Seit einer Reihe von Jahren zeichnet sich in der Bundesrepublik eine Tendenz ab, die „deutsche Frage" wieder in den Mittelpunkt der historisch-politischen Diskussion zu rükken, nachdem sie trotz der an den Grundlagenvertrag anknüpfenden innenpolitischen Auseinandersetzungen an öffentlichem Interesse verloren hatte. Eines der jüngsten . Aschaffenburger Gespräche" stellte sich zur Aufgabe, die Frage zu beantworten, wie es erreichbar sei, das Bewußtsein nationaler Identität der Deutschen beiderseits des Eisernen Vorhangs zu bewahren und der jüngeren Generation zu vermitteln
Daß von Seiten der „Deutschen National-Zeitung“ der sozial-liberalen Koalition kontinuierlich zum Vorwurf gemacht wird, im Zuge der Entspannungspolitik den Wiedervereinigungsanspruch preisgegeben zu haben, wird niemanden verwundern. Neuerdings hat der Erlanger Historiker Hellmut Diwald mit seiner umstrittenen „Geschichte der Deutschen" in ähnlicher Form argumentiert. Den Deutschen sei im Zuge der reeducation und reorientation ihre Geschichte „in bewußter Gründlichkeit" weggenommen worden Er knüpft damit an rechtsradikale Publikationen wie das Buch von Schrenck-Notzing „Charakterwäsche" an und charakterisiert die dreißig Jahre seit dem deutschen Zusammenbruch Von 1945 als eine Phase der ideologischen Überfremdung durch die westliche politische heorie und als eine Periode deutscher Selbst-Preisgabe. Dies erinnert fatal an die Einschätzung der Geschichte der Weimarer Republik durch die nationalistische Rechte — den Tat-reis, den Juni-Club, die „Deutsche Rundschau und die Hugenbergpresse. Die nationalsozialistische Propaganda vermochte sich die systematische Herabsetzung der Republik als Andeutsche Staatsform" und als Träger des osverkaufs deutscher Interessen erfolgreich zunutze zu machen. tis /jS ä c ^ortraS gehalten im Rahmen einer didaksch en-iC^^a^unS ^er Bundeszentrale für politides " Verfassung, der Geschichte der Bun-265rpu blik Deutschland im Unterricht“ vom 'ai bis 1. Juni 1979 in Bonn
Würden Vorstellungen dieser Art nur von der äußersten Rechten in der Bundesrepublik artikuliert, könnte man darüber guten Gewissens zur Tagesordnung übergehen. Indessen zeigt sich auch auf dem rechten Flügel des demokratischen Parteiensystems der Bundesrepublik eine unübersehbare Tendenz, an nationale Stimmungen zu appellieren und die Rückkehr zu einem „gesunden" deutschen Nationalbewußtsein zu fordern. Ein Beispiel dafür ist der Antrag der CDU-Fraktion des Landtags von Nordrhein-Westfalen vom Mai 1978 zur Verbesserung des Geschichtsunterrichts. In der Landtagsdebatte äußerte der Abgeordnete Petermann, es gelte, die tausend Jahre heiler deutscher Geschichte jenseits des Nationalsozialismus erneut ins Bewußtsein zu heben. Dem Geschichtsunterricht wurde ausdrücklich die Aufgabe gestellt, den jungen Menschen zur Identifikation mit der eigenen Nation zu erziehen
Diese und andere Initiativen, eine Neubelebung eines demokratischen Nationalbewußtseins zu erreichen, treffen sich mit den seit längerem von dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen und dem Institut für gesamtdeutsche Fragen unternommenen Initiativen, eine Klärung der „nationalen Frage“ in einem gemäßigten, die Entspannungsbemühungen der Bundesregierung flankierenden Sinne herbeizuführen. Allerdings haben die wiederholten Expertengespräche keinen einheitlichen Standpunkt erkennen lassen. Neben voluntaristischen Stellungnahmen, wonach alles getan werden müsse, um ein gesamtdeutsches Bewußtsein gerade bei der jün-geren Generation zu bewahren, und daß es dazu eines „nationalen Durchhaltewillens" (Erich Kosthorst) bedürfe stehen Äußerungen von Experten wie Rainer Lepsius, die auf die politische Zwielichtigkeit der Bestrebungen hinweisen, ein die Grenzen der Bundesrepublik übergreifendes Nationalgefühl auf dem Wege politischer Doktrination erreichen zu wollen, ohne damit in die Hände rechtsradikaler Bestrebungen zu spielen oder den hergebrachten deutschen Machtstaatsgedanken indirekt zu beleben
Der innenpolitische Kompromiß, der mit dem Brief von Bundeskanzler Willy Brandt zur deutschen Einheit zustande kam, ist durch die Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts in problematischer Weise verfestigt worden. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag stellte auf die Verpflichtung „aller Verfassungsorgane" ab, „auf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel hinzuwirken“. Wenngleich unter Verfassungsorganen zunächst nur die Regierungen, Parlamente und die Institutionen der Rechtssprechung zu verstehen sind, liegt es doch nahe, diese Verpflichtung auch auf die Gesamtheit der öffentlichen Bildungseinrichtungen zu übertragen, und hier in erster Linie auf den schulischen Unterricht
Unter dem Druck von Teilen der öffentlichen Meinung hat die Ständige Konferenz der Kultusminister am 23. November 1978 Rahmen-empfehlungen zur Behandlung der „deutschen Frage im Unterricht“ erlassen, die unter anderem direkt auf die Bundesverfassungsgerichts-entscheidungen zum Grundlagenvertrag bezogen sind und damit implizit den Lehrer vor allem des historisch-sozialwissenschaftlichen Bereichs darauf festlegen, den Unterricht im Sinne der Bewahrung und Festigung eines gesamtdeutschen Nationalbewußtseins zu gestalten. Die in manchen Punkten außerordentlieh detailliert gehaltenen Richtlinien, deren historische Engbrüstigkeit Karl-Heinz Janßen in „Die Zeit“ mit guten Gründen herausgehoben hat, lassen Zweifel daran aufkommen, ob eine derartig weitgehende Festlegung noch mit dem verfassungsmäßig verbrieften Recht der Lehrfreiheit vereinbar ist
Das entscheidende politische Dilemma derartiger Versuche, den Gedanken der Wiedervereinigung „wach“ zu halten, liegt, abgesehen von der Unmöglichkeit, eine richtungspolitische Divergenzen übergreifende, geschlossene Sicht der „deutschen Frage“ und ihrer Genesis zu verordnen, in dem grundsätzlichen Problem, wo die Grenzlinien zum traditionellen deutschen Nationalismus zu ziehen sind Das ist kaum allein eine Frage der verwandten Begriffe und theoretischen Grundannahmen, so wichtig diese sind. Die stetig wiederkehrende Beschwörung des „demokratischen Selbstbestimmungsrechts" vermag die historische Erfahrung nicht beiseite zu schieben, daß ein kräftiger Nationalismus, wenn er einmal politisch virulent ist, derlei selbst gesetzte Beschränkungen von sich abzustreifen pflegt und allzu rasch in nationales Ausschließlichkeitsdenken umzuschlagen geneigt ist.
