitern boten Gewähr für einen breiten Informationsstrom zum Präsidenten und erforderten seine schlichtende Stellungnahme. Der Konflikt galt Roosevelt ebenso als Quelle der Information wie als Garant fortdauernder Kreativität und Erzeuger provokatorischer Impulse im politischen System, wie er denn überhaupt Politik nicht als technokratisches Phänomen, sondern als Ausdruck von Macht und Herrschaft verstanden hat.
Der kollegiale Typus des politischen Managements ist unter der Präsidentschaft John F Kennedys wenigstens umrißhaft praktiziert worden. Teamwork sollte zur richtigen Entscheidung führen, Konflikte kollegial ausgetragen, die argumentativen Vorzüge der unterschiedlichen Positionen zur hieb-und stichfesten Konzeption, zum tragfähigen Kompromiß zusammengefügt werden.
Jimmy Carters Regierungsstil läßt sich cum grano salis demjenigen John F Kennedys vergleichen, wobei die unterschiedliche Perfektion seiner Handhabung durchaus Varianten sichtbar macht. Die „imperiale Präsidentschaft" Nixons hatte den formalistischen Typus der Entscheidungsfindung und demokratiewidrige Verwaltungs-und Herrschaftsmethoden im Watergate-Skandal vor aller Augen diskreditiert; allein ein radikaler Stilwandel konnte dem Weißen Haus noch öffentliche Legimität verheißen. Wo sich der Präsident allzu sehr vom Prozeß der Meinungsfindung distanziert, die persönliche Kommunikation mit dem Regierungspersonal scheut,, leidet die Kontrolle über den Apparat: Nicht zufällig sind Fehlverhalten, Korruption und Geheimniskrämerei im Beraterstab der Administrationen Truman, Eisenhowerund Nixon häufiger als landesüblich aufgetreten. Wo formalistische Organisationsstrukturen der Dezision bevorzugt, wo Mitarbeiter auf bestimmte Funktionen und Positionen in einem hierarchisch gegliederten Apparat festgelegt werden, stellen sich demokratiewidrige Mängel ein: sektiererisches Spezialistentum und technokratisches Räsonieren im Beraterstab, ein stark verkürztes Informations-und Optionsspektrum des Präsidenten, dessen letztinstanzlich-„absolutistische" Entscheidung der Komplexität der zu lösenden Problematik nicht mehr entspricht und überdies in ihrer Begründung nicht mehr politisch vermittelt ist.
Folgerichtig polemisierte Carter im Wahlkampf 1976 gegen absolutistisches Arkangehabe und machtbesessene Zentralisation aller Entscheidungsbefugnisse im engsten Berater-kreis des Weißen Hauses bzw. beim Präsidenten selbst und versprach sie durch Prinzipien politischer Eigenverantwortlichkeit und demokratischer Transparenz abzulösen. Daß er sein Wahlversprechen ernst genommen hat, belegt die Regierungspraxis der ersten Amts-jahre: Seine Minister genossen lange einen in den vergangenen Jahrzehnten nahezu unbekannten politischen Freiraum, konnten sich in Kabinettssitzungen Gehör verschaffen und fanden unschwer Zugang zum Staatschef; der Präsident scheute sich nicht vor persönlichem Engagement bei der Meinungsformung und wollte Berater und Regierungsmitglieder in der Überzeugung einen, es gebe für jedes politische Problem die angemessene Lösung, wenn man bloß demokratie-adäquaten Techniken der Entscheidungsfindung, der Kunst des Kompromisses und kollegialen Zusammenwirkens Geltung verschaffe.
Freilich ist die anfängliche Zustimmung der amerikanischen Öffentlichkeit zum demokratischen „Neubeginn" im Weißen Haus bald wachsender Kritik an vermeintlicher oder tatsächlicher Führungs-und Ziellosigkeit der Carter-Administration gewichen; wobei die Sprunghaftigkeit einer „öffentlichen Meinung", die rasch verwirft, was sie eben noch eingeklagt hat, ebenso ins Auge fällt wie die Berechtigung mancher Vorwürfe an die Adresse des Präsidenten, der den Wert zentraler Koordination und nach außen demonstrierter Geschlossenheit der Regierung, von Kennedy bei allem Bemühen um Team-Arbeit stets eingefordert, allzu gering veranschlagt hat. Wo Transparenz und Eigenverantwortung in Widersprüchlichkeit und Rivalität öffentlich verkündeter Pläne umschlug, mußte der Anschein präsidentieller Unentschlossenheit und Machteinbuße entstehen, der den drastischen Popularitätsverfall der Carter-Administration beschleunigte.
Der Präsident hat sich nach langem Sträuben diesem Dilemma, dem, sagen wir es noch einmal, auch unvereinbare Forderungen einer Öffentlichkeit zugrunde lagen, die Machtverringerung und Leistungssteigerung der Exekutive, demokratische Transparenz und administrative Stringenz politischer Entscheidungsprozesse wünschte, auf eine Weise gestellt, die neuerliche Kritik entfachte: Indem er die Kontrolle über die Stabsarbeit des Weißen Hauses und des gesamten Regierungsapparates stärker in seiner Person konzentrierte, geriet er zum einen in den Verdacht, unheilvolle Traditionen der totgeglaubten „imperialen Präsidentschaft" zu erneuern, wurde ihm zum anderen vorgehalten, er kümmere sich zuviel um zweitrangige Angelegenheiten oder Detailfragen und versäume darüber die Richtlinienbestimmung im großen. Als er gar im Frühsommer 1978 Gerald Rafshoon als Berater für Medienfragen mit der Funktion betraute, regierungsamtliche Verlautbarungen nach außen hin zu koordinieren, trug ihm dieser Entschluß den Tadel ein, er wolle nach Nixon'scher Manier die öffentliche Meinung des Landes steuern und manipulieren. Carter hat sich von solcher Kritik nicht abhalten lassen, frisch gewonnene Einsichten in Sachnotwendigkeiten des Regierungsprozesses konsequent in die Tat umzusetzen: Im Juli 1979 erneuerte er im Zuge eines radikalen Kabinettsrevirements die unter Nixon in Verruf geratene Position eines Stabschefs im Weißen Haus, um sich selbst von administrativ-organisatorischen Aufgaben zu entlasten. Ein Jahr vor Ablauf der (ersten) Amtsperiode hat Carter seine angeschlagene Administration noch einmal zu revitalisieren und Weichen für ein leistungsfähigeres Regiment zu stellen versucht. Ob die definitive Machtübernahme der „Georgia-Mafia", die Berufung Hamilton Jordans zum Stabschef, JodyPowells zum Pressechef des Weißen Hauses, beide mit dem Auftrag einer zentralen Überwachung und Koordinierung des gesamten Regierungsapparates versehen, ob die Betrauung des Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates, Zbigniew Brzezinski, mit der Aufgabe der letztinstanzlichen Sichtung und Weiterleitung von Informationen an den Präsidenten die erstrebte „Tendenzwende" bewirken und damit der Carter-Administration in letzter Minute den Anschein von Effizienz und Zielstrebigkeit vermitteln kann, scheint im Augenblick eher zweifelhaft.
Eine faire Bewertung der ersten Amtsperiode Präsident Carters muß in jedem Fall den Umstand berücksichtigen, daß der letzthin so lautstark artikulierte Ruf der amerikanischen Gesellschaft nach visionärem Führertum auch als Reaktion auf den demokratischen Regierungsstil Carters zu werten ist, den eben diese Gesellschaft nach Jahren der „imperialen Präsidentschaft" erfolgreich einklagte; daß 1976 eine andere Rangfolge der öffentlichen Wertvorstellungen existierte als 1980, die zwar durchaus dem Phänomen der „Leadership" beipflichtete, aber doch nur einer solchen, die Effizienz und Transparenz, pragmatische Nüchternheit und politische Zielstrebigkeit, demokratisches Teamwork und technokratische Stringenz beim mühsamen Geschäft des Regierens miteinander in Einklang bringen wollte. Daß Carter solche Erwartungen bloß unzulänglich erfüllt hat, sei hier schon eingeräumt; ob sie insgesamt überhaupt zu verwirklichen waren, darf bezweifelt werden.
III. Das Erbe der Vietnam-Verstrickung: Die Identitätssuche der USA in der Weltpolitik
Auch dort, wo die Außenpolitik Jimmy Carters Meinungsverschiedenheiten auslöst, müssen zunächst vorgegebene Konstellationen und Sachzwänge ins Auge gefaßt werden. Manche Kritiker verkennen die singuläre Komplexität des gesellschaftlichen und internationalen Handlungsumfeldes, in dem die Außenpolitik der Vereinigten Staaten an der Wende zu den achtziger Jahren geplant und ausgeführt werden muß. Wie in anderen Politikbereichen hat Carter auch auf dem Felde des Auswärtigen als erster Präsident die volle Wucht der Konsequenzen aus Watergate-Desaster und Vietnam-Debakel zu spüren be13 kommen. Die Tage der „imperialen Präsidentschaft" sind selbst für die Vielzahl der außen-politischen Entscheidungskompetenzen zu Ende gegangen, in denen sie sich mit besonderer Dynamik entfaltet hatte; was seit dem Zweiten Weltkrieg kaum je bestrittene Domäne des Weißen Hauses war, die Führung nämlich der auswärtigen Politik (die freilich pluralistische Einflußnahme niemals ausschloß), ist inzwischen zum Schauplatz machtbewußter Auseinandersetzungen geworden, auf dem die Exekutive mit oder gegen Kongreß, Parteien, Interessengruppen und eine diffuse öffentliche Meinung agieren muß. Mehr noch: Seit den Tagen des Vietnam-Krieges spaltet eine leidenschaftliche Debatte über die angemessene Rolle der USA in der Weltpolitik Sozialwissenschaftler, Journalisten und Politiker in feindliche Lager, schwankt die amerikanische Gesellschaft insgesamt zwischen nationalem Masochismus und aufbrandendem Chauvinismus, zwischen Sehnsucht nach vergangenem Isolationismus, Verklärung des imperialen Ordnungsanspruchs der Weltführungsmacht in den Tagen des Kalten Krieges und spontan aufbrechen-der Aggressivität hin und her, die einen begrenzten Interventionismus mit den Mitteln traditioneller Kanonenbootdiplomatie fordert.
