I. Der politische Stellenwert des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft
Vom 7. bis 10. Juni dieses Jahres ist das Europäische Parlament erstmals direkt gewählt worden. Die Konstituierung und die erste Sitzungswoche vom 17. bis 20. Juli brachten „neue Hoffnungen für die Einigung Europas" -Die Chance des Neuanfangs wurde allenthalben betont; die Präsidentin des Parlaments erklärte: „Die Völker, die uns gewählt haben, würden es uns nicht verzeihen, wenn wir diese unvergleichlich schwere Verantwortung, die aber doch auch wieder faszinierend ist, nichtwahrnähmen."
Gleichwie diese europäische Chance im parlamentarischen Alltag wahrgenommen werden wird, ein erster, zugleich wesentlicher Schritt ist mit der Direktwahl in Richtung einer verstärkten Integration der augenblicklich neun Mitgliedsstaaten getan zu einem Europa, das zunächst die Form einer politischen Union, sodann die einer Föderation annehmen soll. Sind diese europäischen Einigungsformen derzeit noch politische Zukunftsmusik, so hat doch die Direktwahl des Europaparlaments die institutioneilen Probleme der Europäischen Gemeinschaft (EG) in ihrer jetzigen und anzustrebenden Struktur stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit, der Wissenschaft, der Publizistik und der politischen Parteien gerückt.
Ein Aspekt ist bislang in der politischen und publizistischen Diskussion zu kurz gekommen: der der Menschen-und Bürgerrechte, des Schutzes der Grundrechte in der EG. Die juristische (Fach-) Wissenschaft hat sich dieses Themas seit längerer Zeit angenommen, internationale Kolloquien und Kongresse sowie die 1974 gegründete Europäische Grundrechte Zeitschrift (EuGRZ) legen Zeugnis davon ab Politisch wurde der europäische Grundrechtsschutz nur vereinzelt diskutiert, und dann auch nur von Seiten der Organe der EG.
Erst der gemeinsame politische Akt der EG-Bürger hat die großen Parteibünde auf diese Problematik eingehen lassen. Bei allen Unterschieden im Detail fordern sie in ihren Wahl-programmen die Schaffung eines gemeinschaftsbezogenen Systems von Schutz-und Teilhaberechten der Bürger, allerdings in unterschiedlicher Form und Gewichtigkeit. Die Föderation der Liberalen und Demokratischen Parteien fordert im ersten Kapitel ihres Programms für Europa („Für ein demokratisches Europa") eine vom direkt gewählten Parlament ausgearbeitete Erklärung der Europäischen Union zu den grundlegenden Menschen-und Bürgerrechten, das Recht der Individualklage vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in Luxemburg gegen jeglichen Gesetzes-und Verwaltungsakt von Europäischen Institutionen sowie den Beitritt der EG zur Europäischen Menschenrechtskonvention (MRK); die Sozialdemokratische Partei erhebt im 5. Kapitel ihres Programms („Europa als Gemeinschaft aller Bürger") die gleichen Forderungen, ergänzt um eine „EG-Charta der Bürgerrechte" (sie kommt der von den Liberalen geforderten Erklärung sehr nahe); die Europäische Volkspartei schließlich fordert in Kapitel IV ihres politi-sehen Programms („Die institutioneile Dynamik der Gemeinschaft") die Individualbeschwerde beim EuGH
Auch auf der Ebene der europäischen politischen Institutionen ist ein wachsendes Grundrechtsbewußtsein feststellbar. Die sich intensivierenden politischen Forderungen nach einer Verstärkung bzw. einer deutlicheren Absicherung der Grundrechte der EG-Bürger gegenüber der Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane und nach der Gewährleistung besonderer Bürgerrechte haben im April 1979 zu einem „Memorandum der Kommission betreffend den Beitritt der EG zur Konvention über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten" und zu einer Entschließung des Europäischen Parlaments geführt, in der sich das Parlament für den Beitritt der EG zur Europäischen Menschenrechtskonvention (MRK) ausspricht Vorangegangen waren 1977 eine Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission über die Wahrung der Grundrechte eine Entschließung des Parlaments über „besondere" Rechte für EG-Bürger vom 16. November 1977 sowie zuletzt ein Kolloquium des Europaparlaments vom 26. bis 28. Oktober 1978 in Florenz über „Besondere Rechte und Charta für Bürgerrechte der EG" An dieser Auflistung der politischen Aktivitäten wird die verstärkte Hinwendung zum Thema der europäischen Menschen-und Bürgerrechte deutlich. So spricht das Europäische Parlament in der schon erwähnten Entschließung vom 27. April 1979 von der „Notwendigkeit, im Vorfeld der allgemeinen und unmittelbaren Wahlen zum Europäischen Parlament dem Gemeinschaftsbürger zu verdeutlichen, daß und in welcher Weise seine Rechte in der Gemeinschaft gestärkt werden sollen". Die Entschließung lautet in ihren Kernforderungen:
