Liest man deutschsprachige Publikationen zum Regionalismus-Problem in Frankreich, dann könnte man den Eindruck gewinnen, daß der Zerfall des habsburgischen Vielvölkerstaats nach 60 Jahren eine Parallele auch in der „einen und unteilbaren Republik" unseres Nachbarlandes findet. Ist hier — wie ehedem dort — ein „Freiheitskampf" unterdrückter Völkerschaften im Gange, der geradewegs in die Auflösung gesamtstaatlicher Einheit münden könnte? Welche Realitätsbilder, welche ideologischen Traditionen verbergen sich hinter dieser „ethnischen" Interpretation des französischen Regionalismus? Welchen Realitätsgehalt haben Erklärungen, die den Regionalismus nicht nur als „ethnische", sondern zudem noch als „antikolonialistische" Befreiungsbewegung sehen? Der Beitrag gibt eine ideologiekritische Analyse dieser teils aus der Volksgruppenbewegung der Zwischenkriegszeit, teils aus dem Nord-Süd-Konflikt übernommenen Konfliktinterpretationen. Als Gegenthese wird abschließend auf die zentrale Rolle staatlicher Regionalentwicklungspolitik als Ursache und Adressat regionalistischen Protests verwiesen: ein Protest im ethnonationalistischen Gewand, aber kein „nationaler Befreiungskampf" gegen ethnische und koloniale Unterdrückung.
Einleitung
ie Überschrift dieses Beitrags ist zugegebeiermaßen etwas reißerisch — auch Anfühungs-und Fragezeichen können hier nur berenzt Distanz andeuten! Was also motiviert len Verfasser zu dieser, emotionale Reaktioien einkalkulierenden, Titelwahl?
‘wei vorweg zu betonende Befunde können cinen solchen „Einstieg" vielleicht plausibel nachen:
.. In nur wenigen westeuropäischen Ländern am ehesten noch in Spanien) stehen sich Regionalismus und Zentralismus in einer solch abgrundtiefen Unvereinbarkeit gegenIber, wie sie sich in der Distanz zwischen dem offiziellen Selbstverständnis Frankreichs als RÄpublique une et indivisible" einerseits und len Forderungen nach kultureller, politischer ind wirtschaftlicher . Autonomie" andererseits zeigt.
• Selbst dort, wo die ideologischen und politischen Fronten in vergleichbarer Heftigkeit aufeinanderstoßen, sind Verfassungskompro-nisse wie in Spanien (oder Belgien) oder insti-utionelle Zugeständnisse wie in Großbritan-ien (aber auch in Italien) als Konfliktregeungsversuche anerkannt. Orientiert man sich lagegen in Frankreich an den Äußerungen ler verfeindeten Wortführer des zentralisti-chen Nationalstaats (z. B.des Gaullisten • Chirac) und des „ethnonationalistischen" Regionalismus (z. B. Francois Fontans), dann cheinen Brückenschläge hier undenkbar.
’olitjournalistische Kassandrarufe wie der ean-Pierre Richardots beschwören denn auch ereits das Resultat einer scheinbar unverleidlichen Konflikteskalation: den staatli-hen Zerfall der „unteilbaren Nation", ein in echs bis acht Teilstaaten „zerstückeltes 'rankreich" Bis zum Ende dieses Jahrhunerts wird, so Richardot, Frankreich in seiner eutigen Gestalt von der Landkarte ver-schwunden sein — es sei denn, die verantwortlichen Politiker „wachen unverzüglich auf"!
Giscard d'Estaing, sicherlich für absehbare Zeit einer der wichtigsten Adressaten solcher Weckrufe, scheinen „Schreckensvisionen“ dieser Art gleichwohl nicht zu beunruhigen. In seinem Buch „Dömocratie francaise" läßt sich aus keiner Zeile herauslesen, daß regionalistisehe Themen zur Ursache politischer Schlafstörungen der Repräsentanten dieses Systems reifen könnten. Diese Sprachlosigkeit stimmt dennoch mißtrauisch: werden die (Bomben-) Anschläge bretonischer und korsischer Separatisten auf die „Integrität der französischen Nation" nicht vor demselben Hochverrats-Sondergerichtshof (Cour de sret de l'Etat) verhandelt, vor dem zu Beginn der V. Republik auch die OAS-Verschwörer abgeurteilt wurden? — Die politische Dimension der staatsgefährdenden Bedeutung wird den „Separatisten" also quasi unauffällig durch Zuständigkeitserklärung einer Instanz bescheinigt, die weit oberhalb (und außerhalb) der Alltagsjustiz angesiedelt ist. Der Vorwurf der Verschlafenheit an die Adresse der verantwortlichen Politiker könnte demnach insofern an dem Problem vorbeizielen, als er in Wirklichkeit auf eine fehlinterpretierte „taktische Verschwiegenheit" hinweist, hinter der sich vielleicht ein durchaus sensibilisiertes Problembewußtsein verbirgt. Die beschwörenden, fast identischen Erklärungen Giscards und seines Ministerpräsidenten Barre z. B. anläßlich ihrer kurz aufeinanderfolgenden (!) goodwill-Reisen nach Korsika, es gebe kein nationales „korsisches Problem", sondern nur „Probleme in Korsika" wirkten dort eher wie eine didaktische Repetition des „offiziellen" französischen Staatsverständnisses, als daß sie politische Selbstverständlichkeiten reflektierten.
Das für alle Vertreter, Liebhaber oder Bewunderer des französischen Zentralismus („La France — c'est Paris") schockierend einprägsame Richardot'sche Tableau eines separatistisch zerstückelten Frankreichs ist zweifellos ein hochgradig spekulatives Gedankenexperiment: Der technokratischen Kälte eines über-zentralisierten Staatsgebildes wird die vermeintliche Intimität und Individualität einer nach „ethnisch'-kulturellen Kriterien konstruierten französischen Kleinstaaterei gegenübergestellt — eine gegenwärtig beständig an Attraktivität gewinnende Vorstellung also, die eher geschichtsphilosophische Konzepte und Schlüsselbegriffe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts reaktiviert, als daß sie die im heutigen französischen Regionalismus angelegten Realitätsbilder und Konfliktursachen überzeugend erklärt. Immerhin: die Ängste oder Hoffnungen des überwiegenden Teils französischer Zentralisten bzw. Regionalisten kreisen um „utopische" Projektionen dieses Zuschnitts. Und wenn man sich dann noch deutschsprachige Publikationen zu diesem Problemkreis ansieht, gewinnt man vollends den Eindruck, daß es sich in Frankreich eher um zielbewußte „Freiheitskämpfe“ kulturell unterdrückter (und wirtschaftlich ausgebeuteter) „nationaler Minderheiten" Volksgruppen " /„Ethnien" als um bis heute höchst vielfältige Interpretationen von und Reaktionen auf strukturelle(n)
Problemen) handelt, die keineswegs nur die „ethnischen“ Randregionen betreffen. Die ideologische Reduktion der regionalistischen Bewegungen auf eine „Minoritätenbewegung“, die im oft unreflektierten Gebrauch der eben erwähnten Begriffstrias trotz vielerlei antikolonialistischen und ökologischen Beiwerks immer wieder durchbricht, stellt gerade auch die bundesrepublikanische Rezeption des französischen Regionalismus in eine problematische, deutsch-osteuropäische Tradition der „Volksromantik", die mit naiven Unbefangen-heitserklärungen ä la „Jean" allein noch keineswegs „bewältigt" ist. Beides, das „ethnonationalistische" Selbstbild vieler französischer Regionalisten und eine überwiegend in Minoritätenkategorien argumentierende deutsche Rezeption, gibt Anlaß genug, dem damit verbundenen Traditionsballast und seiner „modernen" kapitalismus-und systemkritischen Uminterpretation nachzuspüren.