Welchen außenpolitischen Kurs das Weiße Haus derzeit auch immer steuert, verstärkt es entweder die Polarisierungstendenzen in der amerikanischen Gesellschaft oder läuft es Gefahr, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Der Streit um die Position Amerikas in der internationalen Politik wird zudem in einem weltgeschichtlichen Augenblick ausgetragen, da eine globale Revolution das überkommene Staatensystem verändert und zusätzliche Führungsprobleme aufwirft, die künftig jeder Administration, gleich welcher Couleur, das Formulieren und Exekutieren einer stringenten weltpolitischen Konzeption erschweren werden: eine Revolution, die die Zahl der Teilnehmer am internationalen Mächtekonzert stetig anschwellen läßt, das Gewicht der Sowjetunion und Westeuropas ebenso wie den Einfluß der OPEC-Länder stärkt und damit den machtpolitischen Stellenwert der Vereinigten Staaten notwendig mindert. Nimmt man zuguterletzt den Umstand hinzu, daß die weltpolitischen Herausforderungen der Gegenwart mit einem außenpolitischen Apparat zu bewältigen sind, der nach den Worten Hans J. Mor genthaus seit langem den Eindruck des „institutionalisierten Chaos" vermittelt worunter auch „imperiale" Präsidenten litten, mag ein nicht unerheblicher Teil derzeitiger Kritik am Weißen Haus an den Realitäten vorbei zielen 1. Forcierte Partizipationsansprüche des Kongresses in der Internationalen Politik Planung und Durchführung einer konsistenten US-Außenpolitik sind in der letzten Zeit immer häufiger an beiden Häusern des Kongresses aufgelaufen, die seit Watergate und Vietnam Kompetenzen selbst dort einfordern, wo sie diese aufgrund ihrer spezifischen Organisations-und Funktionsweisen kaum ausfüllen können. Die Willensbildungs-und Entscheidungsprozesse der Legislative vermitteln den Eindruck wachsender Atomisierung. Der engstirnige Provinzialismus einer Abgeordnetengeneration, die heute ungenierter denn je partielle Gruppen-und lokale Wahlkreis-interessen vertritt, erschwert die Entwicklung nationaler Strategien und Politikperspektiven. Die Integrationspotenz der Fraktionsführungen hat in dem Maße abgenommen, wie ihnen parlamentarische Strukturreformen Disziplinierungsmittel, positive und negative Sanktionsinstrumente entzogen. Und eine wuchernde Kongreßbürokratie präjudiziert miti*) selbstherrlichem Machtanspruch parlamentarische Beschlüsse, wo sie doch bloß die Entscheidungsfindung der Abgeordneten erleichtern und durch ihre Tätigkeit parlamentarische Informations-oder Planungsdefizite gegenüber der Exekutive ausgleichen soll Wenn der Kongreß in den frühen siebziger Jahren den weithin begrüßten Versuch unternahm, Auswüchse der „imperialen Präsidentschaft" auch auf dem Felde des Auswärtigen zurückzuschneiden so stellen heute seine Interventionen die Entwicklung mittel-und langfristiger Strategien in der Außenpolitik des Landes in Frage. Weder respektiert die Legislative bewährte Verhaltensmuster traditioneller Diplomatie, noch können ihre fragmentierten Kammern jene Kontinuität und Rationalität der Dezision gewährleisten, die allein der Bewältigung komplexer Handlungskonstellationen angemessen sind. Wo in Konflikten mit totalitären oder autoritären Herrschaftssystemen zuweilen allein geheimdiplomatische Aktionen Lösungen verheißen, Abmachungen oft nur um den Preis der Ausklammerung des Unvereinbaren oder mittels auslegungsfähiger Formulierungen zustande kommen, verhindern parlamentarische Transparenz-und Eindeutigkeitsgebote solch erfolgversprechenden Pragmatismus. Wo in internationalen Krisensituationen Besonnenheit gefordert ist, spontaner Aktionismus auf mittel-und langfristige Strategien bezogen bleiben muß, verleihen heute die amerikanischen Abgeordneten in gesteigertem Maße den außen-politischen Augenblicksstimmungen der Wählerschaft und den diffusen Schwankungen der Öffentlichkeit Ausdruck. Zwar hat die Carper-Administration trotz hochgehender Emotionen die Panama-Verträge durch den Kongreß schleusen und parlamentarischen Segen für Waffenlieferungen in die nahöstliche Region oder die Aufhebung des Waffenembargos gegen die Türkei erlan-gen können: freilich bloß mit hauchdünnen Mehrheiten in den meisten Fällen und zu politischen Kosten, welche die Zielsetzungen der Aktionen in Frage stellten. Bloße Drohgebärden des Kongresses blockierten den Ausbau der Kontakte zu Kuba oder Vietnam; Initiativen Carters im Bereich der Auslandshilfe oder der Export-Import-Politik liefen an Kungeleien des Kongresses mit außerparlamentarischen Gruppen auf; und der Stand der SALT-II-Ratifikation läßt Optimismus ebensowenig angebracht erscheinen wie die irrationalen Reaktionen vieler Abgeordneter und Senatoren bei der Besetzung der Teheraner US-Botschaft im November vergangenen Jahres oder anläßlich des sowjetischen Einmarsches in Afghanistan. 2. Amerikanische Außenpolitik im Kraftfeld des gesellschaftlichen Pluralismus Unter dem Banner der „Demokratisierung" und geschickter Nutzung latenter Ängste vor einer Wiederkehr der „imperialen Präsidentschaft" schalten sich seit einigen Jahren unzählige „pressure groups“, ethnische oder religiöse Minderheiten mit stärkerem Nachdruck als zuvor in die Führung der auswärtigen Geschäfte ein Der seit dem Zypern-Konflikt anhaltende Druck der Helleno-Amerikaner und der griechisch-orthodoxen Kirche der USA mit etwa zwei Millionen Gläubigen auf den Kongreß zugunsten eines Waffenembargos gegenüber der Türkei hat den Versuch des Weißen Hauses erschwert, die südöstliche Flanke des NATO-Bündnisses zu konsolidieren. Das kontinuierliche Eintreten des amerikanischen Judentums für eine pro-israelische Nahostpolitik der wechselnden Administrationen hat sich im Zeichen der Carter-Regierung verstärkt und das Weiße Haus an manchen erfolgversprechenden diplomatischen Aktionen im Nahost-Konflikt gehindert. Zahlenmäßig große Gruppen wie die osteuropäischen Minderheiten oder die Veteranen-verbände mobilisieren ihre Bataillone zur Beeinflussung der US-Außenpolitik stets dann, wenn sie eine Aufweichung der antikommunistischen Gesinnung wittern; sie dürfen sich dabei auf die Solidarität der amerikanischen Gewerkschaften verlassen, die sich noch immer als Gralshüter des Antikommunismus fühlen und dabei auch jedwede Forderung nach größeren Rüstungsanstrengungen unterstützen. Das rückt gleich jene finanzstarken Interessenten ins Blickfeld, die im Zusammenspiel mit Militärs und Bürokraten massiven Einfluß auf die Legislative nehmen, wann immer rüstungspolitische Fragen zur Debatte stehen. Zwar präsentiert sich der „military-industrial-complex" kaum je als monolithischer Block, bestimmen auch nicht ökonomische Motive allein die außenpolitischen Präferenzen dieser Eliten und ziehen sie im pluralistischen Interessengerangel mit anderen „pressure groups" zuweilen durchaus den kürzeren. Doch reicht der Einfluß dieser „Veto" -Gruppe im Kongreß allemal aus, um solche Zielsetzungen des Weißen Hauses zu verhindern oder abzuschwächen, welche ihren Interessen eindeutig zuwiderlaufen — nach Watergate mehr noch als zuvor, was die rüstungsfördernden Zugeständnisse der Exekutive im Vorfeld der SALT-II-Ratifikation wie der anstehenden Präsidentenwahl belegen 3. Die außenpolitische Fragmentierung der amerikanischen Öffentlichkeit Wenngleich die Außenpolitik der USA sich auch früher zuweilen als Resultat pluralistischer Gruppenkompromisse oder partikularer Interessenpressionen darstellte, war doch im gesellschaftlichen Konsens über die Prinzipien der amerikanischen Staatsraison die Gewähr relativer Kontinuität und Konsistenz der außenpolitischen Verhaltensweisen während eines überschaubaren Zeitraums verankert. Das Phänomen der „Bipartisanship“ drückte die Übereinstimmung im Grundsätzlichen auf der parteipolitischen Ebene aus Zwar lösten die kommunistische Machtübernahme in China und der Koreakrieg vorübergehend scharfe Konflikte zwischen Demokraten und Republikanern aus, doch stellte sich im Verlauf der fünfziger Jahre eine so weitreichende konzeptionelle Übereinstimmung zwischen den Parteien her, daß sowohl die Politik globaler Eindämmung des Kommunismus als auch Entspannungsbemühungen in der Nixon/Kissinger-Ara im Zeichen der „Bipartisanship" exekutiert werden konnten. Der nationale Konsens in der Außenpolitik (und damit auch die „Bipartisanship") ist erst zerbrochen, als der Amtsverzicht Johnsons 1968 und der Rückzug aus Vietnam das Scheitern des globalen Containment-Anspruchs signalisierte und sich bald darauf auch die Ausgleichsversuche mit der Sowjetunion festliefen.