Das Europäische Parlament „ 1. spricht sich für den Beitritt der Europäischen Gemeinschaft als solcher zur Europäischen Menschenrechtskpnvention aus;
INHALT I. Der polititsche Stellenwert des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft
II. Die Einordnung des europäischen Grundrechtsschutzes in die Systeme völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes -
III. Die Notwendigkeit des Schutzes der Grundrechte in der Europäischen Gemeinschaft
1. Grundrechtseingriffe der Gemeinschaftsinstitutionen
2. Grundrechtseingriffe der Mitgliedsstaaten
IV. Grundrechtsansätze im geschriebenen Gemeinschaftsrecht V. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes — Der gegenwärtige Grundrechtsstandard 1. Grundrechtsquellen — Urteile 2. Einschätzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes — Der Konsens über den erreichten Standard: Gesicherter Grundrechtsschutz im gegenwärtigen Integrationsstand
— Die Prädominanz der wirtschaftlich-sozialen Rechte — Rechtsdogmatische Vorbehalte VI. Die rechtspolititsche Perspektive 1. Die drei Modelle möglichen Grundrechtsschutzes in der „Interimszeit"
bis zur europäischen Verfassung 2. Der Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention
— Das Modell — Das Memorandum der Kommission
3. Die Schaffung eines gemeinschaftsbezogenen Systems von Menschen-und Bürgerrechten — Ausbau des Grundrechtsschutzes allein durch die Rechtsprechung — Schutz durch einen Grundrechtskatalog
— Unterschiedliche Verfassungstraditionen — Unterschiedliche Konzeptionen des Grundrechtsschutzes
VII. Chancen für das Europäische Bürgerrecht 2. plant die Errichtung eines Sachverständigenausschusses zur Ausarbeitung einer Europäischen Charta der Bürgerrechte;
3. fordert Rat und Kommission auf, in enger Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament
a) unverzüglich den Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Menschenrechtskonvention vorzubereiten, b) das Petitionsrecht der Bürger in den Gemeinschaftsverträgen zu verankern, c) die Individualbeschwerde beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften vertraglich zu sichern."
Ist damit der Weg zum Europäischen Bürgerrecht, zur Definition eines EG-verbürgten Status von Grundrechten eingeschlagen und geebnet? Wie ordnen sich diese politisch-programmatischen Forderungen ein in die seit längerem geführte wissenschaftliche Diskussion um den Schutz der Grundrechte in der EG?
Die folgende Darstellung ist im wesentlichen dreigegliedert: Ausgangspunkt sind Überlegungen zum völkerrechtlichen Schutz der Menschenrechte, zur Notwendigkeit des Grundrechtsschutzes in der EG, zu den Ansätzen von Grundrechten im geschriebenen Gemeinschaftsrecht. Danach soll eine Bestandsaufnahme und Einschätzung des gegenwärtigen, tatsächlichen Grundrechtsstandards in der Gemeinschaft versucht werden, bevor schließlich die — bislang — kontroverse rechtspolitische Perspektive aufgezeigt wird, die nun konkrete Konturen anzunehmen scheint
II. Die Einordnung des europäischen Grundrechtsschutzes in die Systeme völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes
