Das Manuskript wurde Ende Oktober 1979 abgeschlossen.
Kissingers Erinnerungen: Anspruch — Stellenwert — Realität
Vietnam und Kambodscha, China und die Sowjetunion — nicht Europa und die deutsche Frage: dies sind die beherrschenden, alles andere in den Hintergrund drängenden Themen des ersten Bandes der Memoiren des früheren Sicherheitsberaters Präsident Nixons und amerikanischen Außenministers Henry Kissinger, die Ende Oktober 1979 mit fast beispiellosem verlegerischen und publizistischen Aufwand in allen wichtigen Sprachen auf den Weltmarkt gebracht wurden
In den zahlreichen Interviews und Stellungnahmen, die der „beste Diplomat in der Geschichte der Vereinigten Staaten" (so die deutsche Verlagswerbung) vor deutschen Kameras und Mikrophonen gab, ist er immer wieder respektiert-höflich nach seiner Beurteilung der sozialliberalen Bonner Ostpolitik gefragt worden, Fragen übrigens, die der mit den Medien vertraute und gerade von der deutschen Presse überschwenglich hofierte Memoirenschreiber staatsmännisch-zurückhaltend (sprich: recht allgemein und oberflächlich) beantwortete Die Journalisten, die Kissinger interviewen durften, hatten offensichtlich sowohl die Mühe gescheut, sich durch die einschlägigen Abschnitte seines 1632-Seiten-Epos zu kämpfen, als auch die früheren Aussagen des Autors zum Deutschlandproblem nicht studiert, die allerdings seit 1968/69 nur noch spärlich geflossen sind
Es spricht für Kissingers psychologisches und taktisches Geschick sowie für die richtige Einschätzung seiner sorgfältig dosierten Medien-wirkung, daß er sich gerade auf deutschem Boden von den hiesigen politischen Parteien für deren jeweilige ost-und deutschlandpolitischen Vorstellungen nicht hat vereinnahmen und zum Kronzeugen für eine bestimmte ostpolitische Konzeption hat machen lassen.
Allerdings hat Kissinger schon früher nie ein Hehl aus seiner wohl auch politischen Sympa-thie für Franz-Josef Strauß und seiner Distanz zu Willy Brandt und Egon Bahr gemacht Im Gegensatz dazu ist sein Verhältnis zu Helmut Schmidt sichtlich von intellektuellem Respekt und einer wohlwollend-positiven politischen Wertschätzung gekennzeichnet.
Der zwiespältige Eindruck, den der aufmerksame Leser der ost-und deutschlandpolitischen Passagen des ersten Bandes der Kissinger-Memoiren gewinnt, verstärkt sich bei gründlicher Lektüre zusehends: Henry Kissingers Beschreibung und Wertung der Ost-uni Deutschlandpolitik der Regierung Brandt/Scheel ist nicht immer logisch-schlüssig, teilweise in sich widersprüchlich und zweideutig, häufig spekulativ und in einigen Punkten -was Fakten und Vermutungen betrifft — sogar falsch. Dennoch ist sein mit beinahe fanatischer Detailbesessenheit geschriebenes zeitgeschichtliches Monumentalwerk eine wahre Fundgrube vor allem für Politologen und Historiker, die sich mit der internationalen Politik der letzten zehn Jahre und insbesondere mit der deutschen Ostpolitik beschäftigen-Pflichtlektüre für alle, die sich für Perzep-tions-, Entscheidungs-und Aktionsmuster amerikanischer Politik der Gegenwart interessieren. An einigen Stellen haben den Verfasser bei der nur etwa knapp 40 Buchseiten umfassenden Schilderung der konzeptionellen und operativen Entwicklung der deutschen Ostvertragspolitik und der Berlin-Verhandlungen der Vier Mächte offenbar seine umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen im Stich gelassen — oder aber: Kissinger war selbst nicht immer und voll in seine eigenen zahlreichen Informations-„Kanäle''eingeschaltet (die er in seinem Buch euphorisch und minuziös offen-legt), mit deren Hilfe er die außenpolitische Bürokratie und Diplomatie seines Landes kurzschloß", sie umging, ja immer wieder bewußt manipulierend ausschaltete, um auf direktem Draht mit den verantwortlichen Entscheidungsträgern anderer Staaten in Kontakt zu treten. Daß dieser Stil der Täuschung, Hintergehung und trickreichen Manipulation der ,, Belagerungsmentalität" und dem Verfolgungswahn eines von Selbstzweifeln zerquälten Präsidenten im Weißen Haus (so Kissinger über Nixon) entgegenkam, gibt Kissinger anhand unzähliger Beispiele von Anfang an offen zu.
Die Tatsache, daß vieles, was der ehemalige Sicherheitsberater über die Ostpolitik Bonns behauptet, so nicht oder nur teilweise so abgelaufen ist, daß er schon infolge der permanenten Arbeitsüberlastung seines knapp 30-köpfigen hochqualifizierten Stabes und Kissingers eigener, gleichfalls ständiger Überbeanspruchung als außenpolitischer Planer und Exekutor sowie seiner Ablenkung durch bedeutendere internationale Ereignisse, Verhandlungen und Krisenschauplätze (China, Vietnam, SALT, Nahost, Chile) der Bonner Entspannungspolitik mit dem Osten gar nicht genügend Aufmerksamkeit und operative De-tailbeachtung schenken konnte und daß er schließlich bei der Vielzahl seiner „Kanäle" gelegentlich die Übersicht verlieren mußte — all dies muß fast zwangsläufig den deutlich hervortretenden Anspruch Kissingers reduzieren, ein vollständiges und zutreffendes Tableau des ostpolitischen Verhandlungsprozesses und seines eigenen Anteils daran zu geben. Vor allem im Kapitel über die Viermächteverhandlungen über Berlin wird dies exemplarisch deutlich — ein Kapitel, das allerdings nicht nur für Zeitgeschichtler zu den informativsten und interessantesten Teilen des ganzen Werkes gehört. In diesen ebenso lesenswerten wie letztlich „verräterischen" Passagen streicht Kissinger seine Rolle im diplomatischen Poker mit der Sowjetunion heraus und degradiert fast alle übrigen diplomatischen Verhandlungspartner — mit wenigen Ausnahmen (Kenneth Rush) — zu Statisten und bloßen Stichwortgebern.
