Die politischen Systeme haben die Tendenz, bestimmte Leitprinzipien für die Gestaltung ihrer politischen und sozialen Verhältnisse herauszubilden. Zwei grundlegende, einander korrespondierende Leitprinzipien sind im Westen der „Rechtsstaat“, im Osten die „sozialistische Gesetzlichkeit". Es handelt sich hierbei um Prinzipien, d. h. nicht um Abbilder der Wirklichkeit, sondern um Richtlinien, nach denen die Wirklichkeit ausgerichtet werden soll. Wenn dies auch nur mehr oder weniger gelingt, so können doch auch die kommunistisch regierten Staaten als Leitprinzipien nicht reine Propagandathesen aufstellen, sondern müssen den Realisierungsdruck der Leitprinzipien in Rechnung stellen und daher diese selbst ihren realen Zielen anpassen. Denn es ist ein großer Unterschied, ob bestimmte tatsächliche Vorgänge diesen Staaten als Verletzung fremder oder aber von ihnen selbst anerkannter Leitprinzipien, z. B. als Verletzungen der „sozialistischen Leitprinzipien", entgegengehalten werden können. Der hier vorgenommene Vergleich der genannten Leitprinzipien liegt somit auf der Mitte zwischen einem Vergleich der rechtlichen Wirklichkeit und bloßer unverbindlicher Zielvorstellungen.
Verglichen werden z. B. nicht die in den beiden Systemen vorhandenen Grundrechte und erst recht nicht deren tatsächliche Gewährung, sondern die allgemeinere, aber wichtigere Frage, wieweit ihre Einschränkung schon von Rechts wegen zulässig ist.
Der folgende Vergleich will vor allem Tatsachen sprechen lassen. „Tatsachen" sind im Rahmen eines Begriffsvergleichs Zitate derjenigen, die diese Begriffe prägen und verwenden. Die ausgiebige Wiedergabe von Zitaten aus der Literatur der kommunistisch regierten Staaten soll den Leser zugleich lehren, solche Texte mit ihren vielen — im Westen ungewohnten — Verschlüsselungen richtig zu lesen.
Schließlich ist der Vergleich insofern „dialektisch", als er die Zwischenergebnisse immer wieder in Frage stellt. Der Leser kann daher nicht hoffen, mit knappen und bequemen Leitsätzen davonzukommen. Dies ist indessen nur ein Spiegelbild der gegenwärtigen politischen Lage in der Sowjetunion, die sich immer mehr differenziert und damit einer schablonenhaften Wertung entzieht.
I. Die „sozialistische Gesetzlichkeit“
Die sowjetische Verfassung von 1977
Am 7. November 1977, dem sechzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution, hat die Sowjetunion die schon seit längerem erwartete neue Verfassung erlassen, die an die Stelle der so-genannten Stalin-Verfassung von 1936 getreten ist. Die neue Verfassung ist nicht nur mit 174 Artikeln erheblich länger als ihre Vorgängerin, die 146 Artikel aufwies, sondern enthält auch zahlreiche sachliche Änderungen. Mit am meisten Aufsehen erregt hat im Westen der neue Artikel 4 dieser Verfassung. Er lautet: •Der sowjetische Staat und alle seine Organe handeln auf der Grundlage der sozialistischen Gesetzlichkeit; sie gewährleisten den Schutz der Rechtsordnung, der Interessen der Gesellschaft sowie der Rechte und Freiheiten der Bürger.
Die staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen sowie die Amtsträger sind verpflichtet, die Verfassung der UdSSR und die sowjetischen Gesetze einzuhalten."
Diese Sätze klingen zweifellos eindrucksvoll. Wenn der Staat und alle seine Organe verpflichtet werden, die Verfassung und Gesetze einzuhalten, ist dann der Schutz des einzelnen nicht optimal gewährleistet? Wird ein Staat, der sich verpflichtet, die Gesetze einzuhalten, nicht zu einem „Rechtsstaat", wie ihn bisher die westlichen Demokratien exklusiv für sich in Anspruch nahmen?
Entstehung in den zwanziger Jahren
Bei der Beurteilung der neuen Verfassungsbe-Stimmung ist indessen zu berücksichtigen, daß der Begriff der „Gesetzlichkeit" in der Sowjetunion bereits eine lange und nicht immer positive Geschichte hat.
Ursprünglich hatte dieser Begriff im Marxismus überhaupt keinen Platz. Denn nach Marx und Engels sollten Staat und Recht nach der Revolution „absterben". Dementsprechend glaubte man in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution, daß dieser Vorgang ziemlich bald eintreten würde. Diese Auffassung verband der stellvertretende Volkskommissar für Justiz Reissner mit der schon vor der Revolution entwickelten sogenannten psychologischen Rechtstheorie, die als Rechtsquelle hauptsächlich die Rechtsüberzeugung der Menschen ansah. Ein typisches Produkt dieser Strömungen ist das Dekret „über das Volksgericht der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik" vom 30. November 1918. Darin hieß es: „Bei der Verhandlung aller Sachen wendet das Volksgericht die Dekrete der Arbeiter-und Bauernregierung an, und bei Fehlen eines entsprechenden Dekretes oder bei Unvollständigkeit eines solchen läßt es sich durch sein sozialistisches Rechtsbewußtsein leiten."
Darin lag nicht etwa nur ein Notbehelf für die Ausfüllung von Rechtslücken, wie ihn auch andere Rechtsordnungen kennen, sondern die Einsetzung des „sozialistischen Rechtsbewußtseins" als gleichberechtigte und für die Zukunft entscheidende Rechtsquelle.
Die sozialistischen Experimente auf den Gebieten Recht und Wirtschaft in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution hatten aber eine für die weitere Entwicklung des Landes verheerende Unsicherheit und einen katastrophalen wirtschaftlichen Niedergang zur Folge. In dieser Situation besann sich Lenin auf die stabilisierende Funktion des Rechts. In einem für das Politbüro bestimmten Brief an Stalin vom 20. Mai 1922 über die zweckmäßigste Organisation der Staatsanwaltschaft schrieb Lenin: „Es darf nicht eine Gesetzlichkeit von Kaluga und eine von Kasan geben, sondern sie muß einheitlich für Gesamtrußland und sogar einheitlich für die gesamte Union der Sowjetrepubliken sein."
Der Brief betraf zwar nur eine Spezialfrage, war aber offensichtlich grundsätzlich gemeint. Als er in der „Prawda" vom 23. April 1925 erstmals veröffentlicht wurde, verfaßte die XIV. Konferenz der RKP (B) vom 27. bis 29. April 1925 eine Resolution, worin festgestellt wurde, daß die Festigung des proletarischen Staates und das weitere Wachstum des Vertrauens zu ihm von Seiten der breiten Massen des Bauerntums im Zusammenhang mit der nun durchgeführten Politik der Partei die maximale Festigung der revolutionären Gesetzlichkeit verlangten. Daher wurden das Zentralkomitee und die Zentrale Kontrollkommission beauftragt, auf der Grundlage der in dem Brief Lenins enthaltenen Hinweise alle erforderlichen Maßnahmen zur Festigung der revolutionären Gesetzlichkeit auszuarbeiten sowie diese Maßnahmen in der Sowjetordnung durchzuführen
Daraufhin setzte man an die Stelle des „revolutionären Rechtsbewußtseins" die „revolutionäre Gesetzlichkeit". Das Oberste Gericht der UdSSR wurde 1924 ausdrücklich „zur Festigung der revolutionären Gesetzlichkeit auf dem Gebiet der UdSSR" gebildet (Verfassung vom 31. Januar 1924, Art. 43). In der Wirtschaft erfolgte der Übergang zu der sogenannten „Neuen ökonomischen Politik", mit welcher man vor allem das Privateigentum ermuntern und ausländische Investitionen anlocken wollte. Innerhalb weniger Jahre trat dann eine überraschende Gesundung der sowjetischen Wirtschaft ein.