Unter Verzicht auf die Darstellung der frühen Entwicklungsgeschichte des französischen Regionalismus wird es im folgenden also zunächst um die Klärung des ideologischen und historischen Kontextes der Begriffe „nationale Minderheit" und „Volksgruppe“ gehen. Im Unterschied zu Spanien und Großbritannien ist der Regionalismus in Frankreich ungleich stärker mit einem Traditionsstrang verkoppelt, der in Mittel-und Osteuropa mit der „großdeutschen“ Volkstumspolitik assoziiert wird und in Frankreich selbst die Kollaborationspraxis vor allem bretonischer, flämischer und elsässischer Regionalisten mit dem deutschen Nationalsozialismus begründete. Uber die angedeutete grundsätzliche ideologische Opposition zwischen republikanischem Zentralismus und regionalistischem Partikularismus hinaus ist es also die historische Diskreditierung durch diese „Bündnisstrategie", die bis heute einen Dialog zwischen Regionalisten und Zentralisten erschwert.
Diese Belastung sollte man sich bewußt machen, bevor man scheinbar „unbefangen" seine Sympathien für die vermeintlichen „nationalen Befreiungskämpfe" in Frankreich ausbreitet und damit der Sache wahrscheinlich eher Schaden als Nutzen zufügt.
In den folgenden Kapiteln wird es also weniger um eine deskriptive Bestandsaufnahme, noch weniger um eine theoretische „Erklärung" des französischen Regionalismus gehen. Überprüft werden sollen in ideologiekritischer Absicht die intellektuellen Deutungs-muster des französischen Regionalismus, die in ständiger Wechselwirkung auch die Realitätsinterpretationen und Handlungsorientierungen eines großen Teils der organisierten Bewegungen geprägt haben.
Dem Verfasser ist bewußt, daß ein solcher Ansatz zunächst an der subjektiven Betroffenheit der Individuen und Gruppen, die ihren Widerstand regionalistisch artikulieren, vorbeigeht. Zu fragen ist jedoch, ob nicht auch die bisher bereitgestellten Deutungen diesen „subjektiven Faktor“ systematisch ignorieren. Deren ideologiekritische Befragung könnte dann theoretische, vielleicht auch praktische Konsequenzen aufzeigen, die dieser Betroffenheit eher gerecht werden.
I. Regionalistische Bewegungen in Frankreich: Überlebenskampf bedrohter „Volksgruppen"?
Abbildung 2
Korrigierte Schätzungen zur Verbreitung regional-sprachlicher Kenntnisse Sprachregion Elsaß-(Lothringen) Franz. Flandern Bretagne Franz. Baskenland Franz. Katalonien Korsika Okzitanien Einwohner Wahrscheinlichkeit regional-sprachlicher
Dept. Kenntnisse 2, 5 Mill. ca. 1, 2 Mill.
(e 48%)
2, 5 Mill. maximal 100 000 4%) (ä 1, 9 Mill. unter 900 000 (e 47%)
0, 5 Mill. maximal 85 000 (17%) ä 0, 3 Mill. unter 150 000 (A 50%)
0, 2 Mill. maximal 100 000 (e 50 %)
11, 3 Mill. — (vgl. Text)
Korrigierte Schätzungen zur Verbreitung regional-sprachlicher Kenntnisse Sprachregion Elsaß-(Lothringen) Franz. Flandern Bretagne Franz. Baskenland Franz. Katalonien Korsika Okzitanien Einwohner Wahrscheinlichkeit regional-sprachlicher
Dept. Kenntnisse 2, 5 Mill. ca. 1, 2 Mill.
(e 48%)
2, 5 Mill. maximal 100 000 4%) (ä 1, 9 Mill. unter 900 000 (e 47%)
0, 5 Mill. maximal 85 000 (17%) ä 0, 3 Mill. unter 150 000 (A 50%)
0, 2 Mill. maximal 100 000 (e 50 %)
11, 3 Mill. — (vgl. Text)
Zum historischen Kontext der Begriffe „nationale Minderheit" und „Volksgruppe"
Die in der Folge des Versailler Vertrags von 1919 erwirkten Gebietsverschiebungen und staatlichen Neuordnungen in Ost-und Süd-osteuropa hatten dem Völkerrecht einen neuen wichtigen Problemkreis beschert: das Problem der „nationalen Minderheiten". Die deutsche Bevölkerung in Westpreußen, in der Provinz Posen, in Oberschlesien und in Teilen Ostpreußens, die Südtiroler, Sudeten-und Ungarndeutschen, die Ukrainer in Polen, die Ungarn in Rumänien und der Tschechoslowakei — diese und viele weitere sich nicht mit dem jeweiligen „Staatsvolk" identifizierenden Bevölkerungsteile waren durch die mehr oder weniger willkürlichen Grenzziehungen zu „Ereignisminderheiten" (Kloss) geworden, die sich dem Druck eines territorial festgeschriebenen Kulturnationalismus der neuen bzw. umgestalteten Staaten ausgesetzt sahen. Zum Problem wurde diese neue Ordnung, weil mit ihr der Anspruch verknüpft war, die als konflikt-trächtig erkannte Koexistenz von „Nationalität" und Staat im Nationalstaat zur Deckung zu bringen. Im Unterschied zu Frankreich, wo die . kulturelle" Substanz der nationalen Selbstinterpretation nahezu bruchlos mit dem in der französischen Revolution definierten republikanischen Staatszweck verschmolz, wo „civili-sation" und demokratische „citoyennet" als Einheit gedacht wurden blieb in den ost-und südosteuropäischen Staaten das individualisierende Prinzip demokratischer Volkssouveränität dem „organisch" definierten, sprachlich-kulturellen Nationalitätsprinzip untergeordnet. Gesellschaftliche und politische Konflikte, die die Minderheiten tangierten, wurden somit von Anfang an als nationalitätenpolitische Konflikte ausgetragen. Das umfassende System von Minderheiten-Schutzverträgen zwischen den Gründerstaaten des Völkerbundes und den neuen bzw. umgestalteten Staaten konnte dieser Tendenz nicht entgegensteuern — dies nicht nur aufgrund der Ineffizienz des Beschwerdeverfahrens vor dem Völkerbund Die dem Minderheitenschutzsystem zugrunde liegende Vorstellung einer sich jenseits „traditionaler" Bindungen entwickelnden, gesamtstaatlich-demokratischen „politischen Kultur" ignorierte das Selbstverständnis der betroffenen Staaten und wirkte so auf deren rigorose Diskriminierungs-und Assimilierungspolitik eher noch verschärfend.
