Dem Zeitgenossen, der sich aus der deutschen Tagespresse ein Bild über die Entwicklung des Europäischen Parlamentes seit seiner Wahl machen will, wird es nicht leicht gemacht. Nur wenige Zeitungen — ausgenommen die fachlich orientierten Publikationen wie die Wochenzeitung Das Parlament oder die monatlich erscheinende Europäische Zeitung — pflegen eine kontinuierliche Berichterstattung, und häufig sind die Berichte in der Tagespresse stark meinungsgeprägt. Relativ unwichtige Ereignisse, wie die Forderung nach dem weiteren Ausbau der Autobahn von Brüssel über Luxemburg nach Straßburg, erhoben von einer Reihe von Abgeordneten, oder die Benutzung der lateinischen Sprache durch einen Abgeordneten im Plenum, fanden ein breiteres (teilweise kritisches) Echo als etwa die erste Lesung des Haushaltsentwurfs für 1980 in der Sondersitzung vom 5. bis 7. November 1979 in Straßburg, bei der sich die Ablehnung des Haushaltsentwurfs bereits abzeichnete. Eigentlich konnte das Europäische Parlament bisher erst zweimal auf die Titelseite unserer großen Presse vordringen: anläßlich der Eröffnungssitzung am 17. Juli und mit der Entscheidung vom 13. Dezember 1979, den Haushalts-entwurf des Rates für 1980 abzulehnen, womit es zugleich ein hartnäckig wiederholtes Vorurteil widerlegte, demzufolge dieses Parlament keinerlei Rechte habe.
Im Einklang mit dem Wähler Mit der Ablehnung des Haushaltsentwurfs, er über 80 % der anwesenden Abgeordneten “ ustmmten (wobei 353 der 410 Abgeordneten 10 er Abstimmung teilnahmen), hat das Parament ohne Zweifel in Übereinstimmung mit em großen Teil seiner Wähler gehandelt. Das ein Ament verlangte beim Haushalt 1980, daß der pnfang gemacht werde zur Eindämmung e 5 grarkosten und der Agrarüberschüsse:
verlangte auch eine Vergrößerung des p 81on alfonds und des Sozialfonds zur Beseitideru er Arbeitslosigkeit, eine verstärkte Forker ng. einheimischer Energie und eine stär5 aushaltskontrolle durch Budgetisie15
Schwieriger Start
rung der Kosten für die Entwicklungshilfe und der Darlehnsoperationen. Agrarkosten, Arbeitslosigkeit, Energiekrise und stärkere Kontrolle des Brüsseler Finanzgebarens waren aber genau die Themen, die im ersten Wahlkampf eine wichtige Rolle spielten, und das Europäische Parlament hat nicht gezögert, den Willen des Souveräns bei der ersten Gelegenheit deutlich zum Ausdruck zu bringen — als nämlich der Rat sich unfähig oder nicht willens zeigte, auf die Budgetforderungen des Parlaments einzugehen. Daß es der politischen Führung der meisten Fraktionen und dem Haushaltsausschuß dabei gelang, die Mehrheit der Argarlobby im Hause von der Notwendigkeit einer Eindämmung der Agrarausgaben, besonders bei den Milchüberschüssen, zumindest für diese Abstimmung zu überzeugen, ist ein nicht unerheblicher zusätzlicher Erfolg. Auch bei anderen Debatten und Entscheidungen hatte das Hohe Haus durchaus den Willen des Wählers vor Augen — wie noch zu zeigen sein wird — und Entscheidungen getroffen, die in Richtung auf eine Weiterentwicklung der Gemeinschaft wiesen.
Dabei hatte es dieses Parlament bei seiner Konstituierung nicht einfach. Mit einer Wahlbeteiligung von 62, 2 % im Länderdurchschhitt fiel das Wählervotum nicht so überzeugend aus, wie es von den Anhängern der Europa-wahl gewünscht worden war. Allerdings ist für diesen Ausgang vor allem das geringe Wählerinteresse bei den neuen Mitgliedsländern Großbritannien (ohne Nordirland 32, 6 %) und Dänemark (47 %) verantwortlich. Aber auch in der Bundesrepublik Deutschland lag die Wahlbeteiligung mit 65, 7 % um 10-20 % unter der Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen -
Auch die Konstituierung der Fraktionen (in der Woche vom 9. bis 14. Juli 1979 in Luxem-bürg) und des Plenums (vom 17. bis 20. Juli in Straßburg) hatte ihre Tücken. Es gab erkennbare Spannungen zwischen bisherigen altgedienten EP-Abgeordneten (von den ehemals 198 Abgeordneten kehrten 67 zurück) und den Neuen, unter denen sich von Willy Brandt bis Leo Tindemans eine ganze Anzahl politischer „Schwergewichte" befanden. Bei dieser Gruppe, aber auch bei denen, die ganz neu und erstmals in das „parlamentarische Geschäft" einstiegen, standen die Leistungen des bisherigen — delegierten — Parlaments häufig nicht gerade hoch im Kurs. (Nicht ganz zu Recht, will dem Beobachter scheinen, denn dieses „Vorläuferparlament" hat immerhin auch das Haushaltsrecht erstritten, mit dem das gewählte Parlament den Haushaltsentwurf für 1980 ablehnen konnte.)
Trotzdem setzten sich „altgediente" Parlamentarier bei der Wahl der Fraktionsvorsitzenden durch; das dreizehnköpfige Präsidium aber besteht mit zwei Ausnahmen aus Neulingen, bei den fünfzehn Ausschußvorsitzenden sind sieben Neulinge zum Zuge gekommen. Nicht ohne Folgen blieb die Wahl Martin Bangemanns zum Fraktionsvorsitzenden der klein gewordenen Liberalen und Demokratischen Fraktion Mit dem Vorschlag seiner Wahl glaubten sich die die Fraktion beherrschenden 17 Giscardisten (Liste Simone Veil) die notwendige Mehrheit gesichert zu haben, um ihre Favoritin Simone Veil als Parlamentspräsident durchzusetzen gegen Gaston Thorn, der immerhin Vorsitzender der Föderation der liberalen und demokratischen Parteien der Europäischen Gemeinschaft ist. Mit 20 gegen 16 Stimmen setzte sich dann auch Simone Veil als Kandidatin in der Fraktion durch. Gaston Thorn verließ das Europäische Parlament, um zuhause — nach verlorener nationaler Wahl — anstatt Regierungschef wenigstens Außenminister zu werden. Daß ein liberaler Kandidat gekürt werden würde, war von Anfang an sicher, denn es entsprach einer Absprache aus den frühen siebziger Jahren, die damals alle großen Fraktionen getroffen hatten, die später aber von der sozialistischen Fraktion de facto aufgekündigt wurde. Bei der letzten Wahl eines Präsidenten, des Christdemokraten Emilio Colombo, hielt der „Bürgerblock" aber an dem Abkommen fest.