Bedrohung durch den „Rechtsnihilismus"
Aber schon Mitte der zwanziger Jahre versuchte man erneut, die „Gesetzlichkeit" als typische Eigenschaft des bourgeoisen Staates hinter sich zu lassen. So erklärte der sowjetrussische Jurist Diablo im Jahre 1925 in der Zeitschrift „Sowjetrecht": „An die Stelle dieser allgemeinen Rechtsgrundsätze setzt man bei uns einen, was seinen Klassencharakter anlangt, vollkommen entgegengesetzten Begriff, den der revolutionären Zweckmäßigkeit.“ Immer stärker wurde die Tendenz zur völligen Abschaffung des Rechts, für die Wyschinski zehn Jahre später den verächtlichen Begriff „Rechtsnihilismus" prägte. Ohne jede Rechtsgrundlage, allein nach den Grundsätzen der „revolutionären Zweckmäßigkeit", erfolgte so die Zwangskollektivierung der russischen Landwirtschaft, bei der schätzungsweise sechseinhalb Millionen Bauern, sogenannte „Kulaken", von den GPU-Truppen liquidiert oder nach Sibirien deportiert wurden.
Totale Umfunktionierung unter Stalin
Nach diesem Blutrausch veröffentlichte Stalin am März 1930 in der „Prawda" einen Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen". Jetzt besann man sich wieder einmal auf die „revolutionäre Gesetzlichkeit". Am 25. Juni 1932 erging eine Verordnung des Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare der UdSSR mit der Überschrift „über die revolutionäre Gesetzlichkeit", in der „eine bedeutende Anzahl von Verletzungen der revolutionären Gesetzlichkeit von Seiten der Beamten, besonders auf dem Lande", gerügt wurde 2).
Allerdings erfuhr der Inhalt der „revolutionären Gesetzlichkeit" gleichzeitig einen radikalen Wandel. Dieser Wandel kommt am deutlichsten in Stalins Bericht auf dem berühmten Januar-Plenum des Zentralkomitees der KPdSU am 7. Januar 1933 zum Ausdruck: „Man sagt, daß sich die revolutionäre Gesetzlichkeit unserer Zeit durch nichts von der revolutionären Gesetzlichkeit der Neuen ökonomischen Politik unterscheide, daß die revolutionäre Gesetzlichkeit unserer Zeit eine Rückkehr zu der revolutionären Gesetzlichkeit der ersten Periode der Neuen ökonomischen Politik sei. Das ist absolut falsch. Die revolutionäre Gesetzlichkeit der ersten Periode der Neuen ökonomischen Politik richtete sich mit ihrer Spitze hauptsächlich gegen die Auswüchse des Kriegskommunismus, gegen die ungesetzlichen Konfiskationen und Eintreibungen. Sie garantierte dem Privateigentümer, dem Einzelbesitzer, dem Kapitalisten die Unversehrtheit ihres Besitzes unter der Bedingung, daß sie die Sowjetgesetze aufs strengste einhalten. Die revolutionäre Gesetzlichkeit unserer Zeit ist mit ihrer Spitze nicht gegen die Auswüchse des Kriegskommunismus, die schon längst nicht mehr existieren, sondern gegen Diebe und Schädlinge in der gesellschaftlichen Wirtschaft, gegen Rowdys und Leute gerichtet, die das gesellschaftliche Eigentum plündern. Die größte Sorge der revolutionären Gesetzlichkeit in unserer Zeit gilt folglich dem Schutz des gesellschaftlichen Eigentums und nichts anderem."
Der Unterschied zu der revolutionären Gesetzlichkeit vom Anfang der zwanziger Jahre liegt nicht, wie Stalin glauben machen will, in der unterschiedlichen Zielrichtung. Er liegt
INHALT I. Die „sozialistische Gesetzlichkeit"
Die sowjetische Verfassung von 1977 Entstehung in den zwanziger Jahren Bedrohung durch den „Rechtsnihilismus" Totale Umfunktionierung unter Stalin Perversion der „sozialistischen Gesetzlichkeit" Gesetzlichkeit — Zweckmäßigkeit und Parteilichkeit Läuterung der „sozialistischen Gesetzlichkeit" nach dem XX. Parteitag der KPdSU Begriffliche Präzisierung der „sozialistischen Gesetzlichkeit"
„Sozialistische Gesetzlichkeit" und Kommunistische Partei II. Der „Rechtsstaat"
Formeller und materieller Rechtsstaatsbegriff Unterschiede zur „sozialistischen Gesetzlichkeit“ III. Sozialistischer Rechtsstaat?
Angriffe gegen den Rechtsstaatsbegriff Forderungen an den sozialistischen Gesetzgeber Einschränkung der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ auf den Schutz des einzelnen vielmehr darin, daß damals die „revolutionäre Gesetzlichkeit" vor allem eine Schutzfunktion zugunsten des einzelnen hatte, während sie nunmehr eine „Spitze" hat, die sich „gegen" bestimmte einzelne richtet. Schutzobjekt der „revolutionären Gesetzlichkeit" ist jetzt das Staatseigentum gegenüber dem einzelnen, während es vorher der einzelne gegenüber dem Staat war. Aus der Schutzfunktion der „revolutionären Gesetzlichkeit" wird geradezu umgekehrt eine Verfolgungsfunktion. Schon in einem Brief vom 13. Februar 1928 an alle Organisationen der KPdSU hatte Stalin gegen die die Zwangsablieferung von Getreide verweigernden Bauern die Anwendung der auf diesen Fall gar nicht passenden Strafvorschrift gegen die Spekulation verlangt und sogar diese Rechtsbeugung mit der „sowjetischen Gesetzlichkeit" begründet
Bemerkenswerterweise wurde der frühere Antipode der „Gesetzlichkeit", das „revolutionäre Rechtsbewußtsein", nicht etwa aufgege-ben, sondern noch radikaler umfunktioniert Bedeutete „revolutionäres Rechtsbewußtsein" früher die freie Rechtsüberzeugung der kommunistischen Richter, das Bewußtsein, was Recht sein soll, so wurde es nunmehr zur Kenntnis der Gesetze in der Bevölkerung, zum Bewußtsein von den Gesetzen und der Bereitschaft zu ihrer Befolgungl Damit wurde es in die neue Funktion der „revolutionären Gesetzlichkeit" als Einhaltung der Strafgesetze eingespannt. Durch Beschluß des Zentralexekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare der UdSSR vom 20. Juni 1933 wurde „zum Zweck der Festigung der sozialistischen Gesetzlichkeit und des gebührenden Schutzes des gesellschaftlichen Eigentums vor Angriffen antisozialer Elemente" eine Unions-Staatsanwaltschaft gegründet Die Unions-Staatsanwaltschaft gab eine Zeitschrift mit dem Titel „Für die sozialistische Gesetzlichkeit" heraus, die — unter dem Namen „Sozialistische Gesetzlichkeit" — noch heute erscheint.