Kissingers „Kernbefürchtung“: Nationalismus, Destabilisierung, Neutralisierung Schon seit geraumer Zeit ist die Vermutung vielfach belegt worden, daß Henry Kissinger der Brandt'schen Ostpolitik zumindest am Anfang sehr skeptisch, wenn nicht kritisch-ablehnend gegenüberstand Kissingers Denken in Kategorien des klassischen machtpolitischen Gleichgewichts — gespeist von einer auf Kant zurückgehenden Philosophie der „Imperative" — mußte folgerichtig in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht die bilaterale Ostpolitik der Bundesrepublik als „Störelement" im beginnenden globalen Dialog mit der Sowjetunion perzipieren, das es, wenn nicht ganz auszuschalten, so doch unter weitgehender Kontrolle zu halten galt.
Die Argumente, die Kissinger bereits damals — wenn auch nicht öffentlich — für seine Haltung ins Feld führte, lassen sich auf eine mehrschichtige „Kernbefürchtung" reduzieren: Einmal konnte bzw. mußte das rasche Vorpreschen der neuen Regierung in Bonn und ihr Ausbrechen aus dem von Kissinger entworfenen „linkage'-Konzept (gemeint ist die Verknüpfung der spezifischen Verhaltensweisen der Sowjetunion in den verschiedenen Teilen der Welt mit den abgestuften Reaktionsweisen der amerikanischen Führung) den solidarischen Zusammenhalt der westlichen Allianz schwächen, eine abgestimmte multilaterale Entspannungspolitik des Westens (sprich: der USA) unmöglich machen, dem latenten deutschen Nationalismus neue Nahrung geben, der Sowjetunion die Möglichkeit einer „selektiven Entspannung" mit der Bundesrepublik Deutschland eröffnen und durch zu massive deutsche Zugeständnisse bei den Verhandlungen in Moskau die gesamte Entspannungspolitik Bonns nicht mehr kalkulierbar machen, d. h.den bündnispolitischen Preis dafür letztlich den USA aufbürden
Eine sorgfältige Lektüre der entsprechenden Abschnitte in seinem, den Leser mit Details fast erschlagenden, aber nicht ohne Faszination zu lesenden Buch erbringt den Nachweis, daß Kissinger diese „Gefahren" in der Tat gesehen hat und sein Perzeptionsmuster im Kern zutreffend geschildert wurde: ein nicht mehr kontrollierbares dynamisches Aufleben des deutschen Nationalismus (verbunden mit einer neuen Schaukelpolitik Deutschlands) (S. 441), dessen innenpolitische Destabilisierung (ebd.), die dadurch eröffnete Möglichkeit für die Sowjetunion, mit einer gezielten „selektiven Entspannung" das westliche Bündnis zu spalten und die Vereinigten Staaten zu isolieren (S. 442), die Bestätigung des Status quo ohne Rücksicht auf amerkanische Interessen (S. 449), Brandts zu engagierte ostpolitische Begeisterung, Zielstrebigkeit und Schnelligkeit, die — so Kissinger — „seine Verhandlungsposition schwächte" (S. 443 und 568) und schließlich die Gefahr einer Abspaltung der Bundesrepublik vom Westen und ihre Neutralisierung (S. 565)
Das „gebrochene" Verhältnis zu Bahr unt Brandt Egon Bahr, den Architekten und einflußreich sten Unterhändler der Bonner Ostpolitk, por traitiert Kissinger mit kaum verhüllter, fas schroffer Abneigung, was den Leser erstaunt war es doch gerade Bahr, der als Kissinger wichtigster Ansprechpartner auf deutsche Seite fungierte und auf einem besondere! Kommunikations-,, Kanal" mit Präsident Ni xons Sicherheitsberater verbunden war. Bahr Eitelkeit, so der Memoirenschreiber, , ver führte ihn dazu", mit seinen guten Beziehun gen zu sowjetischen und ostdeutschen Person lichkeiten „zu protzen"; „viele mißtrauten sei ner angeblichen Verschlagenheit Bahr ge hörte zwar zu den Linken, aber ich hielt ihn je doch vor allem für einen deutschen Nationalisten, der Deutschlands zentrale Lage ausnut zen wollte, um mit beiden Seiten zu feilschet ... Offensichtlich war Bahr kein überzeugte, Anhänger der westlichen Gemeinschaft wie die Politiker, die wir aus den früheren deutschen Regierungen kannten; er war auch frei von allen gefühlsmäßigen Bindungen an die Vereinigten Staaten (S. 443).
Diese deutliche Abqualifizierung Bahrs scheint den psychologisch durchaus verständlichen Schluß zu erlauben, daß Kissinger bei Bahr wohl Wesenszüge diagnostiziert hat, die ihm selbst nicht völlig fremd waren: Der Hang zur Geheimdiplomatie und zu konspirativen Verhaltensweisen (S. 857), die strategische Intelligenz, die zahlreichen inoffiziellen Kontakte zur „anderen Seite", der verhandlungstechnische Trickreichtum, die Vorliebe fürunkonventionelle diplomatische Aktivitäten etc Kissingers Feststellung, es habe ihm „nicht an Selbstvertrauen" gefehlt, „Bahrs Takti zu be gegnen" (S. 443), weist in -diese Richtung. Auch zu Willy Brandt fanden sowohl Nixon als auch Kissinger kein persönliches Verhält nis, im Gegenteil: „Nixon hatte Vorbehalte ge gen Persönlichkeiten, die er der Linken zuord nete, und Brandts Gewohnheit, lange Pausen des Schweigens einzulegen, machte ihn ner vös" (S. 457). Als Ende Januar 1970 der britische Premierminister Harold Wilson " shington besuchte, bemerkt Kissinger:stellte Nixon Brandts Ostpolitik so vorteilha dar, als gäbe es gar keine andere Möglichke Nixon, der sein Mißtrauen gegenüber Bran nicht überwunden hatte, sagte nur, daß er sIC dieser Politik nicht widersetzen würde“ (S. 449). Auch politisch stößt der ehemalige deutsche Bundeskanzler bei Kissinger auf wenig Resonanz. Brandt habe, so formuliert der Autor, „seine Politik so begeistert und zielstrebig verfolgt(e), daß es seine Verhandlungsposition schwächte" (S. 443).
