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Schwierige Alternativen im arabisch-israelischen Konflikt Zwischen einer zweiten Teilung und einem dritten Palästina-Staat | APuZ 50/1979 | bpb.de

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APuZ 50/1979 Schwierige Alternativen im arabisch-israelischen Konflikt Zwischen einer zweiten Teilung und einem dritten Palästina-Staat PLO — Zwischen Terror und Diplomatie Zum Selbstverständnis und zu den politischen Bestrebungen der Palästina-Araber seit 1967

Schwierige Alternativen im arabisch-israelischen Konflikt Zwischen einer zweiten Teilung und einem dritten Palästina-Staat

Avner Yaniv

/ 38 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Angesichts der Bemühungen, den Nahost-Konflikt zu lösen, zeichnet sich ein weltweiter Trend ab, für die Schaffung eines dritten palästinensischen Staates auf dem ursprünglichen Mandatsgebiet einzutreten. Demgegenüber besteht in Israel ein weitgehender Konsens zugunsten einer zweiten Teilung des historischen Mandatsgebietes, der die Schaffung eines zusätzlichen Staates diametral entgegensteht. Der Autor geht der Frage nach, welche dieser beiden Alternativen als praktische politische Lösung die vernünftigere wäre. Zu Beginn werden die Hauptargumente für die Alternative „dritter Staat" dargelegt. Im zweiten Teil werden dann die Argumente auf der Grundlage der Konzeption der Alternative „zweite Teilung" auf ihre Stichhaltigkeit hin eingehend überprüft. Das Resultat der Analyse lautet, daß ein dritter Staat zwischen Jordanien und Israel nicht lebensfähig wäre und nicht zur Beilegung des Konflikts beitragen würde. Er könnte weder das Flüchtlingsproblem lösen, noch würde er die Energieprobleme des Westens oder die Gefahr einer Kollision der Supermächte im Nahen Osten aus der Welt schaffen. Seine einzige Chance läge in einer vollständigen Neufestsetzung der Zielvorstellungen der PLO. Wegen der inneren Gewaltstruktur und der ideologischen Plattform der PLO erscheint diese Umorientierung jedoch höchst unwahrscheinlich. Im historischen Kontext sind die derzeitigen palästinensischen Bestrebungen im Rahmen einer zyklischen Bewegung zu sehen, die seit jeher zwischen den beiden Polen „Panarabismus" und „Palästinazentrismus" pendelt Daher ist die „Palästinensische Revolution" keine eigenständige Größe, sondern sie wird unmittelbar beeinflußt von dem jeweiligen Stand der labilen inter-arabischen Beziehungen. Auf der Suche nach einer tragfähigen Alternative sollte man versuchen, einen Kompromiß zwischen einem „dritten Staat" und einer „zweiten Teilung''zu finden. So wäre eine Unterscheidung zwischen Israels strategischer und politischer Ostgrenze möglich. Während die strategische Grenze sich mit der Waffenstillstandslinie nach dem Sechs-Tage-Krieg decken sollte, d. h. mit dem Jordanfluß, könnte die politische Grenze möglicherweise mit den Linien vor Juni 1967 übereinstimmen. In der zwischen diesen Linien liegenden Zone könnte ein autonomes Gebiet für die Palästinenser errichtet werden, das mit Jordanien konföderativ verbunden wäre. Dieser Kompromiß wäre keine Ideallösung, erscheint aber als vernünftiger und durchführbarer Vorschlag.

Es geschehen seltsame Dinge. Bruno Kreisky, Österreichs jüdischer Bundeskanzler, dessen Bruder israelischer Staatsbürger ist, inszenierte ein weltweit beachtetes Treffen zusammen mit dem früheren Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland — der eine so einwandfreie Vergangenheit als Nazigegner hat, daß er sich noch heute manchmal dem Vorwurf des Vaterlandsverrats ausgesetzt sieht — und einem wild aussehenden Palästinenser-Führer, Verwandter des früheren Großmufti von Jerusalem, der bekanntlich ein Proteg der Nazis war, während er selber für zahlreiche Terroraktionen gegen Österreicher und Westdeutsche verantwortlich ist. Knapp zwei Monate später findet ein geheimes Treffen zwischen dem UNO-Botschafter der USA — ehemals eine prominente Persönlichkeit der Bürgerrechtsbewegung, an der zahlreiche Juden beteiligt waren — und dem Vertreter einer Organisation statt, zu deren Glaubensbekenntnis es gehört, den Juden jedes Anrecht auf das Land abzusprechen, wohin sie während ihrer zweitausendjährigen Leidensgeschichte ihre Gebete richteten, und die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, sie mit Gewalt aus diesem Land zu vertreiben. Als der UNO-Botschafter von seinem Präsidenten zum Rücktritt aufgefordert wird, gibt er offen zu, seine Befugnisse überschritten zu haben, tritt zurück und initiiert eine Auseinandersetzung, die selbst eine so nüchterne Zeitung wie die New York Times als „giftigen Rassen-und Religionsstreit" zwischen Schwarzen und Juden bezeichnet

Man muß nicht unbedingt ein guter Kenner der verzwickten politischen Problematik des arabisch-israelischen Konflikts sein, um den roten Faden auszumachen, der sich durch diese Ereignisse zieht. Sie sind in einer etwas dramatischen Art und Weise der Beweis dafür, daß der Westen in wachsendem Maße davon Aus dem Englischen übersetzt von Ingemarie Cra-^ndorff, Icking. Titel der englischen Fassung: •^ighing the Alternatives: Between a second Par-tition and a Third Palestine State“.

Einführung

Abbildung 1

überzeugt ist, daß der arabisch-israelische Konflikt mit all seinen Konsequenzen für den Weltfrieden und selbstverständlich auch für die Energieversorgung des Westens nur gelöst werden kann, wenn die Forderung der Palästinenser auf Selbstbestimmung akzeptiert und die PLO diplomatisch — und damit auch international — anerkannt wird. Kurz gesagt: der Westen scheint also — wie zuvor schon die Dritte Welt und die Staaten des Warschauer Pakts — für die Schaffung eines dritten Staates im historischen Gebiet Palästinas zu plädieren, der von der Palästinensischen Befreiungsfront regiert werden soll.

Dieser Trend hat-in Israel Bestürzung hervorgerufen. Solange die PLO nur von der Sowjetunion, China und den radikaleren der blockfreien Staaten unterstützt wurde, konnten die Israelis das Thema als für ihre praktische Politik ziemlich irrelevant beiseiteschieben (für die Sicherheitspolitik traf das allerdings nicht im gleichen Maße zu). Als jedoch bei den Nordatlantikpakt-Staaten eine gewisse Abbröckelung des Widerstandes gegen die PLO spürbar wurde, wurden viele Israelis von der Vision eines bevorstehenden zweiten Holocaust heimgesucht. In Israel wurden jene Stimmen immer lauter, die eine Parallele zogen zwischen dem 1938 von England und Frankreich auf die Tschechoslowakei ausgeübten Druck zur Abtretung des Sudetenlandes an Nazi-Deutschland und ihrem (zusammen mit anderen Mitgliedstaaten der EG und indirekt auch den USA) gegenwärtig forcierten Druck auf Israel, die Gründung eines Palästinenser-staates auf der Westbank zuzulassen. Die Tatsache, daß die westlichen Nationen hartnäckig leugnen, der Hauptgrund für ihren Sinnes-wandel sei das Erdöl, und statt dessen fadenscheinige moralische Motive vorschieben, macht sie in den Augen der Israelis nur noch verdächtiger.

Abgesehen von diesen Befürchtungen sind die meisten Israelis der Ansicht, daß die Vorstellungen über einen dritten Staat kurzsichtig und wenig erfolgversprechend seien und die einzig mögliche Alternative nur in einer zweiten Teilung Palästinas liege-, — dabei denken sie nicht an das 1947 amputierte Gebilde, sondern vielmehr an die zur Zeit der Balfour-Deklaration bestehenden Grenzen (d. h. Israel, Gazastreifen, Westbank und Jordanien). Wo in diesem Falle die Demarkationslinien zu ziehen wären, darüber werden hitzige Debatten ausgetragen. Eine kleine, aber lautstarke und engagierte Gruppe von Israelis macht sich für eine Teilung stark, die den Status quo nach 1967 erhalten und das Westufer sowie den Gazastreifen unter israelischer Souveränität belassen will. Die Mehrheit der politischen und intellektuellen Elite Israels verwirft diese Vorstellung jedoch als undurchführbar und befürwortet statt dessen eine Unterscheidung in strategische und politische Grenzen. Aus ihrer Sicht sollte der Jordan für alle Zeit Israels strategische Grenze bleiben. Die politische Grenze dagegen sollte irgendwo westlich davon verlaufen und sich eventuell sogar mit den Waffenstillstandslinien von 1949— 1967 dek-ken. Anders ausgedrückt würde die Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit eher auf einer Oberhoheit (suzereignty) Israels über das Westufer und den Gazastreifen bestehen als auf der israelischen Souveränität (sovereignty) über diese Gebiete

Diese zwei Meinungen (die noch in mindestens vier unterschiedliche Denkschulen unterteilt werden könnten) werden von fast 90 v. H. aller Israelis geteilt, d. h„ es würden alsc nur schätzungsweise 10 v. H. die Vorstellung eines dritten Staates ohne Vorbehalte akzeptieren. Und da zu diesen wiederum vorwiegend die israelischen Araber gehören, dürfte die Behauptung, daß die überwältigende Mehrheit der Israelis eher einer zweiten Teilung als der Schaffung eines dritten Staates zustimmen würde, sehr wahrscheinlich zutreffen

Es fragt sich nun, welche dieser beiden Alternativen als praktische politische Lösung vernünftiger ist. Entspricht der interne israelische Konsens zugunsten einer zweiten Teilung überhaupt den Notwendigkeiten der politischen Situation, oder trifft dies vielleicht eher auf den sich abzeichnenden weltweiten Konsens zugunsten eines dritten, PLO-kon-trollierten Staates zu? In diesem Artikel soll versucht werden, auf diese Frage eine Antwort zu geben: Zuerst sollen die Hauptargumente für die Alternative „dritter Staat“ zusammengestellt und erörtert werden. Im zweiten Teil sollen sie dann auf der Grundlage der Konzeption einer zweiten Teilung überprüft werden.