Perversion der „sozialistischen Gesetzlichkeit“
War dies schon eine totale Umfunktionierung, so erfolgte darüber hinaus geradezu eine Perversion der „revolutionären Gesetzlichkeit". Inzwischen sprach man übrigens statt von der „revolutionären" von einer „sozialistischen Gesetzlichkeit“, statt von dem „revolutionären" von einem „sozialistischen Rechtsbewußtsein". Diese Änderung hatte sachlich nichts zu bedeuten; sie war lediglich eine sprachliche Anpassung an die offizielle Verlautbarung des Jahres 1936, daß in der Sowjetunion der Sozialismus als Vorstufe des Kommunismus im wesentlichen erreicht worden sei. Worin besteht die Perversion? Immer wieder hatte Stalin versucht, die brutalen, gesetzlosen Maßnahmen bei der Kollektivierung zu rechtfertigen.
Auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU im April 1929 hatte Stalin gegen einige Gegner dieser Maßnahmen innerhalb der KPdSU folgendes ausgeführt: „Die Bedeutung der im Ural und in Sibirien angewandten Methode der Getreidebeschaffung, die nach dem Prinzip der Selbstbesteuerung durchgeführt wird, besteht eben darin, daß sie es ermöglicht, zur Verstärkung der Getreidebeschaffung die werktätigen Schichten des Dorfes gegen das Kulakentum zu mobilisieren ... Allerdings wird diese Methode zuweilen mit der Anwen-düng außerordentlicher Maßnahmen gegen das Kulakentum verbunden, was ein komisches Gejammer bei Bucharin und Rykow hervorruft. Was ist aber Schlimmes daran? Warum darf man nicht zuweilen, unter bestimmten Verhältnissen, außerordentliche Maßnahmen gegen unseren Klassenfeind, gegen das Kulakentum, anwenden? ... Hat sich unsere Partei vielleicht jemals grundsätzlich gegen die Anwendung außerordentlicher Maßnahmen gegenüber dem Kulakentum ausgesprochen? Rykow und Bucharin sind offenbar grundsätzlich gegen jede Anwendung außerordentlicher Maßnahmen gegenüber dem Kulakentum. Aber das ist ja eine bürgerlich-liberale Politik und keine marxistische Politik."
In der Zeitschrift „Krasnaja swesda" vom 21. Januar 1930 hatte Stalin zur Rechtfertigung der Zwangskollektivierung ohne gesetzliche Grundlage ein anderes Argument vorgebracht: „So reden, wie unser Verfasser redet, heißt den Umschwung in der Entwicklung des Dorfes seit Sommer 1929 in Abrede stellen. So reden, heißt die Tatsache in Abrede stellen, daß wir während dieser Periode eine Wendüng in der Politik unserer Partei im Dorfe vollzogen haben. So reden heißt, eine gewisse ideologische Deckung für die rechten Elemente unserer Partei schaffen, die sich jetzt an die Beschlüsse des XV. Parteitags klammern, entgegen der neuen Politik der Partei... Wovon ging der XV. Parteitag aus, als er die Verstärkung der Politik der Einschränkung (und Verdrängung) der kapitalistischen Elemente des Dorfes verkündete? Davon, daß das Kulakentum als Klasse trotz dieser Einschränkung des Kulakentums eine gewisse Zeit lang doch bestehen bleiben muß. Aus diesem Grunde' ließ der XV. Parteitag das Gesetz über die Bo-1 denpachtung in Kraft, obgleich er sehr wohl wußte, daß die Pächter in ihrer Masse Kulaken j sind. Aus diesem Grunde ließ der XV. Parteitag das Gesetz über die Anwendung von Lohn-arbeit im Dorfe in Kraft und forderte seine strikte Durchführung. Aus diesem Grunde wurde noch einmal die Unzulässigkeit der Enteignung der Kulaken kundgegeben. Widersprechen diese Gesetze und diese Beschlüsse der Politik der Einschränkung (und Verdrängung) der kapitalistischen Elemente des Dorfes? Gewiß nicht. Wiedersprechen die Gesetze und diese Beschlüsse der Politik der Liquidierungdes Kulakentums als Klasse? Gewiß! Also wird man diese Gesetze und diese Beschlüsse jetzt in den Rayons mit durchgän-giger Kollektivierung, deren Bereich täglich und stündlich wächst, beiseite schieben müssen."
Die Quintessenz dieser beiden Äußerungen besteht in der Möglichkeit der Anwendung „außerordentlicher Maßnahmen" und des „Beiseiteschiebens" von Gesetzen. Diese beiden Möglichkeiten der Durchbrechung der Gesetzlichkeit wurden nunmehr — im Zuge der zunehmenden Vergötzung Stalins — zu Hauptschlagworten; die sowjetischen Juristen beeilten sich, sie bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit nachzubeten. Aber nicht nur das. Die sowjetischen Juristen gingen so weit, ausgerechnet diese beiden Durchbrechungen der Gesetzlichkeit in den Begriff der „sozialistischen Gesetzlichkeit" selbst zu integrieren! So heißt es in dem ersten Lehrbuch der sowjetischen Staats-und Rechtstheorie von Golunskij und Strogowitsch aus dem Jahre 1940: „Wie sich aber das Recht nicht über den Staat erhebt, sondern aus ihm hervorgeht, so bleibt auch die sozialistische Gesetzlichkeit immer eine Methode der Tätigkeit des sozialistischen Staates und kann sich nicht in ein Hindernis für den letzteren bei der Verwirklichung seiner historischen Aufgaben verwandeln. Lenin hat diese Aufgabe in bezug auf alle sowjetischen Arbeiter hervorgehoben:
.... lernen, kultiviert für die Gesetzlichkeit zu kämpfen, dabei aber nicht die Grenzen der Gesetzlichkeit in der Revolution zu vergessen'
(Bd. XXIV S. 434). Das bedeutet, daß auf der einen Seite die sozialistische Gesetzlichkeit die verpflichtende Bedingung des sozialistischen Aufbaus ist, auf der anderen Seite aber die Revolution selbst sich ihre Gesetzlichkeit schafft, die für sie kein Ziel ist, sondern nur ein Mittel für die Erreichung ihrer historischen Ziele, und demzufolge bestimmte Grenzen hat, die durch die konkreten gesellschaftlich-politischen Umstände bedingt sind. Deshalb erscheint die sozialistische Gesetzlichkeit, obzwar sie fest und beständig ist, keineswegs als »starrt, als nicht von den Bedingungen und Aufgaben des Klassenkampfes und des sozialistischen Klassenkampfes abhängig. So schließt die sozialistische Gesetzlichkeit nicht die Möglichkeit der Anwendung außerordentlicher Maßnahmen in bezug auf die Klassen-feinde aus, wenn die Notwendigkeit dieser außerordentlichen Maßnahmen durch diese Bedingungen des Klassenkampfes und den Widerstand der Klassenfeinde gegen Maßnahmen der Sowjetmacht hervorgerufen wird."