Auch die konstituierende Sitzung verlief nicht ohne Schwierigkeiten. Vor allem aus Italien, Dänemark, Belgien und den Niederlanden waren rund 20 Abgeordnete kleiner und radikaler Parteien ins Europäische Parlament gewählt worden, die den Versuch der großen Fraktionen, in der ersten Sitzungswoche die Geschäftsordnung an die Bedingungen des vergrößerten Hauses anzupassen, durch Hunderte von Abänderungsanträgen und Anträge auf — langdauernde — namentliche Abstimmungen blockierten. Elf dieser Abgeordneten vereinigten sich nämlich unter Führung der italienischen Radikalen Marco Pannella und Emma Bonino zu einer sogenannten „Fraktion für die technische Koordinierung und Verteidigung der unabhängigen Gruppen und Abgeordneten", die nach der alten Geschäftsordnung Fraktionsstärke hatte und die nun mit allen Tricks versuchte, ihren Fraktionsstatus — der mit politischen und finanziellen Vorteilen ausgestattet ist — zu erhalten. Auch bei der Aufstellung der Tagesordnung und in den Debatten darüber brachte diese Gruppe häufig Änderungsanträge ein, die den Geschäftsgang des Parlaments in die Länge zogen.
An diesen Geschäftsordnungsdebatten waren aber auch zahlreiche, vor allem neue Abgeordnete beteiligt, die durch Einreichung von Dringlichkeitsanträgen und stundenlangen Debatten darüber dazu beitrugen, daß die pressegünstige Zeit bis 15 Uhr häufig mit Geschäftsordnungsverfahren vertan wurde. Diese Anlaufschwierigkeiten fanden ein teilweise negatives Echo der zumeist von weither angereisten Journalisten, und vergröbernde Schreibtischkommentare, fernab vom Geschehen geschrieben, taten das Ihrige Dabei ging es bei diesen Geschäftsordnungsdebatten nicht nur um die gewiß raffinierte Taktik einer Minderheit (wie sie bereits von Marco Pannella und seinen Parteifreunden im römischen Parlament vorexerziert worden war) und um die Ausnutzung einer nicht mehr passenden Geschäftsordnung sowie um den Tatendrang von unerfahrenen Neuankömmlingen, sondern durchaus auch um politische Fragen, nämlich um die Rolle und die Mitwirkungsmöglichkeiten von Minderheiten in einer historischen Situation, wo ein gewisser Erosionsprozeß der klassischen Parteien in fast allen Staaten des demokratisch-parlamentarisch verfaßten Europas zu beobachten ist. Pannella und seine zwei Kollegen von der Radikalen Partei Italiens vertreten immerhin fast soviel Wähler (1, 28 Millionen) wie in Irland zur Wahl gegangen waren (1, 34 Millionen), die durch 15 Abgeordnete vertreten sind. Viele Beobachter aus der Bundesrepublik Deutschland, die an die bundesdeutschen Parlamente mit ihrem Filter der Fünfprozentklausel gewöhnt sind, messen das Europäische Parlament mit deutschen Maßstäben, ohne die Traditionen und Temperamente anderer Völker und ihrer Parlamente in Rechnung zu stellen. Auch die Fraktionsführungen hatten manchmal große Mühe, den gewiß erklärbaren Tatendrang ihrer — bisweilen prominenten — Neulinge richtig zu kanalisieren und die Fraktionen zu einheitlichem und koordiniertem Tun zusammenzuführen. Immerhin besteht dieses Parlament aus Abgeordneten von mehr als fünfzig Parteien — und damit fehlt das einigende Band der parteipolitischen Solidarität innerhalb der Fraktionen. Auch die europäischen Parteibünde, die drei der sieben Fraktionen (die Sozialisten, die Christdemokraten und die Liberalen) gebildet haben, sind mit nationalen Parteien keineswegs vergleichbar, besonders was ihre Integrations-und Führungskraft betrifft.
Unterschiedliche Erwartungshaltung
Die Schwierigkeiten zu Beginn trafen auf eine 0 entliehe Meinung in Deutschland mit unsrsshiedlicher Erwartungshaltung. Auf der qoen Seite standen diejenigen, die sich von e Wahl des Europäischen Parlaments und dem neuen, vergrößerten Haus nur wenig versprachen, ja die Wahl eher als ein Ablenkungsmanöver der Regierungen betrachteten, die bei der Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft in den letzten — durch welt-wirtschaftspolitische Schwächen gekennzeichneten — Jahren nur geringe Fortschritte aufweisen konnten. Die Anhänger dieser These sahen in den Schwierigkeiten des Starts eine Bestätigung ihrer Meinung. Auf der anderen Seite — jenseits eines großen Teils Meinungsloser — fanden sich diejenigen, die allzu große Hoffnungen auf das gewählte Europäische Parlament setzten und von ihm sofortige Änderungen erwarteten, in Verkennung der juristischen Grundlage des Europäischen Parlaments und der Tätigkeit von Parlamenten überhaupt, die ja selbst keine Regierungsfähigkeit haben, sondern deren Aufgabe eher in der Schaffung von Regierungsfähigkeit liegt. Ein solcher Prozeß aber dauert seine Zeit, zumal das Europäische Parlament seine eigentliche Arbeit nach der Konstituierung und der darauf folgenden Sommerpause erst in der letzten Septemberwoche 1979 beginnen konnte und erst dann seine Ausschüsse mit der Ernennung von Berichterstattern und der Ausarbeitung von Berichten als der Grundlage jeder parlamentarischen Arbeit beginnen konnte.
In den ersten vier Monaten hat es dabei, sieht man von den Schwierigkeiten der Organisation seiner Arbeit ab, durchaus Beachtenswertes geleistet.
Die Stellung des Europäischen Parlaments im institutioneilen System der Gemeinschaft
Will man die Arbeit des Europäischen Parlaments beurteilen, muß man auch seine Stellung im institutionellen System der Gemeinschaft im Auge behalten. Die Kommission hat nach dem Vertrag das Initiativrecht — ein Recht, das allerdings vom Rat und dem in den Verträgen nicht vorgesehenen Europäischen -Rat (der Staats-und Regierungschefs) ständig ausgehöhlt wurde. Sie führt auch die vom Rat beschlossenen Verordnungen aus. Das Parlament ist vor allem ein Konsultativorgan, das vor Entscheidungen des Rates zu den Initiativen und Vorschlägen der Kommission Stellung nimmt und Änderungen beschließt, die Kommission und Rat beachten können, jedoch nicht müssen. Eigenständige Rechte hat es vertraglich nur im Haushaltsrecht, und es kann mit qualifizierter Mehrheit die Kommis-sion zum Rücktritt zwingen. Aber die Kommission ist dem Parlament auskunftspflichtig (nicht der Rat), und aus dieser Bestimmung ließ sich ein Kontrollrecht entwickeln, das das Parlament in beachtlichem Maße ausgebaut hat und sicher noch weiter ausbauen wird. Dabei ist zu verweisen auf die Tatsache, daß das nichtgewählte Europäische Parlament auch die Schaffung des Europäischen Rechnungshofes in jahrelangen Bemühungen durchgesetzt hat.