Daß auf Seiten der Bildungspolitiken und politischen Pädagogen, die sich in der Bundesrepublik um eine verfassungskonforme Bewältigung der „nationalen Frage“ bemühen, eine Verwechslungsgefahr mit rechtsradikalen Bestrebungen nicht besteht, kann man unterstellen, auch wenn sich in der Debatte mitunter terminologische Mißgriffe und Wiederanknüpfungen an die politische Sprache der nationalen Rechten der späten Weimarer Republik finden. Bedeutsamer scheint, ob das ihren. Bemühungen vielfach zugrunde liegende Motiv, die Vertretung nationaler Interessen nicht an die NPD und verwandte Gruppierungen abzutreten, politisch tragfähig ist. Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik ist vor einer solchen Politik schleichender nationaler Konzessionen entschieden zu warnen, die gerade die DDP auf die schiefe Linie einer hot nungslos werdenen Konkurrenz mit der nationalistischen Rechten drängte, an deren Ende die Verschmelzung mit dem Jungdeutschen Orden zur Deutschen Staatspartei stand, deren Position sich von derjenigen der Deutsc nationalen in der Reparationsfrage, der An schlußfrage und der Revision der deutschen Ostgrenze nicht wirklich unterschied. Der de mokratische Reichsminister des Äußeren, Graf Brockdorff-Rantzau, gab schon vor dem Abschluß des Friedensvertrages von Versailles den Anstoß zum Aufbau einer breiten publizistischen Organisation, die zunächst den deutschen Anspruch auf das oberschlesische Industrierevier zementieren sollte, um dann in den Dienst des Kampfes gegen den Kriegsschuldartikel 231 gestellt zu werden. Die ursprünglich zur Stärkung des Durchhaltewillens im Ersten Weltkrieg begründete Reichs-zentrale für Heimatdienst und die im Auswärtigen Amt und in der Reichskanzlei geschaffenen Reptilienfonds zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung gerieten nach und nach in das Fahrwasser der äußersten Rechten. Die von Rudolf Pechei gegründete Vereinigung national eingestellter Verleger und Publizisten, die insbesondere die Beziehungen zum Deutschtum im Ausland wachhalten sollte, wie der „Arbeitsausschuß deutscher Verbände“, an der Persönlichkeiten der DDP ebenso wie die Repräsentanten der „kon-. mitwirkten Revolution", sind in weitem Umfang aus öffentlichen Mitteln finanziert worden, und dasselbe gilt für die Zeitschrift . Kriegsschuldfrage"
All diese Erscheinungen, die in der hochgespannten innenpolitischen Atmosphäre der Weimarer Republik einen anderen Stellenwert haben mußten als im weitgehend saturierten politischen Klima der Bundesrepublik, lassen es angeraten sein, jede Form eines „Auf zwei Schultern-Tragens" in nationaler Beziehung zu vermeiden. Eine allgemeine Beschwörung des „demokratischen Selbstbestim-
mungsrechts"
und der Überlegenheit der freiheitlich-demokratisch verfaßten Bundesrepublik gegenüber der DDR ist nicht geeignet, die politische Ambivalenz der Forderung, den Wiedervereinigungsgedanken wach zu halten, aufzulösen. Das reale Interesse an einer Ausgestaltung und Fortentwicklung der „deutschdeutschen" Beziehungen kann sich nicht auf eine „nationale Sorgepflicht" für die Deutschen jenseits der Mauer berufen, wie dies die Kuliusministerkonferenz höchst unglücklich for-
muliert hat.
Die Anerkennung der Existenz von zwei deutschen Staaten darf auch nicht dadurch unterlaufen werden, daß der DDR staatliche Legitimität a limine abgesprochen wird. Denn eine Annäherung von Bundesrepublik und DDR kann auch unter den denkbar günstigsten politischen Bedingungen, schon auf Grund der Respektierung der parlamentarischen Verfassung Westdeutschlands, nur die Form der Intensivierung besonderer Staatenbeziehungen haben. Jede Spekulation auf einen gleichsam plebiszitären . Anschluß" der DDR an die Bundesrepublik — und der Appell an ein „gesamtdeutsches" Bewußtsein liegt auf dieser Linie — stellt die Grundprinzipien repräsentativer Verfassung in Frage und läuft auf eine Aberkennung des Selbstbestimmungsprinzips für das Staatsvolk der DDR hinaus.
Es ist bemerkenswert, daß die wiederholten Beschwörungen der „deutschen Einheit" ausschließlich auf die Frage des Bewußtseins der Bevölkerung abstellen, hingegen jede Erwägung vermissen lassen, welche politischen Verfahren eingeschlagen werden müßten, um jenem Ziel näherzukommen. Dies ist gewiß nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß ein allgemeiner Konsensus darüber besteht, daß eine Verwirklichung der Wiedervereinigung angesichts der gegenwärtigen politischen Konstellation auf absehbare Zeit ausgeschlossen ist und das Ziel der Erlangung nationaler Einheit gleichsam als „Rückstellung“ erscheint, deren Aktivierung zukünftigen Generationen überlassen bleibt.
Nun ist eine glaubwürdige Außen-und Innenpolitik mit einer derartigen Mentalreservation nicht nur in den Augen der west-und osteuropäischen Partner, sondern auch innenpolitisch in Frage gestellt, weil sie zu doppelzüngigen Versicherungen Anlaß gibt, die eine klare Abgrenzung gegenüber rechtsradikalen Positionen immer wieder flüssig machen können. Das zeigt sich auch in der charakteristischen Tatsache, daß bestimmte Aspekte der Wiedervereinigungsfrage einem inoffiziellen Tabu unterworfen werden. Zwar ist der Bundesbürger — der Präambel des Grundgesetzes zufolge — gehalten, den Gedanken der „deutschen Einheit" nicht preiszugeben. Eine Diskussion jedoch, die die möglichen Alternativen einer Änderung der deutschen Teilung im Sinne des verfassungspolitischen procedere zum Gegenstand hätte, sucht man vergebens. Denn jede Erwägung, zunächst einen gemeinsamen Ministerrat oder gemeinsame Regierungskommissionen zu schaffen, die Formen eines eventuellen zwischenstaatlichen Ver-träges zu skizzieren, die Folgen für die Verfassung der Bundesrepublik, darunter die Eliminierung des Föderalismus, aufzuzeigen, die möglichen politischen Widerstände der dadurch tangierten Interessengruppen zu erörtern, die Auswirkungen auf die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse in einem endlich staatlich vereinigten Gesamtdeutschland dar-zutun, würde nicht nur erwartete Protest-stürme auf selten der Ostblockstaaten auslösen, sondern zugleich vieles vom ‘. gesamtdeutschen" politischen Wunschdenken auf die Ebene nüchterner politischer Analysen herab-ziehen und damit problematisieren. Eine ernstliche politische Erörterung dessen, was Konrad Adenauer die „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit" genannt hat, würde den angeblich in dieser Frage bestehenden Konsensus als Mythos und die innere Problematik der juristischen Festlegung im Grundlagenvertragsurteil aufdecken.