Gesetzlichkeit — Zweckmäßigkeit und Parteilichkeit
Außerdem wurde nunmehr versucht, auch den Gesichtspunkt der revolutionären Zweckmäßigkeit, der in den zwanziger Jahren als Gegenpol zur revolutionären Gesetzlichkeit entwickelt worden war, in die Gesetzlichkeit zu integrieren, die beiden Pole als „dialektische Einheit" darzustellen. In diesem Sinne sagte Wyschinski in seinem Buch „Die revolutionäre Gesetzlichkeit in der gegenwärtigen Etappe" von 1933: „Die revolutionäre Zweckmäßigkeit auf dem Gebiet der sozialistischen Gesetzlichkeit ist nichts anderes als die Anwendung der sowjetischen Gesetze in Übereinstimmung mit ihrem revolutionären Ziel."
Für die Erkenntnis der „revolutionären Zweckmäßigkeit" und des revolutionären Ziels wurde naturgemäß der Kommunistischen Partei die größte Befähigung, ja geradezu ein Monopol zugesprochen. Von hier aus war es nicht mehr weit zu dem Grundsatz der „Parteilichkeit der Rechtsprechung" und dem weiteren Grundsatz der „dialektischen Einheit der Gesetzlichkeit und Parteilichkeit" in der Rechtsprechung. Damit scheint ein diametraler Gegensatz zu der Auffassung von der Rechtsprechung im Westen erreicht zu sein, die von dem Richter zuallererst verlangt, daß er „unparteiisch" ist und die Beugung des Rechts zugunsten oder zum Nachteil einer „Partei" als Rechtsbeugung bestraft.
Gegenüber diesen Einwänden sind allerdings einige Richtigstellungen zugunsten der „revolutionären Zweckmäßigkeit" in der Rechtsprechung angebracht. Auch im Westen ist es nämlich anerkannt, daß bei der Auslegung von Gesetzen der Zweck dieser Gesetze zu berücksichtigen ist. Die sogenannte teleologische Auslegung (nach dem griechischen Wort „telos" für „Zweck") gilt heute unbestritten als entscheidende Auslegungsmethode. Dabei erfolgt die Auslegung auch im Westen in Übereinstimmung mit der Wertordnung der Gesamtverfassung und der Gesamttendenz eines Gesetzes. Die Besonderheiten der „revolutionären Zweckmäßigkeit" bestehen also nicht in der Einbeziehung der Zweckmäßigkeit überhaupt und auch nicht in der Abhängigkeit von den Parteidirektiven. Die Besonderheiten treten erst da ein, wo die Berücksichtigung von Zweckmäßigkeit und Parteidirektiven den Wortlaut der positiven Gesetze überschreitet oder gar diese völlig mißachtet (eben bei dem „Beiseiteschieben" von Gesetzen) und bei der gleichzeitig oder innerhalb eines kurzen Zeitraumes widersprüchlichen Rechtsanwendung nach politischen Gesichtspunkten. Völlig verfehlt ist es außerdem, die Berücksichtigung des Zweckes bei der Auslegung von Gesetzen in dem Begriff der „Gesetzlichkeit" unterzubringen. „Gesetzlichkeit" bedeutet die Befolgung des Gesetzes. Die Berücksichtigung des Gesetzeszweckes steht dazu im Widerspruch und kann überhaupt erst einsetzen, wenn das Gesetz unklar ist oder wenigstens einen Auslegungsspielraum eröffnet. Mit dieser falschen Begriffsbildung haben es sich die kommunistischen Staaten daher selbst zuzuschreiben, wenn sie Mißtrauen gegen die Sache selbst geweckt haben.
Die Grundsätze der „Parteilichkeit der Rechtsprechung" und der „dialektischen Einheit der Gesetzlichkeit und Parteilichkeit" wurden übrigens vor allem in der DDR entwickelt. Auch hier gingen sie auf einen ganz konkreten Anlaß zurück, den sog. Hund von Mühlhausen. Dabei hatte ein Betriebsschutzleiter einen streunenden Hund halbtot geschlagen und anschließend in eine Grube mit glühender Asche geworfen. Angesichts großer Erregung der Bevölkerung wurde er in der ersten Instanz zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt. Der Täter wandte sich daraufhin an die Partei-spitze, und auf dem IV. Parteitag der SED 1954 wurde die Erregung der Bevölkerung als Machenschaft des Klassenfeindes gegeißelt, mit der man einen verdienten Kämpfer für die Partei habe ausschalten wollen. Es wurde daher eine parteiliche Anwendung der Gesetze verlangt Schon einen Tag vorher hatte das Oberste Gericht der DDR übrigens den Täter freigesprochen, da er überzeugt gewesen sei, daß der Hund schon tot gewesen sei. Im übrigen sei der Hund vom Klassenfeind zur Ablenkung der Wachhunde auf das Betriebsgelände geschickt worden, so daß der Täter zum Schutz des Betriebes und damit in Notwehr gehandelt habe Damit zeigt sich, daß eine „parteiliche Anwendung" der Gesetze gar nicht notwendig war. Ausreichend und überdies auch viel wirkungsvoller war eine parteiliche Beweiswiirdigung: Dem Angeklagten wurde einfach geglaubt, er habe den Hund für tot gehalten, und im übrigen wurde der Hund als Werkzeug des Klassenfeindes angesehen. Der Politologe Otto Kirchheimer hat diesen Fall als „Ballade vom ermordeten Hund" in sein berühmtes Buch „Politische Justiz" aufgenommen
Läuterung der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ nach dem XX. Parteitag der KPdSU
Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 kam es bekanntlich zu einer aufsehenerregenden Verurteilung Stalins. Diese Verurteilung wurde vor allem auf seine „brutalen“, „flagranten", „schamlosen" und „massiven" Verstöße gegen die „revolutionäre Gesetzlichkeit’ gestützt; dieser Vorwurf kommt in Chruschtschows Rede vierzehnmal vor. Seine Ausführungen haben eine erhebliche grundsätzliche Bedeutung für den Gehalt des Begriffs der sozialistischen Gesetzlichkeit. Denn sie be-, deuten nicht nur, daß man sich von den erwähnten Praktiken Stalins distanzieren möchte, sondern enthalten zugleich den Versuch, den Begriffder „sozialistischen Gesetzlichkeit“ von diesen Perversionen zu reinigen. Eine derartige „Reinigung" von Begriffen hat generell eine ambivalente Funktion. Einerseits ist die Ablehnung bestimmter Phänomene wie hier der Rechtsbrüche unter Stalin stärker abgesichert, wenn sie nicht nur für sich erfolgt, sondern auf ein allgemeines Prinzip gestützt wird. Andererseits ist aber zu bedenken, daß die Vereinbarkeit der abgelehnten Phänomene mit dem beibehaltenen Prinzip bereits vorexerziert worden ist. Eventuelle Nachfolger mit anderen Absichten haben es daher insofern leichter, als sie wieder auf den früheren Gehalt des Begriffs zurückgreifen können. Im übrigen kann sich auch diese Distanzierung von