Frustration, Gespaltenheit und Ziellosigkeit der Nation in Sachen Außenpolitik haben (ebenso wie die Watergate-Konsequenzen) Carter als ersten Präsidenten mit voller Wucht getroffen; und seine Bemühungen um eine Neubestimmung der weltpolitischen Rolle Amerikas sind vom Aufbrechen parteipolitischer Fronten in einem zuvor nicht-kontroversen Politikbereich in Frage gestellt worden. Vor allem die Republikaner schwören seit längerem aus wahltaktischen Überlegungen schrittweise der Tradition überparteilicher Außenpolitik ab und suchen durch Dramatisierung des amerikanischen Macht-und Prestigeverlustes im Bereich der internationalen Politik die Minderwertigkeitskomplexe und Verteidigungsreflexe der Nation für ihre Zwecke auszunutzen, wobei die künstlich hergestellte Polarisierung sich den Republikanern um so zwingender aufdrängt, als Carters konservative Wirtschaftspolitik den Republikanern im Innern weitgehend den Wind aus den Segeln genommen hat
Es handelt sich im wesentlichen um eine künstlich erzeugte Polarisierung; denn im Kongreß scheiden sich heute die Geister bei außenpolitischen Entscheidungen ebensowenig wie früher entlang parteipolitischer Linien. „Cross-Voting", traditionelles Abstimmungsphänomen einer Legislative ohne straff organisierte und disziplinierte Fraktionen, hat in den vergangenen Jahren als Reflex der allgemeinen Unsicherheit in weltpolitischen Fragen eher noch häufiger den parlamentarischen Alltag bestimmt Welche außenpolitischen Meinungsverschiedenheiten spalten im grundsätzlichen die amerikanische Öffentlichkeit? Die traditionellen Verhaltensmuster der USA in der Weltpolitik vom rigiden Isolationismus über einen Internationalismus mit idealistischer wie machtpolitischer Variante bis hin zum Interventionismus selektiver oder globaler Spielart haben sich in den außenpolitischen Einstellungen der amerikanischen Gegenwartsgesellschaft im wesentlichen auf zwei konfligierende Sichtweisen verengt, auf einen liberalen Interventionismus, der zuweilen idealistischen Positionen der Vergangenheit nahekommt, und einen konservativen Interventionismus, der mancherlei Gegensätzlichkeiten in sich vereint und isolationistischen Träumen ebenso nachhängt wie Visionen einer revitalisierten Weltmachtrolle der Vereinigten Staaten in wahrhaft globalem Ausmaß
Beide Lager befürworten ein internationales Engagement Amerikas auch in der nachvietnamesischen Ära, freilich auf unterschiedliche Weise. Das eine setzt auf Entspannung, Rü-stungsbeschränkung, Verhandlungen, Multilateralismus und hofft, den umweltpolitischen Einfluß der Vereinigten Staaten in erster Linie durch den Gedanken der Partnerschaft und idealistische Zielvorstellungen befördern zu können (die auch das Geschehen im eigenen Haus bestimmen müssen), ohne darüber machtpolitische Interventionsnotwendigkeiten auszuschließen, wo vitale Interessen der USA auf dem Spiele stehen. Als Bannerträger dieser Konzeption wirken renommierte Wissenschaftler, Journalisten und Politiker, deren Echo sich durch außenpolitische „pressure groups" wie das „American Committee on East-West Accord", die „Coalition for a New Foreign and Military Policy" oder die Bürger-lobby „New Directions" vervielfältigt, die sich 1976 aus einer Reihe religiöser, gewerkschaftlicher und berufsständischer Gruppen mit dem Ziel formiert hat, die Ratifikation des SALT-II-Abkommens zu unterstützen. Das andere Lager fordert zu verstärkten Eindämmungsbemühungen gegenüber der Sowjetunion auf, befürwortet forcierte Rüstungsanstrengungen und schwankt zwischen globalem Interventionismus und neo-isolationistischen Tendenzen hin und her, wobei der Hang zum Unilateralismus des „Protektors" unverkennbar ist, der auch moralischen Impulsen gegenüber aufgeschlossen bleibt, solange sie als eine nach außen gerichtete Waffe gegen den Sowjetkommunismus taugen.
Ganz ohne Zweifel bestimmt im Augenblick der Block der konservativen Interventionisten zunehmend die außenpolitischen Einstellungen der Öffentlichkeit und damit auch des Kongresses Daß der traditionell erzkonservative Flügel der Republikaner und sein soziales Umfeld dieser Koalition angehört, verwundert weiter nicht: Leute wie Ronald Reagan, Barry Goldwateroder Jesse Helms(samt ihren wissenschaftlichen Beraterstäben) haben nie 24 ein Hehl daraus gemacht, daß sie von Entspannung und Abrüstung nichts halten, wobei ihre politischen Präferenzen zwischen isolationistischen „Zurück-zur-Festung-Amerika" -Parolen und Manifestationen imperialer Ordnungsansprüche schwanken, denen die Einsicht in die Irrealität ihrer neo-isolationistischen Bekenntnisse zugrunde liegt.
Mehr öffentliche Aufmerksamkeit wird derzeit jenen „Neokonservativen" zuteil, die bis weit in die sechziger Jahre hinein als „Liberale" firmierten, Politiker, Publizisten und Wissenschaftler, bei denen sich traditionell idealistische Positionen mit der Überzeugung verbinden, die „Krise Amerikas" müsse durch einen neuen Kreuzzugselan und die Bereitschaft zu dynamischer Machtpolitik korrigiert werden. John Connally, möglicher Republikanischer Präsidentschaftskandidat, gehört wie Henry Kissinger mit Einschränkungen zu dieser Gruppe, mehr noch Senator Daniel Moynihan, unter Nixon UN-Botschafter seines Landes, der sich inzwischen zum Vorkämpfer des „wahren Amerika" emporstilisiert hat. Der Berater von Senator HenryJackson, Ben Watten-berg, stellt sich als Herausgeber der vom neokonservativ inspirierten . American Enterprise Institute" getragenen Zeitschrift „Public Opinion" in den Dienst „geistiger Wiederaufrüstung" — derselbe Wattenberg, welcher der amerikanischen Nation mitten im VietnamKrieg moralische Unversehrtheit bescheinigte Mit ihm hat sich eine Reihe privater Organisationen auf die Außenpolitik der Carter-Administration eingeschossen: das „Committee on the Present Danger", die „Coalition for Peace by Strength“ oder der . American Security Council“, allesamt akademischer Schützenhilfe aus Kreisen um Richard Pipes, Edward Luttack, Irving Kristol, Seymour Martin Lipset und Samuel Huntington teilhaftig. KristoKrxkg im Januar vergangenen Jahres einen vielbeachteten Frontalangriff auf Carter vor, der mit seiner moralisch orientierten Außenpolitik einem „dekadenten Wilsonianismus"
und dem gefährlichen Ziel huldige, Macht als Gestalterin der internationalen Beziehungen zu reduzieren Ob solche Vorwürfe ins Schwarze treffen und Eigentümlichkeiten CarterscherAußenpolitik erfassen, soll im folgenden geklärt werden. 4. Carters Außenpolitik im Widerstreit der Positionen Seit seinem Amtsantritt hat Carter angesichts der außenpolitischen Polarisierung in Öffentlichkeit und Kongreß ständig nach Ad-hoc-Mehrheiten haschen, gelegentlich die Unterstützung des einen, zuweilen die des anderen Lagers erkaufen müssen. Jede außenpolitische Initiative des Weißen Hauses ist zum parlamentarischen Spießrutenlauf mit unsicherem Ausgang geraten. Wo der Panama-Vertrag vor allem mit Hilfe von liberalen Demokraten und einigen wenigen konservativen Meinungsführer durch den Ratifikationsprozeß gepaukt werden konnte, ist das Rüstungspaket für Nahost oder die Annullierung des Türkei-Embargos vorwiegend mit Konservativen und Republikanischen Kräften durchgesetzt worden; und beim Kampf um SALT II hat der Slalom-lauf zwischen den Fronten erneut begonnen mit dem Ziel, durch Hofieren beider Lager, durch Kompromißbereitschaft nach beiden Seiten doch noch eine konsensfähige Mehrheit zustande zu bringen, wobei inzwischen die ohnehin schwachen Chancen des Vertrags bloß noch durch massive Zusagen an das Lager der „Falken" am Leben erhalten werden können.