Man wird vielmehr umgekehrt fragen, welche Interessen dafür maßgebend sind, daß das Wiedervereinigungsproblem zu erneuter, allerdings nicht eben breit gestreuter Erörterung gelangt. Im Gegensatz zu dem politischen Bewußtsein der 50er Jahre, in dem ein freilich nicht sehr ausgeprägter Wille zur Erhaltung der „deutschen Einheit" (trotz der Politik Kurt Schumachers) vorhanden war, ist der Gedanke daran in den 60er und 70er Jahren für die richtungspolitische Differenzierung in der Bundesrepublik von allenfalls marginaler Bedeutung. Die begrenzten Erfolge der Entspannungspolitik und die sichtliche Verbesserung der gleichwohl nach wie vor gespannten deutsch-deutschen Beziehungen werden bezeichnenderweise gerade von den Kreisen angegriffen, die sich mit dem Anspruch zieren, Hüter des deutschen Nationalbewußtseins zu sein. Dies reicht bis zu dem Paradox, daß von dieser Seite finanzpolitische Konzessionen an die DDR zur Verbesserung der Handelsbeziehungen und der Kontakte zwischen der Bevölkerung als gefährliche Stärkung des kommunistischen Regimes und als a-nationale Politik abgelehnt werden zugunsten größerer Festigkeit und einer Strategie von Druck und Gegendruck, von der mit Sicherheit gesagt werden kann, daß sie das Auseinanderleben beider Teile Deutschlands nachhaltig beschleunigen würde.
Daher liegt die Vermutung nahe, daß die Beschwörung der „deutschen Einheit" unter Absehung tatsächlicher Fortschritte in den deutsch-deutschen Beziehungen vorwiegend aus innenpolitischen Gründen erfolgt, und zwar in der Absicht, die angestrebte Wiederbelebung eines „gesunden" nationalen Bewußtseins auf den angeblichen und rechtlich fixierten Konsens in der Wiedervereinigungsfrage abzustützen. Die demokratische Absicherung der Bekundungen des deutschen Einheitswillens offenbart hier eine eigentümliche Ambivalenz. Auch in dem zitierten Beschluß der Ständigen Konferenz der Kultusminister ist die Tendenz zu erkennen, den dort nachdrücklich konstatierten Gegensatz der Gesellschaftssysteme gleichsam indirekt für die Konstituierung eines neuen deutschen Nationalbewußtseins fruchtbar zu machen Diese Tendenz, ein deutsches Nationalbewußtsein einerseits in Anknüpfung an die nationalkulturelle Tradition als gesamtdeutsche Klammer zu postulieren, andererseits auf den politischen Gegensatz zum kommunistischen System der DDR zu gründen, leitet sich aus dem eigentümlichen Legitimitätsproblem her, mit dem jede national prononcierte politische Position angesichts der national differenten Haltung beträchtlicher Teile der westdeutschen Bevölkerung, insbesondere bei der jüngsten Generation, konfrontiert ist. Tatsächlich zeigen Felduntersuchungen, daß die Bindungen von vielen Angehörigen der zweiten Nachkriegsgeneration an herkömmliche nationale Einstellungen äußerst gering sind und daß die Tendenz, sich im transnationalen Rahmen zu begreifen, durch die Öffnung der westeuropäischen Grenzen und die vielfältigen zwischennationalen Kontakte erhebliches Gewicht besitzt -
Es stellt sich in zunehmendem Maße heraus, daß die scharf antikommunistische Indoktrination der 50er und frühen 60er Jahre, die zur Gleichsetzung des politischen Systems de. DDR mit ökonomischem Niedergang und politischer Sterilität tendierte, bei der nachwachsenden Generation ein weitgehendes Desinteresse an dem „anderen Teil" Deutschlands begründet haben, während mit westlichen, andersnationalen Ländern, nicht zuletzt mi Frankreich, ein enger Austausch zustande kam, der vielfach auch in solidarischen Einstellungen einen Niederschlag fand. Die Bemühungen der Kultusministerkonferenz wie der Geschichtslehrerverbände, einer entsprechenden Verengung des deutschen Geschichtsbewußtseins durch eine intensivere Behandlung von Themen entgegenzuwirken, die mittel-und ostdeutsche Landschaften und kulturelle Erbschaften zum Gegenstand haben, sind eine freilich recht künstliche Antwort auf diese Verlagerung des historischen Selbstbewußtseins der jüngeren Generation
In dervielbeklagten Ausklammerung „gesamtdeutscher" Sachverhalte aus dem deutschen . Geschichtsbild" findet die problematische Einschränkung historischer Interessen auf im engeren Sinne legitimatorische Funktionen im Rahmen der eigenen Nationalgeschichte einen gleichsam gegenläufigen Ausdruck. Die stillschweigend vollzogene Identifikation der Bundesrepublik als allein ernsthaftem Repräsentanten der nationalen politischen Überlieferung schlägt sich in dieser Verengung des Geschichtsbewußtseins nicht ohne innere Folgerichtigkeit nieder. Es ist indessen ein Kurieren an Symptomen, wenn im Bildungsbereich versucht wird, durch die Einbeziehung der Geschichte der mittel-und ostdeutschen Landschaften in früheren Jahrhunderten eine sekundäre Ausweitung des geschichtlichen Interesses erreichen zu wollen Denn dies geschieht in der Regel in der Weise, daß die autonome Entwicklung der DDR ausgeblendet wird.
Die Geschichte der DDR erscheint in Schulbüchern und allgemeinen Darstellungen überliegend als negative Folie, auf der die Durchsetzung und Behauptung des parlamentarisch-demokratischen Systems der Bundesrepublik geschildert wird. Daraus entspringt schwerlich ein positives Interesse an der Geschichte des in das System der Ostblockstaaten eingebundenen Teils von Deutschland. Ebensowenig kann die Geschichte der ehemals deutschen Landschaften jenseits von Oder und Neiße — gleichsam durch Rekurs auf Opitz, Kant und Kepler — unter Ausblendung der jüngsten Geschichte bei der jüngeren Generason besonderes Interesse erwecken, wenn sie Im Bezugsrahmen der für sie nicht mehr unmittelbar verbindlichen Nationalstaatsidee 19, Jahrhunderts bleibt.