Alternative: Dritter Staat

Die Gründe für einen dritten Staat auf dem Gebiet Israels und Jordaniens können auf vielfältige Weise dargelegt werden; im wesentlichen beruhen sie jedoch auf folgenden acht „Bausteinen":

Erstens: Ein dauerhafter Friede im Nahen Osten ist heute dringlicher denn je zuvor. Die Verschlechterung seiner Energieversorgungssituation hat den Westen äußerst anfällig für Pressionen arabischer Ölproduzenten werden lassen, wie sich 1973/74 anläßlich des Teil-embargos von Rohöllieferungen an die USA und die Niederlande zeigte. In den Jahren 1975 bis 1977 wurde die Verhandlungsposition der Produzentenstaaten durch ein relatives Überangebot auf dem Erdölmarkt geschwächt; sie sahen sich gezwungen, die Auswirkungen der Inflation zu absorbieren und folglich in der Praxis einen allmählichen Rückgang ihrer Gewinne hinzunehmen. Im Laufe des Jahres 1978 kam es jedoch zu einer neuen und möglicherweise schlimmeren Verknappung des Erdöls. Rein theoretisch könnten die USA und ihre europäischen Verbündeten die Ölproduzenten zwingen, ihre Lieferungen aufrechtzuerhalten. Dies käme jedoch einem Akt der Verzweiflung gleich, der im schlimmsten Fall im Nahen Osten Zerstörungen anrichten würde, von denen nur die Sowjetunion profitieren könnte. Im günstigsten Fall würden die US-eu-ropäischen Beziehungen unerträglichen Belastungen ausgesetzt sein und somit wiederum die Haltung des Westens gegenüber der Sowjetunion geschwächt werden. Darüber hinaus sind sich die arabischen Ölproduzenten voll der Tatsache bewußt, daß extremer Druck den Westen als Ganzes oder einzelne westli-ehe Staaten zu sehr harten Reaktionen treiben könnte. Ebensosehr sind sie sich ihrer eigenen wachsenden Abhängigkeit von westlicher Technologie und dem Schutz vor arabischem Radikalismus bewußt. Sie haben daher bisher eine äußerst vorsichtige Taktik angewandt, um in der Einstellung des Westens gegenüber der arabischen — und insbesondere der palästinensischen — Sache einen Wandel herbeizuführen. Sie würden ohne weiteres die ölpreise noch weiter in die Höhe treiben und die Produktion verringern, jedoch sicher nicht so weit gehen, den Westen zu Sanktionen zu provozieren. Gelegentlich zeigen sie sich marginal konzessionsbereit, indem sie darauf hinweisen, daß dies die Belohnung für positive Aktionen des Westens sein würde.

Die westlichen Regierungen sind sich voll bewußt, daß eine Befriedigung der arabischen Erwartungen in der Palästina-Frage keine Lösung des Energieproblems ist. Sie sind jedoch genauso ängstlich bemüht, eine Konfrontation zu vermeiden und den arabischen Öllieferanten möglichst keinen Anlaß zu geben, die Ölwaffe einzusetzen. Schließlich hat das Energieproblem noch dazu geführt, daß die westlichen Länder in gesteigertem Maß davon abhängig sind, ihre Produkte und ihr „Know-how" in die arabischen Staaten zu exportieren. Diesen wird dadurch eine stumpfe, aber gelegentlich wirksame zusätzliche Waffe an die Hand gegeben, den Westen zu „positiven" Aktionen zu zwingen, nämlich durch den Widerruf bestimmter Handelsverträge. Eine derartige Aktion kann leicht einen zwar marginalen, aber spürbaren Effekt auf die Zahlungsbilanz des betreffenden Verbraucherlandes sowie auf seinen Arbeitsmarkt haben.

Zweitens: Wie der Beinahe-Zusammenstoß zwischen den USA und der Sowjetunion am 23. /25. Oktober 1973 bewies, sind der arabisch-israelische Konflikt und die weltweite Interaktion der Supermächte durch die Beziehungen zwischen Lieferant und Kunde auf dem Gebiet der Waffenlieferungen so untrennbar miteinander verbunden, daß jedes Aufflackern von Gewalttätigkeiten im Nahen Osten eine weltweite Katastrophe auslösen kann. Da die Supermächte inzwischen ziemlich verfeinerte Krisenmanagement-Methoden entwickelt haben, muß es im Falle einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Arabern und Israelis nicht unweigerlich zu einer Katastrophe kommen; zumindest aber können weitere Gewalttätigkeiten oder Beinahe-Gewalttätigkei-ten zwischen Arabern und Israelis zu einem Rückschlag in dem bereits stockenden Prozeß der Ost-West-Entspannung führen.

Drittens: Die Suche nach den Bedingungen für einen Frieden im Nahen Osten muß damit beginnen, das Grundproblem für den arabisch-israelischen Konflikt auszumachen. Es wurde bis 1967 zu Unrecht in der Konfrontation zwischen Israel und seinen arabischen Nachbar-staaten und indirekt auch in der komplexen Dynamik der inter-arabischen Beziehungen und der besonderen Abneigung der Araber gegen Kompromisse gesehen. Dies sind zwar weiterhin entscheidende Faktoren, doch ist offenkundig geworden, daß der wesentlichste Grund für den Konflikt in der Verzweiflung der Palästinenser liegt, weil ihnen von den Israelis, aber auch von der arabischen Welt beständig ihre legitimen Rechte verweigert werden. Die Palästinenser sind nicht in der Lage, auf irgend jemanden im Nahen Osten Druck auszuüben, ganz zu schweigen von Israel. Aber durch die Dynamik der inter-arabischen Beziehungen fungieren sie oft als eine Art Zünder und lösen somit weitreichende regionale Unruhen aus. In dem Bemühen um Frieden im Nahen Osten muß daher stets zuerst nach Maßnahmen gesucht werden, die den Palästinensern möglichst wenig Vorwände liefern, gefährliches Unheil anzurichten.

Viertens: Die Konferenz von Rabat im September 1974 und die im Dezember 1978 in Bagdad zustande gekommene erweiterte Ablehnungsfront, durch die Ägypten gezwungen werden sollte, seine Bemühungen um Frieden mit Israel abzubrechen, haben eindrucksvoll die Entschlossenheit der Araber demonstriert, den Palästinensern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Jordanien ahnte diesen Trend voraus und versuchte bereits im September 1970, die PLO zu zerschlagen. Dies gelang zwar, doch stellte König Hussein sehr schnell fest, daß die PLO in der Lage war, diesen Schlag zu verwinden. Infolgedessen versuchte er, die Palästinenser zu bewegen, ihn bei der Fortführung der von seinen Vorgängern eingeleiteten Politik einer Kontrolle über Palästina zu unterstützen, indem er im März 1972 einen Plan für eine jordanisch-palästinensische Konföderation vorschlug. Als auch dieses Angebot zurückgewiesen wurde, fand sich Jordanien schließlich mit seiner Ablehnung durch die Palästinenser ab und akzeptierte das Verdikt des vorherrschenden panarabischen Konsensus. Auch Syrien versuchte, die PLO im Libanon zur Unterwerfung zu zwingen. Aber obwohl es den Palästinensern große Verluste an Menschenleben und Gütern zufügte, hat es stillschweigend anerkannt, daß die PLO nicht wieder auf den Status von vor 1967 zurückgedrängt werden kann.

Fünftens: Diese Entwicklungen griffen auf die von Israel besetzten Gebiete am Westufer und im Gazastreifen über. In dem Zeitraum von 1967 bis 1973, als die PLO wiederholt von Israel und Jordanien militärisch geschlagen wurde und selbst keinerlei Möglichkeit hatte, eigene Operationen von Syrien oder Ägypten aus zu starten, konnte Israel den Widerstand gegenüber der Besetzung sehr erfolgreich in Schranken halten. Seit 1973 hat sich seine Herrschaft über diese Gebiete jedoch abgeschwächt. Dieser Trend wurde sehr wahrscheinlich durch die sich aus der Besetzung ergebenden Härten verstärkt, vor allem aber — wie oben bereits erwähnt — durch den „spill-over" -Effekt, den der Aufstieg der PLO in den arabischen Staaten und in der Welt überhaupt hatte.