Carter hatte den Kampf um die Präsidentschaft auch mit der Parole außenpolitischen Neubeginns geführt und dabei auf (momentane)
Einsichten der amerikanischen Gesellschaft in veränderte Realitäten der Weltpolitik gesetzt: Die Einsicht zum ersten, daß die globale Machtentfaltung der USA wie sie seit TrumansTa^en einer Containment-Politik zugrunde lag, die „allen Völkern, deren Freiheit von militanten Minderheiten oder durch einen von außen ausgeübten Druck bedroht wird", beistehen wollte, zuguterletzt an äußerem und innerem Situationswandel gescheitert war, am unaufhaltsamen Aufstieg der Sowjetunion ebenso wie an der Überschätzung eigener Ressourcen und Opferbereitschaft.
Die Erkenntnis zum zweiten, daß Mitte der siebziger Jahre auch der Versuch in eine Sackgasse mündete, die Achse Washington-Mos-kau durch forcierte Entspannungspolitik als Stabilisator der internationalen Beziehungen mindestens solange zu installieren, bis sich ein multipolares Mächtekonzert mit wechselseitig anerkannten Ordnungsfunktionen regionaler Reichweite etabliert hätte; oder die Dominanz der Ideologie durch eine „Realpolitik" abzulösen, die auf traditionelle Mittel der Geheimdiplomatie und spektakulärer Gipfeltreffen zurückgriff. ,
Carter suchte solche Einsichten der amerikanischen Öffentlichkeit in eine außenpolitische Konzeption umzusetzen: Ziele und Mittel im Bereich des Auswärtigen sollten sich künftig ebenso an moralischen Prinzipien wie an machtpolitischen Beschränkungen orientieren, die aus veränderten Konstellationen der Weltpolitik erwachsen waren; und demokratietheoretische Postulate nach Transparenz und Partizipation sollten auch im außenpolitischen Entscheidungsgeflecht Gehör finden, da doch der gesellschaftliche Glaube an die naturgegebene Überlegenheit der Exekutive im Gefolge von Watergate und Vietnam zerbrochen war.
Reicht der Hinweis der Carter-Gegner auf unbestreitbare Schnitzer und evidente Stilfehler für sich genommen aus, den Stab über diese Außenpolitik zu brechen? Am ehesten trifft noch der Vorwurf mangelnder Gradlinigkeit ins Schwarze, wo er widersprüchliche Stellungnahmen der Administration oder den konzeptionellen Konflikt zwischen Außenminister Vance und Sicherheitsberater Brzezinski attackiert; doch muß er mindestens insoweit relativiert werden, als die kritisierte Sprunghaftigkeit auch aus den Zwang der Rücksichtnahme auf ständig wechselnde Koalitionsverhältnisse im Kongreß erwächst.
Mangelt es Carters Außenpolitik an Realismus? Kaum noch, seit es um die hochgesteckten moralischen Impulse des Neubeginns, um Menschenrechts-und Anti-Proliferationskampagnen ruhiger geworden ist. Im Gegenteil: Zunehmend prägt ein dezidiert-realistischer Sinn für die Grenzen der amerikanischen Weltmacht die außenpolitischen Überlegungen Jimmy Carters, in afrikanischen ebenso wie in lateinamerikanischen oder nah-und mittelöstlichen Angelegenheiten.
Was schließlich den Vorwurf fehlender Entschlossenheit angeht, wird man festsstellen müssen, das Carteran zentralen Bestandteilen seiner Konzeption verbissen festgehalten und dabei auch Popularitätsverluste einkalkuliert hat. Bemühungen um eine Revitalisierung der Bündnisstrukturen bei gleichzeitigem Festhalten am Entspannungs-und Salt-II-Dialog, unermüdliche Friedenssuche im Nahost-Konflikt und definitives Sich-Abfinden mit einer pluralistischen Welt, die amerikanischer Gestaltung bloß noch in engen Grenzen offen-steht — kontinuierliches Insistieren hier wie dort, das zweifelsohne Früchte getragen hat. Die Wiederbelebung der Allianzen ist in Gang gekommen, die Lösung regionaler Konflikte teilweise gelungen; Kontakte zur Dritten Welt wurden intensiviert; und selbst die Menschenrechtskampagne ist nicht wirkungslos verhallt, sondern verzeichnet neben der unverkennbaren Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit für Fragen der politischen Moral durchaus unmittelbare politische Konsequenzen
Eine Erfolgsbilanz insgesamt, die sich nicht zu verstecken braucht; aber im Zeichen anhaltender nationaler Erregungszustände und eines frühzeitig auf Touren kommenden Wahlkampfs findet bloß die spektakuläre Aktion den Beifall der Öffentlichkeit, was nicht bloß für den Bereich des Auswärtigen gilt, sondern ebenso für die Führung der innenpolitischen Geschäfte: Das Urteil über sie schwankt um so stärker, je heftiger sich die Wahlen in einer konfliktzerrissenen Gesellschaft ankündigen *
IV. Der gesellschaftliche Dissens über die richtige Ordnung des Gemeinwesens
Nennen wir eine letzte Bürde, die auf Carters Präsidentschaft lastet: den vehementen Dissens, der heute die amerikanische Nation in Fragen der sozio-politischen Gegenwarts-und Zukunftsgestaltung spaltet. Sicher mußten auch frühere Administrationen mit innenpolitischen Konflikten leben; aber sie ließen sich auf der Basis eines gesamtgesellschaftlichen Konsens in Wert-und Prinzipienfragen leichter kanalisieren. Im Strudel von Watergate und Vietnam, im Zeichen fortschreitender sozialer Fragmentierung und allgemeiner Existenzunsicherheit, Folge des rapiden wissenschaftlich-technologischen’ Wandels, hat der Streit um die richtige Bewältigung zentraler Gegenwarts-und Zukunftsprobleme eine polarisierende Schärfe angenommen, die es dem Weißen Haus kaum noch ermöglicht, seine politischen Absichten und Entscheidungen im Rahmen eines tragfähigen Konsens anzusiedeln und damit die Integration der Gesellschaft zu fördern.
Die bis zum Spätsommer 1979 fast kontinuierlich absinkende Popularitätskurve Jimmy Carters ist auch Ergebnis der Zerrissenheit einer Sozietät zwischen Status quo und Reformbereitschaft, zwischen Resignation und Idealismus, zwischen Abkehr vom Gemeinwesen und neuer Zuwendung. Wo die Gesellschaft die Parolen des Wahlkämpfers Carters, seine Beschwörung des „amerikanischen Traumes" und seinen Glauben an idealistische Selbstheilungskräfte der Nation eben noch honorierte, zog sie sich in dem Maße vom Präsidenten zurück, wie er durch reformerische Initiativen Gesundungsprozesse befördern wollte. Sicher liefen die Motive der Abwendung weit auseinander: Wo sich der Idealismus der einen als bloß amorphe Stimmung ohne Erneuerungselan darstellte, leiteten andere aus dem vermeintlich desolaten Zustand der Gesellschaft so weitreichende Reformerwartungen ab, daß ihnen keine Regierung auf Anhieb hätte gerecht werden können, plädierten dritte für die Konsolidierung des Status quo um jeden Preis, für das starre Festhalten am überkommenen als Ausweg aus der Krise der Gegenwart. Aber sie flossen doch auch wieder in der Gegnerschaft zur Regierung zusammen, die angesichts des grundlegenden Dissens in sozio-politischen Gestaltungsfragen selbst dort alle gesellschaftlichen Lager vor den Kopf stieß, wo sie sich intensiv um Kompromisse mühte.
Umreißen wir wenigstens stichwortartig jene Ursachen und Erscheinungsformen des gesellschaftlichen Dissens, dessen Sprengkraft das vertraute Erscheinungsbild des transantlantisehen Gemeinwesens zunehmend verändert und überdies das Weiße Haus mit fast unlösbaren Problemen konfrontiert. 1. Die „Revolution steigender Ansprüche“
im Widerstreit mit dem Status quo Die „Revolution steigender Ansprüche" in Form rechtlicher, kultureller oder politisch-ökonomischer Gruppenforderungen, aufgebrochen in den Rassenunruhen der sechziger Jahre und dem sich anschließenden Aktionismus von Minderheiten unterschiedlicher Herkunft, hat die „Schmelztiegel" -Vision als Fiktion, als ideologische Verschleierung fortdauernder gesellschaftlicher Ungleichheiten enthüllt.