Stalin noch nicht völlig von den be-, rüchtigten „außerordentlichen Maßnahmen lossagen. In diesem Zusammenhang heißt es • in der Geheimrede Chruschtschows: „Nehmen I wir einmal das Beispiel der Trotzkisten. In die-, sem Augenblick, mit genügend langem histo-1 rischen Abstand, können wir über den Kampl I gegen die Trotzkisten in völliger Ruhe sprechen und diese Angelegenheit mit ausreichen-I der Objektivität betrachten... Viele von ihnen! brachen mit dem Trotzkismus und kehrten zum Leninismus zurück. War es nötig, solche Leute zu vernichten? Wir sind zutiefst davon; iberzeugt, daß gegen viele von ihnen, wenn Lenin noch gelebt hätte, solche außerordentlichen Methoden nicht angewandt worden wären. Das sind nur ein paar geschichtliche Tatsachen. Aber kann man sagen, daß Lenin sich licht für die Anwendung der schärfsten Mittel gegen die Feinde der Revolution entschieden hat, wenn dies tatsächlich notwendig war? Nein, das kann niemand behaupten. Wladimir lljitsch forderte ein kompromißloses Vorgehen gegen die Feinde der Revolution und der Arbeiterklasse, und im Notfall griff er unbedingt zu entsprechenden Methoden. Sie brauchen nur an seinen Kampf gegen die Sozialrevolutionäre zu denken, die den antisowjetischen Aufstand organisierten, gegen die konterrevolutionären Kulaken im Jahre 1918 und gegen andere Gruppen, als er ohne Zögern die radikalsten Methoden gegen die Feinde anwandte. Allerdings brauchte er sie nur gegen tatsächliche Klassenfeinde, nicht aber gegen Leute, die nur einen Fehler gemacht, die sich geirrt hatten, also gegen diejenigen, die man möglicherweise durch ideologische Einflußmaßnahmen leiten und sogar in der Führung behalten konnte. Lenin benutzte harte Methoden nur im äußersten Notfall, solange die ausbeutenden Klassen noch existierten und der Revolution heftigen Widerstand leisteten, das heißt, wenn der Kampf um den Fortbestand seine schärfsten Formen angenommen hatte, die sogar den Bürgerkrieg ein-schlossen."
Auch hier bleibt also die „sozialistische Gesetzlichkeit" noch mit dem Makel der Zulässigkeit „radikaler Methoden" im „äußersten Notfall" behaftet. Auch kann es nicht gerade Vertrauen erwecken, wenn in der Gegenwart als einer der Vorkämpfer der „sozialistischen Gesetzlichkeit" ausgerechnet jener Strogo-
hervortritt, den wir Ende der dreißiger witsch Jahre als einen servilen Propagandisten der Stalinschen Theorie von der Vereinbarkeit der Gesetzlichkeit" mit „außerordentlichen Maßnahmen" kennengelernt haben. Aber immerhin hat die kommunistische Partei der Sowjetunion mit der Verurteilung der Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit unter Stalin auf dem XX. Parteitag 1956 eine breite Bewegung zur Einhaltung der Gesetzlichkeit ausgelöst. Ent-sozialistischen “ Prechende Appelle sind seitdem regelmäßig wiederholt worden. So heißt es im geltenden Parteiprogramm von 1962: „Die Partei stellt die
Aufgabe, die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit, die Ausmerzung jeglicher Verletzung der Rechtsordnung sowie die Beseitigung der Kriminalität und aller ihrer Ursachen zu sichern."
Wir können den Gehalt dieser Äußerung inzwischen zutreffend einordnen. Die Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit wird hier zwar mit der „Verletzung der Rechtsordnung" und der „Beseitigung der Kriminalität" verbunden. Darin liegt noch ein letzter Anklang an die Lehre Stalins, der die „sozialistische Gesetzlichkeit" völlig auf die Verhütung der Kriminalität reduzieren wollte, so daß deren eigentlicher Bereich, nämlich die Verletzung der Rechte der Bürger durch die Staatsorgane, völlig aus dem Blickfeld verschwand. Die Stalinsche Reduzierung der „sozialistischen Gesetzlichkeit" auf diesen Bereich wird indessen nicht mehr übernommen. Beide Bereiche werden zwar miteinander verknüpft, aber nicht mehr miteinander gleichgesetzt. Neben der Beseitigung der Kriminalität wird die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit als eigenständige Aufgabe anerkannt. Charakteristisch für die neue Bestimmung des Inhalts der „sozialistischen Gesetzlichkeit" und den Versuch, den Wandel möglichst zu vertuschen, ist auch das Lehrbuch „Marxistisch-leninistische Staats-und Rechtstheorie" der DDR von 1975. Dort wird als ein „Grundzug der sozialistischen Gesetzlichkeit" ausdrücklich die Anpassung der Rechtsnormen an die gesellschaftliche Entwicklung aufgeführt. Dabei heißt es: „Die Gesetzlichkeit darf, da sie auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen mittels des Rechts gerichtet und insofern Ausdruck der Gesetzmäßigkeiten ist, niemals als ein starres Prinzip aufgefaßt werden. Es bedarf daher ständig der Prüfung und Über-prüfung, ob und inwieweit das geltende Recht noch seine Funktion als Gestaltungsinstrument erfüllt. Das bedeutet, ständig zu prüfen, ob geltende Rechtsnormen noch dem Entwicklungsniveau entsprechen, ob bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse, die bisher nicht richtig geregelt sind, dieser Regelung bedürfen, ob geltende Rechtsnormen die gewollten gesellschaftlichen Wirkungen tatsächlich haben." Das hört sich ganz nach dem berüchtigten „Beiseiteschieben" der Gesetze im Sinne von Stalin und Wyschinski an, das übrigens in der DDR mit ihrer anfänglichen Beibehaltung des überkommenen deutschen Rechtssystems eine besonders nachdrückliche Zustimmung erfahren hatte. Unmittelbar im Anschluß daran heißt es jedoch: „Außerkraftsetzen oder Verändern können jedoch das Recht nur die hierzu befugten Organe. Ist ein Staatsbürger oder Funktionär der Meinung, daß bestimmte Rechtsvorschriften nicht der Entwicklung dienen, dann ist er verpflichtet, dies den zur Rechtsetzung befugten Organen kundzutun. Er kann sich selbstjedoch nicht von der Befolgung des Gesetzes entbinden."
Begriffliche Präzisierung der „sozialistischen Gesetzlichkeit“
In den letzten Jahren hat das Prinzip der „sozialistischen Gesetzlichkeit" vor allem in der Sowjetunion eine lebhafte wissenschaftliche Bearbeitung und dabei eine erhebliche begriffliche Präzisierung erfahren. Diese Präzisierung betrifft sowohl den Inhalt als auch die Natur des Prinzips.