Zu diesen beiden Faktoren kam als dritter der Niedergang der alternden, pro-haschemitischen Elite des Westufergebietes und der Aufstieg einer neuen, jungen und nationalbewußten Elite hinzu. Die Kanaans, die Nusseibehs und die Ja’abaries haben ihren Einfluß verloren; jetzt ist die Zeit der Qawasmeh's der Shaq’ahs und der Khalaphs — und damit der breiten Unterstützung der PLO und ihrer Ziele — gekommen:

Sechstens: Bei ihrem Aufstieg aus dem Dunkel zu politischer Wirksamkeit machte die PLO einen zwar schmerzlichen, aber konstruktiven Lernprozeß innerhalb ihrer Organisation durch. Der vor 1967 gültige Begriff des Völkermords an den Juden wurde verworfen. Die zwischen 1967 und 1973 vorherrschenden Zielvorstellungen einer politischen Liquidierung (politicide") Israels wurden weiterentwickelt; zugleich aber nimmt die Auffassung zu, daß ein säkularer und demokratischer Palästinenser-Staat geschaffen werden sollte, in dem die Juden ebenfalls Platz haben könnten — wie es angeblich in der arabischen Welt immer der Fall war.

Dieser Lernprozeß spiegelte sich in intensiven Diskussionen innerhalb der PLO-Elite wider, die zunehmend auch die Demontage Israels in Frage stellt. Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, daß eine Anerkennung der PLO durch den Westen und Israel den gemäßigteren Kräften helfen könnte, sich gegen den militanten Flügel durchzusetzen, um so das bislang sakrosankte Prinzip der Unteilbarkeit Palästinas aufzugeben und sich mit der Vorstellung eines Ministaates auf dem Westjordanufer und im Gazastreifen anzufreunden. Siebtens: Der Erfolg und die Zustimmung, die die PLO inzwischen bei der breiten Masse der Palästinenser gefunden hat, hat auch auf Israel selbst übergegriffen. Einstmals unterdrückt und gedemütigt durch die herablassende Haltung ihrer Bekannten und Verwandten jenseits der Grenze wie auch durch die israelische Politik der „Judaisierung", haben die ständig zahlreicher werdenden gebildeten Araber innerhalb Israels rasch ein eigenes, lebendiges palästinensisches Nationalbewußtsein entwickelt. Konkrete Form nahm es während der Ereignisse des „Tages des Bodens" an — wo es bei Zusammenstößen mit israelischen Sicher-

heitskräften Tote gab und so der Bewegung eigene Märtyrer erstanden — und durch das Bekanntwerden des berüchtigten König-Memorandums, worin Repressionen gegen israelische Araber diskutiert wurden.

In einer etwas verspäteten Reaktion auf diesen Trend beschleunigte Israel in einer publizistisch stark beachteten, aber praktisch eher begrenzten Kampagne die Errichtung jüdischer Siedlungen im Herzen des oberen, überwiegend arabischen Teils von Galiläa. Dieser Versuch trug jedoch nur zu einer Steigerung des palästinensischen Nationalbewußtseins bei den israelischen Arabern bei. Es ist daher in Israels eigenem Interesse, dieses auflodernde Feuer durch umfassende Abmachungen mit den Palästinensern zu löschen, die hoffentlich inter alia auch das Problem der eigenen arabischen Bevölkerung Israels lösbar machen würden.

Achtens: Alle diese praktischen Aspekte werden in den Augen vieler westlicher Befürworter eines dritten Staates noch durch eine moralische Überlegung unterstrichen. Sie argumentieren damit, daß die „Erbsünde", die zum arabisch-israelischen Konflikt geführt habe, der Antisemitismus Europas sei. Dies sei der Grund für die jüdische Tragödie gewesen, ohne die — aus ihrer Sicht — der Zionismus vielleicht nie einen ernst zu nehmenden Auftrieb erhalten hätte. Die zionistische Lösung der jüdischen Tragödie ihrerseits habe die palästinensische Tragödie heraufbeschworen. Die Palästinenser hätten also nicht nur legitime Rechte, sondern der Westen habe die Pflicht, dazu beizutragen, daß sie diese Rechte zurückerlangten. Das Ziel dabei wäre nicht — wie die Verfechter dieser These eilig hinzuzufügen pflegen — die Demontage Israels, da dadurch die jüdische Tragödie mit Sicherheit neu erzeugt werden würde. Der Beitrag des Westens zur Lösung der Palästinafrage sollte vielmehr darin liegen, Israels Verwundbarkeit und hohe Abhängigkeit von westlichen Fonds als Instrument dazu zu benutzen, es sanft, aber fest zu einer Anerkennung der Rechte der Pa-lästinenser zu bewegen. Um es mit den Worten George Balls, eines der prononciertesten Befürworter dieser These, zu sagen: der Westen solle „Israel gegen seinen eigenen Willen retten"

Alternative: Zweite Teilung

Zahlreiche Argumente zugunsten der Alternative eines dritten Staates können also vorgebracht werden. Dennoch ist es zweckmäßig, danach zu fragen, ob dies a) alle Fakten sind und b) ob daraus uriausweichlich die Schlußfolgerung gezogen werden muß, daß eine Lösung des arabisch-israelischen Konflikts allein in der Schaffung eines dritten palästinensischen Staates auf dem Westufer und dem Gazastreifen liege. Auch hier lassen sich die Antworten in mehrere Teile aufgliedern, von denen einige in direktem Bezug zu den Hauptpunkten des vorhergehenden Kapitels stehen.

Erstens: Ist es wahrscheinlich, daß die Alternative „Dritter Staat" das . hochpolitische'Problem der palästinensischen Aspiration nach unabhängiger Staatlichkeit und das damit verbundene . unpolitische'Problem der Flüchtlinge unmittelbar löst? Nichtkenner der Situation sollte man an den Ablauf der Ereignisse erinnern, durch die sich das Problem in seinen gegenwärtigen Dimensionen entwickelt hat:

Die PLO ist zwar bereits 1964 gegründet worden, sie war aber zu diesem Zeitpunkt eher ein Werkzeug der panarabischen Ambitionen Nassers als eine echte palästinensische Organisation. Daher wurde im Herbst 1967 bei der UNO-Debatte über die Rahmenbedingungen eines Friedens zwischen Arabern und Israelis trotz aller Absichten und Vorsätze kein ernsthafter Anspruch auf ein unabhängiges Palästina erhoben: dementsprechend wurde in der schließlich verabschiedeten Resolution 242 lediglich von dem nichtpolitischen Problem der Flüchtlinge gesprochen.

Seitdem hat die PLO in der interarabischen Politik bedeutend an Gewicht gewonnen, und die arabische Welt selbst hat sich aufgrund der revolutionären Veränderungen auf dem Weltenergiemarkt in einem geradezu kometenhaften Aufstieg einen führenden Status in der Welt erobert. Das Ergebnis davon war, daß auf den von der Arabischen Liga 1974 in Rabat gefaßten Beschluß, die PLO als die einzig legitime Vertretung der Palästinenser anzuerkennen, auch eine entsprechende Anerkennung seitens der OAU und anschließend auch durch die Blockfreien-Bewegung folgte. Seitdem hat der Druck für eine Revision der UNO-Resolu-tion 242 — wonach nicht länger die Flüchtlingsfrage, sondern die nationale Selbstbestimmung ihren Kernpunkt bilden soll — ständig zugenommen, so daß zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Artikels eine Änderung bereits als ausgemachte Sache erscheint

Die meisten dieser internationalen Organisationen übersahen absichtlich die Tatsache, daß die PLO nichts Geringeres bezweckte als die Demontage Israels und die vollständige Rückkehr aller Flüchtlinge in ihre Heimat. Falls diese Absicht ausgeführt werden sollte, wird die Selbstbestimmung für die Palästinenser schon allein dadurch eine Lösung des Flüchtlingsproblems beinhalten. Die 3, 25 Millionen Juden würden dann gewaltsam aus Palästina hinausgedrängt und gleichzeitig der Exodus der Palästinenser von 1948 und 1967 umgekehrt. Die logische Folgerung aus dieser apokalyptischen Vorschau ist freilich, daß jegliche Regelung, die nicht einem totalen Sieg der PLO gleichkommt, niemals ausreichen würde, um das schwerwiegende Flüchtlingsproblem innerhalb von Palästina westlich des Jordanflusses zu lösen. Da diese Frage, obwohl ihrem Wesen nach eigentlich mehr demographisch-technisch ist, von politischer Brisanz begleitet wird, sind verläßliche Angaben über die genaue Größenordnung der Flüchtlingszahl schwer zu erhalten.

Nach UNO-Quellen waren die palästinensischen Flüchtlinge zwischen dem l. Juli 1975 und dem 30. Juni 1976 geographisch wie folgt verteilt Wenn alle registrierten Flüchtlinge im Libanon, Syrien und Jordanien in einen Ministaat am Westjordanufer repatriiert werden sollten, würde sich die Bevölkerung in diesem Gebiet fast verdoppeln. Und selbst wenn man sich an die Zahl der in Lagern im Libanon, Syrien und Ostjordanufer lebenden Flüchtlinge hält — was die PLO aus offenkundigen politischen Gründen nicht tut — müßten rund 227 000 Menschen (schätzungsweise 20 % der Bevölkerung auf der Westbank und im Gazastreifen) von diesen Gebieten absorbiert werden, die bekanntermaßen unfruchtbar und schwer zu besiedeln sind und die nicht einmal über eine rudimentäre industrielle Infrastruktur verfügen Ob dies angesichts der gegenwärtigen und wahrscheinlich auch zukünftigen Wirtschaftslage des Westufers und des Gazastreifens überhaupt durchführbar ist, bleibt äußerst fraglich. Doch selbst wenn dies mach-bar wäre, besteht kein Zweifel darüber, daß der geplante Ministaat ungeheure Schwierigkeiten zu bewältigen haben wird, selbst wenn man — wie Walid Al Khalidi — davon ausgeht, daß er großzügige internationale Unterstützung erhalten wird Es ist aber keineswegs unsinnig, anzunehmen, daß ein großer Teil der durch solche Entwicklungen oft entstehenden Frustrationen und Bitterkeiten sich auf die benachbarten Staaten Israel und Jordanien ausbreiten werden.