Der Rat hingegen ist der alleinige Gesetzgeber und damit das Nadelöhr der Gemeinschaft. Was durch ihn nicht hindurchgeht bzw. nicht von ihm angenommen wird — und seit dem Luxemburger Kompromiß ist das Verfahren noch schwieriger geworden —, wird „schubla-disiert", das heißt es verschwindet in den Schubladen des Rates häufig auf Nimmerwiedersehn, und weder die Kommission noch das Parlament haben eine juristische Möglichkeit, den Rat zum Handeln zu zwingen Gerade in diesem Punkt erwarteten die Anhänger der Direktwahl eine stückweise Änderung, weil sie erhofften, daß durch die Wahl und die Vergrößerung des Hauses, allein schon durch die Parteienkonkurrenz, ein neues Parlament entstehen würde, das ein größeres Gewicht in der Öffentlichkeit hat als das delegierte; in der Tat ist dies auch eingetreten.
Zwei weitere Handicaps
Die relativ schwache Stellung des Europäischen Parlaments im institutioneilen System ist von zwei weiteren Nachteilen begleitet, die seine öffentliche Wirkung zu schmälern in der Lage sind.
Eine Nachricht wird interessant, wenn sie neu ist. Neu sind in der Regel die Vorschläge der Kommision, des Rates und vor allem des Europäischen Rates. Sie ziehen die Journalisten an, bei Sitzungen des Europäischen Rates in der Regel bis zu 500 aus aller Welt. Interessant wird ein Vorschlag der Kommission oder des Europäischen Rates wieder, wenn er durch den Rat als Gesetzgeber verabschiedet wird.
Dazwischen liegt die mühsame Kleinarbeit des Parlaments, die oft monatelange Ausarbeitung eines Berichtes zu einem Vorschlag, die Beratung, Veränderung und Annahme hinter verschlossenen Türen im Ausschuß und schließlich die Verabschiedung im Plenum.
Diese kleinen Schritte der Transformation zu einem Vorschlag, der oft von der Kommission übernommen wird und in den Ratsbeschluß eingeht, werden häufig kaum wahrgenommen und sind deshalb selten Gegenstand der Berichterstattung, obwohl sich das Europäische Parlament sehr bemüht, die Verordnungen und Beschlüsse der EG bürger-und praxisnäher zu gestalten. Institutionell sitzt das Parlament als „Nichtgesetzgeber''im Gegensatz zu nationalen Parlamenten also an einer wenig publicity-trächtigen Stelle. Deshalb haben •eine Reihe von Ausschüssen des gewählten Europäischen Parlaments beschlossen, einen Teil ihrer Ausschußsitzungen öffentlich abzuhalten, um so die Vertreter der Öffentlichkeit mehr an ihren Arbeiten teilnehmen zu lassen.
Ein zweites Handicap liegt in der unbefriedigend gelösten Tagungsortfrage, die laut Vertrag in die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fällt, also nicht in den Händen eines Organs der EG liegt. Ein endgültiger Beschluß ist in dieser Frage für das Europäische Parlament bisher nicht getroffen worden. Das Generalsekretariat des Parlaments ist „vorläufig“ in Luxemburg untergebracht, die Plenarsitzungen fanden in der Anfangszeit nur in Straßburg statt, da in Luxemburg kein entsprechender Raum vorhanden war. Seit Anfang der siebziger Jahre fanden dann, nach Fertigstellung des neuen Ministerratssaales und später des eigenen Plenarsaales, auch Plenarsitzungen in Luxemburg statt. Die Ausschüsse tagten in der Regel in Brüssel wegen der Nähe zur Kommission, deren Mitglieder und Beamten von ihnen immer teilnehmen.
Durch die Vergrößerung des Hauses auf 410 Mitglieder wurde wieder Straßburg zum alleinigen Tagungsort des Plenums — des Saales wegen —, aber im Frühjahr 1980 wird der neue Plenarsaal in Luxemburg fertig, und dann werden sicherlich wieder Plenarsitzungen in Luxemburg stattfinden Nicht nur, daß der dauernde Umzug sehr kostenaufwendig ist und der Arbeit des Parlaments nur abträglich sein kann, diese ständige Ortsverlagerung beeinträchtigt auch die öffentliche Wirkung des Hohen Hauses. Die „europäischen" Journalisten domizilieren vorwiegend in Brüssel am Sitz von Rat und Kommission (insgesamt gab es 1979 bei der Kommission 314 akkreditierte Journalisten In Luxemburg und Straßburg gibt es nur wenige ausländische Korrespondenten (so etwa in Straßburg ständig nur zwei Deutsche). Abgesehen von den Vertretern der öffentlich-rechtlichen Medien sind unter den Brüsseler Beobachtern viele freie und halbfreie Journalisten, für die der dauernde Ortswechsel durchaus auch finanzielle Probleme mit sich bringt. Wenn etwa zur gleichen Zeit in Brüssel eine wichtige Veranstaltung stattfindet — wie bei der Dezembersitzung 1979 des EP mit der Haushaltsablehnung, wo zur gleichen Zeit der Nato-Rat über die Nachrüstung beriet —, dann ist der Pressesaal im Parlament merklich leerer.
Die Sitz-und Tagungsortfrage, die dem Parlament unverschuldeterweise die abwertende Bezeichnung „Wanderzirkus" einbrachte, mit dem ihr anhaftenden antiparlamentarischen Akzent, hat das gewählte Parlament bisher noch nicht zentral angepackt, obwohl sie die Parlamentarier und Fraktionen ständig beschäftigt. Es ist ein schwer zu lösendes Problem, denn sowohl die Stadt Straßburg als such die Stadt und der Staat Luxemburg haben aus eigener Verantwortung riesige Summen investiert, um das Parlament in ihren Mauern zu beherbergen. Für beide Städte ist das Parlament außerdem ein nicht unerheblicher Wirtschaftsfaktor geworden. Hinter beiden Städten steht auch das Prestige zweier Länder, und Paris pocht ständig auf seinem Recht, daß in Frankreich die Plenarsitzungen stattfinden. Wenn das Parlament diese Frage regeln will — und letztlich muß es dies tun —, dann wird die Lösung nur in einer Globallösung für alle Organe bestehen können, die für erluste gewisser Städte entsprechende Kompensationen schafft. Dabei müssen auch die enormen Investitionen für die Verwaltungsentren in Brüssel berücksichtigt werden.