Die faktische Vermischung kulturnationalistischer und sozioökonomischer Konfliktbereiche, deren Brisanz der Austromarxist Renner durch seine Unterscheidung zwischen Staat als „Wirtschafts-Gemeinschaft" und Nationalität als „Kulturgemeinschaft" für das österreichisch-ungarische Völkergemisch noch zu entschärfen versucht hatte, begründete jetzt auch das Scheitern aller Forderungen, die auf eine korporationsrechtliche Anerkennung und Autonomie unterschiedlicher Nationalitäten in einem gemeinsamen Staatsverband drängten Renners Vorstellungen zielten auf eine Entpolitisierung nationaler Loyalitäten; Aas, kulturnationalistische Selbstverständnis der neuen bzw. umgestalteten ost-und südosteuropäischen Staaten hatte dagegen gerade die totale Politisierung nationaler Loyalitäten zur Basis: Wenn man sich dort schon mit der menschenrechtlich begründeten Einmischung des Völkerbundes in „innere Angelegenheiten" nur unter Protest abfinden konnte, so tangierte jede darüber hinausgehende korporationsrechtliche Autonomieforderung die tragenden Grundprinzipien dieser Staatsgebilde. Die Affinität minoritären Sonderbewußtseins zur grundsätzlichen „Systemopposition" barg zudem immer auch die politische Option einer nationalistisch-irredentistischen Bedrohung des neu geschaffenen Staatensystems in sich. Hatten sich die Minderheiten-Organisationen bis in die 30er Jahre in internationaler Kooperation (Europäische Nationalitätenkongresse) um eine demonstrative Betonung ihres defensiven Charakters und um die internationale Anerkennung eines staatsunabhängigen Existenzrechts aller „eigenständigen Völker" (Boehm), nationalen Minderheiten und Volks-gruppen bemüht, so hatte vor allem die deutsche Volksgruppenbewegung spätestens seit Ende der 20er Jahre gegen den sich zunehmend verdichtenden Verdacht zu kämpfen, „Fünfte Kolonne" ihres ,, Muttervolkes" (Boehm) zu sein. Begründet war dies einmal in der ungeklärten Ambivalenz zwischen der Betonung der Staatsunabhängigkeit der Volksgruppen und der gleichzeitigen Anlehnung an das staatlich organisierte „Muttervolk" der „Reichsdeutschen", und zum anderen in der grundsätzlichen ideologischen Verwandtschaft der Volksgruppenideologie mit der irrationalistischen „Blut-und-Boden" -Mythologie des Nationalsozialismus. Diese Verwandtschaft sorgte schließlich dafür, daß sich die „neutrale“ Haltung der deutschen Volksgruppenbewegung schließlich unter dem Einfluß der nationalsozialistischen „ Volkstumspolitik“ zugunsten „großdeutscher“ und damit irredentistischer Tendenzen auflöste — eine Hypothek, die heute gern verschwiegen wird und die selbst einen menschenrechtlich motivierten Minderheitenschutz belastet.
Die problematische Erbschaft der Volksgruppenbewegung Vorab: Es ist richtig, daß sich die Volksgruppenbewegung ebenso wie ihre heutigen Nachfolger gegen eine „rassistisch reduzierte Begründung" ihres Eintretens für kollektive Volksgruppenrechte gewehrt haben. Der Hinweis auf diese Distanz erfaßt jedoch nur einen kleinen Ausschnitt ihrer Beziehungen zu den Nationalsozialisten. Kloss weist zu Recht darauf hin, daß auch innerhalb der NSDAP zumindest in den ersten Jahren nach 1933 eine nicht-rassistische Strömung dominierte, die ihre Argumente für das „Lebensrecht" der Volksgruppen gleichwohl aus der nicht minder fragwürdigen Überzeugung ableitete, „daß Menschen, die ihr Volkstum wechseln, häufig moralisch geringwertig und außerstande zu schöpferischer Mitarbeit seien."
Nicht nur die nationalistische Überheblichkeit gegenüber den „ressentimentgeladenen Unterschichtsvölkern" prägte das Verhalten der deutschen Volksgruppenbewegung, sondern auch und gerade deren durch den Nationalsozialismus bestärkte Empfindlichkeit und erbitterte Gegnerschaftgegenüberjeder Form von Assimilantentum bzw. „Volksverrat“. Die in ihren Auswirkungen totalitäre Denkfigur des volksverräterischen „Renegaten" und „Assimilanten"
spukt folgerichtig — trotz verbaler Distanzierung vom Nationalsozialismus — auch heute noch durch die Literatur zum Volksgruppenrecht Wenn Veiter 1977 (!) den „Assimilanten" jegliche Legitimation auf Vertretung ihrer Volksgruppe abspricht und „Volk und Volkstum" als „bei den diesseitigen Werten an erster Stelle" stehend propagiert, so hat er mit dieser weder ideologiekritisch — wie z. B. bei Eugen Lemberg — noch historisch-genetisch und/oder funktional hinterfragten Volkstumsmythologie die ebenso irrationale wie undemokratische „Substanz" des u. a. von Boehm repräsentierten Teils der (deutschen) Volksgruppenbewegung in die Gegenwart hinübergerettet. Die Gefahren dieser Haltung werden deutlich, wenn Veiter in diesem Kontext beispielsweise für das Elsaß und für Ost-Lothringen ein „Förderndes Nationalitätenrecht" auch gegen den explizit artikulierten Willen der „eigensprachigen Kulturfranzosen" (lies: „Renegaten") fordert.
Der organizistische Volksbegriff und die damit eng verbundene Forderung nach einem Fördernden Nationalitätenrecht“ auch gegen den Willen der Betroffenen (!) machen den Staat zum fnstrument eines absolut gesetzten Wertes, für den eine überindividuelle Verbindlichkeit beansprucht wird und der zugleich eine äußerst unbestimmte, leicht manipulierbare „Substanz“ hat.
„Volklicher" Wesenskult, nationalistische Gemeinschaftsmythologie und rassistischer Totalitarismus kennzeichnen in dieser Perspektive nur unterschiedliche Akzentuierungen eines ihnen gemeinsamen illiberalen, vordemokratischen und statischen Gesellschaftsbildes; sie negieren einen zentralen Wert menschen-rechtlichen Denkens: das Recht auf Selbstbestimmung, das sich auch und gerade in der individuellen Wahlmöglichkeit für eine unter vielen denkbaren gesellschaftlichen Existenz-formen und Identitäten ausdrückt; sie unterscheiden sich nur im Ausmaß des in ihnen angelegten Inhumanitätspotentials. Dem deutschen Nationalsozialismus blieb es Vorbehalten, diese Traditionsstränge — darwinistisch verabsolutiert und von allen Restbeständen universalistischen Denkens („Gegenseitigkeitsnationalismus") „gesäubert" — zu einem totalitären Ideologiebrei furchtbarster Konsequenz zu verarbeiten.