Wenn umgekehrt eine Art übergeordnete politische Verbindung zwischen dem Gazastreifen, dem Westufer und Jordanien als Gesamtrahmen geschaffen wird, innerhalb dessen der palästinensisch-israelische Konflikt gelöst werden soll, wird der für Umsiedlungsprojekte verfügbare Raum sieben-bis achtmal größer sein, und die Anzahl der umzusiedelnden Menschen würde nur ein Drittel derjenigen betragen, die im Falle der Westufer-Gaza-Lösung zu bewältigen wäre. Dies wäre für sich allein zwar noch keine Garantie dafür, daß der Umsiedlungsprozeß keine Spannungen von internationaler Reichweite hervorrufen würde, aber er könnte dazu beitragen, daß sie weniger wahrscheinlich würden und von geringerer Tragweite wären.

Zweitens: Selbst wenn man davon ausgeht daß die Schaffung eines dritten Staates sowohl eine Lösung für die nationalen Hoffnungen der Palästinenser als jauch für das Flüchtlingsproblem darstellt, bedeutete dies dann auch, daß die Energieprobleme des Westens mit der Gründung eines solchen Staates verschwinden würden? Auch hier scheint es keine überzeugende — eher aber eine ins Negative tendierende — Antwort zu geben. Wenn es auch schwerfällt, Argumente dagegen vorzubringen, daß die Energiekrise eine ernste Bedrohung der Interessen des Westens darstellt, so kann doch vorausgesetzt werden, daß das Verhalten der Ölproduzenten gegenüber den führenden Abnehmerstaaten nur sehr marginal durch den arabisch-israelischen Konflikt beeinflußt wird.

Wie zwei führende britische Beobachter festgestellt haben, sehen sich die ölproduzierenden Länder vor allem drei Hauptproblemen gegenüber: a) sicherzustellen, daß ihre kostbaren Erdölreserven noch für möglichst viele Jahre ausreichen, b) sicherzustellen, daß ihre schnell anwachsenden Währungsreserven gut investiert werden und c) ihr Rohöl zur Schaffung einer gesunden wirtschaftlichen Grundlage zu nutzen, um so das Wohlergehen ihrer Länder langfristig zu sichern. Dies bedeutet keineswegs, daß sie die Sache der Palästinenser nicht aufrichtig unterstützten. Ganz im Gegenteil: Als gute Mohammedaner sind sie entschieden gegen Israels Kontrolle über die Heiligen Stätten. Darüber hinaus bieten ihre Reichtümer ebenso wie ihre internen Modernisierungsprogramme — das drastischste Beispiel dafür ist der Iran — und auch ihre militärische Schwäche Angriffsflächen für die Subversion. Um dies zu vermeiden, haben sie der PLO sozusagen eine ansehnliche Bestechungssumme gezahlt. Sie scheinen sich jedoch absolut der Tatsache bewußt zu sein, daß ein weiteres Nachgeben den Appetit des Er-pressers nur noch größer machen würde. Infolgedessen scheinen sie die Hoffnung zu hegen, daß sie derartige Gefahren für sich selbst leichter abwehren können, wenn es ihnen gelingt, die politischen Ansprüche der gemäßigteren Palästinenser zu befriedigen.

Doch selbst wenn man davon ausgeht, daß die Ölstaaten einerseits ihre politischen Motive haben und andererseits gleichzeitig Sympathie für die weniger militanten Mitglieder der PLO empfinden, so bleibt es doch fraglich, inwieweit dies ihr Verhalten auf dem Welterdölmarkt beeinflußt. Letztendlich aber scheint das nur sehr wenig zu zählen. Im spezifischen Fall kann man von der Annahme ausgehen, daß die Ölwaffe oder die Bedrohung der einen oder anderen westlichen Investition nur dann eingesetzt werden wird, wenn die Aussicht besteht, daß dies den oben genannten Grundinteressen der Ölstaaten dienlich ist oder ihnen zumindest nicht zuwiderläuft

Drittens: Wenn es auch auf den ersten Blick unstrittig zu sein scheint, daß der arabisch-israelische Konflikt eine Gefahr für den Weltfrieden bedeutet, so lassen sich doch drei einschränkende Hinweise nennen: Einmal kann die sowjetische Einflußnahme im Nahen Osten zwar durch die Feindseligkeiten zwischen Arabern und Israelis gefördert werden, sie darf jedoch den arabisch-israelischen Spannungen nicht allein angelastet werden. Seit den allerersten Anfängen, seit dem Bestehen des modernen Rußland, stoßen die Russen nach Süden vor. Daß die Sowjetunion nach jahrhundertelangen Fehlschlägen nun darin in letzter Zeit erfolgreicher ist, liegt einerseits im modernen Nationalismus der weniger entwikkelten Länder der Welt einschließlich des Nahen Ostens begründet und andererseits paradoxerweise in der diesbezüglichen Zurückhaltung des Westens. Denn durch den Versuch, auf der Grundlage der Dreiererklärung von 1950 Waffenlieferungen in jene Teile der Welt zumindest teilweise einzuschränken, ließ der Westen sie nach Waffen „hungern", ohne die Konflikte zu lösen, die diesen Hunger nach Waffen überhaupt erst hatten entstehen lassen. Die Sowjetunion dagegen erwies sich als geduldiger und großzügiger Alternativlieferant, nachdem sie ihre Abnehmerstaaten nicht mehr wie früher nach streng ideologischen Kriterien auswählt.

Es läßt sich daher behaupten, daß jeder Konflikt im Nahen Osten potentiell ein Vehikel für sowjetisches Engagement darstellt, worauf sich fast automatisch auch der Westen engagiert und daraus wiederum ein weiterer Konfliktherd entsteht. Afrika hat das demonstriert — und auch das sogenannte „Krisenquadrat“ von Ostafrika über das Horn von Afrika, Süd-arabien, den Persischen Golf und den Iran bis nach Indien

Auf der anderen Seite wäre es einfach, zu behaupten, daß der arabisch-israelische Konflikt nicht das Potential für einen weltweiten Konflikt enthalte. Das wachsende Interesse der Sowjets am öl des Nahen Ostens und das bereits vorhandene vitale Interesse des Westens scheinen jedoch darauf hinzuweisen, daß ein möglicherweise noch schlimmerer Konflikt-herd der Supermächte in Teilen Nordafrikas und um den Persischen Golf herum entsteht — in einer Gegend also, die am Rande der israelisch-arabischen Auseinandersetzung liegt

Schließlich läßt der israelisch-ägyptische Friedensvertrag vermuten, daß gerade die steigenden Kosten eines Krieges als Ergebnis besserer Ausbildung und umfangreicherer, hochtechnisierter Ausrüstung die gegnerischen Parteien letzten Endes veranlassen könnten, sich gütlich zu einigen. Die einem derartigen Wandel zugrunde liegende Logik ist durch den Verlauf des Ost-West-Konflikts bekannt. Sie bedeutet im wesentlichen, daß ein Risiko (sprich die „Kosten“) bzw. die Neigung zum Eingehen eines Risikos im umgekehrten Verhältnis zunehmen, wenn ein Konflikt erst einmal ein bestimmtes Stadium überschritten hat. Wir bringen diesen Grundsatz gewöhnlich mit dem nuklearen Gleichgewicht in Zusammenhang. Der Fall Israel-Ägypten zeigt jedoch, daß dies auch für konventionelle Konflikte gilt, die sich bis zu einem Punkt gesteigert haben, wo Krieg auf jeden Fall hohe Opfer an Material und Menschenleben fordert, sich jedoch zunehmend weniger auszahlt. Damit soll nicht einer Bewaffnung der Nationen bis zu den Zähnen das Wort geredet werden. Ein weiteres Wettrüsten im Nahen Osten als Folge des andauernden Konfliktes in dieser Region kann aber immer noch eher zu einer Beilegung führen, als daß es unausweichlich zu einer neuen Katastrophe kommen müßte

Viertens: Die Erkennung klarer Kausalzusammenhänge in politischen Prozessen gehört zu den am wenigsten entwickelten Bereichen politikwissenschaftlicher Forschung. Es ist daher bestenfalls als oberflächlich zu bezeichnen, wenn man behauptet — wie es die Befürworter eines dritten Staates oft tun —, daß das Grundproblem des arabisch-israelischen Konfliktes in der Palästinenserfrage liege. Denn es läßt sich genauso überzeugend darlegen, daß die Palästinenserfrage das Resultat davon ist oder lediglich eine oberflächliche Widerspiegelung des herrschenden panarabischen Unbehagens, das sich in einer ständigen Gärung in den inter-arabischen Beziehungen, in endlosen blutigen Fehden und in dem immer noch ungelösten panarabischen Legitimationsproblem manifestiert Es soll hier nicht noch einmal die moderne Geschichte des Nahen Ostens wiederholt werden, und genauso wenig wird behauptet, daß die Ansprüche der Palästinenser in irgendeiner Weise oberflächlich oder nur eine Widerspiegelung der inter-arabischen Gegensätze seien. Es erscheint hier jedoch angebracht, einige Punkte herauszustellen, die ernsthafte Zweifel darüber zulassen, ob die Unzufriedenheit der Palästinenser stets das einzig entscheidende Hindernis für eine Beilegung des Konflikts gewesen ist.