Nur indem die Geschichte Deutschlands in dem Zusammenhang mit derjenigen der ost-mittel-und osteuropäischen Länder dargestellt wird, läßt sich der Schwund an historischer Perspektive aufhalten, der sich aus der für Deutschland charakteristischen national-staatlichen, sich zunehmend auf die Bundesrepublik einschränkenden Sehweise ergibt. Gerade die Geschichte Polens weist eine Vielzahl von strukturellen Problemlagen auf, die mit denen des deutschen Nationalstaats vergleichbar sind, so daß sich aus ihrer Behandlung ein tieferes und nicht nur nach innen gerichtetes Verständnis der „deutschen Frage“ herausbilden ließe. Was die DDR angeht, ist zu konstatieren, daß deren literarische Entwicklung, und zwar keineswegs allein wegen der Dissidentenfrage, steigendes Interesse in der Bundesrepublik findet, während für die wissenschaftliche Behandlung der Geschichte der DDR kaum ausreichende institutioneile Grundlagen in der Bundesrepublik vorhanden sind.
Aus diesem relativen Desinteresse für die tatsächliche Situation in der DDR wird man ebenfalls folgern können, daß das Interesse an der „deutschen Einheit" nicht einer primären nationalen Solidarität mit den Bürgern der DDR entspricht. Die „deutsche Frage" erscheint in mancher Hinsicht nur als Vehikel, um den vielerseits geäußerten Wunsch nach einer Wiedergewinnung nationaler Identität zu legitimieren, ohne die ältere Nationalstaatstradition Bismarckscher Prägung grundsätzlich in Frage zu stellen. In dem häufig erklingenden Ruf nach einem Mehr an Geschichte — und das bedeutet in der Regel ausschließlich „nationale" Geschichte wie eine überwiegend national rezipierte Geschichte älterer Perioden wie der des klassischen Altertums — verbirgt sich die Erwartung, durch die Schaffung eines verbindlichen „Geschichtsbilds" die innenpolitische Konsensbildung zu erleichtern und politische Polarisierungen nach links hin abzubauen. Wenn Erich Kosthorst, der sich sehr nachdrücklich für die Pflege des gesamtdeutschen Nationalgedankens einsetzt, dies auch damit begründet, daß „Individuen und Kollektive ohne klares Identitätsbewußtsein auf die Dauer pathologisch gefährdet und für kompensatorische Abstützungsmechanismen (z. B.. Integrationsideologien, manipulatorische Dynamisierungsrnythen) anfällig" würden, so zielt diese Motivation auf das innenpolitische Bedürfnis, die im Zuge der Studentenbewegung und des Auftretens der Kritischen Linken eingetretene Aus-Weitung des politischen Meinungsspektrums nach der Mitte hin zu begrenzen. Die implizierte Annahme, daß Nationalismus, der in der Tat Identifikationsprozesse begründet, gleichsam organisch und „gesund", konkurrierende Ideologeme hingegen „pathologisch" seien, ist schwerlich zu halten
Aufgrund umfassender Befragungen haben Lutz Niethammer und andere Autoren festgestellt, daß DDR und Bundesrepublik sich auf dem Wege zur Binationalisierung befinden und daß das tradierte gesamtdeutsche Auto-stereotyp im Begriff sei, in zwei Rumpfstereotype zu verfallen Im Gegensatz zu der bei Angehörigen der älteren Generation häufig auftauchenden Klage, daß die Bundesrepublik noch nicht Zu ihrer Identität gefunden habe — so spricht Kosthorst von einer „essentiellen Störung des Teilstaatsbewußtseins“ —, zeichnet sich die Haltung von großen Teilen der bundesrepublikanischen Bevölkerung durch ein hohes Maß an staatlichem Selbstbewußtsein aus, das nun freilich bislang noch keine nationalistische Ausformung gewonnen hat. Es erscheint obsolet, mit Kosthorst von einem „nachhaltig gestörten Verhältnis unserer Gesellschaft zu Staat und Nation" zu sprechen und man sollte sich hüten, bestimmte problematische Elemente jugendlicher Subkulturen, die sich auch in Ländern mit bislang ausgeglichenem Nationalbewußtsein wie den Vereinigten Staaten finden, auf ein unausgeglichenes nationales Selbstverständnis zurückzuführen. Unbestreitbar ist jedoch, daß national indifferente Haltungen in der Bundesrepublik ungewöhnlich stark verbreitet sind und damit auch die Neigung, sich auf transnationale Kommunikations-und Austauschprozesse einzustellen. Ideologiegeschichtlich ist dies wenig erstaunlich, weil gerade der jüngeren Generation der Eindruck eines geschichtlichen Kontinuitätsbruches dadurch nahegelegt wurde, daß trotz der Aufklärungsbestrebungen der Medien die Geschichte des Dritten Reiches nicht hinreichend tradiert wurde. Die Auseinandersetzung mit dem „Holocaust" -Film hat jene Vermittlung zwischen älterer und jüngerer Generation gleichsam von rückwärts her wieder in Gang gebracht.
Wenn von einem gebrochenen Verhältnis der westdeutschen Gesellschaft zur „Nation“ gesprochen werden kann, bezieht sich dies ganz überwiegend auf die starken intergenerativen Spannungen in der Apperzeption nationaler Werte. Zwischen der Kriegsgeneration und den mehr als zwei Dritteln der westdeutschen Bevölkerung, die Kriegs-und Nachkriegszeit nicht mehr bewußt erlebt haben, liegt notwendigerweise eine grundlegend verschiedene Auffassung der für das nationale Selbstverständnis konstitutiven Elemente. Dasselbe gilt von denjenigen, die in und nach dem Zweiten Weltkriege die angestammte Heimat verlassen mußten, und den Nachgeborenen, die mit wenigen Ausnahmen keine innere Beziehung zu ihrer landschaftlichen Herkunft haben. Vor allem aber sehen sich die Jüngeren, die heute zunehmend gesellschaftliche und politische Führungspositionen in der Bundesrepublik einnehmen, nicht mehr mit dem Zwiespalt zwischen der Verstrickung in die nationalsozialistische Gewaltpolitik und dem Festhalten an der nationalen Loyalität, die allein als innere Rechtfertigung für ihre Haltung im Dritten Reich dienen kann, belastet. In seiner Rede zum Volkstrauertag hat Carlo Schmid eindrücklich vor der Vorstellung gewarnt, als könnten sich die Jüngeren „aus der Haftung für die Folgen der Schuld, die eure Väter auf sich luden, durch die Einrede befreien“, an den damaligen Vorgängen unbeteiligt gewesen zu sein. „Wer sich zu seiner Nation bekennt fügte er hinzu, „kann sich nicht darauf be: schränken, nur die Aktivposten in der Bilanz des nationalen Erbes für sich einzuheimsenis hat auch — so schwer dies sein mag — für die Passivposten dieser Bilanz geradezustehenBemerkenswerterweise ist es gerade die vielfältige Erfahrung der nachfolgenden Generationen, mit den Konsequenzen der nationalsozialistischen Politik allenthalben konfrontier zu sein, die sie an den gesamtnationalen Zu sammenhang erinnert, in dem sie stehen; daraus fließt mehr Realisierung nationaler Zugehörigkeit als aus den schwächlichen Bestrebungen, für ein Vergessen dieser Vorgänge z plädieren und gegenseitige Schuldkonten z« errichten. Es ist auch diese gemeinsame un geschichtlich keineswegs überwundene fahrung, die die Bürger der Bundesrepu und der DDR zusammenbindet, trotz aller 6 mühungen der DDR-Führung, allein die bun desrepublik mit dem nationalsozialistischen Erbe zu belasten.