Der westdeutsche Regierungschef wollte — so Kissinger — die Berlin-Verhandlungen beschleunigen, „um sie als Hebel zu benutzen und, wenn notwendig, uns die Verantwortung für ein Versagen seiner Ostpolitik zuzuschieben" (S. 568). Bereits im Januar 1977 hatte Kissinger in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor der „politischen Romantik“ Brandts und deren gefährlichen Auswirkungen auf die von ihm mitentworfene westliche Entspannungspolitik gewarnt
Die Diskrepanz: Zustimmung zum ostpolitischen Konzept, deutliche Skepsis gegenüber dessen operativer Realisierung
Auf einen Nenner gebracht, umreißt Kissinger seine nicht immer konsistent wirkende Haltung gegenüber der Bonner Ostpolitik ab 1969 so: „Langfristig war die von Brandt angestrebte Versöhnung in Mitteleuropa historisch richtig •••“ (S. 443). Die sich abzeichnende und bereits spürbare Isolierung der Bundesrepublik durch ihr Festhalten an der strikten Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR trieb sie „zunehmend in Konflikte mit ihren Verbündeten und den neutralen Staaten ... Bonn hätte sich, wenn es diesen Kurs weiterverfolgt hätte, unter Umständen in einer Krise mit dem Osten praktisch allein gesehen. Es war Brandts historisches Verdienst, daß er die Deutschland aufgezwungenen Belastungen und Ängste auf sich genommen hat“ (S. 442). Mit dem Abschluß des Moskauer Vertrages vom 12. August 1970 hatte die Bundesrepublik — so Kissinger — „ihren Rubikon (sic!) überschritten; sie hatte die Teilung Deutschlands anerkannt S. 589n Status Tuo in Mitteleuropa besiegelt" bonn „hatte seinen Vorrat an Zugeständnissen erschöpft und war nicht mehr in der Lage, von ks noch mehr zu verlangen. Die Offentlichei in Deutschland war zum großen Teil der 1 enung, daß der Vertrag mit der Sowjetunion nausgewogen sei; Bonn hatte auf nationale •^Sprüche verzichtet und dafür nur eine Vertesrung der Atmosphäre und eine Erleichgelngbei den innerdeutschen Kontakten einroandelt, die ohnedies niemals hätten unter-den werden dürfen" (S. 569/570).
Kissinger konzediert — mit der von Großmut diktierten Einsicht eines sonst unfehlbaren Staatsmannes, so will es scheinen —, daß er „große Zweifel an der Ostpolitik hatte, als sie anfing... Auf der anderen Seite, als ich mir das Problem überlegte, wurde mit klar, nicht mit größter Freude, aber intellektuell klar, daß es für Deutschland keine Alternative gab, denn die Fortsetzung der Politik der Nichtanerkennung hätte zu Krisen geführt, in denen ihre westlichen Verbündeten sie nicht unterstützt hätten und die Deutschland völlig isoliert hätten. Deshalb kam ich zu der Überzeugung, daß die Politik von Brandt und Bahr in der Konzeption die richtige war. Und tat mein Bestes, die Politik zu unterstützen .. " „Ich kann nicht behaupten, daß ich sofort zu dieser Einsicht gelangt bin. Aber nachdem ich das Unvermeidliche erkannt hatte, versuchte ich, es durch die enge Zusammenarbeit mit Brandt und seinen Kollegen in eine konstruktive Richtung zu lenken" (S. 442).
Im Klartext: Unter den damaligen Bedingungen und Umständen war die ostpolitische Konzeption Brandts und Bahrs wohl richtig und unvermeidlich deshalb galt es ihre Realisierung, ihre operative Umsetzung in Kissingers Sinn zu beeinflussen und so weit wie möglich zu kontrollieren.
Daß die Verhandlungsführung auf deutscher Seite aus Kissingers Sicht durchaus mangelhaft war, daß die Bonner Entscheidungsträger (hier sind ausschließlich Brandt und Bahr gemeint) zu euphorisch und zu rasch ans Werk gingen und schon dadurch ihre Verhandlungsposition schwächten, daß Bahr durch Kissingers Vertrauensmann in Bonn, Botschafter Rush, vor allem während der Berlin-Verhandlungen „gebremst" und „von selbständigen Unternehmungen, zu denen er neigte" (S. 877), abgehalten werden mußte — all dies läßt den zwingenden Schluß zu, den Kissinger zwar nicht expressis verbis, aber doch unüberhörbar andeutet: Nur ein Unterhändler vom staatsmännischen Format eines Henry Kissingers wäre in der Lage gewesen, derartig komplizierte Verhandlungen mit den Sowjets erfolgreich abzuschließen. Den Eindruck, daß Egon Bahr bei seinen schwierigen Gesprächen mit einem Diplomaten vom Kaliber Andrej Gromykos von Anfang an so gut wie auf verlorenem Posten stand, suggeriert Kissinger kaum verhüllt durch seine detaillierte Beschreibung der verhandlungstechnischen wie taktischen Fähigkeiten und Qualitäten des sowjetischen Außenministers (S. 838— 841), die sich diametral von der negativen Zeichnung des Bahr'schen Verhandlungsstils abhebt und somit das Urteil über das Verhandlungsgeschick und den Verhandlungserfolg des deutschen Unterhändlers getrost dem Leser überlassen kann.
Kissingers Widerlegung der oppositionellen Schlüssel-„Argumente": Umfassende Informierung des amerikanischen Verbündeten und Zwang zur Modifizierung des ostpolitischen Konzepts 1968/69
Inwiefern tragen nun Kissingers Aussagen, die nahezu frei von jedem Selbstzweifel zu sein scheinen und fast ausschließlich der Rechtfertigung des eigenen Perzeptionsmusters und seines eigenen politischen Handelns dienen (ein Eindruck, der sich dem Leser auch bei der Lektüre der übrigen Passagen der Memoiren aufdrängt), zur Bestätigung oder Modifizierung des gegenwärtigen ost-und deutschlandpolitischen Forschungsstandes bei?