Organizistische Elemente im französischen Ethnonationalismus der Nachkriegszeit Es hieße, die Intention der obigen Darstellung mißzuverstehen, würde man sie als denunziatorische „Erledigung" der Volksgruppenbewegung der Zwischenkriegszeit abtun. Sie sollte für ideologische Versuchungen sensibilisieren, denen die Bewegung der Zwischenkriegszeit, und hier nicht nur ihre deutschen Vertreter, wie z. B. Boehm, sondern ebenso ost-wie westeuropäische „Volksgruppenführer", erlegen sind. Man kann nicht einfach verdrängen, daß Boehm die „vier großen S (Stamm, Siedlung, Sitte und Sprache)" des „volklichen Heimatkundlers" Riehlschon 1937 bereitwillig mit folgendem Satz „völkisch" anpaßte: „In der Sprache unserer Zeit würden wir dafür Blut, Boden, Volksordnung und Volkstum sagen, die ihre Krönung im leidenschaftlichenWillen zum nationalsozialistischen Reich finden.“ Man darf ebensowenig vergessen, welchen Einfluß die Gesellschaftsvorstellungen und ideologischen Theoreme der Volksgruppenbewegung auf die oben angedeutete Kollaborationspraxis einiger im „Comit Francais des Minoritös nationales" zusammengeschlossenen französischen Ethnonationalisten hatte. Und man sollte sich schließlich nicht wundern, wenn Analysen, die mit dem traditionellen Begriffsapparat auch den heutigen französischen Regionalismus zu erfassen suchen mit Mißtrauen begegnet wird. Hinter der begrifflichen Kontinuität verbergen sich nämlich oft genug auch politische, ideologische, personelle und organisatorische Reminiszenzen an die Zeit vor 1945 — dies nicht nur bei der deutschsprachigen Volksgruppenbewegung, sondern auch bei den französischen Ethnonationalisten. Einige Beispiele sollen hierzu genügen: Die Affinität der Volksgruppenbewegung zur nationalsozialistischen Gemeinschaftsideologie und die sezessionistischen bzw. irredentistischen Ambitionen der regionalen Anhänger dieser Ideologie hatten in weiten Kreisen Westeuropas, vor allem aber in Frankreich, jede Darstellung regionalkultureller Besonderheiten als die „nationaler Minderheiten“ oder „Volksgruppen" (communaut ethnique" suspekt werden lassen. Bei der 1949 eingeleiteten Gründung einer neuen Volksgruppenorganisation waren daher gerade auch französische Kreise sehr interessiert an einer neutralen Bezeichnung, ’die zudem der spezifisch regionalistischen Tradition Frankreichs Rechnung trug. Als Kompromiß setzte sich schließlich die Organisationsbezeichnung „Union der Regionen und nationalen Minderheiten" durch. Geleitet wurde sie von zwei Westeuropäern: dem Wallonen Charles Plisnier und dem Bretonen Joseph Martray — letzterer ein zum gemäßigten Regionalisten und Föderalisten gewandelter ehemaliger Chefredakteur der bretonischen Zeitung „La Dpche", die vor Kriegsende von Yann Fouörö 20) herausgegeben worden war. Das regionalistische, lediglich antizentralistische Element blieb in dieser Organisation jedoch nur ein Übergangsphänomen: schon 1953 wurde eine Umbenennung in „Föderalistische Union Europäischer Volksgruppen" (FUEV; franz.: „Union Fdraliste des Communauts Ethniques Europennes") vorgenommen, was mit der Streichung der alten ambivalenten Formulierung zugleich auch den Ausschluß aller Regionalisten bedeutete, die den Schritt in den Ethnonationalismus ablehnten. Obwohl sich die 1967 von der FUEV verabschiedeten „Hauptgrundsätze eines Volksgruppenrechts" durch eine vergleichsweise ausgewogene Mischung von individual-bzw. menschenrechtlichen Schutzforderungen und Forderungen nach einem kollektiven Existenz-und Entfaltungsrecht der Volksgruppen auszeichnen, werden beide nach wie vor aus einem organizistischen Gemeinschaftsverständnis abgeleitet, das sich heute in erster Linie auf die vorgeblich gemeinschaftsprägende Kraft der Sprache beruft.
Charakteristisch für diese Verwendung des Spracharguments ist ein Aufsatz, den Guy Häraud, wie Theodor Veiter ständiger Mitarbeiter des FUEV-Periodikums „Europa Ethnica", 1977 unter dem Titel „Le clivage linguistique et le fait national" veröffentlichte Hraud übernimmt von Francois Fontan (!) die Bewertung der Sprache als „indice synthötique de la nation": Sprache ist zugleich äußerlicher Indikator für die Existenz einer nationalen Gruppierung und Inbegriff ihrer „Substanz“. Sie ist damit allen anderen Faktoren, die ein „fait national“ konstituieren, übergeordnet Jedes Individuum ist ohne sein Zutun in die Tradition einer Sprachgemeinschaft eingebunden, die sein Denken, sein Handeln und damit seine Zugehörigkeit zu einem „Ethnotyp“ determiniert. Eine „Nation" ist folglich nicht identisch mit einer staatlich organisierten Gemeinschaft (vgl. Boehms Betonung des „eigenständigen Volkes"), sie ist auch nicht lediglich eine Zielsetzungsgemeinschaft im Sinne Renans, eine „Nation" existiert — ob sich ihre Angehörigen nun bewußt dazu bekennen oder nicht — als „Gemeinschäft eigenständiger Sprache, Mentalität und Normativität. War es für die „alten“ Volksgruppentheoretiker charakteristisch, daß sie die hinter dem Minderheitenbewußtsein verborgenen Ängste vor sozialer Deklassierung unthematisiert ließen, so ist es heute für Hraud und andere „linguistische" Ethnonationalisten bezeichnend, daß sie soziokulturelle Realanalysen der gegenwärtigen Sprachlandschaft gar nicht erst anbieten.
Analysen zum Stellenwert sprachlicher Aus-differenzierungen in Gesellschaften, in denen sich soziale, sektorale und regionale Vergesellschaftungsmuster sowohl ökonomischer als auch kultureller Art zu einem sehr komplexen Interaktionssystem vermischen, würden jedoch zweifellos ergeben, daß man die sprachlich-kulturellen Minoritätsprobleme abgeschlossen und relativ statisch existierender Siedlungsminderheiten, wie sie vor dem Zweiten Weltkrieg oft erörtert wurden, ebensowenig mit den Problemen der Randregionen Frankreichs vergleichen kann wie die kulturellen Existenzformen archaischer, nicht-europäischerStammesgesellschaften, die Gegenstand der von Häraud ausgiebig zitierten kulturanthropologischen oder ethnologischen Forschungen sind.
Volksgruppentheoretiker wie Veiter und Hraud mystifizieren die Konstruktionsmerkmale eines „vormodernen" Gesellschaftstypus als „Substanz" von Gemeinschaftsbildung schlechthin; sie isolieren den Faktor Sprache aus dem Faktorengeflecht heutiger staatlicher und gesellschaftlicher Gemeinschaftsbildung heraus und stilisieren ihn mit pseudowissenschaftlicher Attitüde zum Inbegriff „volklieher" bzw. „ethnischer" Kollektividentität
Zur „Substanz" des französischen Ethnonationalismus
Die sprachkulturelle Begründung des französischen Ethnonationalismus hat jedoch noch eine weitere Schwachstelle: sie tritt hervor, wenn man den sprachnationalistischen Anspruch mit dem in diesen Regionen überhaupt noch vorhandenen eigensprachlichen Potential konfrontiert. Untersuchungen der realen Sprachgeographie Frankreichs leiden nun allerdings unter dem Mangel, daß die offizielle demographische Statistik hierzu, abgesehen von veralteten Angaben zum Elsaß, kein Zahlenmaterial bereitstellt — sicherlich ein Indikator für die negative Attitüde der französischen Bürokratie gegenüber jeder Äußerung regionalkultureller Ausdifferenzierung. Die vorliegenden Angaben zur Verbreitung der Regionalsprachen wurden fast ausschließlich von regionalistischen Organisationen und/oder deren „Sympathisanten" zusammengestellt. Dennoch belegen selbst diese Zahlen noch eine teilweise erstaunliche Diskrepanz zwischen „Sprachwirklichkeit" und sprachnationalistischem Anspruch französischer Ethnonationalisten. Deutlich wird diese Diskrepanz in der folgenden Tabelle. Sie konfrontiert die Einwohnerzahlen der Departements (für Okzitanien: Regionen), in denen nach ernst zu nehmenden Untersuchungen noch originäre regionalsprachliche Kenntnisse angetroffen werden, mit Schätzungen unterschiedlicher Verläßlichkeit zur Anzahl regionalsprachlicher Einwohner -.