Einmal läßt sich anhand zahlreicher neuerer Untersuchungen belegen, daß der palästinensische Nationalismus nicht so neu ist, wie manche Israelis glauben machen möchten. Seine Anfänge lassen sich im Gegenteil bis zur Jahrhundertwende zurückverfolgen, als auch die zionistische Bewegung noch in den Kinderschuhen steckte. In ihrer Gesamtheit lassen diese Untersuchungen aber auch den indirekten Schluß zu, daß der palästinensische Nationalismus bestimmte zyklische Bewegungen durchmachte: daß er zunahm, abklang, wieder anstieg. Die erste Welle setzte vor dem Ersten Weltkrieg ein. Die zweite folge in den Jahren 1920— 1924. Die dritte Welle kündigte sich schon 1929 an, kam aber erst in dem arabischen Aufstand von 1936— 1939 zum Ausbruch. Die vierte Welle machte sich in der Zeit von 1944— 1948 bemerkbar. Unter diesem Gesichtspunkt ist die gegenwärtige Welle, die sich bis zu den frühen 60er Jahren zurückverfolgen läßt, eine fünfte — zwar sehr ernst zu nehmende, aber nicht unbedingt endgültige — Welle. Zwischen diesen einzelnen Wellen wurde der nationale Glaube durch kleine Gruppen relativ isolierter Fanatiker am Leben gehalten. In dem Auf und Ab der Reaktionen des Volkes auf ihre Vorstellungen läßt sich jedoch ein fast zyklisches Muster ausmachen. Dies ist natürlich eher eine Feststellung im nachhinein als eine Vorhersage, doch scheinen sich daraus einige Fragen in bezug auf die Standfestigkeit und Beständigkeit der palästinensischen Revolution zu ergeben.

Im Wechsel mit diesen Wellen palästinensischen Selbstverständnisses gab es auch Wellen der Unterwerfung der palästinensischen Sache unter die allumfassende panarabische Sache. Während des Ersten Weltkrieges und in den späten zwanziger Jahren war dies in der Tat der vorherrschende Zug in der politischen Haltung der Palästina-Araber. Auch während des Zweiten Weltkrieges war diese Tendenz ausgeprägter als der palästinensische Partiku-larismus. In den Tagen des arabischen Kalten Krieges gab es eine starke Strömung, sich mit der Idee eines großsyrischen Staates zu identifizieren. Dieser Idee wurde durch eine weitreichende palästinensische Mobilisierung zugunsten Nassers Anspruch auf die Vorherrschaft Ägyptens in der arabischen Welt genauso entgegengewirkt wie dem damit rivalisierenden Versuch der Irakis, Nasser in Schach zu halten. Einerseits war dies alles ein Spiegelbild der inneren Zerrissenheit der politischen Elite der Palästinenser, andererseits wurden diese Mikrospaltungen innerhalb der Palästinenser abgelöst durch Makrospaltungen innerhalb der panarabischen Welt

Die Zäsur, bei der diese Phase einsetzte, war zweifellos der Krieg von 1948, ausgelöst durch das auf palästinensische Belange ausgerichtete Oberste Arabische Komitee, dessen Lei-er ein entfernter Verwandter Yassir Arafats, ler Großmufti von Jerusalem, war. Als die Pa-ästinenser dem Zusammenbruch nahe waren -zur Zeit der Gründung Israels im Mai 1948 boten ihnen die benachbarten arabischen Staaten Hilfe an, die damals als uneigennütige Rettungsoperation dargestellt wurde. Es leutet jedoch vieles darauf hin, daß der Groß-nufti den Verdacht hatte, die ganze Sache sei in höchst anrüchiger Versuch, aus dem Erlö-schen des britischen Mandats Kapital zu schlagen durch den Zugriff auf Gebiete, die lach dem UN-Teilungsbeschluß einerseits an len palästinensischen Araberstaat und andererseits an den jüdischen Palästina-Staat fallen sollten

Infolgedessen kann durchaus argumentiert werden, daß die sich daraus ergebende Fortlauer und Verschlimmerung des arabischisraelischen Konflikts im wesentlichen eher durch die arabischen Staaten und insbesondere durch Ägypten als durch die Frustrationen der Palästinenser verursacht wurden. In der Tat zeichnete sich bereits auf den Konferenzen von Lausanne und Paris von 1949 bis 1951 eine Übereinkunft zwischen Palästinensern und Israelis ab, die jedoch in diesem Stadium durch die Zwietracht, das Mißtrauen und die Rivalität zwischen den beteiligten arabischen Regierungen verhindert wurde

Die Palästinenser haben offensichtlich die ihnen erteilte bittere Lektion gelernt. Die Sache ist jedoch die, daß sich in den verschiedenen Organisationen der PLO weiterhin die interarabischen Spaltungen ebenso wie die intrapalästinensischen Differenzen widerspiegeln. Und es sollte nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß sich aufgrund des-sen die Ereignisse der Vergangenheit nicht wiederholen könnten. Die Stärke der PLO war bislang eher eine konjunkturelle als eine substantielle, nämlich ihre Fähigkeit, die einzelnen arabischen Regierungen gegeneinander auszuspielen und so bis zu einem gewissen Grad einen Ausgleich für die unerträgliche Abhängigkeit der Palästinenser von dem gu-ten Willen der Araber zu schaffen, ihren Geldquellen, Trainingslagern und Basen für Operationen gegen Israel

Wenn also die übrigen arabischen Frontstaaten (d. h. Syrien, Jordanien und Libanon) dem Beispiel Ägyptens folgen und sich mit Israel zu arrangieren suchen sollten, würde die PLO wieder zu relativer Bedeutungslosigkeit herabsinken. Es ist aber wohl nicht sehr wahrscheinlich, daß die Ereignisse eine solche Wende nehmen könnten. Man braucht sich nur die traditionelle Inflexibilität Syriens ins Gedächtnis zu rufen, an Hafez Assads interne Schwierigkeiten zu erinnern, an die fast totale Abhängigkeit des Libanon von Syrien und an den engen Spielraum Jordaniens zwischen Saudi-Arabien auf der einen und Syrien auf der anderen Seite. Immerhin hat aber der arabisch-israelische Konflikt schon einige unerwartete Wendungen genommen — die letzte darunter war Sadats plötzliche Kehrtwendung im November 1977. Es ist daher durchaus lohnend, ein alternatives Szenarium für das Verhalten der Frontstaaten gegenüber Israel und den Palästinensern aufzustellen.

Beginnend bei Syrien könnte die gleiche Logik, die Assad dazu brachte, 1974/75 ein Entflechtungsabkommen mit Israel zu schließen, ihn — oder wer immer ihn bei einem Staatsstreich ersetzen sollte — zu weitergehenden Arrangements mit Israel 1980 oder 1984 veranlassen. Nach dem Oktoberkrieg (1973) war Syrien an nichts anderem als an einer Fortsetzung des Kriegs gegen den „zionistischen Feind" gelegen. Gegen Ägyptens Politik einer Entflechtung und des nachfolgenden „Interimsabkommens" mit Israel ging Syrien deshalb am nachdrücklichsten vor. Sobald aber Ägypten diesen Schritt vollzogen hatte, wurde offenkundig, daß Syrien nichts anderes übrigblieb, als genauso zu handeln; andernfalls wären nämlich seine Gebiete unter israelischer Besetzung verblieben, da es aufgrund des ägyptischen „Abfalls“ kaum noch eine Möglichkeit hatte, sie mit Gewalt zurückzuerobern. Diese Übereinkünfte waren natürlich von wesentlich geringerer Reichweite und Bedeutung als ein echter Vertrag zur Anerkennung und friedlichen Koexistenz mit Israel. Gerade weil aber der ägyptisch-israelische Frieden so fest und potentiell dauerhaft erscheint, ist der Druck für Syrien, auf Sadats Zug aufzuspringen, um so stärker.

Der Verlust der Unabhängigkeit des Libanon trägt zu Syriens Schwierigkeiten bei, denn die syrischen Streitkräfte im Libanon müssen nun beide Länder verteidigen. Obwohl Syrien auf diese Weise sicherstellen kann, daß die internationale Haltung des Libanon ein getreues Spiegelbild der syrischen Politik sein wird, so hat sich doch dadurch seine Drohkapazität gegenüber Israel beträchtlich verringert. Im Winter 1978/79 hatte es eine kurze Zeit lang den Anschein, daß als angemessener Ersatz für Ägypten eine Ostfront gegen Israel aufgebaut werden könnte. Das politische Make-up dieser Koalition (Syrien, Irak, Libanon und Jordanien) steckte jedoch voller interner Widersprüche, so daß es nicht lange dauerte, bis sich die Unzulänglichkeit dieses Ersatzes herausstellte. Das libanesische Abenteuer zwang Syrien, seine „wirkliche" Einstellung zur PLO aufzudecken. Früher waren mehrere aufeinander-folgende syrische Regime als aufrichtige und getreue Fürsprecher der Palästinenser aufgetreten. Doch das Interesse Syriens an einer Stabilisierung der Lage im Libanon war offensichtlich weitaus größer als sein Interesse an dem Erfolg der palästinensischen Revolution.