Was zunächst den Inhalt der „sozialistischen Gesetzlichkeit" angeht, so bemüht sich die sowjetische Rechtswissenschaft um eine Auf-gliederung in bestimmte konkrete Forderungen für die Rechtsordnung. Eine Einigkeit ist insoweit noch nicht erzielt worden. Die offiziöse, groß angelegte „Marxistisch-leninistische Allgemeine Staats-und Rechtstheorie", die in den Jahren 1970— 1973 in vier Bänden erschienen und kurz darauf auch in der DDR übersetzt worden ist, nennt als konkrete Grundanforderungen der „sozialistischen Gesetzlichkeit": die Herrschaft des Gesetzes und die Beachtung der Hierarchie der Rechtsakte die normative Begründetheit von Verwaltungs-, Verfolgungs-und Rechtsakten den Schutz der Bürgerrechte die Unterbindung von Rechtsverletzungen , die rechtzeitige und richtige Behandlung von Beschwerden die Einheit von Rechtsverständnis und -anwendung die Aufsicht und Kontrolle über die Einhaltung der Gesetze
Außerdem streitet die sowjetische Literatur darüber, ob die „sozialistische Gesetzlichkeit" ihrer Natur nach ein Mittel, eine Methode, ein Prinzip oder ein Regime darstellt. Teilweise werden diese Auffassungen auch zu verschiedenen „Aspekten" der „sozialistischen Gesetzlichkeit" miteinander kombiniert, so in der erwähnten „Marxistisch-leninistischen Allgemeinen Staats-und Rechtstheorie".
Wenn auch eine praktische Relevanz dieser Auseinandersetzungen bisher nicht ersichtlich ist, so wirken sich diese Diskussionen doch im Sinne einer allgemeinen Festigung und Weiterentwicklung des Prinzips der „sozialistischen Gesetzlichkeit" aus.
„Sozialistische Gesetzlichkeit“ und Kommunistische Partei
Selbst wenn man diese vorsichtig-optimistische Prognose teilt, bleibt doch immer noch ein gewichtiger Einwand. Die Sowjetunion ist ein Einparteienstaat, in dem die Kommunistische Partei die beherrschende Stellung inne-hat. Ist es nicht unter diesem Aspekt eine Farce, wenn Artikel 4 der Verfassung alle Staatsorgane zur Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit verpflichtet? Wird hier nicht eine bloße rechtsstaatliche Fassade errichtet, während der eigentliche Machtträger, nämlich die Kommunistische Partei der Sowjetunion, von der Schranke der sozialistischen Gesetzlichkeit frei bleibt?
Hier greift indessen Artikel 6 Absatz 3 der neuen Verfassung ein, der bestimmt: „Alle Parteiorganisationen handeln im Rahmen der Verfassung der UdSSR". Das ist zwar offensichtlich nicht eine so weitgehende Beschränkung wie die der Staatsorgane, die nicht nur die Verfassung, sondern auch die sowjetischen Gesetze einhalten müssen. Aber immerhin liegt auch hierin eine bemerkenswerte Bindung der Macht der Partei. Diese Bindung der Partei wenigstens an die Verfassung war eingentlich mehr, als man nach dem seinerzeitigen Stand der Diskussion innerhalb der Sowjetunion erwarten konnte.
II. Der „Rechtsstaat"
Formeller und materieller Rechtsstaatsbegriff
Im vorhergehenden wurde ein mehrfacher und z. T. radikaler Wandel des Begriffs „sozialistische Gesetzlichkeit" dargestellt. Es wäre jedoch voreilig, den Wandel von Begriffen als für kommunistisches Denken typisch darzutun. Denn bemerkenswerterweise hat auch der Begriff „Rechtsstaat" einen erheblichen Wandel durchgemacht. Als dieser Begriff im vergangenen Jahrhundert in Deutschland von F. J. Stahl geprägt wurde sollte er bedeuten, daß sich alle Tätigkeit des Staates im Wege des Rechts, d. h. auf der Grundlage der Gesetze, vollziehen müsse. Das ist eine Auffassung, wie sie in etwa der Konzeption der „sozialistischen Gesetzlichkeit" in ihrer ursprünglichen Form bei Lenin und in ihrer heutigen Form in den kommunistischen Staaten entspricht, wenn man einmal den gefährlichen Vorbehalt „radikaler Methoden" im „äußersten Notfall"
außer acht läßt. Später setzte sich jedoch die Erkenntnis durch, daß dies nicht ausreicht, daß die Gesetze den Staatsorganen noch zu viel Spielraum lassen können, ja daß sie geradezu in einem höheren Sinne Unrecht darstellen können. Dies hat sich vor allem unter der Herrschaft des Nationalsozialismus drastisch erwiesen. Der große Rechtsphilosoph Gustav Radbruch, der in den zwanziger Jahren sozialdemokratischer Justizminister des Deutschen Reiches gewesen war, faßte diese Erkenntnis im Jahre 1946 in einem Aufsatz mit dem Titel „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" zusammen Aus diesem Grunde sieht man heute in Deutschland den früheren, auf die Einhaltung der Gesetze abgestellten Rechtsstaatsbegriff als nur formell an. Er müsse, durch materielle Kriterien ergänzt, zu einem materiellen Rechtsstaatsbegriff erweitert werden. Bei der Umreißung der materiellen Kriterien des Rechtsstaats finden sich in der ) Rechtswissenschaft und der Rechtsprechung I der Bundesrepublik Deutschland zahlreiche Nuancierungen. In diesem Auslegungsspektrum gleichen sich Rechtsstaat und „sozialistische Gesetzlichkeit". Als gemeinsamer unbe-strittener Kanon des materiellen Rechtsstaatsbegriffs dürfen gelten:
die Gewaltenteilung die Rechtssicherheit die Bindung der Staatsgewalt über den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit hinaus an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und an das übermaßverbot ein umfassender Rechtsschutz gegen jeden Akt der Staatsgewalt durch unabhängige Gerichte.
Unterschiede zur „sozialistischen Gesetzlichkeit“
Der Unterschied zu den oben wiedergegebenen Bestandteilen der „sozialistischen Gesetzlichkeit" liegt klar zutage. Als Beispiel für einen Gegensatz zwischen der Gesetzlichkeit und dem Rechtsstaatsprinzip kann die Frage dienen, wie lange Fehler bei der Anwendung der Gesetze korrigiert werden dürfen. Das Prinzip der Gesetzlichkeit würde an sich verlangen, der Forderung des Gesetzes in jedem Fall zum Siege zu verhelfen. Das würde allerdings bedeuten, daß Prozesse noch nach Jahren wieder aufgerollt werden könnten, ja, müßten, wenn sich später eine Verletzung des Gesetzes herausstellt. Dies würde jedoch zu einer unerträglichen Rechtsunsicherheit führen. Der Freigesprochene müßte damit rechnen, noch nach Jahr und Tag erneut angeklagt und verurteilt zu werden, der Verurteilte damit, nach Jahr und Tag erneut angeklagt und schwerer verurteilt zu werden. Aus diesem Grunde wurde das Institut der „Rechtskraft" geschaffen, wonach die Aufhebung eines Urteils nur auf Grund von Rechtsmitteln erfolgen kann, die an bestimmte Fristen gebunden sind. Diese Rechtskraft dient der Rechtssicherheit und ist damit Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips. Nur in ganz seltenen Fällen läßt der Rechtsstaat eine sogenannte „Wiederaufnahme" zu, z. B. wenn ein Zeuge einen Meineid geschworen oder ein Richter eine Rechtsbeugung begangen hat. Dabei unterscheidet das Recht der Bundesrepublik Deutschland noch zwischen der Wiederaufnahme zugunsten und zuungunsten des Angeklagten und läßt erstere in weiterem Umfang zu als letztere. Demgegenüber sieht das Recht der kommunistischen Staaten eine Aufhebung rechtskräftiger Urteile schon dann vor, wenn sich aus irgendwelchen Gründen später eine zu günstige Behandlung des Angeklagten ergibt. Dieses für jeden einmal in die Fänge der Strafjustiz Geratenen bedrückende Verfahren wird nun von der kommunistischen Rechts-lehre mit dem Grundsatz der „sozialistischen Gesetzlichkeit" begründet Diese Begründung ist nicht etwa ein Mißbrauch des Prinzips der „sozialistischen Gesetzlichkeit", sondern entspricht ihr wirklich, denn dieses Verfahren dient in der Tat zur Durchsetzung des Gesetzes — allerdings zu einer rücksichtslosen Durchsetzung. Eben in der Berücksichtigung des Sicherheitsbedürfnisses des Verurteilten besteht ein Gegensatz zwischen Rechtsstaatsprinzip und „sozialistischer Gesetzlichkeit".