Für alle Regionalsprachen gilt, daß sie für die Bewohner der betreffenden Regionen nur in den seltensten Fällen alleiniges Kommunikationsmedium sind. Im Elsaß beispielsweise, für das die vergleichsweise noch zuverlässigsten Zahlenangaben vorliegen, gaben bei der Volkszählung von 1962 lediglich 19, 3% der Einwohner an, das Französische nicht zu beherrschen — dies bei dem wohl für alle französischen Regionen höchsten Prozentsatz von 84, 7% Dialektsprechern Ein weiteres typisches Merkmal, das ebenfalls für alle Regionalsprachen gilt, läßt sich aus anderen im Elsaß erhobenen Angaben erschließen: Die Regionalsprachen sind nicht nur auf ein vorwiegend traditionales Milieu (Land) und auf bestimmte Sprechsituationen (vertraute Umgebung, informelles Gesprächsklima) beschränkte Kommunikationsmedien, sie sind darüber hinaus bei jüngeren Altersgruppen in rapidem Rückgang begriffen.
Die drei hier genannten Faktoren regional-sprachlicher Kommunikation: situationsspezi- fische Anwendung, Assoziierung mit einem vorwiegend traditionalen Milieu und weitgehende Verdrängung in jugendlichen Altersgruppen, lassen die in der Tabelle anzutreffenden Hoch-und Höchstschätzungen in einem anderen Licht erscheinen. Bezieht man in das Schätzkalkül zudem noch die von Ethnonationalisten als „Unterwanderung" bzw. „Überfremdung“ bezeichneten Migrationsbewegungen, die Abwanderung gerade jugendlicher Bevölkerungsgruppen aus den peripheren Regionen und die ungebrochene Landflucht (vgl. Kap. II, ein, dann wird deutlich, daß einige Schätzungen jenseits aller Seriosität lediglich ethnonationalistisches Wunschdenken reflektieren Selbst die in allen Regionen seit einiger Zeit zu beobachtende „Renaissance“ der Regional-sprachen, der durch gezielten Sprachunterricht nachgeholfen werden soll, bedeutet füi das soziale Prestige dieser Sprachen bisher lediglich eine durchaus begrüßenswerte „Tendenzwende", kennzeichnet für deren Verbrei-B tung aber noch keine Trendumkehr. Fast schon peinlich wirken vor diesem Hintergrund Zahlenangaben wie die Lothar Wolfs, der ohne ein Wort der Begründung die gesamte Einwohnerschaft des Departements Pyrenes Orientales zur katalanischen Sprach-minderheit zählt Aus der Luft gegriffen sind auch die Schätzungen zu Okzitanien. Gibt es hier schon unter den regionalistischen/ethnonationalistischen Gruppierungen keine Einigkeit über die Grenzen dieses Gebietes so deuten erst recht die hohe Verstädterungsquote (die Region Provence-Alpes-Cöte d’Azur z. B. liegt hier nach der Ile-de-France an zweiter Stelle!) und der hohe Ausländer-und Zuwandereranteil auf die Unsicherheitsfaktoren hin, die sich einer realistischen Schätzung in den Weg stellen. Es wird daher hier auf Zahlenangaben verzichtet. In Abgrenzung von den vorliegenden Zahlen kann jedoch vermutet werden, daß selbst deren Halbierung noch eine Höchstschätzung bedeuten würde!
Unter Berücksichtigung der angedeuteten soziokulturellen und demographischen Befunde sollen in Tabelle 2 korrigierte Schätzzahlen zusammengefaßt werden:
Tabelle 2:
Auch diese tabellarische Zusammenfassung kann irreführend wirken. Zu betonen ist, daß es hier nur um „Kenntnisse" in den Regional-sprachen geht. Wird nach der Verbreitung der Regionalsprachen als Verkehrssprachen gefragt, so ergibt sich ein vergleichsweise noch desolateres Bild.
Während sich so die sprachliche „Substanz" des französischen Ethnonationalismus von Jahr zu Jahr verringert, scheint gleichzeitig auch der nur sprachlich-kulturell begründete Regionalismus spätestens seit Ende der 60er Jahre im Rückgang begriffen. Er hat — ohne daß die durch ihn begründete Definition der Randregionen als Minderheitenregionen aufgegeben worden wäre — einer erneut radikalisierten Regionalismus-Version Platz gemacht: dem ethnonationalistischen Antikolonialismus.
Die einprägsamen Schlagworte, die u. a. Yves Person 1973 an den Beginn einer von ihm herausgegebenen und ansonsten sehr nuancen-reichen Sondernummer der Zeitschrift „Les Temps Modernes" über „Nationale Minderheiten in Frankreich“ stellte sind inzwischen zum programmatischen Antrieb „nationaler Befreiungsbewegungen“ geworden, die — am aktionistischen oder sogar terroristischen Rand der „legalen" ethnonationalistischen Bewegungen angesiedelt — den „antiimperialistischen" Kampf der ehemaligen Kolonialvölker in den „kolonisierten" und vom „kulturellen Völkermord" dezimierten Minderheitenregionen fortzusetzen glauben. Eine weniger radikale Praxis und eine in der Regel etwas differenziertere Realitätsinterpretation unter Zugrundelegung gleicher gesellschaftstheoretischer Prämissen kennzeichnen die regionalistischen Gruppierungen, die mit der These vom „internen Kolonialismus" eine erheblich gesteigerte Mobilisierung und Breitenwirkung erreicht haben. Der Analyse des dahinter verborgenen Gesellschaftsbildes gelten die folgenden Ausführungen.
II. „Interner Kolonialismus": politische Karriere, Inhalt und Problematik eines regionalistischen Kampfbegriffs
Abbildung 3
Tabelle 3: Alsace Midi-Pyrnes Industrielle Abhängigkeitskoeffizienten Regionen Region Parisienne Champagne Picardie Haute-Normandie Centre Basse-Normandie Bourgogne Nord Lorraine Franche-Comtö Pays de la Loire Bretagne Poitou-Charentes Aquitaine Limousin Rhöne-Alpes Auvergne Languedoc Provence-Cöte-dAzur insgesamt
Tabelle 3: Alsace Midi-Pyrnes Industrielle Abhängigkeitskoeffizienten Regionen Region Parisienne Champagne Picardie Haute-Normandie Centre Basse-Normandie Bourgogne Nord Lorraine Franche-Comtö Pays de la Loire Bretagne Poitou-Charentes Aquitaine Limousin Rhöne-Alpes Auvergne Languedoc Provence-Cöte-dAzur insgesamt
Für Robert Lafont — „Chefideologe" des heutigen französischen Regionalismus und seit Kriegsende bei allen bedeutenden regionalistischen Organisationen Okzitaniens (außer der PNO!) in führender Position tätig — bezeichnete der erstmals 1962 in ein regionalistisches Programm Frankreichs übernommene Kampfbegriff vom „internen Kolonialismus" eine entscheidende Wendemarke: das Symbol eines unwiderruflichen Aufbruchs französischer Regionalisten in den antikapitalistischen, antizentralistischen, systemrevolutionären Kampf — ein Selbstverständnis, das sich in der ideologischen Radikalisierung der traditionellen Komponenten des französischen Regionalismus explizit auf das erfolgreiche Algeriens bezog.