Ob diese Ansprüche heterogener Gruppen, ethnischer Minderheiten ebenso wie religiöser, sozialer, biologischer oder altersspezifischer Kollektive, letztlich in die Aufsplitterung der Gesamtgesellschaft, in einen pluralistischen Separatismus münden oder ob das überkommene Erbe politisch-kultureller Traditionen noch ausreichende Integrationsimpulse vermitteln kann, um die zentrifugalen Kräfte der Gegenwart dauerhaft in eine pluralistische Ordnung mit verfassungspolitischem Grundkonsens einzubinden, wird als alternative Möglichkeit leidenschaftlich und kontrovers diskutiert Besonders bedrohlich erscheint dabei der Umstand, daß die „Revolution steigender Ansprüche" inzwischen längst auf „angepaßte" Gruppen der amerikanischen Gesellschaft übergegriffen hat und sich als radikaler Egalitarismus präsentiert, der nicht auf Chancengleichheit, sondern auf die Egalität sozialer Lebensbedingungen zielt. Dysfunktio-nale Konflikte erwachsen dabei zunächst einmal aus dem Zusammenprall des „Rechte" ein-klagenden Partikularismus mit einer konservativen Reaktion, welche die Erhaltung des Status quo um jeden Preis auf ihre Fahnen geschrieben hat und sich als „white backlash" heute vor allem gegen das Phänomen der „reverse discrimination" richtet, jene „umgekehrte Benachteiligung", wie sie etwa von Quotensystemen für ethnische Minderheiten oder Frauen in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft ausstrahlen kann -2. Die Effizienz-und Legitimationskrise des politischen Systems Die „Revolution steigender Ansprüche" und die gesellschaftliche Polarisierung unter der Flagge von Wandel oder Beharrung gefährden heute überdies die Grundlagen des politischen Systems der USA Wo Gruppenforderungen auf die Egalität der Lebensbedingungen zielen, verändern sie das Erscheinungsbild des Staates: der Rechtsstaat wird zum Rechtsmittelstaat transformiert. Mehr noch als die Bundesrepublik erfährt das amerikanische Gemeinwesen derzeit dieses Schicksal. Gerichte, Behörden und großstädtische Menschenrechts-Agenturen, von Bürgerrechtsorganisationen mit staatlicher Hilfe unterhalten, werden mit Beschwerden überschwemmt, denen vermeintliche oder tatsächliche Benachteiligungen von Minderheiten im sozio-kulturellen wie politisch-ökonomischen Bereich zugrunde liegen. Die „U. S. Equal Employment Opportunity Commission" hinkt ebenso wie einzel-und bundesstaatliche Gerichte einer wachsenden Lawine von Klagen hinterher; hier und anderswo zeichnen sich Grenzen der Leistungsfähigkeit der politischen Institutionen des Landes ab. Staatliche Effizienz droht in einem noch komplexeren Sinn am gesellschaftlichen Dissens aufzulaufen. Denn weder reichen die staatlich verfügbaren Ressourcen aus, um allen Gruppenforderungen zu genü-gen und durch forcierte Reformmaßnahmen jenen partikularischen Kräften den Wind aus den Segeln zu nehmen, die letztlich auf „Systemüberwindung" zielen, noch vermögen Regierung und Verwaltung auch nur eine Politik der „kleinen Reformschritte" kontinuierlich weiterzuentwickeln, weil sie mit dem rigiden Beharrungswillen der „schweigenden Mehrheit" kollidiert, die zunehmend die Machtverhältnisse im Kongreß bestimmt. Die im Gruppendruck aufbrechende Diskrepanz zwischen öffentlicher Armut und privatem Reichtum stellt mit der Wirksamkeit staatlicher Institutionen auch ihre Legitimität in Frage; und in die gleiche Richtung wirkt der lähmende gesamtgesellschaftliche Dissens über Richtungsfragen der Nation.
Ob und wie unter solchen Voraussetzungen die explosiven Krisenherde in den USA ausgeräumt werden können, die Verödung der Großstädte, die furchterregenden Verbrechensstatistiken, Arbeitslosigkeit und Armut, die Unzulänglichkeit sozialstaatlicher Einrichtungen und andere mehr, weiß niemand recht zu sagen. Ohne Zweifel kann dieses ineinander verwobene Problemnetz bloß durch staatliche Kraftakte und zentralistisch-bürokratische Anstrengungen zerrissen werden. Doch haben Watergate und Vietnam die Effizienz-und Legitimitätsbasis des „Big Government" drastisch beschnitten, ganz zu schweigen von dem Umstand, daß die Verwirklichung des modernen Daseinsvorsorgestaates in den USA noch immer mit der tiefverwurzelten Ideologie der überlieferten „grassroots" -Demokratie kollidiert. 3. Die Carter-Administration in der Innenpolitik Eine Bilanz der innenpolitischen Leistungen oder Versäumnisse der Regierung Carter muß die krisenhafte Grundbefindlichkeit der amerikanischen Gesellschaft berücksichtigen. Wenn ein bekannter Wortführer des konservativ-reaktionären Lagers in den USA wenn William F. Buckley jr. dem Präsidenten vorwirft, das Wesen politischer Führerschaft zu verkennen, das darin bestehe, herauszufinden, was die Leute wollen, dann die Berechtigung dieser Wünsche zu verdeutlichen, um schließlich ihre Erfüllung zu koordinieren so trifft dieser Vorwurf deshalb nicht ins Schwarze, weil die soziale Fragmentierung und Polarisierung bei schwindendem Wertekonsens die Chancen mindern, durch Artikulation, Anerkennung und Koordination pluralistischer Interessen die Gesamtgesellschaft zu befrieden. Im Gegenteil vertieft heute jede politische Entscheidung des Weißen Hauses den Dissens und muß gegen hochaktive „pressure groups" erzwungen werden, die nicht zuletzt den fragmentierten Kongreß für ihre Belange einspannen. Im Lichte solcher Gegebenheiten will dann die innenpolitische Leistung der Carter-Administration keinesfalls so dürftig erscheinen, wie sie vom überwiegenden Teil der Kritik dargestellt wird
Sicher ist der Präsident nicht als Initiator großangelegter Bundesprogramme in Erscheinung getreten; der Populist aus Georgia teilt die Aversion weiter Bevölkerungskreise gegen „Big Government" und hohes Steuerniveau. Eher versuchte er in letzter Zeit, die galoppierende Inflationsrate zu drosseln und seinem ehrgeizigen Ziel näherzukommen, im Fiskaljahr 1981 einen ausgeglichenen Haushalts-entwurf zu präsentieren, was freilich nach den Ereignissen der letzten Monate und der daraus resultierenden Aufstockung des Militär-haushalts nicht mehr zu verwirklichen ist Er konnte aber dort Erfolge verzeichnen, wo begrenzte Probleme zu lösen waren: bei der Reorganisation des Exekutivapparates, beim Abbau von Verwaltungsvorschriften im Konsum-und Geschäftsbereich etwa oder bei der Neufassung beamtenrechtlicher Vorschriften. Seine Politik hat dazu beigetragen, in gut zweieinhalb Jahren acht Millionen neuer Arbeitsplätze zu schaffen; nicht zuletzt hat er als erster Präsident damit begonnen, ein umfassendes Energieprogramm in Angriff zu nehmen, welches das Ende staatlicher Preiskontrollen über die heimische Energieförderung, die Besteuerung der „Windfall Profits", staatliche Beihilfen für die Einkommensschwachen, die Unterstützung von Programmen zur Erschließung alternativer Ressourcen und die Sicherung präsidentieller Vollmachten für den energiepolitischen Notstandsfall zu verbinden sucht.
Freilich sind die essentiellen Bestandteile des Pakets bislang ebenso im Kongreß hängengeblieben wie weiterreichende Reformvorschläge im sozialpolitischen Bereich. Carters „Triple Track'-Modell einer bundesweiten Reform des Fürsorgewesens will das Gestrüpp des amerikanischen Wohlfahrtswesens roden und dabei der im Lande vorherrschenden puritanischen Arbeitsethik ebenso Rechnung tragen wie dem Gebot sozialer Verantwortung. Arbeitsvermittlung soll mit Einkommensunterstützung für bedürftige Erwerbsfähige und einer ausreichenden Vollunterstützung für Erwerbsunfähige (auch in „two-parent-families") kombiniert und gleichzeitig die finanzielle Entlastung der Einzelstaaten angepeilt werden, denen die Erfüllung von Daseinsvorsorgeaufgaben über den Kopf wächst.
Carter möchte auch den desolaten Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens verbessern: mit Hilfe einer allgemeinen staatlichen Krankenversicherung bei Kostenbeteiligung der Versicherten und des Staates, die schrittweise verwirklicht werden soll, und durch Kontrollen, die der beängstigenden Kostenlawine im Krankenhauswesen Einhalt gebieten könnten Aber in beiden Fällen sperrt sich der Kongreß ebenso wie beim Energieprogramm; sozialpolitische Maßnahmen, die Kosten verursachen, Reformen, die Wandel verheißen, scheitern am Widerspruch jener Schichten, die heute auch im Parlament das Sagen haben. Sie kämpfen für die Verringerung der Steuerlastquote durch reduzierte Staatsausgaben und für den sozialpolitischen Status quo und sind nach Iran und Afghanistan ohnehin bloß noch für eine Aufstockung des Verteidigungsbudgets zu gewinnen; sie nehmen darüber auch das Weiterschwelen jener Konfliktherde in Kauf, die den „amerikanischen Traum" zunehmend gefährden.