In diesem Zusammenhang sind die unterschiedlich akzentuierten Bestrebungen der DDR zu erwähnen, an bestimmte national-kulturelle Traditionen anzuknüpfen und diese nicht ohne gewisse innere Widersprüche mit der Zielsetzung des sozialistischen Patriotismus zu verbinden’ Dies geschieht gutenteils aus einer Position der Schwäche heraus. Denn es ist evident, daß die DDR noch weniger als die Bundesrepublik die Nachfolge einer ungeteilten national-kulturellen Tradition antreten kann. Indessen gibt es Anzeichen dafür, daß gesamtnationale Einstellungen in der DDR gegenüber dem sich herausbildenden nationalen Teilstaatsbewußtsein wesentlich stärker sind als in der Bundesrepublik. Man wird die damit zusammenhängende stillschweigende Legitimitätskrise nicht überbewerten, da das Festhalten an der gesamtnationalen Tradition begreiflicherweise bei gesellschaftlich residualen Gruppen der Bevölkerung überwiegt. Der bloße Appell an „gesamtdeutsche" Einstellungen dürfte daher die Bestrebungen zur ideologischen Abgrenzung nur verschärfen.
Betrachtet man unter diesen Gesichtspunkten den gegenwärtigen Entwicklungsstand der .deutschen Frage“, dann ist diese durch eine Reihe von einander teils überlagernden, teils gegenläufigen Tendenzen bestimmt. Das Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit der Deutschen in Ost und West ist lebendig geblieben, löst sich jedoch bei der jüngeren Bevölkerung, von einigen nationalistischen Protestminderheiten abgesehen, von der nationalstaatlichen Tradition des Bismarckreiches. Es findet nahezu keinen Niederschlag in dem Anspruch nach gesamtdeutschen Institutionen, wie dies für die Ost-CDU oder die gesamtdeutschen Arbeitskreise anderer Parteien und Verbände gegolten hat.
In der Bundesrepublik hat sich, ohne daß der Konflikt mit der gesamtnationalen Überliefe-
rung als besonderes Problem erscheint, ein geSelschaftliches Solidaritätsbewußtsein herausgebildet, das durchaus nationalen Charak« besitzt, dessen historische Dimension je-oh noch zu kurz bemessen ist, um als Mittel P itischer Integration bewußt eingesetzt zu " eden. Es wurzelt weit weniger im geistig-
tuturellen Erbe der Nation als im Selbstvers sndnis der bundesrepublikanischen „Lei-stungsgesellschaft". Die politische und rechtliche Aufrechterhaltung des gesamtdeutschen Vertretungsanspruchs und deren terminologische Konsequenzen haben bewirkt, daß der westdeutsche Nationsbildungsprozeß in den Medien und der politischen Programmatik von Parteien und Verbänden heruntergespielt wird.
Nationale Solidarität und nationales Bewußtsein — damit Nationalismus — erwachsen in der Regel aus der Gemeinsamkeit distinkter historischer Erfahrungen. Für beide deutschen Staaten gilt, daß Anknüpfungsversuche an positive geschichtliche Traditionselemente — Clausewitz, Gneisenau und Arndt in der DDR, Stein, Bismarck und Stresemann in der Bundesrepublik — künstlichen Charakter tragen, da sie aus der Sicht des 1945 gescheiterten deutschen Nationalstaats nur noch begrenzten historischen Symbolwert besitzen. Dabei darf übrigens nicht übersehen werden, daß sich in Deutschland auch vorher kein geschlossenes nationales Geschichtsverständnis herausbildete, die historische Abstützung des Nationalbewußtseins vielmehr zwischen groß-deutsch geprägtem „Reichsgedanken" und „kleindeutscher" Machtstaatsidee oszillierte. Die ursprüngliche Anknüpfung der Weimarer Republik an die Tradition der deutschen Revolution von 1848/49 wurde zwar nach 1945 erneuert, blieb aber ein bald überwundener Nachklang zum nationalen Selbstverständnis der Weimarer Republik
Das Fehlen einer nationalen geschichtlichen Tradition, die nicht durch den Wilhelminismus, die Weimarer Republik und das Dritte Reich gleichsam abgebraucht oder entwertet wurde, ist ein Kennzeichen des deutschen Nationalbewußtseins der Gegenwart, und hierin liegt die Schwäche aller Versuche, dasselbe durch einen vermehrten Rekurs auf die Historie zu kräftigen. Diese für die deutsche Entwicklung seit der Niederlage des vormärzlichen Liberalismus bezeichnende Konstellation wird zugleich durch das rückläufige Gewicht des klassischen Nationalstaats unter den Bedingungen zunehmender ökonomischer und politischer transnationaler Integration beeinflußt.
Der relative Gewichtsverlust des Nationalstaats ist eine allgemeine Erscheinung. Sie ergibt sich aus der anwachsenden internatio-nalen Politikverflechtung. Sie vollzieht sich einerseits auf dem Wege starrer transnationaler Bündnisbeziehungen, andererseits informell durch die steigende Bedeutung internationaler Wirtschaftsgruppen, die sich einer effektiven Kontrolle durch die Nationalstaaten und durch transnationale wirtschaftliche Zusammenschlüsse wie die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft entziehen. Wenngleich der Nationalstaat nach wie vor Träger der Souveränität ist, hat er doch seinen Handlungsspielraum in außenpolitischer und militärischer Beziehung weitgehend eingebüßt. Die drei klassischen Funktionen des Nationalstaats — die Gewährleistung von Schutz gegen militärische Aggression, die Sicherung der nationalen Ökonomie und die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts — hat er faktisch weitgehend an transnationale Institutionen abgegeben. Die gleichwohl weiterhin virulente nationalstaatliche Tendenz — dies betrifft vor allem die Dritte Welt — kann sich nur angesichts eines Gleichgewichts internationaler Mächtekonstellationen behaupten, das in der Regel die Lokalisierung peripherer Konflikte begünstigt
Im Innern tritt der Nationalstaat dem Bürger in Form einer verwaltenden und über erhebliche Anteile des Volksaufkommmens verfügenden Bürokratie, damit weitgehend anonym gegenüber. Die Bindekraft nationaler Symbole ist rückläufig. Traditionale Loyalitätsressourcen wie das Ansehen angestammter Dynastien verlieren an Gewicht. Mit zunehmender transnationaler Integration tritt neben die nationale Loyalität der Bürger deren Orientierung auf supranationale Bestrebungen, so wenig diese — wie der Europagedanke — ohne weiteres an die Stelle der angestammten Nationalismen rücken.