Der algerische Unabhängigkeitskrieg hatte sich 1962 aus drei Gründen als Modell angeboten: er war durch den Vertrag von Evian als legitim anerkannt worden, obwohl damit gleichzeitig die Illusion des „französischen" Algeriens begraben werden mußte; er symbolisierte den Sieg des „nationalen Selbstbestimmungsrechts" über das Prinzip der „einen und unteilbaren Republik"; schließlich: er war weltweit als progressiver Befreiungskampf gegen den kapitalistischen Kolonialismus verstanden worden, konnte also nicht als reaktionär diffamiert werden.
Die starke Betonung der ökonomischen Komponente des „internen Kolonialismus" schloß jedoch keineswegs aus, daß die traditionellen Themen des ethnonationalistischen Regionalismus wie selbstverständlich in dieses neue Konzept eingearbeitet wurden. Dem Okzitanismus gelang in den folgenden Jahren mit dieser thematischen Kombination von „alt" und „neu" eine langsame Erweiterung seiner sozialen Basis im traditionell linken Milieu — eine Entwicklung, die jedoch erst in den 70er Jahren zu spektakulären Aktionseinheiten führte. Er wurde mit dieser neuen Strategie zum Vorbild fast aller bedeutenden regionalistischen Bewegungen in Frankreich. „Revolutionär" ist — so muß Lafonts obige Aussage interpretiert werden — eine regionalistische Bewegung, wenn sie sowohl die beiden strukturellen Säulen des heutigen Frankreich, die politisch-administrative Zentralisation und die privatkapitalistische Marktwirtschaft, als auch deren politisch-ideologischen Legitimationssymbole, die „nationale Einheit“ und die individuelle„Freiheit" der Wirtschaftssubjekte, in Frage stellt. Mißt man das „revolutionäre" Potential der „legalen“ antikolonialistisch-ethnonationalistischen Bewegungen an diesem Maßstab, so läßt sich bei allen diesen Bewegungen ein jeweils unterschiedliches Mischungsverhältnis in ihrer „revolutionären“ Motivations-und Zielstruktur feststellen. In keinem Fall erfülltjedoch deren aktuelle Politik die Vorbedingungen einer im Lafontschen Sinne revolutionären Ausrichtung.
Schon hinter dem Begriff des „internen Kolonialismus" verbergen sich stark differenzierende Schwerpunktsetzungen. Dennoch läßt sich aus der Verwendung dieses Kampfbegriffs folgender „Ableitungszusammenhang“ als kleinster gemeinsamer Nenner ablesen:
1. Ein unterschiedlich strukturiertes Bündel demographischer, ökonomischer und infrastruktureller Indikatoren wird als Beleg für die relative Verarmung bzw. Unterentwicklung der betreffenden Region angeführt.
2. (Ausschließliches) Kriterium für die territoriale Ausgrenzung dieser Region sind jedoch nicht diese ökonomischen Kennziffern, sondern tradierte, sprachlich-kulturell legitimierte „ethnische" Siedlungsräume.
3. ökonomische Aktivitäten in einer Region sind nur dann nichtkolonialistisch, wenn sie a) von „autochthonen" Bewohnern dieses Gebietes verantwortet werden (korsische Wandinschrift: „I Francesi Fora" = Franzosen raus) und/oder b) primär dem regionalen Binnenmarkt „zugute" kommen („Export" z. B. nur nach Durchlaufen aller denkbaren Bearbeitungsstufen des Produktes in der Region). 4. Da ökonomische Aktivitäten in Frankreich wesentlich von einer staatlichen Planungsund Bewilligungsbürokratie beeinflußt und die Entscheidungskriterien dieser Bürokratie zentral definiert werden, sind Aktivitäten nach Pkt. 3 a) und b) prinzipiell erschwert, wenn nicht unmöglich (Lafont: „Les hommes dEtat francais ont une conscience regionale Parisienne").
5. Indizien für diese prinzipielle Unmöglichkeit ökonomischer Aktivitäten, die primär der Region zugute kommen, sind die grundsätzliche Nichtanerkennung der nach Punkt 2 definierten Region und die Unterdrückung ihrer kulturellen Eigenständigkeit durch „Paris" sowie die in enger Zusammenarbeit mit dieser zentralistischen Bürokratie erzwungene Öffnung des regionalen Marktes für „externe"
Wirtschaftsinteressen.
6. Entkolonialisierung heißt demnach zunächst das Infragestellen der Legitimationssymbole, die a) das „Pariser Regionalbewußtsein" der Bürokratie und der für sie verantwortlichen Politik begründen und b) einer Anerkennung der Region nach den in Punkt 2 genannten Kriterien im Wege stehen: der offiziellen Interpretation „nationaler Einheit" wird eine „höherwertige" (da historisch und kulturell scheinbar stärker verankerte) „ethnische Identität" entgegengehalten, die durch kulturelle Entfremdung („Genocid") und ökonomische Ausbeutung lediglich verschüttet, aber nicht ausgelöscht wurde.
7. Entkolonialisierung heißt schließlich die Freisetzung der mit einer erneuerten ethnischen Identität wiedergewonnenen Energien regionaler Selbstbestimmung a) auf politisch-administrativer Ebene und b) (als Folge von a) auch auf wirtschaftlicher Ebene.
Die traditionellen ethnonationalistischen Elemente sind in diesem Argumentationsmuster deutlich zu erkennen. Sie begründen zugleich auch in ihrem neuen antikolonialistischen Kontext eine ideologische und politische Hypothek: Die territoriale Ausgrenzung der Regionen nach ethnonationalistischen Identitätskrikterien setzt die Definition der betreffenden Regionen als „kolonialer Raum" bereits voraus, bevor die diesem Raum zugeordneten •kolonialen“ Strukturdefizite durch Indikatoren konkretisiert werden, die einem vollkommen anderen Kategoriensystem entstammen.