Außerdem richtet sich das Rechtsstaatsprinzip an den Gesetzgeber selber und verlangt schon eine bestimmte Ausgestaltung der Gesetze selbst.
III. Sozialistischer Rechtsstaat?
Angriffe gegen den Rechtsstaatsbegriff
Der materielle Rechtsstaatsbegriff wurde von der kommunistischen Ideologie und Staats-und Rechtsphilosophie bis in die jüngste Gegenwart scharf angegriffen. Dabei wurde zutreffend erkannt, daß das eigentliche Wesen des materiellen Rechtsstaatsbegriffs darin besteht, daß der Staat selber dem Recht unterworfen ist, daß das Recht also auch über dem Staat steht und sich nicht auf die vom Staat geschaffenenen Normen beschränkt. Die kommunistische Ideologie sieht hierin eine metaphysische Begründung des Rechts, hinter der nur die herrschende Klasse ihre Interessen versteckt. Noch das sowjetische „Juristische Wörterbuch" von 1956 bezeichnete den Rechtsstaatsbegriff daher als „antiwissenschaftlichen Begriff“
In der DDR trat vorübergehend eine Sonder-entwicklung ein. Ende 1961 gab die DDR ihren bisherigen Kampf gegen den Begriff des Rechtsstaates plötzlich auf und ging zu der neuen Taktik über, diesen Begriff, dessen Diffamierung ihr offensichtlich nicht gelungen war, für sich selbst in Anspruch zu nehmen und ihn zugleich der Bundesrepublik abzusprechen Der Grund für diese radikale Schwenkung lag offensichtlich in dem Versuch, das durch den Bau der Berliner Mauer im August 1961 schwer beschädigte Ansehen der DDR im In-und Ausland wieder aufzubessern. Die These von der DDR als dem deutschen Rechtsstaat wurde dann sogar in das Parteiprogramm der SED von 1963 aufgenommen. Ihren Höhepunkt fand diese Kampagne in der Präambel des neuen Strafgesetzbuches der DDR von 1968, in welcher ausgerechnet das neue Strafrecht als Zeugnis für die DDR als „den wahren deutschen Rechtsstaat“ bezeichnet wurde. Fast zur gleichen Zeit waren die Tage dieser neuen Kampagne aber schon wieder gezählt. Denn die Entwicklung in der Tschechoslowakei hatte gezeigt, daß die Konzeption des sozialistischen Rechtsstaates gefährliche Erwartungen freisetzte. Schon im April 1968, also noch vor Inkrafttreten des Strafgesetzbuches mit seiner Präambel, verurteilte der Rektor der Akademie für Staat und Recht der DDR die Versuche, „die marxistischleninistische Staatslehre und den sozialistischen Staat durch Anleihen bei bürgerlich-imperialistischen Staatsauffassungen und -praktiken auszuhöhlen und ihres Klassenwesens zu berauben" Daraufhin wurde es in der DDR still um den Rechtsstaatsbegriff. In dem neuen Parteiprogramm von 1967 verschwand die Behauptung, daß die DDR der deutsche Rechtsstaat sei. Bei der nächsten Gelegenheit, nämlich dem 2. Strafrechtsänderungsgesetz der DDR von 1977, wurde die entsprechende Formulierung aus der Präambel des Strafgesetzbuchs ohne nähere Begründung gestrichen.
Forderungen an den sozialistischen Gesetzgeber
Es ist daher beinahe als Sensation zu bezeichnen, daß in der letzten Zeit auch in der sowjetischen Rechtswissenschaft Versuche auftauchen, die engen, positivistischen Fesseln der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ zu überspringen und auch aus diesem Begriff Forderungen an den Gesetzgeber selbst herauszuholen. Der Grund für diese Entwicklung sind die Stalin-sehen Terror-und Willkürgesetze, die auch der sowjetischen Staats-und Rechtstheorie deutlich vor Augen geführt haben, daß die Gesetze selbst ungerecht sein können. Aber wo soll der Marxismus-Leninismus Forderungen an den Gesetzgeber herholen? Anforderungen an das positive Recht bedeuten zwangsläufig, daß es — gewissermaßen dem positiven Recht übergeordnet — noch eine höhere Ebene von Rechtsgrundsätzen gibt, denen das Gesetzes-recht entsprechen muß. Das ist aber der unverlierbare Grundgedanke des seit Jahrhunderten in der Rechtsphilosophie diskutierten „Naturrechts". Der Marxismus-Leninismus lehnt dagegen bisher ein solches Naturrecht ganz entschieden ab. Die erwähnten Auffassungen in der sowjetischen Rechtswissenschaft versuchen denn auch nicht, solche übergeordneten Rechtsgrundsätze aus einer göttlichen Weltordnung oder aus einer bestimmten Natur des Menschen abzuleiten. Aber sie erkennen doch, daß es irgendwo Grundsätze geben muß, die für die Gesetzgebung verbindlich sind und an denen sich die positiven Gesetze messen lassen müssen. Sie suchen solche Grundsätze in den „Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung" und dem „Willen des Volkes“.
So sagt die sowjetische Juristin Jelena An-drejwna Lukaschewa in ihrem Buch „Sozialistisches Rechtsbewußtsein und Gesetzlichkeit" von 1973, das 1976 in der DDR in deutscher Übersetzung erschienen ist: „In der sowjetischen juristischen Literatur gibt es die Tendenz zu einer breiteren Auffassung der Gesetzlichkeit, mit der sowohl die Sphäre der Rechtsschöpfung als auch die Sphäre der Einhaltung der Rechtsakte erfaßt wird.... Unserer Ansicht nach sollte die Definition alle Haupt-Elemente widerspiegeln, ohne die die Gesetz-
ichkeit ihre soziale Zweckbestimmung nicht erfüllen kann ... Zu den Hauptelementen gehören 1.der Erlaß eines Systems von Rechtsnormen, das die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung und den Willen des Volkes richtig widerspiegelt; 2.seine strikte und unbeirrbare Durchführung. Nur die Einheit dieser integrierenden Elemente gewährleistet eine wahrhafte Gesetzlichkeit in der Gesellschaft. Allein mit einer wissenschaftlich begründeten Gesetzgebung, von der die objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung richtig widergespiegelt werden, können die vor der Sowjetgesellschaft stehenden Ziele nicht verwirklicht werden, wenn die Normen der Gesetzgebung nicht ins Leben umgesetzt und die Vorschriften übertreten werden. Andererseits fügt die Verwirklichung von Rechtsakten, die den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung und dem allgemeinen Volkswillen widersprechen, den Interessen der sozialistischen Gesellschaft ebenfalls Schaden zu."