Zunächst räumt Kissinger selbst nachdrücklich mit dem immer wieder, teilweise pole-misch-unterstellend gegen die sozialliberale Koalitionsregierung ins Feld geführte Argument auf, die damalige Regierung Brandt/Scheel habe den amerikanischen Verbündeten nicht ausreichend bzw. völlig ungenügend informiert und Washington im Unklaren über ihre wahre Absichten und Ziele gelassen.
Kissinger: Bereits am 13. Juni 1969, d. h. zwei Monate vor den Bundestagswahlen, habe der FDP-Vorsitzende Walter Scheel in einer Unterredung mit Nixon von der Notwendigkeit eines außenpolitischen Richtungswechsels und einer Aufgabe der Hallstein-Doktrin gesprochen (S. 440).
Noch vor der Übernahme der Amtsgeschäfte durch das neue Kabinett Brandt/Scheel habe dann der zukünftige Bundeskanzler am 13. Oktober 1969 die amerikanische Führung gebeten, seinen persönlichen Vertrauten Egon Bahr zu empfangen, der seine amerikanischen Gesprächspartner (vor allem Kissinger persönlich) ausführlich über die beabsichtigten neuen ostpolitischen Initiativen unterrichtete. Schon bei dieser Gelegenheit sei vereinbart worden, „daß Brandt sich laufend mit uns beraten sollte und wir mit ihm Zusammenarbeiten würden" (S. 444). In der Folgezeit informierte Brandt persönlich am 10. und 11. April 1970 in Washington die amerikanische Führung über den Fortgang seiner Politik (S. 457/458), während Egon Bahr am 8. April privat Kissinger ausführlich über seine Moskauer Gespräche in Kenntnis setzte. Offenbar erwähnte er hierbei seine drei Gromyko übergebenen „non-papers" nicht — vom sowjetischen Botschafter in Washington, Dobrynin, seinem engsten „Ka. nal" -Partner, erfuhr Kissinger wenig später von deren Existenz (S. 568). Dennoch unterrichtete Bahr, wie der Verfasser detailliert belegt, Kissinger vertraulich und über einen direkten geheimen Draht über alle wesentlichen Einzelheiten der bilateralen Bonner Ost-politik (S. 567). Auch „Brandt selbst hielt uns ständig auf dem laufenden und zerstreute damit die schlimmsten (sic!) Befürchtungen'(S. 566).
Kissingers Vorwurf, die Regierung in Bonn habe Washington eher unterrichtet, „als daß sie uns konsultierte. Sie teilte uns ihre Fortschritte mit, bat uns aber nicht um Rat" (S. 566) wurde von Bahr bereits früher richtiggestellt „Die Frage unserer bilateralen Ostpolitik war keine Frage der Konsultation, sondern eine Frage der Information. Wir sind ja kein Satellitenregime und es gibt Punkte, über die kann man informieren, soll es auch tun, aber man muß dies nicht konsultieren, zumal es kein Punkt war, der das Bündnis berührte." Offenbar war Kissinger selbst nicht immervoll im Bilde und wurde im Gegenzug für die von ihm praktizierte Übergehung des Außenministeriums vom State Department aus dessen Informations-und Kommunikationsnetz ausgeschaltet. Wie der frühere Parlamentarische Staatssekretär und spätere Staatsministerin Auswärtigen Amt, Karl Moersch, berichtet hatte sich das Auswärtige Amt wiederholtbei Außenminister Rogers und seinen Beamten. Rat geholt, ohne jedoch bei Kissinger persönlich vorstellig zu werden 20). Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist der Sicherheitsberater.), xons vom State Department auch nicht über die detaillierten und sehr intensiven Beratur. gen auf Beamtenebene in der fast täglich z sammentreffenden Bonner Vierergruppe informiert worden, bzw. las die entsprechen 6 Telegramme nicht, wo alle relevanten ost-und deutschlandpolitischen Texte „Wort für Wort" abgestimmt wurden
Daß Kissinger trotz des von ihm immer wieder fast lustvoll beschriebenen chaotischen außenpolitischen Entscheidungssystems und Verfahrens in Washington, in dem sich alle Beteiligten anscheinend nur in der Absicht zusammengefunden hatten, um die konkurrierende Bürokratie aus dem eigenen „Kanal" -System möglichst effektiv auszuschalten, gleichwohl die eingehende, ständige und persönliche Unterrichtung durch die Regierung Brand/Scheel ausdrücklich erwähnt, zerstört endgültig die einschlägige Legendenbildung. Auch in einem weiteren wesentlichen Punkt stützt der Memoirenautor die Argumentation der sozialliberalen Koalitionsregierung in Bonn. Nüchtern und mit sehr deutlichen Worten bestätigt er, daß die Bundesrepublik mit ihrer Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre zunehmend in die Isolierung geriet, weil zentrale Bestandteile der deutschen Position im westlichen Bündnis auf immer stärkeren Widerspruch stießen.
Unverblümt geht Kissinger mit der noch Anfang der sechziger Jahre von CDU/CSU-Regierungen betriebenen Politik ins Gericht:
„Die immer noch regierenden Christlichen Demokraten hielten jedoch starr an den politischen Maximen der 50er Jahre fest. Ihr an Besessenheit grenzender Eifer, die einmal eingeschlagene Richtung beizubehalten, erregte die Ungeduld einer amerikanischen Regierung, die neue Perspektiven eröffnen wollte ..
(S. 109). Der von Kissinger zutreffend analysierte objektive und nicht selbstauferlegte Zeitdruck, unter dem die neue Regierung in Bonn Ende 1969 stand, ist vielfach beschrieben und belegt worden und braucht an dieser Stelle nicht mehr näher behandelt zu werden Der Argumentationsbruch bei Kissinger: Realistische Beurteilung der ostpolitischen Ausgangsposition 1969 — zweifelhafte Schlußfolgerungen
Angesichts dieses vom Verfasser selbst diagnostizierten, immer kleiner werdenden Ver-handlungsspielraums der Bundesregierung für ihre bilateralen Sondierungen mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin verwundert Kissingers Bestandsaufnahme: „Die Bundesrepublik hatte ihren Rubikon überschritten (siel); sie hatte die Teilung Deutschlands anerkannt und den Status quo in Mitteleuropa besiegelt ... Bonn hatte auf nationale Ansprüche verzichtet und dafür nur eine Verbesserung der Atmosphäre und eine Erleichterung bei den innerdeutschen Kontakten eingehandelt, die ohnehin niemals hätten unterbrochen werden dürfen" (S. 569/570).