In dieser vorschnellen Territorialisierungökonomischer Struktur-und Funktionsprobleme liegt eine doppelte Problematik: Zum einen lenkt diese Sichtweise von dem Anteil regionsspezifischer Verursachungsfaktoren und der ihnen zuzuordnenden sozialen Kräfte ab (die „Schuldzuschreibung" bleibt auf „Paris" fixiert), zum anderen versperrt sie den programmatisch wichtigen Zugriff auf eine räumlich differenzierende Feinanalyse ökonomischer Strukturprobleme, die die „ethnisch gesetzte“ räumliche Homogenität in Zweifel ziehen würde (dies gilt vor allem für Okzitanien). Ein weiteres charakteristisches Handikap liegt jedoch auch in einem neu hinzugekommenen Programmelement: Im Mittelpunkt aller antikolonialistisch-ethnonationalistischen Analysen und Mobilisierungsstrategien steht die Bewußtmachung eines ökonomischen Entwicklungsdefizits der jeweiligen peripheren Region im Vergleich zum Zentrum französischer Wirtschaftsdynamik, der Ile-de-France. In der Wahl dieses relativen Bezugssystems verbirgt sich ein grundsätzliches Problem: Der Mangel an konsensfähigen Vorstellungen über eine autonome regionale Entwicklungsstrategie, die den Zielwerten des entwickelten Zentrums ein alternatives Entwicklungsmodell entgegensetzen würde, reduziert die regionalistische Bewegung inhaltlich auf eine Protestbewegung. So sehr sich die Ideologen des Regionalismus seit über einem Jahrzehnt um die Ausarbeitung sozialistisch und ökologisch inspirierter Aktionsprogramme bemühen — eine eindeutig an alternativen Zielwerten orientierte Massenmobilisierung ist ihnen bisher nicht gelungen. Berücksichtigt man, daß sich hinter regionalistischen Parolen vor allem Kleinbauern, Kleinhändler, Gewerbetreibende und Intellektuelle versammeln, dann erscheint es durchaus einsichtig, daß sich diese Gruppen eher in der gemeinsamen Furcht vor sozialem Abstieg als auf der Basis strukturrevolutionärer Programme zusammenfinden. Das Oszillieren der regionalistischen Bewegungen zwischen einer kompromißbereiten, auf „Paris" fixierten „antikolonialistischen“ Bündnisstrategie und ideologischer Fraktionierung (bzw. Isolierung) ihrer Kader-gruppen ist typisches Resultat der bis heute nicht überwundenen Kluft zwischen intellektuellem Anspruch und sozialer Motivation der breiten Anhängerschaft des Regionalismus. Grundlegend für den teilweise aufsehenerregenden Erfolg dieser Bündnisstrategie — vor allem im Languedoc erreicht sie unter dem Banner der WAP-Bewegung selbst die etablierten linken Massenorganisationen — ist also weniger eine „revolutionäre" Programm-perspektive, als vielmehr die im Begriff des „internen Kolonialismus" vorgegebene Ursachenanalyse regionaler Entwicklungsdefizite. Sie benennt drei unterscheidbare Verursachungskomplexe: 1. Demographische Strukturungleichgewichte: „Koloniale Auszehrung“ und»Überfremdüng" Den wichtigsten demographischen Beleg für die koloniale Unterdrückungssituation der peripheren (Ethno-) Regionen Frankreichs sehen die antikolonialistischen Regionalisten in der kontinuierlichen Abwanderung (vor allem der arbeitslosen bzw. unterbeschäftigten jungen Generation) in den Großraum Paris (. Auszehrung“), was einerseits zur Überalterung der verbleibenden Bevölkerung, andererseits zu einem Absinken der Geburtenrate in den betreffenden Regionen geführt habe. Für die Bretagne und den okzitanischen Küstenbereich wird darüber hinaus — oft unter dem Stichwort „Überfremdung" — Klage geführt über die Zuwanderung „unproduktiver" Rentner-gruppen. Im Languedoc-Roussillon und auf Korsika seien die demographischen Bilanzen zudem durch die Ansiedlung repatriierter Algerien-Franzosen verfälscht (die wiederum aufgrund großzügiger staatlicher Förderung — was zutreffend ist — die einheimische junge Generation in ihrem Expansionsdrang behindert habe) — auch dieser Vorgang wird unter „Überfremdung" rubriziert.
Analysiert man die vorliegenden regionalstatistischen Migrationsdaten so kann generell zunächst gesagt werden, daß nicht die peripheren, sondern die beiden unmittelbar an den Großraum Paris angrenzenden Regionen Centre und Picardie unter den größten Abwanderungsverlusten zu leiden haben. Bis auf die Bretagne scheinen alle peripheren Regionen Frankreichs vergleichsweise resistent gegenüber der Anziehungskraft des Zentrums Paris zu sein. Ein anderes Bild ergibt sich bei den Daten, die die von den Regionalisten beklagte „Überfremdung" indizieren. So fragwürdig diese ethnonationalistische Kategorie ist: die südfranzösischen Randregionen sind, bedingt durch den seit Ende der 50er Jahre einsetzenden Zustrom „repatriierter" Franzosen aus Nordafrika, als „Einwanderungsregionen“ par excellence anzusehen. Eine Synopse beider Datengruppen ergibt gleichwohl, daß die um den Großraum Paris gelegenen Regionen die in der Sichtweise der Ethnonationalisten ungünstigste Kombination von . Auszehrung“ und „ Überfremdung" aufweisen. 2. Unterentwicklung und Abhängigkeit Das wichtigste Charakteristikum der regionalistischen Interpretation ökonomischer Aspekte des „internen Kolonialismus" ist die Tendenz, Unterentwicklung als direkte Folge eines bewußten Dominanzverhaltens des Zentrums zu erklären Unbestreitbar und auch in „offiziösen“ Studien neuerdings hervorgehoben ist die Tatsache, daß die „Modernisierung" vergleichsweise rückständiger Wirtschaftsräume Frankreichs weitgehend über Impulse vermittelt wird, die aus dem „Zentrum Paris", Zunehmend aber auch aus regionalen „Unterzentren" (z. B. Grenoble, Lyon, Toulouse), auf die „Provinz" einwirken. Interpretiert wird diese Entwicklung als Unterwerfung pe- ripherer Regionen unter die ökonomischen Interessen der höher entwickelten Regionen (bzw.deren Wirtschaftsunternehmen). Als Nachweis dient dabei u. a. ein . ^Abhängigkeitskoeffizient“, der den prozentualen Anteil von Arbeitnehmern in Industriefirmen mit Geschäftssitz außerhalb der betreffenden Region an der Gesamtzahl aller industriellen Arbeitnehmer dieser Region angibt
Im interregionalen Vergleich zeigen jedoch auch diese Daten, daß nicht die peripheren Regionen, die die koloniale Dominanz durch „Paris'1 lautstark beklagen, sondern die Regionen, die sich unmittelbar um den Großraum Paris gruppieren, die intensivste Außensteuerung aufweisen; die „koloniale Durchdringung" der peripheren Regionen durch externe Wirtschaftsinteressen kann also nicht als primärer Verursachungsfaktor peripherer Unterentwicklung identifiziert werden, insofern diese Unterentwicklung — in Anlehnung an dependenztheoretische Analysen des Nord-Süd-Konflikts — als notwendige Folge der Aufrechterhaltung hochentwickelter Wirtschaftsstrukturen im Zentrum gesehen wird. 3. Dezentralisierung und regionale Strukturpolitik Im Mittelpunkt politisch-institutioneller Forderungen französischer Regionalisten steht das Verlangen nach Abschaffung oder zumindest Modifikation des politischen und administrativen Zentralismus. Als ersten Schritt in Richtung einer erweiterten Regionalautonomie sehen alle regionalistischen Programm-schriften die Einrichtung demokratisch gewählter Regionalversammlungen und von ihnen abhängiger regionaler Exekutiven vor. Diese Forderungen nach einer durchgreifenden Dezentralisierung haben in den letzten Jahrzehnten in dem Maße an Gewicht gewonnen, in dem sich der Staat interventionistisch in die Gestaltung fast aller Gesellschaftsbereiche eingeschaltet hat: kompensatorisch zur Bewältigung infrastruktureller, sozialer und ökologischer Folgelasten und -probleme vor allem in den bereits durchindustrialisierten Regionen, als aktiver Träger einer Industriealisierungs-und Modernisierungsstrategie vor allem in den „unterentwickelten“ Regionen. Aus der Sicht der Zentrale ergibt sich daraus ein institutioneller Zwang zur „Dekonzentration“ der staatlichen Zentralverwaltung, die sich durch Auslagerung untergeordneter Entscheidungskompetenzen bei gleichzeitiger Bewahrung ihrer „Generalkompetenz" zu entlasten sucht (sogenannte „overload“ -Problematik). Eine gewisse Interessenkonvergenz zwischen den Vertretern einer regionalen Autonomisierung und den Verfechtern einer erweiterten Dekonzentrationspolitik ergibt sich dabei aus der Tatsache, daß die fortschreitende Staatsintervention zugleich auch zu einer verstärkten Politisierung sozialer und sektoraler Konflikte geführt hat, die im Rahmen des traditionellen Repräsentativ-und Klientelsystems nicht mehr vollständig kanalisiert werden kann.