Zeitliche Verzögerungen Der vom alten Parlament hinterlassene Luster-Bericht zur Änderung der Geschäftsordnung, der in der konstituierenden Sitzung scheiterte, war nicht der einzige Bericht des alten Hauses, der zu den Akten gelegt werden mußte. Der Umstand, daß die Verfasser vieler Berichte und Berichtsentwürfe dem neuen Parlament nicht mehr angehören und daß für sie neue Berichterstatter ernannt wurden — teilweise mit anderer Nationalität und Fraktionszugehörigkeit —, sowie die lange Phase der Konstituierung und die notwendige Zeit der Eingewöhnung brachten es mit sich, daß bei den Arbeiten des Parlaments ein gewisser Bruch eintrat, der zu merklichen Verzögerungen führte. Das Parlament kam in Verzug mit seinen routinemäßigen Arbeiten, vor allem mit den vertraglich vorgesehenen Stellungnahmen zu Kommissionsvorschlägen, so daß von anderen Organen Klage erhoben wurde, wichtige Verordnungen könnten nicht in Kraft treten, weil die notwendigen Stellungnahmen des Parlaments fehlten. Darüber hinaus befriedigte es viele Abgeordnete nicht, zu technischen Fragen Berichte abzufassen und Debatten zu führen, die vergleichsweise in den Mitgliedsländern ohne parlamentarische Behandlung auf dem Verordnungswege geregelt werden. Viele der neuen Parlamentarier wollen große politische Debatten führen — wie es auch in den Dringlichkeitsanträgen zum Ausdruck kommt —, um das politische, demokratisch aufgebaute Europa voranzubringen und die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft zu vergrößern, aber auch um ganz bestimmte nationale oder sonstige Sonderinteressen zu vertreten.
Das nach vorwärts drängende Potential des Parlaments wurde aber auch begrenzt durch die außergewöhnliche Belastung des Personals durch die Wahlkampagne durch die Arbeiten bei der Konstituierung mit zahlreichen Nachtsitzungen und ganz allgemein durch die Zunahme der Sitzungen, vor allem der Ausschüsse (die von zwölf auf 15 anwuchsen) sowie der Fraktionen und deren Arbeitsgruppen. Zwar hat das Europäische Parlament seit 1977 seinen Personalbestand (inklusiv den der Fraktionen) von 1 515 Mitarbeitern auf 1968 erhöht. Der — zunächst abgelehnte — Haushaltsplan für 1980 sowie zusätzliche Empfehlungen des Präsidiums sehen eine weitere Er-höhung auf 2 616 Stellen vor. Aber rund 40 % der Stellen werden absorbiert durch den Sprachendienst, denn dieses Parlament arbeitet — als einziges der Welt — in sechs Sprachen. Diese technische Leistung, bei der nur höchst selten Pannen vorkommen, ist bisher noch nie ausreichend gewürdigt worden. Man kann, wenn man den Sprachendienst berücksichtigt und die zahlreichen Umzüge, die ebenfalls etwa 10 % der Arbeitskraft absorbieren, durchaus von einer personellen Unterbesetzung sprechen, verglichen etwa mit der Personalausstattung des Deutschen Bundestages, der bei 517 Abgeordneten rund 2 000 (davon 400 bei den Fraktionen) hauptamtliche Mitarbeiter hat
So stand vor allem die Arbeit des Plenums unter der Streikdrohung der Personalvertretung bei Überziehung der Plenarsitzungszeit, denn wegen unvorhergesehener und sich in die Länge ziehender Sitzungen und nächtlich eingereichter Abänderungsanträge mußten Dolmetscher und Übersetzer zahlreiche Über-stunden leisten. So kam auch die Verwaltung in Verzug bei vielem, was in nationalen Parlamenten ein halbes Jahr nach der Wahl bereits erledigt ist. Es fehlt noch ein Parlamentshandbuch mit den Lebensläufen, ein Profil des Parlaments mit Alters-, Berufs-und Strukturvergleichen, eine eigene Akkreditierung-der Journalisten und vieles andere so daß in Zeitungsartikeln mitunter behauptet wurde: „Das Parlament der meist schon bejahrten Multifunktionäre in Straßburg macht bei seinen Gehversuchen keine gute Figur". Diese hier aufgestellte Behauptung ist schlicht falsch, denn viele junge Abgeordnete und parlamentarische Neulinge sind ins neue Europäische Parlament eingezogen, und nur noch 67 der 410 Abgeordneten gehören einem nationalen Parlament an — die meisten von ihnen sicherlich nur noch bis zur nächsten nationalen Wahl. Und daß die beiden Gewerkschaftsführer Eugen Loderer und Karl Hauen-schild Ende 1979 aus dem Parlament austraten, ein durchgängig von der deutschen Presse sehr beachteter und kritisierter Fall, zeigt, daß sie ihre Aufgaben als Vorsitzende von großen Gewerkschaften und als Europa-Parlamentarier nicht vereinbaren konnten und daß der Rhythmus der Parjamentsarbeit ganz von selbst die verbliebenen „Multifunktionäre“ vor die Wahl stellt, zwischen dem Europäischen Parlament und anderen Verpflichtungen zu wählen. Hier ist noch zu erwähnen, daß das Europäische Parlament bei der Organisation seiner Arbeiten keine sitzungsfreie Woche im Monat ausgespart hat — wie etwa der Deutsche Bundestag —, sondern während des ganzen Monats Ausschuß-und Fraktionssitzungen abhält und einmal im Monat von Montag bis Freitag eine Plenarsitzung Inzwischen hat sich gezeigt, daß eine Plenarsitzung pro Monat wohl zu wenig ist. So hielt das EP bereits vom 5. bis 7. November 1979 eine Sondersitzung zur ersten Lesung des Haushaltsentwurfs ab, für die Beratung der Agrarpreise hat es eine weitere Sondersitzung von 24. bis 26. März 1980 beschlossen.
Das Europäische Parlament gewinnt Konturen Trotz der Schwierigkeiten, von denen im Rahmen dieser Abhandlung nur einige der wichtigsten behandelt werden konnten, hat das Parlament im ersten halben Jahr seiner Arbeit Tritt gefaßt und unüberhörbar sein Recht auf Gehör und Mitwirkung angemeldet, wobei es mit der Negativentscheidung der Ablehnung des Haushaltsentwurfs — die aber Positives bewirken soll — wohl die größte Aufmerksamkeit fand. Dabei hat es die Gefahr vermieden, sich gleich zu Anfang in-eine Art Regierungskoalition und eine Art Opposition zu spalten, die bei der Wahl von Simone Veil im zweiten Wahlgang durch den „Bürgerblock" durchaus gegeben war. Eine solche parteipolitische Spaltung wäre der Lage der Gemeinschaft, ihrer institutioneilen Struktur und der Aufgabe des Parlaments völlig unangemessen gewesen, kam aber durchaus den Vorstellungen eines Teils der mehrfach gespaltenen französischen Sozialisten, der französischen Kommunisten undvor allem der dänischen EG-Gegner nahe. Außerdem gab es auch Gruppen und Abgeordnete, die im Europäischen Parlament gerne die national übliche parteipolitische Konfrontation eingeführt hätten, die im nicht gewählten Parlament nur selten zu beobachten war, was den Sachdebatten zugute kam. Das bisherige Europäische Parlament hat sich vielmehr in aller Regel ähnlich den frühen Parlamenten der liberalen Epoche verhalten, die sich noch im Kampf um ihre Rechte gegen die fürstliche Prärogative befanden.