Ein kurzer Blick auf die Fakten soll dokumentieren, daß Kissinger sich offenbar nur äußerst unvollständig in die deutsche Situation Ende 1969 hineinversetzen kann und die Ausgangssituation der Regierung Brandt/Scheel eher mit idealtypischen, historisch-objektiven Kriterien als an den konkret gegebenen praktisch-politischen Voraussetzungen jener Zeit mißt:
Bereits die Regierung Erhard, vor allem aber das Kabinett Kiesinger/Brandt hatte unwiderruflich entscheidende Elemente der bisher betriebenen Ostpolitik geändert: Hallstein-Doktrin und Alleinvertretungsanspruch wurden als wichtigste Stützen der Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Rumänien (Januar 1967) und Jugoslawien (Januar 1968), durch die beiden Briefe Bundeskanzlers Kiesingers an DDR-Ministerpräsident Stoph vom Juni und September 1967 sowie durch die Anerkennung der DDR durch Kambodscha (Mai 1969) so stark relativiert, daß ihre Glaubwürdigkeit als Sanktionsinstrumente auf dem Spiel stand und sie nicht mehr — es sei denn deklamatorisch — als Verhandlungsobjekte eingesetzt werden konnten.
Ausgangspunkt der sozialliberalen Deutschlandpolitik. war die innerdeutsche Lage im Oktober 1969 und die Suche nach pragmatischen Möglichkeiten zu ihrer qualitativen Verbesserung. Das Entstehen zweier Staaten mit unterschiedlichen, ja antagonistischen Gesellschaftssystemen, die in den sechziger Jahren von der DDR systematisch perfektionierte Abtrennung ihres Territoriums durch Mauer und Stacheldraht sowie die damit verbundene fast völlige Unterbindung jeder Art von innerdeutscher Kommunikation waren charakteristische Bestandteile dieser Situation, welche die SPD/FDP-Koalition Ende 1969 angetroffen hat. Sie ging davon aus, daß sie ebenso wenig wie frühere Bundesregierungen in der Lage sein würde, auf die Ausübung der Hoheitsgewalt in der DDR direkten Einfluß zu nehmen. Daß die DDR in ihren damaligen Grenzen Ho15 heitsgewalt ausübte und eine Regelung des gegenseitigen Verhältnisses nur möglich war, wenn beide Teilstaaten die innere Kompetenz des jeweils anderen Regimes stillschweigend akzeptierten, kann sicherlich nicht ernsthaft bestritten werden. Alle genannten Strukturelemente der innerdeutschen Konstellation in der zweiten Hälfte des Jahres 1969 gingen der dann eingeleiteten Vertragspolitik mit der DDR voraus und wurden durch sie logischer-weise nicht aufgehoben. Deshalb konnte es in der Folgezeit nur darum gehen, auf dem Grundsatz der Gleichheit und Gleichberechtigung in jenen Bereichen voranzukommen, in denen entweder ein gemeinsames Interesse bestand oder wo sich divergierende Interessen zu einem beiderseits akzeptablen Kompromiß verbinden lassen würden.
Als einziges Handelsobjekt, das im nun beginnenden innerdeutschen Dialog operativ einsetzbar war, bot sich für die Bonner Entscheidungsträger das zeitlich begrenzte und vorwiegend taktisch motivierte Festhalten an der auswärtigen Nichtanerkennungspolitik an, um für deren Aufgabe, d. h. für die Deblockierung der Außenbeziehungen der DDR, einen befriedigenden innerdeutschen modus vivendi zu erreichen („Scheel-Doktrin"). Mit dieser Koppelung konnte gerade noch rechtzeitig (mit der Paraphierung des Grundlagenvertrages Anfang November 1972) die von Kissinger treffend diagnostizierte „tiefe Kluft zwischen dem erklärten Ziel der Bundesrepublik, der Wiedervereinigung Deutschlands, und den Aktionsmöglichkeiten, das zu erreichen" (S. 109), überbrückt und das Sonderverhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten formalisiert werden, ehe die DDR als statusgleicher Partner an der KSZE-Vorbereitungskonferenz Ende November 1972 in Helsinki teilnahm. Die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die von der Bundesregierung aus juristischen Gründen im Moskauer Vertrag gar nicht ausgesprochen werden konnte und erst im Warschauer Vertrag vom 7. Dezember 1970 erfolgte, war offensichtlich nur von sehr begrenztem Verhandlungswert, zumal die drei Signatare des Potsdamer Abkommens vom August 1945 mit der dort beschlossenen und damit legalisierten Massenvertreibung der deutschen Bevölkerung aus den ehemaligen Ostgebieten die Oder-Neiße-Linie de facto anerkannt hatten und sie in der Folgezeit als nicht mehr korrigierbares Faktum betrachteten
Ob Bahr in Moskau mehr hätte erreichen können, ist — so Kissinger — „sehr schwierig zu sagen. Man kann nie beweisen, was in einer Verhandlung möglich war, und mit diesem taktischen Problem befaßte ich mich nicht in meinem Buch" Letztlich wird diese Frage bzw.der darin implizit zum Ausdruck kommende häufig wiederholte Vorwurf relativ zuverlässig erst nach Vorliegen der entsprechenden Aktenpublikationen und Verhandlungsprotokolle beantwortet werden können. Tatsache aber ist — und dies zeigt schon ein Blick auf die Ausgangspositionen beider Seiten —, daß die Sowjetunion im Moskauer Vertrag ihre vordringlichsten Ziele nicht hat erreichen können. Es ist ihr weder gelungen, die Bundesrepublik zu einem endgültigen Wiedervereinigungsverzicht zu veranlassen, noch erhielt sie von Bonn die völkerrechtliche Anerkennung der umstrittenen europäischen Nachkriegsgrenzen und Territorien. Die „deutsche Option" bleibt gewahrt, die Regierung Brandt/Scheel hat sich nicht zur Aufgabe ihrer politischen Ziele und Rechtstitel nötigen lassen