V. Leistung und Versagen Carters: Bilanz einer Präsidentschaft
Drei vorgegebene Konstellationen, so der Befund der Analyse, beeinträchtigten Carters Regierungschancen von allem Anfang an:
a) Wo sich in der Vergangenheit amerikanische Präsidenten beim Kampf um die Durchsetzung und Ausführung politischer Entscheidungen auf das Ansehen des höchsten Amtes und die einzigartige Qualität ihrer Herrschaftslegitimation stützen konnten, die aus der Wahl durch das gesamte Volk erwächst, haben Watergate samt Vietnam das Weiße Haus „entmythologisiert"; ein wachsender Prozentsatz des Volkssouveräns bringt sein Unbehagen am System durch Wahlabstinenz zum Ausdruck.
b) Wo bis in die sechziger Jahre hinein eine dezidiert pluralistische Gesellschaft übergeordnete Gesamtstaatsinteressen respektierte, hat die gegenwärtige „Balkanisierung Amerikas“ (so der konservative Publizist Kevin Philipps) die Chancen gemeinwohlorientierter Politikgestaltung durch das Weiße Haus drastisch beschnitten. Der Verfall überkommener Wertevorstellungen, der sich im Aufbegehren von Gruppen aller Art manifestiert, die Fragmentierung des Kongresses in Fraktionen oder einzelne Abgeordnete mit „Single Issue" -
Interessen, perspektivenverengender Provinzialismus und opportunistisches Machtgebaren hier wie dort erschweren das Geschäft des Regierens in bislang unbekanntem Ausmaß und lassen den Entwurf langfristiger Zielvorgaben oder kontinuierlicher Entscheidungsstrategien zum unkalkulierbaren Risiko geraten. c) Wo sich die konservative „Tendenzwende"
der frühen siebziger Jahre inzwischen auf breiter Basis durchgesetzt hat, spielen ganz offensichtlich parteipolitische Machtkonstellationen im Beziehungsgeflecht von Exekutive und Legislative keine ausschlaggebende Rolle mehr. Die Demokraten stellen den Präsidenten, sie beherrschen Senat und Repräsentantenhaus mit klaren Mehrheiten; doch die verabschiedeten Gesetze tragen eine ausgesprochen Republikanische Handschrift. Die sozialliberal anmutende Plattform der Demokratischen Partei von 1976 und populistische Visio-
nen Jimmy Carters haben sich in der Gesetzgebungsbilanz nur bruchstückhaft nieder-geschlagen. Aus der angekündigten Steuerreform, die mehr soziale Gerechtigkeit schaffen wollte, sind bloße Steuererleichterungen zugunsten mittlerer bzw. höherer Einkommens-schichten und Kapitaleigner, sind marginale Steuervereinfachungen geworden. Große Reformvorhaben wie die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung, die Verbesserung des Sozialfürsorgesystems oder Stadtsanierungsprogramme sind im Kongreß hängengeblieben und von Carter im Zeichen machtvoll durchgebrochenen Beharrungswillens in der Öffentlichkeit auch nicht weiter forciert worden. Während fast alle von den Gewerkschaften lancierten oder unterstützten Gesetzesvorhaben zur Strecke gebracht wurden, konnten Industrie und Wirtschaft einen steten Zugewinn an parlamentarischem Einfluß verbuchen. Ihrer Lobby fiel die Gründung einer Verbraucherschutzbehörde ebenso zum Opfer wie die Reform des Gesetzes über die gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter; sie konnte das Energiesparprogramm Carters in seinen wichtigsten Punkten verwässern und die Humphrey-Hawkins-Vorlage zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zur wohlgemeint-unverbindlichen Absichtserklärung entschärfen.
Freilich kann sich keine Regierung mit dem Hinweis auf vorgefundene Schwierigkeiten dem wertenden Urteil entziehen, ermißt sich doch ihre politisch-historische Bedeutung gerade an der Fähigkeit, spezifische Zeitprobleme zu bewältigen. Wie also steht in Carters Politik Erfolg zu Mißerfolg, Gelingen zu Scheitern? 1. Negative Posten in der Regierungsbilanz Carters Die ernst zu nehmende Kritik an Carters Amtsführung läßt sich im wesentlichen auf drei Bündel von Vorwürfen reduzieren: Der Präsident habe kein ausreichendes Gespür für etablierte Machtstrukturen und Herrschaftsmechanismen in Washington entwickelt, habe sich mit unqualifizierten Beratern umgeben und sei im Dickicht der Pfade zwischen Weißem Haus und Kapitol ohne Fortune umhergeirrt; es fehle ihm der Sinn für politische Zusammenhänge, er lasse weltpolitischen Über-blick vermissen und haste von einem Ziel, von einer Initiative zur andern, ohne seinen Aktionen Stringenz und Kontinuität durch eine richtungweisende Gesamtstrategie verleihen zu können; er vermittle weder der eigenen Gesellschaft noch der Außenwelt den Eindruck selbstbewußter Führung.
Ohne Zweifel entscheidet über Erfolg oder Mißerfolg eines Präsidenten auch sein Verhältnis zum Kongreß und sein politisches Geschick, befähigte Mitarbeiter auszusuchen und die ihn unterstützenden Stäbe richtig zu ordnen und einzusetzen. Selten konnten Administrationen mit sicheren parlamentarischen Mehrheiten für Gesetzgebungsvorhaben rechnen; zumeist mußten sie konservative Beharrungstendenzen des Kongresses, Mißtrauen und Skepsis gegen exekutive Initiativen in Rechnung stellen. Diejenigen Amtsinhaber reüssierten am ehesten, die sich auf den legislativen „Bargaining" -Prozeß, die kontinuierliche „Basisarbeit''und den Einsatz ihres Prestiges als Parteiführer zur Weckung von Loyalitätsgefühlen bei den Abgeordneten ihrer Couleur verstanden. Die Macht des Präsidenten besteht im Rahmen der Verfassung in der Chance der Überredung; tagtäglich muß er Kongreß und Öffentlichkeit von der Notwendigkeit seiner Vorhaben überzeugen Überzeugungskraft fließt dem Präsidenten „aufgrund des Ansehens des Präsidentenamtes, der Qualität seiner Mitarbeiter, des Arbeitsstils seiner Administration und nicht zuletzt seiner persönlichen Ausstrahlung" zu. Vom Geschick seines Umgangs mit Kongreß und Öffentlichkeit, der Qualität seiner Mitarbeiter und eigener Ausstrahlung um so mehr, müssen wir hinzufügen, als das Ansehen des Amtes gesunken, der Kongreß dem Zustand „milder Anarchie“ anheimgefallen und die Öffentlichkeit in einem bislang unbekannten Ausmaß in gegnerische Lager zerstritten ist.
Der Außenseiter Carter wollte Washington mit der Parole radikalen Wandels erobern, etablierte Machtstrukturen aufbrechen und einer Administration vorstehen, die im personellen und organisatorischen Bereich den Neubeginn signalisierte und sich an „unbürokratischen“ Tugenden wie Kollegialität und Transparenz orientierte. Zwar entsprach dieses Programm diffusen Forderungen der amerikanischen Gesellschaft Mitte der siebziger Jahre, doch schloß es von vornherein das Risiko der Konfrontation mit dem Establishment der Hauptstadt ein. Schon früher waren solche Präsidenten häufig an Senat und Repräsentantenhaus aufgelaufen, die mit allzu dezidierten Reform-Ansprüchen und ohne „Insider" -Kenntnisse parlamentarischer Organisationsund Funktionsweisen ihr Amt angetreten hatten, die Mitarbeiter um sich scharten, deren besserwisserische Arroganz, Parteilichkeit oder hinterwäldlerische Hemdsärmeligkeit das subtile Geflecht der exekutiv-legislativen Beziehungen verletzte. Wo sich Eisenhower oder Kennedy mit dem Kongreß ungemein schwer taten, hat ein „Insider" wie Lyndon B. Johnson auch kontroverse Gesetzgebungsprojekte durch die parlamentarischen Gremien schleusen können.
Carters Umgang mit dem Kapitol stand unter ungünstigen Vorzeichen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten alle US-Präsidenten zur Kontaktpflege mit dem Kongreß umfangreiche Verbindungsstäbe (Liaison Staffs) eingerichtet — auf der Ebene der einzelnen Ministerien ebenso wie im Weißen Haus selbst. Sie reflektierten in ihrer Struktur im allgemeinen die Organisation der Legislative.
Sie beherbergten nicht bloß Spezialisten für Repräsentantenhaus und Senat und kanalisierten nicht bloß die Kommunikation zwischen den Departments und den entsprechenden Kongreßausschüssen; sie orientierten sich auch an herkömmlichen Abstimmungsblökken in den Häusern, an den konservativen Südstaaten-Demokraten etwa, den Nordstaaten-Demokraten der Metropolen, hinter denen starke Parteimaschinen stehen, oder jenen, die ihre Wahl in erster Linie eigenen Anstrengungen verdanken und im allgemeinen als liberaler gelten; sie orientierten sich an solchen Gliederungen aus Einsicht in Koalitionsnotwendigkeiten bei der Schaffung parlamentarischer Mehrheiten.