Eine erste Entscheidung über das zukünftige Selbstverständnis fiel bereits bei der Debatte um die Tagesordnung der ersten Arbeitssitzung am 24. September 1979, als die Abgeordnetenvon Hassel und Fergusson ihre Frage an die Kommission über die Rüstungsbeschaffungsprogramme der Gemeinschaft stellten Dies gab dem Hüter der gaullistischen Orthodoxie, Michel Debr, sofort die Gelegenheit, noch in der Debatte über die Zulässigkeit der Frage laut zu protestieren, weil hier das Parlament deutlich seine Zuständigkeit überschreite — wie er es „Tag für Tag” im Wahlkampf vorausgesagt habe. Obwohl große Teile des Parlaments die Frage als wenig glücklich empfanden 16), stimmten doch 208 Abgeordnete gegen 87 bei 4 Enthaltungen für die Zulässigkeit, um zu demonstrieren, daß das Parlament das Recht habe, über alle Fragen seiner " ah zu sprechen und zu diskutieren Dabei nahm es die sozialistische Fraktion in Kauf, aß ihre Mitglieder durchaus unterschiedlich a stimmten — irgendeine Form von Frakionszwang gibt es im Europäischen Parlament licht und wäre auch zum gegenwärtigen ZeitPunkt nicht durchsetzbar.
Ebenfalls in der September-Sitzung begann Parlament mit zwei Anfragen an die Kom-mission über die Billigverkäufe von Butter an die UdSSR und fünf Anfragen an den Rat über die gemeinsame Energiepolitik, seine Haltung in diesen zwei großen politischen Bereichen zu formulieren Dabei kritisierte die Mehrheit des Hauses das „Europa der Kühe" (so der britische Konservative David Curry) und die immer teurer werdende Agrarpolitik mit ihren zunehmenden Überschüssen; aber auch Großbritannien wurde kritisiert, wegen seiner großen Buttereinfuhren aus Neuseeland. In der Debatte zeigte sich, daß die Mehrheit des Parlaments nicht gewillt ist, die EG-Agrarpolitik wie bisher fortzusetzen. Kritisch setzte sich das Parlament in der Energiedebatte mit der Beschlußpraxis des Rates auseinander, dem es bisher nicht gelungen sei, die Vorschläge der Kommission zur Energieeinsparung und zur Förderung einheimischer Energiequellen — besonders der Kohle — zu verabschieden 19). Auch in dieser Debatte wurde eine Gemeinschaftshaltung der Mehrheit des Hauses sichtbar, die deutlich auf eine stärkere Förderung einheimischer Energiequellen zielte.
Auch auf außenpolitischem Gebiet begann das Europäische Parlament sein Profil zu suchen, so etwa in der großen achtstündigen Debatte über den Hunger in der Welt, die am 25. Oktober 1979 in Straßburg stattfand 20). Diese Debatte wurde zu einem großen moralischen Appell an die entwickelten und reichen Länder, mehr als bisher im Kampf gegen den Hunger in der Welt zu tun. Bei dieser Aussprache, die sich bis in die frühen Morgenstunden hinzog, zeigte sich, daß die Ausschüsse zu wenig Zeit für ihre Arbeiten gehabt hatten, so daß vier verschiedene Entschließungsentwürfe dem Hohen Hause zur Abstimmung vorlagen. Es ehrt die Berichterstatterin und damalige Vorsitzende des Entwicklungsausschusses, Frau Colette Flesch, daß sie ihren Bericht zurückzog, um zu versuchen, dem Plenum eine gemeinsame Entschließung vorzulegen; dies geschah dann auch in der November-Sitzung.
Am 16. November 1979 stimmte das Hohe Haus der gemeinsamen Resolution einstim-mig zu, in der „mit höchstem Vorrang” die Ausarbeitung einer neuen Entwicklungspolitik, besonders auf dem Gebiet der Agrar-und Nahrungsmittelpolitik, gefordert wird, sowie die Zurverfügungstellung von mindestens 0, 7 % des Bruttosozialproduktes der EG für diese Politik
In der November-Sitzung konnte das Parlament auch den schwelenden Streit um die Anpassung der Geschäftsordnung beenden. Der ehemalige Generalsekretär des Europäischen Parlaments und jetzige liberale Abgeordnete, Hans Nord, hatte die Aufgabe übernommen, einen Bericht dazu vorzulegen, der aber nur die wichtigsten Anpassungen enthielt Dazu hatten Pannella und seine Freunde rund 4 000 Änderungsanträge eingereicht, von denen aber das Präsidium nur 120 zuließ. Trotzdem hätte diese Debatte mit 120 namentlichen Abstimmungen zu einem Fiasko werden können, geeignet, das Ansehen des Europäischen Parlaments erheblich zu schmälern und antiparlamentarische Vorurteile zu nähren. Ein in letzter Minute gefundener Kompromiß führte zu einer Einigung, wobei die „technische Koordinierungsfraktion“ mit elf Mitgliedern ihre Qualität als Fraktion behält und auch einen Abänderungsantrag zur Tagesordnung stellen kann; zu weitergehenden Anträgen sind jedoch 21 Unterschriften erforderlich. Auch erhielt der Präsident weitere Vollmachten: Bei einer Massierung von Abänderungsanträgen (die deutlich mit dem Ziel der Störung des Sitzungsablaufs eingereicht wurden) kann er durch Abstimmung des am weitestgehenden Antrags alle anderen Anträge als erledigt erklären. Diese Kompromisse werteten eine Reihe von Abgeordneten als eine Kapitulation der Mehrheit vor der Minderheit, und sicherlich werden Pannella und seine Freunde auch in Zukunft nach Mitteln und Wegen suchen, die Sitzungen zu stören, wenn es ihnen paßt; andererseits aber kann das Europäische Parlament darauf verweisen, daß es einen vorbildlichen Minderheitenschutz gewährleistet hat.
In diesem Zusammenhang ist auch erwähnenswert, daß das Europäische Parlament durch Entschließung vom 26. Oktober 1979 nen Ad-hoc-Ausschuß für die Rechte derFi geschaffen hat der ein Oktober 1979 nen Ad-hoc-Ausschuß für die Rechte derFi geschaffen hat 24), der einen Grundsatzberi über die Diskriminierung der Frau ausar ten und Vorschläge über die zukünftige: handlung dieses Problems durch das Pai ment unterbreiten soll.