Gewiß sind die Gesichtspunkte, deren Berücksichtigung hier für den Erlaß von Gesetzen verlangt wird, nämlich die „Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung" und der „Wille des Volkes", wiederum in sehr starkem Maße politischer Auslegung und politischem Zweckdenken unterworfen. Auch verwahren sich die sowjetischen Autoren aufs strengste dagegen, etwa ein über dem Gesetz stehendes Naturrecht anzuerkennen. Aber man kommt an der Erkenntnis einfach nicht vorbei, daß hier die Wurzeln für ein „sozialistisches Naturrecht" liegen. Die „Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung" gehören nach dem historischen Materialismus zu der sogenannten Basis, über der sich der „überbau" erhebt, zu welchem auch das Recht gehört. Da der „überbau" von der „Basis" abhängig ist, ist das gesetzliche Recht von den „Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung" abhängig. Sprach Radbruch von einem „übergesetzlichen Recht", das die Gesetze zu einem „gesetzlichen Unrecht" machen könne, so müßte man in der Terminolögie und Metaphorik des historischen Materialismus von einem „untergesetzlichen Recht" sprechen, das zu einem „gesetzlichen Unrecht" führen kann.
Auch das „sozialistische Rechtsbewußtsein" verändert im Zuge dieser neuen Entwicklung folgerichtig wiederum seinen Inhalt. Wie erinnerlich, sollte es anfangs das gesetzliche Recht ablösen. Später, unter Stalin, verkümmerte es dann zur bloßen Kenntnis der geltenden Gesetze. Nunmehr wird auch hier diese enge Auffassung wieder überwunden. Das „sozialistische Rechtsbewußtsein" enthält die Rechts-und Wertvorstellungen der Sowjetbürger. Dabei wird freilich kein offener Gegensatz zwischen dem geltenden Recht und dem „sozialistischen Rechtsbewußtsein" zugelassen. Eventuelle Abweichungen des „sozialistischen Rechtsbewußtseins“ vom geltenden Recht werden vielmehr zu Reformvorstellungen und Reformvorschlägen kanalisiert
Freilich hat diese für die sowjetische Staats-und Rechtstheorie sehr folgenschwere Auffassung in die offiziellen Lehrbücher noch keinen Eingang gefunden. Auch in dem eingangs erwähnten Artikel 4 der neuen Verfassung ist sie noch nicht berücksichtigt. Absatz 2 stellt die Verfassung und die sonstigen Gesetze gleich und nimmt zu einem eventuellen Konflikt zwischen beiden, daß heißt zum Problem der Verfassungswidrigkeit von Gesetzen, keine Stellung. Auch werden nur die staatlichen und gesellschaftlichen Organisationen und die Amtsträger an die Verfassung gebunden, nicht aber der Gesetzgeber selbst. Gleichwohl zeigt die Diskussion in der Sowjetunion, die auch auf die übrigen kommunistischen Staaten übergesprungen ist, eine erstaunliche Durchsetzungskraft der Idee eines von staatlichen Instanzen unabhängigen Rechts.
Einschränkung der „sozialistischen Gesetzlichkeit" auf den Schutz des einzelnen
Soeben ist schließlich in der führenden und offiziösen sowjetischen Rechtszeitschrift ein Beitrag erschienen, der eine noch stärkere Annäherung der „sozialistischen Gesetzlichkeit" an den materiellen Rechtsstaatsbegriff enthält. Hier wird die Bestimmung der „sozialistischen Gesetzlichkeit" als Beachtung der Gesetze als ein lediglich formaler Ansatz gerügt, der das Wesen der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ nicht richtig zum Ausdruck bringe. Entscheidend sei vielmehr, wofür und zu welchem Zweck die Gesetze beachtet werden müssen. Dieser Zweck sei die allgemeine Begünstigung der Persönlichkeit. Der Sinn der „sozialistischen Gesetzlichkeit" liege vornehmlich in der Sicherung der höchsten Überzeugung aller Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft von der Unantastbarkeit ihrer Person und der Garantie der Verwirklichung ihrer Rechte und juristischen Freiheiten. Diese Auffassung ist für die sowjetische politische Theorie und Rechtswissenschaft vor allem deswegen unerhört, weil sie auch nach der Aufgabe der Stalinschen Auffassung von der ausschließlichen Richtung der „sozialistischen Gesetzlichkeit" gegen Straftäter immerhin noch die Auffassung vertrat, daß die „sozialistische Gesetzlichkeit“ sowohl für die Staatsorgane als auch für die Bürger selbst gelte und die Einhaltung der Gesetze durch alle Rechtsunterworfenen verlange. Wenn der genannte Beitrag nun die „sozialistische Gesetzlichkeit" als allgemeine Begünstigung der Persönlichkeit ansieht, kann er zwangsläufig als Adressaten der „sozialistischen Gesetzlichkeit" nur noch die Staatsorgane ansehen. Dabei kann sich der Aufsatz darauf stützen, daß der eingangs genannte Artikel 4 der neuen Verfassung in der Tat nur noch den Staat und die Staatsorgane der „sozialistischen Gesetzlichkeit" unterwirft. Auf dieser Grundlage kommt der Beitrag zu einem neuen Katalog von Bestandteilen der sozialistischen Gesetzlichkeit, nämlich die Sicherung der Herrschaft des Gesetzes die Rechtskultur die Sicherung der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz die Sicherung einer systematischen und ständigen Aufsicht (Kontrolle) über die Tätigkeit der Staatsorgane und Beamten die Unabwendbarkeit der juristischen Verantwortlichkeit für jegliche Rechtsverletzung die Mündlichkeit und Öffentlichkeit der Untersuchung von Rechtsverletzungen
So sensationell diese Entwicklung in den kommunistischen Staaten angesichts ihrer bisherigen Grundeinstellung auch ist, so darf sie doch nicht zu einem unrealistischen Optimismus verführen. Für eine Durchsetzung in der Praxis bedarf es konkreter, mit Macht ausgestatteter Organe, die die Interessen des einzelnen verteidigen können, und vor allem einer Aufteilung der Macht im Staat auf verschiedene Organe, die sich gegenseitig ausbalancieren und unter Kontrolle halten. Insofern erweist sich das Merkmal der Gewaltenteilung und -hemmung vielleicht als das wichtigste Merkmal des Rechtsstaats im materiellen Sinne.
Aber daß die übrigen Merkmale des materiellen Rechtsstaatsbegriffes auch in den kommunistischen Staaten zunehmend Anerkennung finden, bestätigt die Attraktivität dieses Begriffs.