Als Folge davon wurde Syrien bald in umfangreiche Feindseligkeiten verwickelt — auf der Seite der rechtsgerichteten und christlichen Ketaib gegen die PLO und deren linken Flügel sowie ihre vorwiegend aus Moslems und Drusen bestehenden libanesischen Verbündeten.

Syrien hatte sich also gemäß dem bestehenden panarabischen Konsens des gleichen Verbrechens schuldig gemacht wie Jordanien 1970. So wurde denn auch die wachsende Gemeinsamkeit der Interessen zwischen diesen wichtigen arabischen Frontstaaten — die ihren Ursprung in Jordaniens eigenem Zusammenstoß mit der PLO hatte — weiter betont. Assad war damals noch der Oberbefehlshaber der syrischen Luftwaffe; seine Weigerung, die von Salah Jadid zum Schutze der PLO vor Husseins Truppen nach Jordanien beorderte Kolonne zu unterstützen, hatte das Schicksal der PLO in Jordanien besiegelt. Jordaniens quidpro quo während des Bürgerkriegs im Libanon war nicht so dramatisch, es besteht jedoch kaum ein Zweifel daran, daß diese Unterstützung großzügig und umfassend war. Jordaniens Politik gegenüber der PLO seit 1970 kann auf verschiedene Weise interpretiert werden: Auf der einen Seite kann man behaupten, daß — wie im vorhergehenden Kapitel dargestellt — die Haschemiten-Monarchie das Verdikt der Arabischen Liga in Rabat akzeptiert hat, derzufolge die Palästinenser eine absolut eigene nationale Gruppierung bilden, die von der PLO — und nur von der PLO — vertreten wird. Gleichzeitig läßt sich aber auch unterstellen, daß Jordanien nur so tat, als ob es den Spruch annähme, um den rechten Augenblick abzuwarten und dann seinen Anspruch auf die Vertretung der Palästinenser erneut geltend zu machen. Diese Hypothese läßt sich durch folgende Faktoren ziemlich glaubhaft erhärten: Erstens hat Jordanien niemals auf seine eigenen Ansprüche in dieser Hinsicht verzichtet. In der Tat ist König Husseins Plan für ein (konföderatives) Vereinigtes Arabisches Königreich noch heute Teil der offiziellen Politik Jordaniens. Zweitens hat Jordanien seit 1967 die Gehälter aller Staatsbeamter auf der Westbank gezahlt, und zwar auch noch nach der Konferenz von Rabat 1974, auf der es anscheinend von derartigen Sonder-pflichten entbunden wurde. Drittens: Jordanien will auf der Westbank genau das gleiche wie die PLO, nämlich die vollständige Kontrolle über das gesamte Gebiet dieses Teils von Palästina. Solange also darüber keine substantielle Verhandlungen mit Israel stattgefunden haben, hat Jordanien keinen Grund, sich große Teile der arabischen Welt dadurch zu entfremden, daß es seine eigenen Zielvorstellungen in bezug auf das Westufer spezifiziert. Schließlich verläßt sich Jordanien vielleicht auch auf seine Fähigkeit, die „schweigende Mehrheit" auf der Westbank zu mobilisieren, für die die laute Bekundung ihrer Unterstützung der PLO ein sicheres Mittel ist, ihr Mißfallen über Israels Anwesenheit dort zum Ausdruck zu bringen, ohne genau spezifizieren zu müssen, wer oder was Israels Platz-dann einnehmen sollte. Wenn es Israel durch seine beständige Verweigerung eines Zusammentreffens mit der PLO gelingt, diese von Verhandlungen über die Zukunft des Westjordanlandes und Gazas auszuschließen, könnte Jordanien im gegebenen Augenblick als „Treuhänder" der Arabischen Liga auftreten. Doch wenn die Jordanier in diesen Gebieten je Fuß fassen sollten, ist es sehr zweifelhaft, ob sie damit einverstanden wären, sich wieder zurückzuziehen. Wenn in der Tat ein Plebiszit über die Zukunft der Westbank unter jordanischer Oberaufsicht stattfinden sollte, ist es so gut wie sicher, daß die Mehrheit Husseins konföderative Pläne unterstützen würde.

Aufgrund dieser und vieler anderer Faktoren, die hier aus Platzgründen nicht erwähnt werden können, ist es nicht absolut ausgeschlossen, daß sich eine Koalition der Frontstaaten gegen einen echt palästinensischen dritten Staat und zugunsten einer ähnlichen Lösung, wie sie König Hussein vorschwebt, bilden könnte.

Fünftens: Schließlich ist auch zu erwarten, daß die Unterstützung der PLO durch die Palästinenser auf der Westbank und im Gazastreifen sich einmal wieder verringern könnte, wenn auch nicht unbedingt bis zum Nullpunkt. Rückblickend läßt sich kaum bezweifeln, daß diese Unterstützung dadurch gewährt wurde, weil die PLO gleichzeitig extrem anti-israelisch auftrat und es — angesichts des erwiesenen Egoismus der arabischen Staaten und ihrer Unfähigkeit, Israel auf dem Schlachtfeld zu besiegen — keine realisierbaren Alternativen gab. Andererseits würde ein Niedergang der PLO aufgrund einer Abwendung der Front-staaten mit Sicherheit den Trend umkehren und andere Kräfte in der politischen Elite der Palästinenser wecken, die in den Hintergrund getreten waren, solange die PLO im Aufwind war. Natürlich könnte die PLO auch wieder spektakuläre Terroraktionen verüben, um weiterhin im Licht des öffentlichen Interesses zu stehen. Ohne die Unterstützung der an Israel angrenzenden arabischen Staaten würde sie sich wahrscheinlich aber genauso sehr selbst isolieren wie die IRA, die Baader-Mein-hof-Bande oder die türkische Dev Jenk. Es wäre natürlich denkbar, daß sie dann von Irak, Libyen und/oder der Demokratischen Volksrepublik Jemen unterstützt würde. Doch diese Länder sind von Palästina weit entfernt;

schlimmer noch: Ihre geringe Zahl vergrößert ihre Möglichkeiten einer Beschneidung des Aktionsspielraums der PLO, der von den interarabischen Streitigkeiten zumindest genauso gefördert wird wie durch die Basis-Unterstützung seitens ihrer „einheimischen" Anhängerschaft, wie z. B.der palästinensischen Diaspora.

Sechstens: Es ist offensichtlich, daß die PLO diesem Schicksal nur auf zwei Arten entgehen kann: Entweder gewinnt sie volle internationale Achtung und Legitimität aus eigener Kraft, d. h. als Ersatz für Israel, dem dann jede Legitimation entzogen und das zur Auslöschung verdammt wäre, oder ihr bleibt als einzige Alternative die grundlegende Neuformulierung ihrer Zielvorstellungen bis hin zur Anerkennung des Existenzrechts für Israel innerhalb gesicherter und anerkannter Grenzen.

In Anbetracht der Haltung der USA und — wenn auch weniger entschieden — der Westeuropas erscheint die erste der beiden Möglichkeiten unwahrscheinlich. Die USA und Westeuropa haben ein vitales Interesse an der Lösung des arabisch-israelischen Konflikts, jedoch — zumindest in absehbarer Zukunft — nicht um den Preis einer Auslöschung Israels Und selbst wenn man einmal eine fundamentale Änderung dieser Einstellung mit einkalkuliert, ist Israel gegenwärtig durchaus in der Lage, sich selbst in einer Situation fast vollständiger internationaler Isolierung gegen die PLO zu verteidigen. Es ist also an der PLO, die eigene Position zu revidieren. Derzeit weist der Trend eindeutig auf überall wachsende Sympathien für die PLO hin. Wenn diese PLO sich dazu durchringen könnte, ihr Ziel einer Zerstörung Israels aufzugeben, würde sie damit wahrscheinlich einen großen Schritt vorwärts zur Durchsetzung der palästinensischen Selbstbestimmung tun.

Und doch: obwohl es inzwischen so wesentliche Anreize für die PLO gibt, ihre Haltung zu ändern, hat sie bisher lediglich Andeutungen gemacht, daß sie etwas entgegenkommender sein würde, wenn der Westen und Israel eine flexiblere Haltung ihr gegenüber einnähmen. So vertreten ihre Sprecher die Meinung, daß sie willens seien, den Vorschlag der Gründung eines Staates in jedwedem befreiten Teil Palästinas in Erwägung zu ziehen. Von wenigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen beeilen sich die meisten jedoch hinzuzufügen, daß dies nur im Bezugsrahmen einer „StadiumTheorie" möglich sei, also als erster Schritt in Richtung auf das Endziel der „Befreiung" ganz Palästinas von dem jüdischen Staat. In den Worten Farouk Kaddoumis, des Chefs der Politischen Abteilung der PLO: „Es gibt zwei (An-fangs) Phasen für unsere Rückkehr:

in der ersten die Rückkehr zu den Grenzen von 1967, in der zweiten zu denen von 1948 (sic) ... das dritte Stadium ist der demokratische Staat Palästina. Wir kämpfen daher für diese drei Stadien."