Für einen Ausbau der Rechte des Europ sehen Parlaments Erklärtes Ziel einer Mehrheit des Europ sehen Parlamentes ist es, für einen Ausbaus ner Rechte zu kämpfen, insbesondere für stärkeres Kontrollrecht und eine Mitgesetz bung bei den „Gesetzen“ der Gemeinschaft es bisher nur sehr beschränkt über das Ha haltsrecht beeinflussen kann.
In bezug auf die Kontrolle der Kommiss (dem Rat gegenüber hat es aufgrund ei Gentlemans-Agreement nur ein Fragerei ist es in gewisser Weise in einer günstige Situation als nationale Parlamente, eben v das Hohe Haus nicht in ein Regierungs-1 Oppositionslager zerfällt; in nationalen S ten wird der Opposition, die zumeist in Minderheit ist, alle Kontrolle überlassen, ol daß sie dazu aus ihrer Minderheitsposition notwendigen Beschlüsse fassen kann. Im ropäischen Parlament kontrolliert dage das ganze Haus — und es nimmt diese 7 gäbe sehr ernst Dies zeigte sich nicht durch die Neukonstituierung eines eigei Ausschusses für Haushaltskontrolle 25), 8 dem auch in der Debatte über den Bericht Rechnungshofes zur Frage der Spesenaus ben der Kommission 26). Das Parlament fort in der am Ende dieser Debatte angenom nen Entschließung unmißverständlich Mitglieder der Kommission auf, sich in kunft an die bestehenden Regeln zu ha neue Vorschriften für alle Gemeinschaftsin tutionen anzunehmen und die Mittel zuri zuerstatten, die nicht nach den geltenden Schriften ausgegeben wurden, wobei es n versäumt, darauf hinzuweisen, daß es Durchführung der Rückerstattung nachprüfen werde 28).
In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, daß das Europäische Parlament durch Entschließung vom 14. Dezember 1979 erstmals zwei vor dem Gerichtshof anhängigen Prozessen beitrat 29), die von zwei Isoglukose erzeugenden Firmen gegen die Verordnung Nr. 1293/79 des Rates angestrengt worden waren. Das Parlament sah sich dazu veranlaßt, weil der Rat, entgegen den Bestimmungen des EWG-Vertrages, vor Erlaß der Verordnung die Stellungnahme des Parlaments nicht abgewartet hatte. Auch hier wird deutlich, daß das Europäische Parlament bereit ist, alle Mittel auszuschöpfen, um seine Rechte zu wahren.
Eine große Debatte über den Ausbau bzw. die Erweiterung der Rechte des EP steht noch aus, und sicherlich gibt es im Hohen Hause dazu verschiedene, auch ablehnende Positionen. Jedenfalls hat die Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) — mit Zustimmung ihrer französischen Mitglieder — am 27. September 1979 einen Entschließungsantrag 30) eingebracht, in dem der Abschluß eines neuen Vertrages zur Fortentwicklung der Gemeinschaft gefordert wird. In diesem Entwurf wird als neues Recht für das Parlament dessen Mitentscheidung bei der Investitur der Kommission und die Mitwirkung bei der Bestellung der Mitglieder anderer Gemeinschaftsorgane, die Ratifizierung der internationalen Verträge der Gemeinschaft durch das Parlament sowie die Bindung des Ministerrates an die Ergebnisse des Konzertierungsverfahrens zwischen Rat und Europäischem Parlament gefordert. Zwar ist dies noch keine Tei" ung der Gesetzgebungsgewalt zwischen Rat Parlament im Sinne eines Zweikammersystems, aber ein Schritt in diese Richtung.
Wie die anderen Fraktionen zu diesem Vorschlag stehen, ist bis jetzt nicht bekannt. Es scheint jedoch festzustehen, daß große Teile er sozialistischen und der liberalen Fraktion ^ Weiterentwicklung pari passu und am Konkreten Problem vorziehen — im Sinne eipe permanenten Konstituante, wie dies Willy tindt in seiner Rede vor dem Kongreß der Europäischen Bewegung am 6. Februar 1976 in Brüssel formulierte.
In diesem Sinne ist wohl auch der Passus in der GATT-Resolution vom 16. November 1979 zu werten mit dem das Europäische Parlament „seine zuständigen Ausschüsse" beauftragt, „Vorschläge hinsichtlich der Teilnahme des Europäischen Parlaments an künftigen Handelsverhandlungen und eines formellen Ratifikationsverfahrens für zukünftige Han-deisabkommen durch das Europäische Parlament auszuarbeiten und ihm vorzulegen“
Das Nein zum Haushaltsentwurf
Höhepunkt der Entwicklung des parlamentarischen Selbstbewußtseins war aber sicher die Ablehnung des Haushaltsentwurfs für 1980 am 13. Dezember 1979 Bereits bei der ersten Lesung vom 5. bis 7. November 1979 zeichnete sich diese Ablehnung ab, wenn der Rat nicht einlenken, das heißt den Forderungen des Europäischen Parlaments nachgeben würde. Bei dieser ersten Lesung fällte das Parlament eine wichtige Entscheidung, indem es den Antrag auf Erhöhung des nationalen Mehrwertsteueranteils bei den Eigenmitteln der Gemeinschaft von 1 % auf 1, 5 % ablehnte. Unter den Ablehnenden war eine große Zahl von Abgeordneten, die der EG bzw. ihrer demokratischen Ausgestaltung skeptisch bis feindlich gegenüberstehen, aber auch Befürworter des Ausbaus der Gemeinschaft, die keine allgemeine Vergrößerung der Finanzmittel wünschen, solange die EG-Agrarpolitik sich als Faß ohne Boden erweist Demgegenüber empfahl das Europäische Parlament vor dem ergebnislosen Dubliner Gipfel, bei dem es um den britischen Finanzbeitrag ging, die Einführung eines europäischen Finanzausgleichs zwischen den reichen und armen Ländern der Gemeinschaft um so die Finanzprobleme der ärmeren Länder der Gemeinschaft zu lindern Mit dieser Entscheidung — die mit Zustimmung aller britischen Abgeordneten erfolgte — hat eine Mehrheit des Hohen Hauses eine Entscheidung in Richtung auf eine föderale Zukunft der Gemeinschaft getroffen.