Carters„Liaison Office" im Weißen Haus nahm 1977 seine Tätigkeit unter anderen Struktur-vorgaben auf Weil die Wahlen von 1974 und 1976 nach Auffassung der Carter-Berater vor allem solche Parlamentarier in den Kongreß geschwemmt hatten, die an Stelle herkömmlicher Blockbindungen problemorientierte Gruppenzugehörigkeiten entwickelten, sollte sich auch Carters Verbindungsstab aus Experten für einzelne Themenbereiche rekrutieren. Statt Spezialisten für die Betreuung der Häuser oder der parteipolitischen und regionalen Blöcke sollten Fachleute für Energieprobleme, Umweltfragen, internationale Beziehungen etc. die Kommunikation mit dem Kapitol pflegen. Als die Verbindungskanäle austrockneten, weil offensichtlich die Reformer das Gewicht herkömmlicher Kongreßstrukturen und traditioneller Formen der Kontaktpflege seiner Mitglieder unterschätzt hatten, baute die Carter-Administration ihren „Liaison" -Stab im Weißen Haus kurzfristig um. Auf der Basis einer Zweiteilung entlang der Kammergrenzen hat die Carter-Administration seither auf das Prinzip der Generalisierung gesetzt: jedes Stabsmitglied ist für die Kommunikation mit denjenigen Abgeordneten zuständig, zu denen es zuvor teils geplante, teils zufällige Kontakte unterhielt. Doch hat auch der reorganisierte Verbindungs-Stab seine Aufgabe bloß unvollkommen erfüllt, kontroversen Gesetzesinitiativen des Weißen Hauses durch kontinuierliche Beziehungspflege Mehrheiten zu verschaffen. Dies mag zum einen in der relativen Distanz des Präsidenten zu Liaison-Praktiken begründet sein, die das Prestige dieses Gremiums bei den Parlamentarien mindert; erst 1978/79 hat Carter die Fülle präsidentieller Einflußmöglichkeiten auf den Kongreß zu begreifen und einzusetzen gelernt, die in der Personalpatronage, in ge-
meinsamen Auftritten mit Abgeordneten etwa bei sog. „Gesichtspflege"'-Einladungen ins Weiße Haus, in der regierungsamtlichen Beratung und Information für die Mitglieder beider Häuser oder in der Erteilung von Regierungsaufträgen für Wahlkreise einflußreicher Parla-
mentarier beschlossen liegen. Jimmy Carter hat auch im Unterschied zu früheren Präsidenten der Koordination der Liaison-Stäbe im Weißen Haus und in den Ministerien wenig Aufmerksamkeit geschenkt, so daß zuweilen die Verbindungsleute einzelner Departments ganz ungeniert Interessen ihres Hauses verfolgten und dabei übergeordnete Ziele der Ad-
ministration negierten. Zum andern hat das Weiße Haus versäumt, mit einflußreichen Interessengruppen dauerhafte Kommunikationskanäle zu etablieren; Carter, der selfmade-man, der seinen Wahlkampf lange Zeit ohne die Hilfe, ja gegen solche Organisationen geführt hatte, die ansonsten Demokratische Kandidaten unterstützen, glaubte auch als Präsident den Konfliktaustrag nicht scheuen zu müssen und vergaß darüber, die koalitionsfördernden Ressourcen dieser Interessengruppen zu nutzen.
Nicht bloß hat die eigenwillige Reorganisation der Verbindungskanäle zum Kapitol die Parlamentarier verunsichert; sie fühlten sich überdies durch Ungeschicklichkeiten des Carter-Teams in ihrem Stolz verletzt. Der Vorsatz, der Garde aus Georgia zu zeigen, was . eine Harke ist', bestimmte deshalb lange Zeit das politische Handeln vieler Kongreßmitglieder, steckt wohl gelegentlich auch heute noch hinter der Widerborstigkeit mancher Abgeordneter. Daß sich der Außenseiter Carter in Washington von Anfang an mit einer Nestwärme vermittelnden Georgia-Clique umgeben hat, verwundert weiter nicht, daß er aber beim Kabinetts-Revirement im vergangenen Jahr gar noch die Positionen ihrer Protagonisten Hamilton Jordan und Jody Powell aufwertete (und gleichzeitig Minister entließ, die im Kongreß Respekt genossen!), muß als falsch verstandene Loyalität und Urteilsschwäche gelten. Wenngleich die jungen Carter-Prätorianer im Aufbau des Georgia-Gouverneurs zum Demokratischen Präsidentschaftskandidaten und in der Wahlkampagne die perfekte Verfügung über alle politischen Techniken des Machterwerbs demonstriert hatten, sind sie doch den Beweis schuldig geblieben, auch das Instrumentarium der Machterhaltung zu beherrschen. Saloppe Lebensart, hemdsärmelige Ruppigkeit und provinzlerische Animosität gegen das intellektuelle Ostküsten-Establishment haben den Kongreß ebenso vor den Kopf gestoßen wie die Begrenztheit der politischen Perspektiven Jordans und Powells, denen gediegene (Aus-) Bildung ebenso abgeht wie breitgefächerte Erfahrung.
Nicht zuletzt auf Drängen seiner Berater hat Carter frühzeitig den (untauglichen) Versuch unternommen, einen widerborstigen Kongreß mit dem Hinweis auf plebiszitäre Handlungsmöglichkeiten seines Amtes unter Druck zu setzen. Hatte nicht schon der große Alexis de Tocqueville auf die Herrschaftschancen eines Präsidenten verwiesen, der auf dem Instrument der öffentlichen Meinung spielen könne, deren Absichten und Wünsche er zugleich erraten und formen müsse, ohne ihr doch je zu weit voraus zu sein? Tatsächlich haben Präsidenten zu allen Zeiten an die öffentliche Meinung appelliert, wenn ihre Politik von widerstrebenden Kongreßmehrheiten blockiert wurde — freilich mit größerer Fortune zumeist, als sie Carters plebiszitären Vorstößen beschieden war. Denn die Fragmentierung des Kongresses reflektiert ja derzeit gerade die Gespaltenheit der amerikanischen Gesellschaft in zentralen Schicksalsfragen der Nation: Wo einem Lager der Umfang der vorgelegten sozialpolitischen Programme zu gering, die Diskrepanz von Wahlkampfvision und praktischer Politik zu groß erscheinen wollte, rührten die Carterschen Initiativen dem anderen Lager schon an die Substanz des amerikanischen Selbstverständnisses. Wo Carters konservative Wirtschafts-und Finanzpolitik Gewerkschaften und Stadtsanierer schockierte, gewann sie doch nicht das Vertrauen der Geschäftswelt, blieb Wall Street skeptisch gegenüber einem Präsidenten, der im Wahlkampf die populistische Flöte gespielt hatte
Da Carter als gewählter Präsident keine eindeutige ideologische Richtung vertrat, stand ihm in Öffentlichkeit und Kongreß auch kein ideologischer Block als zuverlässiger Verbündeter zur Seite. Und für die Außenpolitik gilt im wesentlichen dasselbe: Der Anfangselan der neuen Administration, der Versuch, Moral-und Realpolitik zu vereinigen, stieß zwar auf Zustimmung in der amerikanischen Of•fentlichkeit; doch blieb sie zu diffus, zu verunsichert auch durch allzu forsch lancierte Initiativen, als daß sie jenen breiten Resonanzboden der neuen Politik hätte abgeben können, den Carter im Konflikt mit dem Kongreß zu suchen schien.
Sicher sind Meinungs-und Stimmungsschwankungen in der amerikanischen Öffentlichkeit auch der Carter-Administration selbst anzulasten, die anfangs beträchtliche Unsicherheiten bei dem Versuch erkennen ließ, ihre vielfältigen Initiativen in eine Gesamtstrategie einzubetten und die Auswirkungen einzelner Aktionen auf komplexe innen-und außenpolitische Konstellationen vorzuden-ken. Carter entwickle ausgezeichnete Absichten, schrieb Stanley Hoffmann, Brzezinskis Harvard-Kommilitone in den fünfziger Jahren und heute renommierter Politikprofessor an derselben Universität, bloß gehe es in der Außenpolitik zuvörderst um Strategie, um den Kontext von Grundkonzeption, kompatiblen Zielen und sachgerechten Mitteln. Und eben hier drohe die „Gefahr der Inkohärenz“, kollidiere zuweilen ein Erfordernis mit dem an-dem
In der Tat vertiefte etwa die dynamische Menschenrechtspolitik das Mißtrauen der Sowjetunion, mit der man gleichzeitig über strategische Abrüstung verhandeln mußte (und muß); der stürmische Feldzug gegen den Export von Nukleartechnologie in die Dritte Welt mochte vorübergehend die Ausbreitung von Atomwaffen eindämmen, belastete aber gleichzeitig die Beziehungen zu Amerikas europäischen Verbündeten, deren Festigung Carter zu Beginn seiner Amtsperiode als oberstes Ziel proklamiert hatte; die Kontrolle von Waffenexporten in die Dritte Welt stieß sich mit dem Wunsch, die „neuen Einflußreichen" (Brzezinski) wie den Iran und Saudi-Arabien auf Amerikas Seite zu ziehen; allzu forcierter Druck auf das weiße Minderheitsregime in Südafrika oder die Regierung Muzorewa-Smith in Rhodesien ließ sich in dem Augenblick nicht mehr in eine Gesamtstrategie integrieren, wo die Sowjetunion und Kuba verstärkt die Aggressivität schwarzer Guerilla-Bewegungen schürten; und selbst ein diplomatischer Coup wie die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zu China, gedacht als Gegengewicht zur Sowjetunion wie als tragender Pfeiler einer zu schaffenden „kooperativen Weltord-nüng", stiftete angesichts der aktuellen Unvereinbarkeit der Zielkomponenten zunächst eher Verwirrung als Erleichterung.