Kissinger irrt überdies, wenn er behauptet, daß die Öffentlichkeit in Deutschland „zum großen Teil der Meinung" gewesen sei, „daß der Vertrag mit der Sowjetunion unausgewogen sei” (S. 569). Das Gegenteil war der Fall
Ebenfalls unzutreffend ist seine These, daß sich Brandt, „ermutigt durch den günstigen Ausgang von Landtagswahlen im Juni“, entschlossen habe, „in die letzte Phase seiner Verhandlungen mit der Sowjetunion einzutreten" (S. 569). Der negative Ausgang der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und im Saarland vom 14. Juni 1970 — die SPD erlitt Einbußen von etwa 3 Prozent, die FDP gelangte in Niedersachsen und im Saarland nicht mehr in den Landtag — schwächte das Bonner Koalitionsbündnis sowohl psychologisch als auch politisch und führte zu weiterer Destabilisierung der Koalition
Argumentation im Spannungsverhältnis zwischen Staatsmann und Historiker Auch Kissingers Auffassung, es habe „im Wesen der Ostpolitik" gelegen, „daß die realen Vorteile offensichtlich nur auf einer Seite lagen — schließlich erkannte Bonn die Teilung Deutschlands an und bekam dafür nichts als Verbesserungen in der politischen Atmosphäre .. (S. 876) —, vermag nicht zu überzeugen, da sie den hohen Stellenwert der spezifischen, nur auf die Bundesrepublik bezogenen politisch-psychologisch entscheidenden Elemente der Ostpolitik verkennt, ja aus amerikanischem Blickwinkel vermutlich gar nicht voll erfassen kann: den Rang der Wiedergutmachung und Versöhnung mit Osteuropa, die Bewahrung der „Einheit der Nation", die weit über die „Erleichterung bei den innerdeutschen Kontakten" hinausreicht, sowie die Wiedergewinnung der außenpolitischen Bewegungsfreiheit Bonns durch die Befreiung von deutlich spürbaren Zwängen, die eine statische, nur reaktive Ost-und Deutschlandpolitik in der Vergangenheit mit sich brachte — einen diplomatischen Bewegungsspielraum, der es der nachfolgenden Regierung Schmidt/Genscher erst ermöglicht hat, das Machtpotential der Bundesrepublik in der Außen-, Außenwirtschafts-und Sicherheitspolitik voll einzusetzen. Dadurch wurde Bonn in die Lage versetzt, international eine führende Rolle auf verschiedenen Ebenen zu spielen: im Wirtschaftssystem des Westens und der Welt, als Grenzstaat im eigenen Bündnis, als stärkste Macht der EG und als Brückenbauer und Vermittler gegeüber Osteuropa
Obwohl gerade Kissinger selbst das soge-nannte linkage-Konzept betont, scheint er die konzeptionell wie operativ konstitutive Verknüpfung von deutscher Ost-und Westpolitik als grundlegende Voraussetzung für eine erfolgreiche Vertragspolitik mit dem Osten nicht genügend reflektiert zu haben: „Das Außenministerium wies in einem sehr gründlich durchdachten Papier vom 6. Oktober darauf hin, daß die neue Koalition nicht gleichzeitig eine aktive Politik gegenüber der DDR verfolgen und die Integration der Bundesrepublik in eine westeuropäische Gemeinschaft anstre-ben könne. Das Außenministerium kam zu em Schluß — und ich stimmte damit über-6-daß . eine aktive gesamtdeutsche und Ostpolitik unter einer SPD/FDP-Koalition den Errang haben wird'" (S. 440).
Gerade dem Historiker Kissinger, der mit der ngsten deutschen Geschichte besonders veraut ist, kann es nicht entgangen sein, daß es yo allem Konrad Adenauer war, der mit der d 0 greichen vollständigen Westintegration je unwiderrufliche Bindung der Bundesrepu11 an den Westen vollzogen hatte. Alle folen Bundesregierungen konnten eine Ost-politik betreiben, welche die westliche Grund-orientierung nicht mehr in Frage stellte und nur von dieser sicheren Grundlage aus aktiv eine Bereinigung der offenen territorialen Streitfragen in Angriff nehmen. In einem Memorandum an Präsident Nixon bestätigt Kissinger selbst diese Ansicht:
„An ihrer (gemeint sind Brandt, Wehner und Schmidt, nicht hingegen Bahr, Anm. d. Verf.) grundsätzlichen Westorientierung kann es keinen Zweifel geben" (S. 441).
Kissinger, der den Eindruck hatte, „daß die neue Ostpolitik Brandts, die viele als eine fortschrittliche Politik der Suche nach Entspannung ansahen, in den Händen bedenkenloser Leute zu einer neuen Form des klassischen deutschen Nationalismus werden konnte. Von Bismarck bis Rapallo war es das Wesen der nationalistischen Außenpolitik Deutschlands gewesen, zwischen Ost und West zu manövrieren" (S. 441), scheint offenbar vergessen zu haben, daß gerade der FDP-Vorsitzende Scheel es war, der in dem bereits zitierten Gespräch mit Nixon vom 13. Juni 1969 ausführlich auf diese, für eine modifizierte Ostpolitik essentielle Verknüpfung mit der Westpolitik einging und sie seinen Gesprächspartnern eingehend erläuterte 29).
In dieses Konzept, so Scheel damals, gehöre auch der Beitritt Großbritanniens in die EWG, der dann auf der Gipfelkonferenz in Den Haag Anfang Dezember 1969 den entscheidenden Impuls von Bundeskanzler Brandt erhielt Allerdings erwähnt dies Kissinger in seiner lückenhaften Wiedergabe des Scheel/Nixon-Gesprächs nicht.