Während der Haushaltsdebatte wuchs das Selbstbewußtsein des Europäischen Parlaments zusehends. So erklärte beispielsweise der Fraktionsvorsitzende der Christdemokraten, Egon Klepsch, in seiner Haushaltsrede: „Bei der Beschlußfassung über den Haushalt erleben nicht nur das Europäische Parlament, sondern auch die anderen Institutionen — ob sie es vergessen haben oder nicht — die erste Nagelprobe nach dieser Entscheidung der europäischen Bürger. Daher ist es auf diesem Gebiet nicht möglich, politische Forderungen, die durch Volkswahl legitimiert sind, als Euro-Utopismus abzutun und im übrigen zur Tagesordnung überzugehen. Ich sage das deshalb, weil vielleicht auch die Öffentlichkeit von diesem Selbstbewußtsein, das aus dem Auftrag des Europäischen Parlaments entspringt, verstärkt Kenntnis nehmen sollte.“
Und der erste stellvertretende Vorsitzende der sozialistischen Fraktion, Rudi Arndt, meinte in seiner Rede: „Es hat uns kein Wähler in dieses Parlament geschickt, damit wir nicht tun, was er von uns erwartet. Das heißt: Wir haben übereinstimmend den Auftrag, ein starkes Parlament zu sein, ein Parlament, das sich durchsetzt. Der Rat sagt: Erst muß eine Rats-verordnung über eine neue Politik vorliegen, und dann erst darf das Parlament über die Mittel bestimmen. Das heißt: Das Parlament darf nach dieser Auffassung des Rates erst dann beschließen, wenn der Rat es dem Parlament erlaubt. Das wollten die europäischen Bürger mit Sicherheit nicht, als sie zur Wahlurne gingen. Sieben Monate nach der Direktwahl sollte der Rat endlich begreifen, daß das Parlament nicht nur sein Erfüllungsgehilfe ist, sondern daß das Parlament der Repräsentant der europäischen Bürger ist, so, wie das in den Verträgen vorgesehen ist."
Die noch während der Debatte übermitte Erklärung des zur gleichen Zeit in Brüssel genden Agrarrates, in der dem Parlame letztlich bescheinigt wurde, daß es mit sein Forderungen zur Agrarpolitik auf dem rit tigen Wege sei, man aber mit einer Lösu noch warten müsse, bewirkte eher eine V Stärkung der Ablehnungsfront.
Hätte in dieser Sitzung nicht die Abstimmu über den Haushalt 1980 stattgefunden, w sicherlich der Nachtragshaushalt Nr. 3 1979 in Höhe von rund 800 Millionen E (1 ERE = ca. 2, 50 DM), der zusätzlich zur/Stimmung stand, abgelehnt worden, zun auch er im wesentlichen zur zusätzlichen nanzierung der Milchpolitik der Gemeinsch dient. Groß waren in der Debatte die Vorwü gegenüber der Kommission, weil sie dies Nachtragshaushalt dem Parlament so vers] tet vorgelegt hatte, nachdem die finanziell Verpflichtungen der Gemeinschaft bete entstanden waren. Wenn dann der Nachtra haushalt schließlich doch angenommene de, so vor allem deshalb, weil man an ein Tag nicht zwei Haushalte ablehnen wollte, » der Berichterstatter Pieter Dankert sagte. Die Kommission hat in diesen Debatten ni gerade eine glückliche Figur gemacht, und immer häufigeres Nachgeben gegenüberd Rat stößt auf immer stärkere Kritik, so daß V einer großen Zahl von Beobachtern ein M trauensantrag gegen sie nicht ausgeschloss wird, wenn ihr neuer Haushaltsvorentwurf 1980, den sie nun nach der Ablehnung voi gen wird, den Wünschen des Parlamen nicht entgegenkommt
Allerdings muß berücksichtigt werden,die Ablehnungsfront des Haushaltes 1980 die mit 288 gegen 64 Stimmen bei einer Er haltung sehr groß war, nicht unbedingt mit einer proeuropäischen Front gleichgesetzt werden kann. ) Allerdings haben die Gegner'Ausweitung der Rechte des Europäischen Par-laments, vor allem die französischen Kommunisten, die Gaullisten und die dänischen EG-Gegner, für die Annahme des Haushaltes gestimmt Bemerkenswert bleibt, daß von den 64 Stimmen für die Annahme 47 von französischen Abgeordneten stammten.
Die ersten hundert Tage
Natürlich konnte im Rahmen dieses Beitrags nurüber einen kleinen Teil der bisherigen Arbeiten des Europäischen Parlaments berichtet werden, wobei besonders diejenigen herangezogen wurden, die dem Autor wichtig und beispielhaft für die weitere Entwicklung des Parlaments erschienen (was nicht bedeutet, daß es andere nicht auch seien). Außerdem ist die Zeitfür eine erste Bilanz der Tätigkeit des Europäischen Parlaments noch recht kurz, denn zieht man die Phase der Konstituierung und die Sommerpause ab, so hat das Parlament von der ersten Arbeitssitzung vom 24. — 28. September bis zum Jahresende erst hundert Arbeitstage hinter sich. Hundert Arbeitstage sindfür ein sechssprachiges europäisches Parlament mit 410 Abgeordneten, von denen sich diemeisten nicht aus der parteipolitischen Arbeitkannten— wie in der Regel in nationalen Staaten — eine sehr kurze Zeit. Aber man kann wohl sagen, daß das gewählte Europäische Parlament, sieht man von den Geschäftsordnungs-und verständlichen organisatorischen Schwierigkeiten ab, einen guten Start hatte und ein beachtliches Selbstbewußtsein entwickelt hat.
Dies hat selbst manchen anfänglichen Kritiker c erzeugt, wie etwa den renommierten weizer Journalisten Jörg Thalmann, der d 2n direkten Wahlen und ihrer Wirkung sehr ^eptisch gegenüberstand. Er schrieb: „Nach ms Sessionen bin ich überzeugt: Das Parlalan ist eine gute Sache geworden. Ich gebe Ame zu, daß ich mich seinerzeit getäuscht lae'k ich gegen die Direktwahl schrieb. Es an schdas Wunder der Demokratie ereignet, " e ches ich vorher nicht glauben konnte, palednonyme Masse von Bürgern ist zur Urne ,. l nttten, jeder hat seinen Wahlzettel abge-vijsoim Bewußtsein, daß neben ihm noch 100 annonen andere einzelne wählen und daß em Vweitere einzelne, die in komplizierand e ahren ermittelt werden, ihn und die äb nn 100 Millionen . vertreten'werden. Ich an N 6 begriffen, wie aus einem solchen Vor-Sntstango kratie entstehen kann. Aber sie ist en... Und im weiteren Verlauf sei-nes Artikels stellt er fest: „Dies ist es wohl, was dem EP sein gegenwärtiges Charisma gibt:
Hier sind die Länder, Landschaften und Städte Europas, seine Parteien und Verbände, seine wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strömungen in einem Raum konzentriert, sichtbar vertreten durch Menschen aus Fleisch und Blut, der europäischen Öffentlichkeit ausgestellt durch Presse, Rundfunk und Fernsehen. Dies empfand ich als die eigentliche Revolution: Jede europäische Strömung ist hier physisch in einen europäischen Rahmen gezwängt, im selben Raum mit allen anderen Strömungen, und kann weder dem Rahmen noch der Koexistenz mit den Konkurrenten ausweichen. Auch der Nationalismus kann sich nicht mehr im nationalen Glashaus abschließen, er hat den Zwang zur Rechtfertigung auf dem europäischen Forum empfunden und ihm nachgeben müssen."