Das zähe Festhalten an derartigen Zielsetzungen zu einer Zeit, wo es so zahlreiche Anreize für eine gemäßigtere Haltung gibt, scheint darauf hinzudeuten, daß die PLO vielleicht einfach unfähig ist, wesentliche Änderungen in ihrem Programm vorzunehmen. Das könnte folgende Gründe haben: Zuerst ist sie auch weiterhin eine — wenn auch absolut institutionalisierte — freiwillige Organisation. Sie ist der lose „Dachverband" für eine Vielzahl gleichmotivierter Organisationen. Sie alle wetteifern miteinander um die Aufmerksamkeit der Medien und in der Rekrutierung Freiwilliger. Gegenüber den Zielen des gemeinsamen Verbandes (der PLO) sind sie zurückhaltend und nur bedingt loyal. Durch die Möglichkeit, sich von der PLO loszusagen, hat jede dieser Organisationen in der Tat ein stillschweigendes Veto gegenüber der Politik der PLO. Das mag zwar kein sehr effektives Veto in bezug auf das allgemeine Verhalten der PLO sein; in diesen Dingen kann die zentrale Führung wahrscheinlich in sehr hohem Maß nach eigenem Ermessen handeln. In programmatischer Hinsicht ist das Vetorecht der zugehörigen Organistionen jedoch sehr wirksam. So mögen sich wohl die Ansichten Arafats, Huts, Kaddoumis oder Terzis seit 1968 (als die derzeit gültige Nationalcharta gebilligt wurde) gewandelt haben, an der Charta selbst jedoch wurde nichts verändert, nicht einmal durch die Einfügung des groß angekündigten Ziels eines „säkularen und demokratischen" Staates Palästina

Ein weiterer Faktor, der (in Verbindung mit den oben erwähnten) eine Erlärung für die Inflexibilität der PLO bieten könnte, ist die Per-missivität der Palästinenser gegenüber politischer Gewalt. Während der Arabischen Rebellion von 1936— 1939 starben sehr viel mehr Palästinenser durch die Hand ihrer -eigenen Leute als durch Briten und Juden. Mancherorts artete die ganze Rebellion tatsächlich in eine Fehde zwischen rivalisierenden Familien aus und dieser merkwürdige Hang zur Ge-walt hat im Laufe der Jahre nicht abgenommen. Der Chef des Londoner Büros der PLO, Said Hamami, wurde dem Vernehmen nach wegen seiner wiederholten Appelle zur Mäßigung ermordet. Der Mufti von Gaza wurde we-gen seines Eintretens für den Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel ermordet, desgleichen hohe Persönlichkeiten im Westjordanland. Angesichts einer derartigen Einstellung zu politischer Gewalt nimmt es kaum Wunder, daß die Palästinenser entweder für die von der PLO festgelegten Richtlinien eintreten oder sich jeglicher Äußerung in bezug auf ihre eigene Zukunft ganz enthalten.

Siebtens: Aufgrund dieser Tatsachen und ihres ausgeprägten Bewußtseins um die eigene tragische Geschichte neigen die Juden in Israel dazu, die PLO eher „schlimmer" als „besser" einzuschätzen. Daher wollen sich nicht einmal die Gemäßigten unter den Israelis mit dem Gedanken eines absolut souveränen palästinensischen Staates zu beiden Seiten Israels befreunden. Denn Souveränität würde — wie sogar Khalidi unterstrich — auch die vollständige Kontrolle über die Streitkräfte bedeuten was wiederum zur Folge haben könnte, daß die militärischen Kapazitäten der Araber in der nahen Umgebung Tel Avivs — wie vor dem Juni 1967 — massiert werden könnten. Andererseits könnten die meisten Israelis dazu gebracht werden, ein autonomes Gebiet der Palästinenser auf der Westbank zu akzeptieren, sofern es völlig demilitarisiert würde. Da aber nicht anzunehmen ist, daß ein Palästinenser-Führer eine solche Vorstellung akzeptieren und für seine Landsleute diesbezügliche vertragliche Verpflichtungen eingehen würde, erscheint das Ziel einer Entmilitarisierung des Westufers und des Gazastreifens als autonome Provinzen Jordaniens — die nicht mehr als etwa ein Siebtel des gesamten jordanisch-palästinensischen Staates umfassen würden — sehr viel sinnvoller. Anders herum gesagt: auch dieser Punkt spricht eher für eine neuerliche Teilung als die Schaffung eines dritten Staates.

Achtens: Die der PLO innewohnende Maßlosigkeit ist nicht ausschließlich gegen Israel gerichtet. Während Yassir Arafat und die meisten Mitglieder seiner Al Fatah die Meinung vertreten, daß die PLO keine Mittel für aussichtslose Versuche vergeuden solle, die gesamte arabischeWelt zu revolutionieren, hal-ten andere die Unterscheidung zwischen Palästinensern und anderen Arabern für unecht und vertreten die Ansicht, die Organisation sollte ihre Zielsetzungen permanent auf die gesamte arabische Welt richten. Zohair Mohsen, der verstorbene Führer der As-Saika, hat diese Vorstellung ausführlich in einem Interview mit einer linken holländischen Zeitung erklärt:

„Ein Palästinensisches Volk gibt es nicht. Die Schaffung eines Palästinensischen Staates ist ein Mittel zur Fortführung unseres Kampfes gegen Israel und für die arabische Einigkeit Da Golda Meir die Existenz eines Palästinensischen Volkes leugnet, behaupte ich, daß ein solches Volk besteht und daß es von den Jor-23) daniern zu unterscheiden ist. Doch in Wirklichkeit gibt es keinen Unterschied zwischen Jordaniern, Palästinensern, Syrern und Libanesen. Wir alle gehören zum arabischen Volk. Lediglich aus politischen und taktischen Gründen sprechen wir von der Existenz einer Palästinensischen Identität, da es im nationalen Interesse der Araber liegt, eine separate Existenz der Palästinenser dem Zionismus gegenüberzustellen. Aus taktischen Gründen kann Jordanien — das ein Staat mit festen Grenzen ist — keinen Anspruch auf Haifa und Jaffa erheben. Dagegen kann ich als Palästinenser Haifa, Jaffa, Beer Scheba und Jerusalem fordern. Doch sobald unsere Rechte auf das gesamte Palästina wiederhergestellt sind, dürfen wir die Vereinigung Jordaniens mit Palästina keinen weiteren Augenblick verzögern.“

Mohsens Ansichten werden nicht unbedingt von jedem Mitglied oder Anhänger der PLO geteilt. Wie bereits erwähnt, hat sich Prof. Walid Al Khalidi von der American University von Beirut, der mehrmals als Kandidat für ein hohes Regierungsamt in einem künftigen palästinensischen Staat im Gespräch war, für einen dritten Palästina-Staat auf der Westbank und im Gazastreifen eingesetzt, der seiner Meinung nach mit seinen östlichen und westlichen Nachbarn in Frieden leben könnte und sollte. Doch Mohsens gewaltsamer Tod wenige Monate später erinnerte auf grausige Weise daran, was Gemäßigten wie Khalidi zustoßen kann, wenn sie zu mutig für Mäßigung eintreten. Gleichzeitig befürwortet Mohsen mit seinem Standpunkt unabsichtlich eher eine zweite Teilung als einen dritten Staat.

Denn wenn — wie bereits gesagt — die Schaffung eines dritten Staates das Flüchtlingsproblem nicht lösen kann, da die Palästinenser selbst — wie Mohsen — keinen Unterschied zwischen ihnen und den Bewohnern Jordaniens sehen, erscheint der ganze Gedanke eines dritten Staates doppelt unsinnig. Einige brennende Probleme könnten dadurch eventuell aus dem Weg geräumt werden, jedoch nur auf Kosten einer gefährlichen Balkanisierung eines bereits zerstückelten Gebietes.

Neuntens: In diesem Falle verliert der 7. Punkt des vorhergehenden Kapitels — d. h., daß Israel nur dann hoffen kann, seine eigenen arabischen Bürger zu befriedigen, wenn es der PLO das Recht zugesteht, einen unabhängigen Staat auf der Westbank zu gründen — fast vollständig an Bedeutung. Denn es ist wohl nur logisch zu behaupten, daß die Einstellung der israelischen Araber unter anderem auch von dem allgemeinen Trend der arabisch-israelischen Beziehungen abhängig ist. Wenn diese Beziehungen sich polarisieren, ist zu erwarten, daß die inter-ethnischen Beziehungen in Israel in eine Krise geraten. Umgekehrt läßt sich auch argumentieren, daß, wenn Israel seine Beziehungen zu der arabischen Welt im Rahmen einer umfassenden Reihe von Abmachungen regelt und wenn sich diese Regelung als stabil erweisen sollte, die Beziehungen zwischen Arabern und Juden in Israel selbst sich sehr wahrscheinlich auch normalisieren werden. Sollte jedoch eine instabile arabisch-israelische Regelung mit einem unabhängigen PLO-Staat auf der Westbank und im Gazastreifen zustande kommen, so wäre es aus dem gleichen Grunde unlogisch zu erwarten, daß die arabisch-jüdischen Beziehungen innerhalb Israels weniger krisenanfällig würden, als sie es seit 1973 sind.