Kissinger verkennt genau diese zentrale konzeptionelle Strukturkomponente der Bonner Ostpolitik, wenn er meint, „die Öffnung Brandts nach Osten hin hatte die unbeabsichtigte (sic!) Folge, die westeuropäische Integration voranzutreiben" (S. 455).
Auch ein anderer wichtiger Aspekt bei der Beurteilung des ostpolitischen Konzeptes und seiner Wirkungen findet bei Kissinger keine Beachtung: Hinter der polnischen Forderung nach völkerrechtlicher Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die Bundesrepublik stand mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Absicht, mit Hilfe eines deutsch-polnischen Grenzvertrages die Angewiesenheit auf den Warschauer Pakt zu verringern und damit die den polnischen Spielraum einschränkende Garantenstellung der Sowjetunion und der DDR vorsichtig zu relativieren -Die dadurch von der Bonner Ostpolitik implizit bewirkte Förderung von zumindest latent vorhandenen Emanzipierungsprozessen im sozialistischen Lager Osteuropas läßt Kissingers Destabilisierungsargument allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen in neuem Licht erscheinen. Überhaupt scheint Kissinger derartige, vor allem psychologisch wie strategisch weitreichende Wirkungen der Ostpolitik entweder nicht zu sehen oder in seiner Darstellung bewußt auszuklammern, die stark „bipolar", d. h. auf das globale Gleichgewicht zwischen den Supermächten bezogen, angelegt ist und sich mit dem „Zwischenterrain" kaum näher beschäftigt.
Im Kapitel über die Berlin-Verhandlungen (S. 875— 885), die Kissinger als „noch komplizierter als die SALT-Verhandlungen" qualifiziert, schildert der Verfasser bislang unbekannte Details des weitverzweigten Verhandlungsverlaufs. Dabei vergißt er natürlich nicht, seinen eigenen Beitrag ab Februar 1971 her-t und trägt damit zur weiteren Aufhellung des wichtigsten Abschnitts der Ost-West-Entspannung in den siebziger Jahren bei. Vor dem Hintergrund bereits vorgelegter Detailstudien zum Verhandlungsverlauf von Dennis Bark und Honor M. Catudal stellt Kissingers Bericht einen weiteren wertvollen Mosaikstein für das noch zu zeichnende Gesamtbild der Berlin-Verhandlungen in ihren einzelnen Phasen dar.
Aufschlußreich sind zunächst Kissingers Äußerungen und seine Wertung der Motivation und Funktion des sogenannten Berlin-Junktims, das die Regierung Brandt/Scheel aufgestellt hatte und als Hebel zur Durchsetzung der Ostverträge dienen sollte, um quasi im Tauschgeschäft für die westdeutsche Akzeptierung des Status quo im Moskauer Vertrag von der Sowjetunion die Anerkennung der bestehenden Lage in und um Berlin zu erhalten. Kissinger: Die „Gegenleistungen" mußten „in einem günstigen Ergebnis der Berlin-Verhandlungen bestehen" (S. 876). Dieses Junktim (oder in Kissingers Worten: „linkage") gab den westlichen Verbündeten (vor allem den USA) aber gleichzeitig die willkommene Gelegenheit, sich direkt in den gesamten ostpolitischen Verhandlungsprozeß einzuschalten, ihn Die Viermächteverhandlungen aus der (eindimensionalen) Sicht Kissingers unter Kontrolle zu halten und die Sowjetuni unter Hinweis auf die von ihr gewünschtes ropäische Sicherheitskonferenz zu Konzessi nen in der Berlin-Frage zu veranlassen. R Kissinger war dieses „linkage" ein „klassisch Fall für die Verkoppelung verschiedener a ßenpolitischer Bedürfnisse" (S. 876).
Was den ehemaligen Sicherheitsberater 8 chard Nixons daran besonders faszinierte, w weniger die Tatsache, daß das Berlin-Junkti im natürlichen Interesse Bonns liegen mußt um seine bilaterale Ostpolitik in den amerik nischen Verhandlungsfahrplan für den glob len Dialog mit dem Kreml einzubinden, sei dem, daß das Weiße Haus und damit er selb die Möglichkeit erhielt, die Dynamik der Os Politik stärker kontrollieren und eventue bremsen zu können und die einzelnen Ve handlungsfäden mittels zahlreicher vertrau! eher „Kanäle" wieder persönlich in die Hat zu nehmen Das ausschlaggebende Moti für das große Interesse Kissingers an den Ba lin-Verhandlungen lag darin, „daß wir schlief lieh für den Erfolg der Politik Brandts veran wörtlich wurden" (S. 876).
Der geheime, direkte „Kanal" zu Egon Bahrwiederum unter gezielter Umgehung des Stal Department und, wie Kissinger irrtümlich an nahm, auch des Auswärtigen Amtes in Boni — lief über einen Offizier der U. S. Navy ii Frankfurt, der geheime Telefonnummern voi Kissinger, Bahr und Rush erhielt (S. 860/86lKissinger nicht wissen konnte: Alle g heimen Botschaften, die Bahr über diesen , Ka nal" von Kissinger erhielt, gingen postwen dend auch an Außenminister Scheel und sein Experten; die vertraulichen Mitteilungen de Weißen Hauses an Scheel direkt erhieltumge hend auch Bahr im Bundeskanzleramt Kissinger bestätigt die überragende Rolle de amerikanischen Unterhändlers, Botschaftei Kenneth Rush, deren entscheidende Bedeu tung bereits von anderen Autoren beschrieben worden ist Er war „bei meinem Verfah ren die Achse, um die sich alles drehte" (S. 877). In direktem Kontakt und ohne Wissen des State Department hielt Rush die Verbindung zu Kissinger, zu Bahr, zu den westlichen Verbündeten und zu Sowjetbotschafter Abrassimov, den der Memoirenschreiber als „auch nach sowjetischen Maßstäben ungewöhnlich unnachgiebig und grob" (S. 875) darstellt.