Das Europäische Parlament ist also politisch geworden, es hat es fertig gebracht, zahlreichen Wünschen der Bevölkerung Ausdruck zu verleihen. Im Kreis der Institutionen der Gemeinschaft entwickelt sich das Parlament heute zu dem Organ, das Perspektiven aufzeigt und Schwerpunkte setzt, während die Kommission vieles von ihrer Initiativkraft eingebüßt hat und vorzugsweise verwaltet und der Rat nur reagiert und durch Partikularinteressen der Mitgliedsstaaten oder großer Interessengruppen häufig beschlußunfähig gemacht wird. Auch der Europäische Rat, die ehemalige Gipfelkonferenz der Staats-und Regierungschefs, erfüllt nicht mehr die Hoffnungen, die bei seiner Gründung in ihn gesetzt wurden.
Die Fraktionen und Ausschüsse haben ebenfalls Gestalt angenommen. Dabei wird es in der Zukunft interessant sein zu beobachten, wie zum Beispiel die Gruppe der eher gemeinschaftsfeindlichen Labour-Abgeordneten in die sozialistische Fraktion integriert werden können, inwieweit also das Europäische Parlament und seine Fraktionen Meinungen prägen und Politiker erziehen. Diese Integrationsaufgabe stellt sich allen Fraktionen, auch der christdemokratischen, bei der es überraschte, daß sechs Franzosen, unter ihnen die prominenten „Europäer" Pierre Pflimlin, Ober-bürgermeister von Straßburg, der ehemalige Minister Jean Lecanuet und der Generalsekretär der Europäischen Volkspartei, Jean Seitlinger, nicht für die Ablehnung des Haushaltes stimmten.
Als bisher wenig befriedigend (wenigstens in aller Regel) muß die Wirkungsmöglichkeit der Abgeordneten in ihren jeweiligen Parteien und ihre Verbindung zur Presse und zu den Wählern bezeichnet werden. Einer der Gründe, warum viele Abgeordnete nach Brüssel als Sitz und Tagungsort des Europäischen Parlaments tendieren, ist in der Tatsache zu suchen, daß dort ein erheblich größeres und spezialisiertes Pressecorps vorhanden ist als in Straßburg oder Luxemburg Sicherlich muß sich auch die Verwaltung in diesem Bereich etwas einfallen lassen, um die PR-Arbeit des Parlaments phantasievoller zu gestalten. Die Abgeordneten des EP müssen, mehr noch als ihre Kollegen aus dem Bundestag und den Landtagen, im heimatlichen Bereich, in ihren Parteien und in der Öffentlichkeit eine aktive Rolle spielen, damit das Parlament nicht von seinen Wählern isoliert wird.
Problematisch und bisher ungelöst in allen Ländern der Gemeinschaft sind die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten. Bisher waren diese Beziehungen durch das obligatorische Doppelmandat und die enge Verbindung der Parlamentsverwaltungen ausreichend geregelt. Da aber das obligatorische Doppelmandat nunmehr weggefallen ist und immer weniger praktiziert wird, die Rückkoppelung der Parlamente aber unbestritten notwendig ist, werden neue Lösungen in allen nationalen Hauptstädten und beim Europäischen Parlament gesucht. Denn es wäre für die Zukunft verhängnisvoll, wenn aus Gründen der nicht ausreichenden Koordinierung und des mangelnden feed back ein Gegensatz zwischen nationaler und europäischer Ebene entstehen würde. Nur wenn ein Einvernehmen zwischen den verschiedenen Ebenen hergestellt ist und die Parlamente sich als Ergänzung und nicht als Konkurrenz betrachten, kann das EP in seiner Aktion auf Dauer Erfolg haben. Das Europäische Parlament braucht darüber hinaus die Informationen über das, was national beschlossen ist, um diese Maßnahmen auf europäischer Ebene sinnvoll zu koordinieren.
Das Parlament — morgen?
Es wäre jedoch verfrüht — worauf schon hingewiesen wurde —, endgültige Schlußfolgerungen über die Rolle des Europäischen Par ments ein halbes Jahr nach seiner Wahl hen zu wollen. Der Prozeß der Entwickln geht weiter und mit ihm der Prozeß der A einandersetzung mit dem Rat, dem eigen chen Widerpart des Parlaments.
Juristisch und machtmäßig ist der Rat d Parlament überlegen. Er ist der Gesetzgel und ohne seine Zustimmung gibt es in der(meinschaft keinen Fortschritt. Er hat sich al zugleich auch als das Organ herausgestellt dem die Partikularinteressen deutlicher z Ausdruck kommen, als das beim Parlam der Fall ist (auch wenn darüber weniger richtet wird, weil die Sitzungen des Ra nicht öffentlich sind).
Aber wenn es das Ziel der Mitgliedsstaa ist, die Gemeinschaft weiterzuentwick wenn ihre Überzeugung wirklich die ist, isoliert und national heute nur noch we möglich ist und daß die Zukunft Europas a von dem Grad seiner Einheit abhängt, de werden der Rat und sein großer Bruder, Europäische Rat, gut daran tun, die Wüns Vorschläge und Anregungen des gewähl Parlaments sorgfältig zu beachten und eh verstärkten Dialog mit ihm zu führen.
Dies gilt vor allem an der Wende zu dena ziger Jahren, die sich so krisenhaft anküi gen. Der offensichtliche Machtverlust USA, die Vorgänge im Iran und in Afgh stan, die inflationäre Entwicklung mit c Problem der Arbeitslosigkeit, die Ener preisinflation, werden auch von der EG unc ren Mitgliedsländern Entscheidungen ab'langen, die wenig populär sein und die eine lidarische Haltung von ihnen verlangen v den. Der Rat wird gut beraten sein, wenn e unabhängig von der Vertragslage — das Pa ment verantwortlich daran beteiligt.
Parlamente sind in demokratischen Syster der Platz der Integration und Konsensussw die demokratische Regierungsfähigkeit hei stellen haben. Sie sind der Transmissions men zwischen der politischen Macht und Bürgern, ohne deren verantwortliche Teilh ein politisches System entweder in Tech kratie oder autoritäre Herrschaftsformen gleitet. Die verantwortliche Einschaltung Europäischen Parlaments wird auch dazu tragen können, zögernde Partner in der meinschaft mehr als bisher in die EG zu 1 grieren. Und letztlich: Wer sich zur Demol tie bekennt, kann dieses Bekenntnis nicht der Landesgrenze enden lassen. Sie ist übe dort zu verwirklichen, wo politische Ma über den Menschen ausgeübt wird und wo das vom Bürger erwirtschaftete Geld ausgegeben wird, also auch in der EG.
Der Kampf um die Rechte des Europäischen Parlaments ist deshalb kein Selbstzweck, son-dern zugleich ein Kampf um ein transparentes demokratisches und bürgernahes Regierungssystem innerhalb der Europäischen Gemeinschaft