Ausblick

Ein dritter Ministaat in Palästina zwischen Jordanien im Osten und Israel im Westen wird, wie dargelegt, weder das Flüchtlingsproblem noch das Problem der israelischen Araber lösen, noch wird er die Energieprobleme des Westens oder die Gefahr einer Kollision der Supermächte aus der Welt schaffen. Seine einzige mögliche Chance als Instrument zur Beilegung des arabisch-israelischen Konflikts liegt in der vollständigen Neufestsetzung der Zielvorstellungen der PLO. Da dies aber keineswegs wahrscheinlich erscheint, sollte sich die Suche nach einer Alternative auf eine Art Kompromiß zwischen „drittem Staat" und „zweiter Teilung" in ihrer Idealform konzentrieren. So könnte z. B. zwischen Israels strategischer und politischer Ostgrenze unterschieden werden. Während die strategische Grenze sich mit der Waffenstillstandslinie vom Juni 1967 (d. h. also dem Jordan) decken sollte, könnte sich die politische Grenze sogar mit dem Status quo ante von vor 1967 decken. In der zwischen diesen Linien liegenden Zone könnte ein autonomes palästinensisches Gebiet geschaffen werden, das mit Jordanien entsprechend König Husseins Plan vom März 1972 konföderativ verbunden wäre. Dies wäre natürlich keine Ideallösung, erscheint aber als ein vernünftiger und durchführbarer Rahmen für einen Kompromiß.

Es steht zu erwarten, daß die militanten PLO-Mitglieder dagegen sein werden. Dann werden sie aber auch alles andere außer der Erfüllung der Charta ablehnen. Die Gemäßigten ihrerseits werden sich in einem Dilemma befinden: Sollen sie einen Kompromiß unterstützen und sich dadurch dem Zorn des militanten Flügels aussetzen, oder sollen sie auf alle eigene Verantwortung verzichten und den militanten Mitgliedern das Feld überlassen, so wie in der Vergangenheit auch. Entscheiden sie sich für die erste Möglichkeit, so werden sie zweifellos in hohem Maß ihr eigenes Leben riskieren und gleichzeitig ihrer Sache einen hohen Dienst erweisen. Geben sie nach, tragen sie dazu bei, daß die Palästinenser die ewigen Verlierer im arabisch-israelischen Konflikt bleiben. Denn früher oder später werden andere der arabischen Frontstaaten dem Beispiel Ägyptens folgen und sich mit Israel zu arrangieren suchen. Sollten sich dann die Palästinenser dafür entscheiden, gegen sie zu kämpfen, anstatt sich ihnen anzuschließen, werden sie im Stich gelassen werden; alle ‘ Sympathie und alles Verständnis für ihre Sache, die ihnen im letzten Jahrzehnt von Europa, Nordamerika und anderen Ländern entgegengebracht worden sind, werden sie dann verspielt haben.

Fussnoten

Fußnoten

  1. New York Times, 28. August 1979.

  2. Diese Thema ist vom Autor ausführlich in „Doves, Hawks and Other Birds of a Feather", The British Journal of Political Science (im Druck) behandelt worden. Eine gute Analyse des Unterschiedes zwischen sovereignty und . suzereignty’ findet sich bei Martin Wight, Power Politics (hrsg. von Hedly Bull und Carsten Bolbroad), London, Pelican Books, 1978.

  3. Siehe Louis Guttmans Beitrag zu Daniel J. Elazar (ed.), Self Rule/Shared Rule: Federal Solutions tothe Middle East Conflict, Tel Aviv, Turtledove Publishing, 1979, S. 76— 80.

  4. George W. Ball, How to Save Israel in Spite of Herseif, in: Foreign Affairs, Vol. 55, No. 3 (April 1977).

  5. Zur Hintergrundinformation siehe W. B. Quandts Beitrag in: W. B. Quandt, Fuad Jabber, Ann Mosely Lesch, The Politics of Palestinian Nationalism, Los Angeles (University of California Press) 1973.

  6. Vgl. Report of the Commissioner-General of the United Nations Relief and Works Agency for Palestinian Refugiees in the Near East, 1 July 1975 — 30 June 1976. General Assembly Official Records; Thirty First Session, No. 13 (A/31/13) United Nations, Table 4, S. 76.

  7. Die Grenzen der wirtschaftlichen Absorptionsfähigkeiten Palästinas erkennt sogar Walid Al Khalidi an in: „Thinking the Unthinkable: A Sovereign Pale-stinian State", in: Foreign Affairs, Vol. 56, No. 4 (Spring 1978). Eine ausführliche Einschätzung der wirtschaftlichen Infrastruktur der Westbank findet sich bei Brian Van Arkadie, Benefits and Burdens: A Report on the West Bank and Gaza Strip Economies Since 1967, Washington D. C. (Carnegie Endowment for International Peace) 1977.

  8. Khalidi, a. a. O.

  9. Vgl. E. Monroe and R. Mabro, Arab Wealth from Oil: Problems of its Investment, in: International Af-fairs, Vol. 50, No. 1 (January 1974).

  10. Eine relativ aktuelle Darstellung der Sowjetpolitik im arabisch-israelischen Konflikt findet sich bei G. Golan, Yorn Kippur and After: The Soviet Union and the Middle East Crisis, London (Cambridge Uni-versity Press) 1977.

  11. Zum sowjetischen Energieproblem siehe A. J. Klinghoffer, The Soviet Union and International Oil Politics, New York (Columbia University Press) 1977; L. Dienes, Energy Self-Sufficiency in the Soviet Union, in: Current History (July-August, 1975); A. L. Horelick, The Soviet Union, the Middle East, and the Evolving World Energy Situation, in: Policy Science, Vol. 6, No. 1 (March 1975), S. 41— 48.

  12. Diese Argumentation basiert auf einer früheren Arbeit des Autors. Siehe A. Yaniv and E. Katz, M. A. D. Dente and Peace: A Hypothesis on the Evolution of International Conflicts and its Mathemati-co-Deductive Extension, in: International Interactions (im Druck).

  13. Vgl. M. Hudsons neuere Arbeit: Arab Politics: The Search for Legitimacy, New Haven (Yale University Press) 1977.

  14. Zu den besten Quellen in bezug auf diesen historischen Prozeß gehören: N. Mandel, The Arabs and Zionism Before World War I, Berkeley (University of California Press) 1976; Y. Porath, The Emergency of the Palestinian Arab National Movement 1918— 29, London 1974; Y. Porath, The Palestine Arab National Movement: From Riots to Rebellion, London 1977; J. Nevo, The Renewal of Palestinian Political Activity 1943— 45, in: G. Ben-Dor (ed.), The Palestini-ans and the Middle East Conflict, Tel Aviv (Turtledove Publishing) 1978; M. Kerr, The Arab Cold War: Gamal Abdal Nasser and His Rivals, 1958— 1970, New York (Oxford University Press) 1971.

  15. Vgl. Rony E, Gabbay, A Political Study of the Arab-Jewish Conflict: The Arab-Refugee Problem (A Case Study), Genf 1959, S. 320— 321.

  16. Ebenda, S. 260— 340.

  17. Vgl. hierzu Fuad Jabber, The Palestinian Resi-stence and Inter-Arab Politics, in: Quandt et al., a. a. 0., und G. Ben-Dor, Nationalism Without Sovereignty, and Nationalism with Multiple Sovereign-ties: The Palestinians and Inter-Arab Relations, in: Ben-Dor, a. a. O.

  18. Zur US-Politik und den US-Interessen im Nahen Osten vgl. W. B. Quandt, A Decade of Decisions, Los Angeles, (University of California Press) 1977; B. Reich, Quest for Peace: United States-Israel Rela-tions and the Arab-Israeli Conflict (Transaction Books) New Brunswick 1977; N. Safran, Israel: The Embattled Ally (The Belknap Press for Harvard University Press) Cambridge, Mass. 1978. Zur Haltung Westeuropas vgl.den Artikel des Autors „The European Community and the Palestinians", in: G. Ben-Dor (ed.), a. a. O.; und Udo Steinbach (ed.), Europäische-Arabische Zusammenarbeit, Bonn 1979.

  19. Vgl. Khalidi, a. a. O.

  20. Interview in Newsweek, 14. März 1977.

  21. Ein aktueller allgemeiner „background“ dazu findet sich in „The Palestinian National Covenant", engl. Fassung, veröffentlicht in Basic Political Docu-mens of the Armed Palestinian Resistance Move-ment, Leila S. Kadi (ed.), PLO Organization Research Centre, Beirut, December 1969, S. 137— 141.

  22. Vgl. Ann Mosely Lesch, The Palestinian Arab National Movement Under the Mandate, in: Quandt et al, a. a. O„ insb. S. 37— 40.

  23. Khalidi, a, a. O.

  24. Vgl. Trouw vom 31. März 1977.

Weitere Inhalte

Avner Yaniv, Dr. phil., geb. 1942 in Jerusalem, Senior Lecturer am Department of Political Science an der Haifa-Universität, Israel; BA. 1967 an der Hebräischen Universität von Jerusalem; Dr. phil. an der Oxford University 1973. 1978/79 war er Visiting Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.