Kissinger seinerseits verhandelte — und dies war bisher nur teilweise bekannt — mit Botschafter Dobrynin in Washington über konkrete Abkommensentwürfe beider Seiten Alsdann im Mai 1971 auf Vorschlag Kissingers (!) auf der sowjetischen Seite Abrassimov gegen Valentin Falin ausgetauscht wurde, bildete das Trio Falin-Rush-Bahr die wichtigste Verhandlungsebene: „In der Folgezeit wurden die wichtigsten Verhandlungen im Rahmen dieses Forums geführt und bei Stockungen von Dobrynin und mir wieder in Gang gebracht. Jeder der drei Hauptunterhändler unterrichtete (wenigstens theoretisch) die anderen vom Inhalt aller außerhalb dieses Forums geführten Gespräche, denn nur so war es möglich, ein Chaos zu vermeiden. Die besonders zu diesem Zweck eingerichteten Nachrichten-verbindungen wurden gelegentlich durch die Vielzahl der hin und her gehenden Telegramme blockiert" (S. 881).
Daß bei diesem, an Kissingers Schilderung des . kurzgeschlossenen" improvisierenden Entscheidungssystems in Washington erinnernden, fast chaotischen Procedere nur einer (nämlich Kissinger selbst) nicht den gesamtpolitischen Überblick verlor, versteht sich von selbst. Allerdings: „Es war nicht immer ganz eindeutig, wie viele Kanäle es überhaupt gab und wer der Hauptunterhändler war" (S. 880). Erstaunlich und entlarvend zugleich an dieser Darstellung ist, daß der Buchautor — in gelegentlich krassem Gegensatz zu bisher vorliegenden Informationen — das eigentliche bürokratisch-diplomatische Verhandlungsgremum, das im Kern aus den Botschaftern der vier ehemaligen Siegermächte, ihren Politi-sehen Botschaftsräten und „Legal Advisers" bestand, überhaupt nicht erwähnt und damit dessen Bedeutungslosigkeit im Verhandlungsprozeß suggeriert Lediglich in einer Fußnote deutet Kissinger an, daß er „eine komplexe multilaterale Verhandlungsrunde aus der vielleicht ein wenig einseitigen (siel) Perspektive eines Teilnehmers beschreibe. Ich weiß nicht, welche bilateralen Kontakte es zwischen den anderen Teilnehmern gegeben hat.. " (S. 884). Der französische Botschafter in Bonn und spätere Außenminister Jean Sauvagnargues habe gegenüber Kissinger „mehrfach einen wichtigen Beitrag" erwähnt, „den er geleistet habe; er neigte nicht zu Übertreibungen, aber was er sagte, war mir unverständlich. Ich habe ihn nicht um nähere Erläuterungen gebeten, um ihm nicht zu widersprechen" (ebd.).
Damit hat das Viermächteabkommen über Berlin vom 3. September 1971 — zumindest in der Selbsteinschätzung des Memoirenschreibers — auf westlicher Seite neben Rush eigentlich nur einen „leiblichen" Vater: Henry Kissinger. Daß er selbst in seiner Darstellung einige vermutlich entscheidende „Kanäle" und Expertengespräche gar nicht erwähnt, weil sie ohne ihn bzw. gerade von den ihm so suspekten Bürokraten an ihm vorbei geführt wurden und ihm dann — etwa von Egon Bahr — so präsentiert wurden, daß er selbst sich als „Vater des Gedankens fühlen durfte" ändert sicherlich nichts an Kissingers persönlicher Wertschätzung seines eigenen Beitrages hinter den Kulissen, die er im gesamten ostpolitischen Entscheidungsprozeß zwischen 1969 und 1972/73 so kräftig schob und verschob. Am Rande erwähnt sei nur ein Beispiel: Bahrs „genialer Vorschlag“ (S. 880), den er Ende April 1971 gegenüber Kissinger machte und der vorsah, daß beide Seiten davon Abstand nehmen sollten, ihre Positionen juristisch zu rechtfertigen, sondern lediglich praktische Verantwort-lichkeiten und Verpflichtungen darstellen sollten, wurde in ausführlichen Expertendiskussionen im Auswärtigen Amt und Kanzler-amt erarbeitet und anschließend mit Rush und Falin in Bonn abgestimmt Erst danach legte Bahr diese „Anregung" Kissinger vor Der wiederum war sehr erstaunt, als Dobrynin sofort mit Eifer darauf einging, was Kissinger zu der — richtigen — Vermutung verleitete, daß der sowjetische Botschafter diesen Vorschlag „nicht zum erstenmal hörte" (S. 880). Daraufhin verlangte der verblüffte Kissinger von Rush, nachdem er sich versichert hatte, „daß Bahr Verhandlungsvollmachten hatte“, sich „von Brandt persönlich die Rechtmäßigkeit des Verfahrens und die Substanz unseres Gesprächs bestätigen zu lassen" (S. 880). Eines deutlicheren Beweises des Mißtrauens, das Kissinger Bahr entgegenbrachte, hätte es wohl kaum bedurft!
Ob der von Dobrynin am 15. März 1971 Kissinger vorgelegte Kompromiß, „für eine sowjetische Präsenz in West-Berlin, etwa die Einrichtung eines Konsulats, würde die Sowjetunion den Zugang garantieren" (S. 878), nicht auch auf dem oben erwähnten „bürokratischen" Weg entstanden ist, bleibt vorläui offen, ist aber durchaus denkbar, zumal Bah immer wieder als Initiator des Konsulatsvor Schlages genannt worden ist. Daß auch Willi Brandt persönlich in die Verhandlungen ein griff und erreichte, daß die West-Berlinerwie der das Recht auf Bundespässe eingeräumtbe kamen dürfte Kissinger ebenfalls entgas gen sein.
Henry Kissinger hat mit der Darstellung da Ost-und Deutschlandpolitik aus seiner Sich zweifellos eine nicht geringe Forschungslück über die offizielle und inoffizielle amerikani sehe Haltung geschlossen. Ob es ihm aller dings gelungen ist, die inneren Antriebsmo mente, Motivationen und spezifischen Bedin gungen, aus denen heraus dieses Konzepten! worfen und realisiert wurde, historisch richtii einzuordnen, erscheint dem Rezensenten be allem Respekt vor Kissingers zeitgeschichtli ehern Monumentalwerk fraglich. Vermutlicl ist es dazu auch für einen Historiker um Staatsmann vom Range Kissingers zu früh.