Entgegen der Erwartung, daß der nationale Gedanke, nicht zuletzt angesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges, jedenfalls in Europa zurücktreten werde, ist er nach wie vor eine bestimmende politische Kraft. Nur löst sich die'Bindung an die nationalstaatliche Struktur, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ausgebildet hat, zunehmend auf. Ihren Platz nehmen allenthalben regionale Nationalismen ein, die an ältere, abgebrochene Nationsbildungsversuche anknüpfen. Die flämische und wallonische Bewegung in Belgien, die baskische, katalanische und galizische
Autonomietendenz in Spanien, die zugleich die französische Baskenregion einschließt, die Ansätze zu einer bretonischen Autonomiebe, wegung, das Auftauchen von nationalen Autonomiebestrebungen in Schottland und Wales beweisen, daß auch in den klassischen westeuropäischen Nationalstaaten längst totgesagte Nationalitäten unter bestimmten Bedingungen politische Bedeutung gewinnen können
Daß in Südost-und Ostmitteleuropa unterdes Decke „brüderlicher“ Solidarität die Spannungen zwischen den Nationalitäten fortbestehen und vielfach nur durch weitgehende Autonomiezusagen abgefangen werden können, ist hinreichend bekannt. Auch in der So wjetunion wird diese Problematik in dem Maße in den Mittelpunkt rücken, wie der Industrialisierungsprozeß sowohl die ökonomische Disparität der einzelnen Regionen als auch die allgemeine soziale Mobilität erhöhen wird. Die Verschärfung des Nationalitäten-konflikts in Kanada und die Ansprüche, die einzelne Minderheiten — so die Puertorika ner und Indianer — in den Vereinigten Staaten erheben, machen deutlich, daß es sich um eine globale Tendenz zu steigender nationaler Differenzierung handelt, die sich vielfach innerhalb geschlossener Nationalstaaten vollzieht. Man wird diese Tendenz zu nationaler und regionaler Differenzierung als eine Reaktion auf die zunehmende Uniformierung des nationalstaatlichen Handelns wie der äußeren kulturellen und zivilisatorischen Ausgleichung die ja auch eine Einbuße spezifisch nationaler Identifikationsmonente enthält, betrachter müssen. Angesichts fortschreitender Rationa lisierung der äußeren Lebensverhältnisse gewinnt das Anknüpfen an regionale Besonder heiten und Traditionen einen eigentümlicher Reiz.
Parallel zu dem Aufstieg von als überwunden betrachteten Nationalitätsbestrebungen fin det sich eine ausgeprägte Tendenz zur Betonung der Eigenständigkeit der Regionen gegenüber den nationalstaatlichen Zentralverwaltungen wie einem weitgehend zentralisierten System öffentlicher Kommunikation. Die Rolle der Regionen im herkömmlich aus prägt zentralistisch regierten Frankreict nimmt ständig an Bedeutung zu, und am Beispiel Lothringens und des Elsaß läßt sich zeigen, wie stark der Wille zu regionaler PO 1 tisch-sozialer Gestaltung ausgeprägt ist. Aus der Beobachtung dieser gerade in der westlichen Welt hervortretenden Tendenzen ergibt sich die Schlußfolgerung, daß der Nationalstaat in seiner im 19. Jahrhundert entstandenen Form das Monopol auf nationale Loyalität nur noch bedingt beanspruchen kann. Dies ist für die Beurteilung der „deutschen Frage“ von grundlegender Bedeutung. Es spricht wenig dafür, daß die Erinnerung an Bismarcks kleindeutschen Nationalstaat tragfähig genug ist, um darauf eine „gesamtdeutsche" Politik mit dem Ziel der Wiedervereinigung abzustützen. Von Dieter Schmidt-Sinns ist mit Recht betont worden, daß der geeinigte Staat nicht . Normalität, sondern Ausnahmefall der deutschen Geschichte" gewesen sei 21). Zwar hat das wilhelminische Kaiserreich die historische Verbindung zur mittelalterlichen Reichs-tradition zu schlagen versucht, und es tat dies in der Absicht, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dominanten neoromantischen Stimmungen in den Dienst wilhelminischer »Weltgeltung" zu stellen. Wie ausgelaugt diese historische Reminiszenz ist, wird aus der Episode deutlich, daß die öffentliche Meinung in der Bundesrepublik keine Hand rührte, um die Mobilisierung der gesamtnationalen Tradition der Stauferkaiser für die Unterfütterung einer baden-württembergischen Staats-idee zu kritisieren, die mit der Veranstaltung der Staufer-Ausstellung angestrebt wurde.
Die Tatsache, daß die nationalistische Rechte der Weimarer Republik die innere Legitimation bestritt, in der Nachfolge des Kaiserreichs zu stehen, daß umgekehrt die nationalsozialistische Politik durch die Berufung auf die Bismarcksche Tradition diese definitiv entwertete, beweist die Hoffnungslosigkeit jedes Versuchs, die Bundesrepublik oder ein künftiges esamtdeutschland aus dieser historischen Perspektive begreifen und historisch legitimieren zu wollen. Die Bismarck-Gedenkfeier im Deutschen Bundestag von 1965 ist denn ben nine rückwärts gewandte Episode geblieben 22). Die in der Bundesrepublik verschiedentlich geäußerte Kritik an einem Mangel an historische
em Bewußtsein bezieht sich implizit auf — das Fehlen eines die politischen Richtungskonflikte übergreifenden geschichtlichen Selbstverständnisses. In den darüber geführten Debatten taucht häufig der Wunsch auf, zu einem mehr oder minder verbindlichen Geschichtsbild „zurückzugelangen". In dem erwähnten Antrag der nordrhein-westfälischen CDU-Fraktion war gerade von einem aus den Grundnormen der Landesverfassung abzuleitenden „Geschichtsbild" die Rede
Schon die Vokabel „Geschichtsbild" bedarf einer gründlichen Denunzierung, da sie impliziert, daß aus der nationalen Geschichte verbindliche Wertvorstellungen abzuleiten seien, was mit einer wissenschaftlichen Geschichtsbetrachtung unvereinbar ist. Zugleich hat der deutsche Nationalstaat kein einheitliches geschichtliches Selbstverständnis hervorbringen können. Der konfessionelle Gegensatz, die nachwirkenden dynastisch-territorialen Traditionen und die sozial-ökonomischen Unterschiede zwischen großagrarisch geprägten ostelbischen Gebieten und dem durch bäuerliche Selbständigkeit und städtische Entwicklung bestimmten Südwesten und Westen haben sich in einerausgesprochen starken historiographischen Differenzierung niedergeschlagen. Die Versuche — wie beispielsweise durch den „vaterländischen" Geschichtsunterricht im Kaiserreich — zu einer für alle Bevölkerungsgruppen verbindlichen Geschichtsansicht zu gelangen, hatten daher notwendig einen artifiziellen Charakter.