Infrastrukturelle Erschließungsmaßnahmen (z. B. Bau von Straßen und Kanälen, Verbesserung der Schienenverbindungen und des Telefonnetzes, Ausbau spezialisierter berufsqualifizierender Schulen und Ausbildungsstätten) gehören zu den wichtigsten Instrumenten staatlicher Regionalpolitik. Lassen sich in diesem Politikbereich regionale Verzerrungen zu Lasten der peripheren Regionen nachweisen, die dem von Regionalisten wie Lafont unter-stellten „Pariser Regionalbewußtsein“ der staatlichen Administration zurechenbar sind, dann wären die stark politisch-institutionell orientierten Autonomisierungsforderungen nicht nur der erwähnten Dezentralisierungsverfechter, sondern auch der weitaus „radikaleren" ethnonationalistischen „Antikolonialisten" einsichtig. Die folgende Tabelle gibt für jede Region zunächst das Pro-Kopf-Investitionsvolumen des Staates und in der zweiten Spalte das durch lokale Gebietskörperschaften getätigte Pro-Kopf-Investitionsvolumen an
Sechs Regionen mit staatlichen Pro-Kopf-Ausgaben unter 1213 FF bilden hier eine eindeutig gegenüber dem Rest abgesetzte Schlußgruppe. Darin sind mit den Regionen Picardie, Centre und Bourgogne wiederum drei Regionen des unmittelbaren Umfeldes der Ile-de-France und nur drei periphere Regionen vertreten. Von diesen peripheren Regionen (Alsace, Poitou-Charentes, Franche-Comt) zählt lediglich das Elsaß zu den Regionen, in denen (ethnonationalistisch-) antikolonialistisch argumentierende Regionalisten anzutreffen sind. Korsika als Region mit den militantesten und zugleich stärksten Regionalisten Frankreichs erfreut sich der weitaus höchsten staatlichen Investitionsausgaben, steht dagegen bei den aus den Ressourcen der Region getätigten Ausgaben an drittletzter Stelle.
Gemessen an den Zielsetzungen der französischen Regionalpolitik, die von einem vergleichsweise hohen Investitionsbedarf der unterentwickelten, peripheren Regionen des Westens, des Zentralmassivs und des Südwestens ausgehen, wirken diese Daten gleichwohl sehr ernüchternd. Offenkundig erlaubt derkontinuierliche Investitionsbedarfder entwickelten Regionen keinen durchgreifenden Ressourcentransfer zur Finanzierung von Modernisierungsinvestitionen in den peripheren Gebieten. Gleichzeitig hat es den Anschein, daß dieser politische Zielkonflikt überwiegend zu Lasten der um den Großraum Paris gruppierten Regionen gelöst wird. Stärker und früher als andere Regionen (Ausnahme: die alten Industriereviere des Nordostens) waren bzw. sind sie der Eigendynamik einer vergleichsweise wenig gesteuerten Wirtschaftsentwicklung ausgesetzt.
Dieser durch die obige Analyse bekräftigte Befund ist nun am ehesten geeignet, das in diesem Beitrag auf seine Plausibilität überprüfte Realitätsbild französischer Regionalisten — vor allem insoweit es auf intellektuelle Deutungsmuster zurückgeht — zu relativieren, gleichzeitig aber die darin enthaltene Betonung politisch-institutioneller Faktoren des „internen Kolonialismus" verständlich zu machen.
Nimmt man die Schlüsselbegriffe regionalistischer Bewegungen ernst, indem man sie zur Erklärung regionaler Unterentwicklung und regionalistischen Protestes heranzieht, so wird man — wie dieser Beitrag — schnell deren geringen Erkenntniswert feststellen: Die oben referierten Ergebnisse stützen weder die These vom Überlebenskampf bedrohter »Volksgruppen" noch die Vermutung einer gezielten „kolonialistischen Ausbeutung" der Randregionen durch Paris, auf die regionalistischer Protest die notwendige Reaktion wäre. Wenn bestimmte französische Regionen nach heutigem regionalistischen Selbstverständnis Grund hätten, aufzubegehren, dann noch am ehesten die unmittelbar an den Großraum Paris angrenzenden; sie sind Betroffene einer zugleich disparitären und passiven, also „kolonialistischen" Integration — und dies nicht erst seit wenigen Jahrzehnten. Was sich hier als Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses darstellt, zeichnet sich in den peripheren Randregionen bisher erst schemenhaft ab. Und dennoch sind es diese Randregionen, die heute gegen eine „kolonialistische" räumliche Arbeitsteilung zwischen „Zentrum" und „Peripherie" mobilisieren und damit den beiden herkömmlichen -gesellschaftlichen Konfliktty pen, den sozialen bzw. Klassenkonflikten und den Konflikten zwischen verschiedenen Sektoren der Gesellschaft (z. B. Landwirtschaft contra Industrie), eine territoriale Dimension aufprägen. Zu fragen bleibt also, was diese Randregionen in der Weise unterscheidet, daß sie zum „Bannerträger antikolonialistischen Widerstands" werden konnten.
Ein erster Hinweis ergibt sich aus der Beobachtung, daß alle Regionalisten wie gebannt auf die politische Schrittmacherfunktion des Staates fixiert sind: Gegen die Eigendynamik von seit Jahrzehnten wirkenden Marktgesetzen läßt sich nur schwer und kaum unter Bezug auf eine ethnonationalistische Symbolik mobilisieren; staatliche „Landesentwicklungspolitik" dagegen, die als Ergebnis zentralisierter politischer Entscheidungen eine ohnehin angelegte passive Marktintegration forciert und damit massiv in die Interessensphären regionaler Eliten eingreift, steht unter konkretem Rechtfertigungszwang. Die sozialen Deklassierungsängste der „Integrationsopfer" können sich politisch artikulieren, weil ihre Ursachen identifizierbar erscheinen. Die Politisierung regionaler Wirtschaftsprobleme beflügelt geradezu eine Territorialisierungsozialer und sektoraler Konflikte.
Das zweite Faktum macht die instrumentelle Rolle deutlich, die der Ethnonationalismus hierbei spielt: Die bis heute vergleichsweise oberflächliche Integration der Randregionen hat ihnen Reste kultureller Sondertraditionen erhalten, die immer noch zum wirksamsten Mittel gehören, wenn territoriale Konflikte zu artikulieren sind. Ethnonationalistische Regionalisten versuchen, „den Staat" an seiner verwundbarsten Stelle zu treffen; sie bemühen sich, die integrative Symbolik der„nationalen Einheit“ „ethnisch“ zu überspielen. Die „Antikolonialisten" mobilisieren gegen einen weniger abstrakten, gleichwohl schwerer zu bewältigenden Gegner: Sie haben die . Allianz von Staat und Kapitalismus" (Lafont) Visier. Ihre im gemeinsame Gefolgschaft kann sich bis jetzt nur auf die Forderung nach regionaler Autonomie einigen. Dieser vage Minimalkonsens macht zugleich die Stärke und Schwäche der regionalistischen Bewegungen aus. „Paris" wird reagieren müssen, die Regionalisten werden jedoch kaum in der Lage sein, diese Reaktion zu steuern.
Eine funktionale „Dekonzentration", verbunden mit einer eher symbolischen als faktischen „Dezentralisierung“, könnte für die nächsten Jahre den Rahmen einer zentral-staatlich betriebenen Konfliktregulierung abgeben — wenn sie gewollt und nicht wie bisher nur halbherzig betrieben wird. Die Frage, ob eine solche Konfliktregulierung wünschenswert ist, kann hier nur gestellt, nicht aber beantwortet werden.
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