Die „Gefahren der Inkohärenz" personalisieren sich in den privaten Meinungsverschiedenheiten und institutionellen Spannungen zwischen Carters Sicherheitsberater Brzezinski und Außenminister Vance. Wo Brzezinski Carters Ohr mit der Parole einer „kooperativen und konstruktiven Globalordnung gewann, die den uralten Traum Amerikas von einer widerspruchsfreien Welt produziert, wo diese Vision die Versuchung zeugte, alte Realitäten wie die fortdauernde Rivalität mit Mos-kau zu verdrängen, verwies der altgediente Diplomat Vance auf die Fortdauer machtpolitischer Gesetzlichkeiten, auf Gleichgewichts-und Eindämmungserfordernisse und wurde darin durch die Ereignisse am Horn von Afrika, in Angola, Rhodesien, im Nahen und Mittleren Osten laufend bestätigt. Obwohl der Präsident inzwischen außenpolitische Kursschwankungen weitgehend ausgeglichen und allzu eklatante Positionsdifferenzen im Regierungs-Team ausgeräumt hat, ist in der amerikanischen Öffentlichkeit wie in den ausländischen Kanzleien das Bild seiner Administration noch immer vom Vorwurf mangelnder Stetigkeit geprägt.
Das rückt den dritten Aspekt der Kritik ins Licht: die Frage nach den Führungsqualitäten Carters. Dabei wird dem Präsidenten nicht bloß konzeptuelle Sprunghaftigkeit oder administrative Koordinationsschwäche vorgehalten, sondern recht eigentlich Unfähigkeit, die Nation zu repräsentieren und in einem gemeinsamen Willen zu verbinden, „Balkanisierung” also und „Fragmentierung” der sozio-politischen Kräfte und Institutionen abzubauen. Wenn Kritiker dabei auf die Maxime Woodrow Wilsons verweisen, ein Präsident brauche keine Gegenmacht zu scheuen, wenn er erst einmal die Bewunderung und das Vertrauen seines Landes gewonnen habe, lassen sie zwar häufig jene geschilderten Umstände außer acht, die Carterzwingen, von Fall zu Fall zu argumentieren und Mehrheiten zu mobilisieren; doch ändert dieser Hinweis nichts an Carters größtem Handicap, seinem Mangel an Motivationskraft. •
Keine Frage, Carter war und ist noch immer kein starker Präsident im herkömmlichen Sinn. Er hat lange diese Rolle bewußt ausgeschlagen, wollte nicht bloß dekretieren, sondern im Mit-und Gegeneinander unterschiedlicher Standpunkte zu Entscheidungen 'gelangen. Ist er deshalb ein Zauderer, ein Präsident „ohne Mumm”, wie es die Schar der Republikanischen und Demokratischen Präsidentschaftsanwärter landauf, landab wissen will? Sein Land wolle voranschreiten, nicht Rückzüge antreten, hat Senator Edward Kennedy am 7. November 1979 anläßlich der offiziellen Erklärung seiner Präsidentschaftskandidatur Verkündet; was der Nation fehle, sei die entschlossene Führung durch das Weiße Haus. Er, Kennedy, werde sich nicht scheuen, von der Zitadelle der Macht aus klare Signale zu geben, um dem Aufbruch zu neuen Grenzen den Weg zu weisen.
Vor dem Maßstab des außenpolitischen Erfolgs zumindest können die Zweifel am „Mumm" Carters kaum bestehen: Allein der mutige Verzicht auf den Panama-Kanal, die Absage an den isrealischen Anspruch, als einziger Staat im Nahen Osten modernste amerikanische Waffensysteme zu bekommen und die Aufhebung des Waffenembarbos gegen die Türkei widerlegen das Bild vom „Zauderer" im Weißen Haus. Eher schon mag ungenügende Selbstdarstellung des Präsidenten und seiner Politik den Umstand erklären, daß die Nation Leistungen Carters kaum zur Kenntnis genommen hat. Aus diesem Grunde ist wohl auch im Sommer 1978 Gerald Rafshoon als Berater für Medienfragen in das Regierungs-Team mit der Aufgabe berufen worden, die Präsentation der Carter-Administration in der Öffentlichkeit zu verbessern. Mit einigem Erfolg, will es scheinen, der freilich gefördert worden ist durch das behutsam-feste Auftreten des Präsidenten in Camp David wie in der iranischen Krise. Die Phantasie seiner Landsleute hat Jimmy Carter freilich bis zum Augenblick nicht ausgefüllt: Der Novize aus Georgia, der Außenseiter mit dem Südstaaten-Akzent, Pragmatiker und Moralist in einem, Verfechter puritanischer Arbeitsethik und schlichten Lebensstils — er kann die geheimen Bedürfnisse der Gesellschaft nach Glanz und Würde im Weißen Haus nicht recht befriedigen. 2. Positive Aspekte der Regierungsbilanz Carters Wäre Carter so schwach, wie er in Kommentaren und Karikaturen dargestellt wird, müßte sein Kampf um eine zweite Amtsperiode schlichtweg Mitleid erregen. Die Realität ist anders: Was seine Administration geleistet hat, braucht den Vergleich mit früheren Regierungen nicht zu scheuen. Carter ersparte bislang seinem Land kriegerische Aktionen, vermied den Einsatz amerikanischer Truppen in Übersee und verzichtete, soweit bekannt, auf Geheimoperationen gegen ausländische Regierungen: nicht aus Wankelmut oder Feigheit notabene, wie Kritiker mit Blick auf die Ereignisse am Persischen Golf, in Afrika oder Lateinamerika monieren, sondern eher aus nüchterner Einsicht in die Grenzen der Macht wie sie am Ausgang der siebziger Jahre auch einem Staat von amerikanischen Dimensionen gezogen sind Nicht-Intervention in die inneren Wandlungsprozesse anderer Nationen, Sichabfinden mit pluralistischen Strukturen auch im globalen Maßstab und nüchterne Neubestimmung der unverzichtbaren Interessenzonen Amerikas haben sich in CartersPolitik mit der Proklamation der Menschenrechts-kampagne verbunden, wobei die Kombination von Realpolitik und Idealismus nicht bloß eine wenigstens partielle Versöhnung der US-Gesellschaft mit dem eigenen politischen System und die teilweise Erneuerung des amerikanischen Selbstvertrauens gefördert, sondern auch internationale Prozesse ausgelöst hat, deren fortwirkende Konsequenzen sich wenigstens umrißhaft abzeichnen.
Auch kann die unverminderte Kritik Europas am US-Präsidenten Erfolge bei der Festigung atlantischer Bündnisstrukturen nicht einfach übergehen; trotz anfänglicher Differenzen über die amerikanische Atom-, Konjunktur-und Menschenrechtspolitik sind tiefergehende Allianzkrisen ausgeblieben, wie sie seit den sechziger Jahren an der Tagesordnung waren. Als erster Präsident seit Beginn der Währungskrise hat Carter (zugegebenermaßen unzulängliche) Anläufe unternommen, dem Verfall des Dollars mit amerikanischen Mitteln zu begegnen; er ist hartnäckig bei seiner bündnisinternen Zusage geblieben, das US-Verteidigungsbudget um inflationsbereinigte drei Prozent jährlich zu erhöhen — auf Kosten sozialpolitischer Ausgaben und daher mit dem Risiko, jene gesellschaftlichen Gruppen zu verprellen, die ihm 1976 zur Präsidentschäft verhalfen: die Schwarzen, Armen und großstädtischen Schichten. Im Nahost-Konflikt setzte Carter zeitweilig seine politische Karriere aufs Spiel; und ebenso beharrlich wie für den Panamakanal-Vertrag kämpfte er für den Fortgang des Entspannungsdialogs mit der Sowjetunion über die Ratifikation von SALT II, ein Ziel, an dem er trotz des afghanischen Frostes, der sich auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen gelegt hat, prinzipiell auch weiterhin festhalten will
Die Welt und Amerika sind mit diesem Präsidenten nicht eben schlecht gefahren: Sein Verhalten in Krisensituationen wurde von Besonnenheit und Verantwortungsgefühl selbst dort geprägt, wo Opportunismus kraftmeierischen Aktionismus forderte. Sicher ist Carters Kommentar zur sowjetischen Invasion in Afghanistan anfechtbar, sie stelle die größte Bedrohung des Friedens seit dem Zweiten Weltkrieg dar-, immerhin hat es aber seit der Berliner Blockade im Winter 1948/49 kein anderes Ereignis gegeben, das die Sicherheit der Welt auf einmal so total verändert und zehn Jahre des Bemühens beider Supermächte zunichte gemacht hat, ihre Beziehungen zueinander zu entkrampfen und den Frieden sicherer zu gestalten. Und die jüngsten Aktionen bzw. Absichtsbekundungen Carters verweisen zwar auf die Entschlossenheit des Präsidenten, sowjetischem Expansionismus künftig Grenzen ziehen zu wollen, schlagen aber die Tür für eine spätere Rückkehr zur Entspannungspolitik nicht zu Mehr kann unter den gegebenen äußeren und inneren Systembedingungen von Carter derzeit billigerweise nicht verlangt werden. Wenn frühere Meinungsumfragen vom anhaltenden Prestigeschwund Carters kündeten, bezog sich die öffentliche Einschätzung stets auf seine Kompetenz als Präsident; die Integrität der Person, Disziplin, Fleiß und Intelligenz des Außenseiters im Weißen Haus wurden kaum je angezweifelt. Da er in puncto Integri-tät keinen Vergleich mit seinen Herausforderern zu scheuen braucht, nehmen seine Wahl-chancen in dem Maße zu, wie er den Nachweis seiner Amtskompetenz führen kann: Die letzten Monate dürften ihm diesbezüglich Auftrieb vermittelt haben.