Historische Autostereotype haben für die Ausbildung des nationalen Selbstverständnisses konstitutive Bedeutung. Für das tschechische Nationalbewußtsein ist die Gegenüberstellung der kleinen „demokratischen" Völker als Hüter der Humanität zu den großen herrschenden Nationen, die zu autokratischen Strukturen tendieren, charakteristisch Im deutschen Nationalbewußtsein der vorbismarckschen Zeit spielten Reminiszenzen an die deutschen Stämme, obwohl es sich bei diesen überwiegend um Schöpfungen der frühneuzeitlichen Landesherrschaft und teilweise des territorialstaatlichen Absolutismus der napoleonischen Zeit handelte, eine bezeichnende Rolle-, mit der Formel „das deutsche Volk, geeinigt in seinen Stämmen" knüpfte der Vorspruch der Weimarer Reichsverfassung daran an. Der kleindeutsche Nationalismus des Bismarck-Reiches war schon 1914 mit dem Mitteleuropagedanken, in der Weimarer Zeit der Reichsidee einerseits, verstärkten partikularistischen Tendenzen namentlich in Bayern andererseits konfrontiert. Die klein-deutschen Imperialisten der Vorkriegszeit wandten sich nun im Zeichen der „Kulturnation" gegen die westliche „Staatsnation" und traten auf als Verfechter der „deutsch-slawischen" Schicksalsgemeinschaft. Max Hilde-bert Böhms Programm des „eigenständigen Volkes" bildete indessen ebensowenig eine ernsthafte Alternative zu dem von Hitler aufgegriffenen Programm des deutschen hegemonialen Imperialismus wie die korporative Reichsidee Otmar Spanns, die Heinrich Ritter v. Srbik unmittelbar der Legitimierung der nationalsozialistischen Großraumpolitik dienstbar machte
Diese Andeutungen lassen erkennen, daß die wechselnde politische Entwicklung Deutschlands seit der Schaffung des Deutschen Bundes von 1815 keineswegs zu einem einheitlichen Nationalbewußtsein, jedenfalls hinsichtlich dessen territorialen Geltungsanspruchs, geführt hat, an das ein in der Gegenwart propagiertes „gesamtdeutsches" Bewußtsein einfach anknüpfen könnte. Dies gilt um so mehr, als der Grundstrom des deutschen Nationalismus die deutsche Identität in der Abgrenzung gegenüber dem Westen, in der Hervorhebung eines eigenständigen deutschen verfassungsgeschichtlichen wie gesellschaftlichen Wegs gesucht hat, während seine demokratische Komponente darüber verkümmerte. Schon in Hitlers „Großgermanischem Reich deutscher Nation", nicht erst durch die in den Jahren des Kalten Krieges vollzogene deutsche Teilung, war der deutsche Nationalstaatsgedanke in seinen im 19. Jahrhundert geprägten Varianten preisgegeben, und die historischen Reminiszenzen der Reichsidee wurden von Heinrich Himmler in die Hybris des germanischen Elitekults gezogen, den die Kulturideologen der SS zur Abstützung unbegrenzter Groß, raumpläne entwickelten.
Die Auflösung des Deutschen Reiches im Mai 1945 resultierte in einer Neubelebung der partikularistischen Bestrebungen, die dadurch unterstützt wurde, daß die westlichen Alliierten sehr rasch die neu geschaffenen Länder politisch konstituierten, während sie die Entwicklung der Verbände und Parteien auf nationaler Ebene behinderten, ganz im Gegensatz zu der Politik der SMAD. Unabhängigvon dem entstehenden Kalten Krieg und der zunehmend hermetischen Abtrennung der SBZ von den Westzonen war die Frage der „deutschen Einheit" für Politiker und Parteien der ersten Nachkriegsjahre von untergeordneter Bedeutung. Im Gegensatz zu den Erwartungen Kurt Schumachers kam es nicht zur Entfaltung eines ausgeprägten gesamtdeutschen Nationalismus. Dies ermöglichte es Konrad Adenauer, die Politik der Westintegration ohne größere innenpolitische Widerstände zum Erfolg zu führen. Auch die SPD stimmte im wesentlichen mit der Linie überein, die Bundesrepublik zum ökonomischen Magneten zu machen, der die SBZ auf lange Sicht heranziehen und das Regime der SED unhaltbar machen würde. Hinter der politisch irrealen Forderung der „Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit" vermittels der Veranstaltung gesamtdeutscher Wahlen verbarg sich ein hohes Mab an politischem Quietismus.
Im Zuge des raschen wirtschaftlichen Aufstiegs der Bundesrepublik und in Anbetracht eines breiten innenpolitischen Konsensus, der sich auf den Gegensatz zum stalinistischen Totalitarismus berief und politische Konflikte, die das neu gewonnene demokratisch-parlamentarische System grundsätzlich in Frage stellten, tabuisierte, ergaben sich keine nennenswerten Legitimationsprobleme. Dies änderte sich erst mit der Studentenbewegung und dem Auftreten der kritischen Linken, die die Restauration der sozial-ökonomischen Struktur der 20er und 30er Jahre in der Gegenwart schärfster Kritik unterzog. Indessen ist das Bedürfnis, das bestehende gesellschaftliche und politische System durch den Rekurs auf ein „nationales Geschichtsfeld" zusätzlid zu legitimieren, erst im Zusammenhang mit der nach dem Auslaufen der linken Protestbewegung erfolgenden konservativen Rückwen düng weiter Teile der öffentlichen Meinung verstärkt aufgetreten.
In der Tat befindet sich die Bundesrepublikin sofern in einer Legitimitätskrise, als die blo e Beschwörung der Wiederaufbauleistung 111 den Jahren nach 1945 und die Tendenz, die .freiheitlich-demokratische Grundordnung“ in einem rückwärtsgewandten Sinne festzuschreiben, nicht ausreicht, um viele Angehörige der jüngeren Generation zu einem inneren Engagement für das bestehende gesellschaftliche und politische System zu gewinnen. Die Ausbreitung jugendlicher Subkulturen, die sozial isoliert sind, Drogenmißbrauch und konsumgesellschaftliches Sich-Treiben-lassen vieler Jugendlicher sind ein klares Symptom für diese Lage.
Es erscheint jedoch als unvertretbar, die sich in diesen Erscheinungen spiegelnde politische Identitätskrise durch die Wiederbelebung eines von seinen „Auswüchsen“ befreiten deutschen Nationalismus beheben zu wollen. Andererseits ist nicht daran zu zweifeln, daß das Fehlen eines ausgeglichenen nationalen Selbstverständnisses leicht dazu führen kann, daß nationale Indifferenz in emotionalen Nationalismus umschlägt. Das Gastarbeiterproblem bietet genug Anschauungsmaterial für solche Gefährdungen. Daß hierfür ein ungebrochenes und gleichwohl kritisches Verhältnis zur Geschichte der bestehenden Gesellschaft ein wichtiges Hilfsmittel ist, um Identifikationsprozesse in Gang zu bringen, ist unbestritten, hingegen sind die Chancen dafür unterschiedlich zu beurteilen. Indessen ist das historische Interesse, entgegen beredten Klagen vor allem aus den 50er Jahren, weit weniger abgesunken, als dies infolge der historischen Kontinuitätsbrüche in der deutschen Entwicklung seit dem Kaiserreich und den traditionsfeindlichen Auswirkungen der Industriegesellschaft anzunehmen wäre. Nur hat sich der Inhalt des historischen Interesses charakteristisch verlagert.
Die Tendenz zur Regionalisierung schlägt sich in der Bundesrepublik in der Erscheinung nie-er. daß die Geschichte der Regionen zunehmendes Interesse findet, wie sich auch das Be" ubtsein regionaler und lokaler Eigenständigeit verstärkt, ohne sich an die föderalistische lederung anzuschließen. Die Vielzahl von 0 al-und regionalgeschichtlichen Ausstelangen, die in den letzten Jahren veranstaltet " ur en °der gerade vorbereitet werden, be4tgt diesen Entwicklungstrend. Er hat in der ne menden Hinwendung der Geschichts-mesenschaft zu sozialgeschichtlichen Thenaj 0, die notwendigerweise zugleich regiop en Charakter haben, eine Entsprechung, kuitIshaften und institutionalisierte Formen komener Kooperation mit ausländischen munen deuten an, daß die Verstärkung des regionalen Eigenbewußtseins sich mit transnationalen Solidaritäten verbinden kann.
Angesichts dieser Konstellation spricht wenig dafür, daß eine Aktivierung von zentralen Themen der deutschen Geschichte — etwa im Zusammenhang mit der geplanten „Preußen" -Ausstellung — zu einer Intensivierung des „gesamtdeutschen“ Bewußtseins führt. Es kommt hinzu, daß es an einer ausreichenden geschichtlichen Legitimation des gesamtdeutschen Nationalbewußtseins, insofern es auf die Wiedergewinnung staatlicher Einheit abzielt, fehlt. Die regelmäßige Beschwörung der gemeinsamen kulturellen Tradition und der Spracheinheit ist nicht überzeugend, da sie Österreich und die deutschen Teile der Schweiz nicht ausklammern kann. Ebenso hilflos erscheint die von der Kultusministerkonferenz aufgenommene Formel von der deutschen Nation als „Staatsvolk“, das „keinen gemeinsamen Staat hat” 25). Die Hervorhebung eines „besonderen geschichtlichen Zusammenhangs der Deutschen in Ost und West" hingegen ist, abgesehen von der Selbstverständlichkeit territorial-und sozialgeschichtlicher Verbindungslinien, sicherlich das falsche Verfahren, um das Bewußtsein gemeinsamer historischer und kultureller Grundlagen der beiden deutschen Staaten zu bewahren und zu pflegen.
Die Verwendung der Begriffe „Kulturnation" und „deutsches Staatsvolk" steht vor der Schwierigkeit, den Geltungsbereich des „gesamtdeutschen" Nationalbewußtseins darzulegen. Mit derlei definitorischen und juristischen Erwägungen ist jedoch nichts gewonnen 26). Sie übersehen, daß das Bewußtsein nationaler Identität nicht von äußeren Kriterien abhängig ist. Nationalismen — und als solche sind alle Formen nationaler Bindungen zwischen sozial differenzierten Gruppen zu bezeichnen — haben besondere soziale Loyalitäten zum Gegenstand, die auf erleichterter Binnenkommunikation beruhen und in der Regel auf gemeinsame Herkunft, gemeinsame geschichtliche Erfahrungen und gemeinsame Sprache zurückgehen. Nationen sind keine festen Größen, wenngleich das Bewußtsein nationaler Zugehörigkeit in der Regel eine ausgeprägt hohe historische Konstanz aufweist. Die nach 1945 vollzogene österreichische Nationsbildung zeigt, daß — wie dies die Geschichte der Nationalismen in Europa seit dem ausgehenden Mittelalter erkennen läßt — größere nationale Einheiten unter bestimmten Bedingungen durch nationale Soli-darisierung geringerer Reichweite abgelöst werden. Es ist nicht vorauszusagen, welche der in unterschiedlichen historischen Phasen herausgebildeten nationalen Solidaritäten langfristig die größere Zukunft haben. Man wird sich jedoch darauf einstellen müssen, die klassischen europäischen Nationalstaaten als historische Erscheinungen zu betrachten, die durch konkurrierende nationale Solidarisierungen ersetzt werden können — ein Prozeß, der sich in unseren Tagen in Belgien und Spanien zu vollziehen scheint.
Die „deutsche Frage" ist ebenso durch die Existenz konkurrierender nationaler Solidaritäten von unterschiedlicher Reichweite geprägt. Der „kleindeutsche" Nationalismus, der in Anknüpfung an die staatsrechtlichen Gegebenheiten zum offiziellen Inhalt des Gedankens der Wiedervereinigung gemacht wird, ist nur eine unter mehreren Varianten. Ob er unter den geschilderten Bedingungen die Kraft hat, die sich abzeichnende Tendenz zur deutschen Binationalisierung zu verringern, muß offen-bleiben. Dies gilt um so mehr, als die Entwicklung der deutschen Nation stets durch konkurrierende nationale Vorstellungen geprägt war, die von bloßer kultureller Zusammengehörigkeit bis zum Reichsmystizismus reichte. Zur Begründung eines erstrebten nationalen Zusammenhangs zwischen den beiden deutschen Staaten wird man daher besser auf gegenwärtige politische und gesellschaftliche Interessen zurückgreifen als die staatliche Einheit aus der deutschen historischen Entwicklung zu deduzieren, in der sie kurzfristige Episode geblieben ist. Diese Interessen bestehen in ökonomischer, kultureller und sozialer Hinsicht. In ihnen spielen die Sicherung West-Berlins und das Problem der Freizügigkeit zwischen beiden deutschen Staaten eine maß. gebende Rolle. Rechtskontinuitäten zum Deutschen Reich wie die Staatsangehörigkeit und dergleichen sind keineswegs nur fiktiv, sondern von realer Bedeutung, da sie tatsächlichen sozialen Bedürfnissen Rechnung tragen. Eine interessenorientierte Analyse des Problems der „deutschen Einheit” kann freilich nur einen Teilaspekt desselben erschließen. Entscheidend für das Fortbestehen gesamtdeutscher Einstellungen in beiden Teilen Deutschlands ist die Wahrnehmung der Eigenständigkeit gegenüber benachbarten Völkern. Eine bloß die eigene Nationalgeschichte ins Auge fassende historisch-politische-Bildung bleibt daher introvertiert und kann das gesteckte Ziel, das Fortbestehen innerdeutscher Solidaritäten und Zusammenhänge aufzudecken, nicht hinreichend ausfüllen. Die Geschichte der deutschen Nation kann sinnvoll nur als Geschichte der in Mittel-und Ostmitteleuropa lebenden Völker und ihrer Beziehungen behandelt werden. Nur bei bewußter Preisgabe der nationalstaatlichen Begrenzung kann der Geschichtsunterricht die Aufgabe wahrnehmen, ein tieferes Verständnis des deutschen Problems zu vermitteln, ohne ungewollt in die Fußstapfen imperialistischer Zielsetzungen und mitteleuropäischer Chimären zu treten.