Die Probleme des Grundrechtsschutzes stellen sich heute nicht mehr ausschließlich im nationalen Rahmen, im Verhältnis Bürger — Staat. Ein ganzes Netz von Menschen-und Bürgerrechtskodifikationen hat sich entwikkelt, und zwar im internationalen Bereich: Die Menschenrechtsdeklaration der Vereinten Nationen von 1948 und der Internationale Pakt über, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 3. Januar 1976 zeigen an, daß die staatliche Machtentfaltung völkerrechtlichen Beschränkungen zugunsten des Individuums unterliegt Ob damit der Weg zu einem universalen Menschen-und Bürgerrecht geebnet ist, muß hier dahingestellt bleiben — mangelnde Einklagbarkeit, Durchsetzungsmöglichkeit und differierende Auslegung lassen diese globale Multiplizierung von Grundrechtssystemen vorerst nur Deklaration sein. Neben diesen und anderen weltweiten Konventionen (etwa: Verbot rassischer Diskriminierung; Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation) ist für Europa die Europäische Menschenrechtskonvention (MRK) von besonderer, weil verbindlicher Bedeutung Die 21 europäischen Unterzeichnerstaaten allesamt Mitgliedsstaaten des Europarates, sind durch sie an Grundrechte gebunden und haben sich folglich die Respektierung von Individualpositionen zur Pflicht gemacht. Somit sind auch die neun Mitgliedsländer der EG an die MRK gebunden. Ein Teil der Grundrechte der MRK — Recht auf Leben, Verbot der Folter und Sklaverei, Rechte eines Beschuldigten oder Angeklagten im Strafverfahren — sind auf einen umfassenden und potentiell unbegrenzten staatlichen Machtapparat zugeschnitten und dürften für die Gemeinschaft in ihrer derzeitigen Entwicklungsphase mit ihren tatsächlichen und rechtlichen Beschränkungen uninteressant sein. Eher sind die folgenden Rechte der MRK für die Gemeinschaft von Bedeutung: das Recht auf Bil-dung von Gewerkschaften (Art. 11), der Eigen-tumsschutz (Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls) sowie die Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit (4. Zusatzprotokoll) Wieweit jedoch die EG selbst unmittelbar an die MRK gebunden ist, ob die Akte der Gemeinschaftsorgane Bereiche des* Grundrechtsschutzes durch die MRK tangieren, ist die Frage, das generelle Verhältnis von EG-Grundrechtsschutz und europäischem Menschenrechtsschutz das Problem
Im internationalen Rahmen gibt es also vier Ebenen des Grundrechtsschutzes: — Grundrechtsschutz durch nationale Verfassungen und Gesetze, — Universelle Menschenrechtsgarantien, — Grundrechtsschutz durch die MRK (Mitgliedsstaaten des Europarates), — Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen und Organen der EG.
Im folgenden geht es hauptsächlich um den Schutz der Grundrechte gegen Akte der Organe der EG, jener Gemeinschaft der Neun (demnächst Zwölf) also, deren politische Zielvorstellung die Europäische Föderation ist.
III. Die Notwendigkeit des Schutzes der Grundrechte in der EG
Die Europäischen Gemeinschaften üben durch ihre Organe hoheitliche Gewalt aus. Reglementierend, anordnend, eingreifend treten sie dem einzelnen gegenüber und begrenzen seine Entfaltungs-und Wirkungsmöglichkeiten, vor allem im wirtschaftlichen Bereich Zwar ist es das Ziel der Gemeinschaften und der ihnen zugrunde liegenden Verträge, den Raum für die wirtschaftliche Betätigung der „Marktbürger''(Ipsen) über die Grenzen der einzelnen Mitgliedsstaaten hinaus zu erstrecken und insoweit größere Freiheit zu schaffen, aber diese Freiheit muß vielfach geordnet und eingegrenzt werden. Dies ist kein theoretisches Problem, sondern ein höchst praktisches. So kommen z. B. bei Regelungen über den Warenverkehr Eingriffe in bestehende Verträge vor; diese betreffen die Eigentumsproblematik. Es gibt Anbaubeschränkungen im Bereich der Landwirtschaft, Verarbeitungsverbote und Vermarktungsvorschriften. Ein bedeutender Teil der Grundrechtsproblematik tritt auf bei Richtlinien zur Rechtsangleichung im Rahmen des Art. 100 des Vertrags über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV). Die Praxis der konkreten möglichen Grundrechtseingriffe, die Untersu-chungsgegenstand des EuGH waren, läßt zwei Perspektiven der Grundrechtsproblematik in der Gemeinschaftsrechtsordnung erkennen.
1. Grundrechtseingriffe der Gemeinschaftsinstitutionen
Einmal geht es darum, die Gemeinschaftsangehörigen gegen etwaige grundrechtswidrige Eingriffe der eigenen Gemeinschaftsinstitutionen zu schützen. Durch die konstituierenden Verträge wurden den Organen der Gemeinschaft weitgehende Gesetzgebungs-und Entscheidungsbefugnisse im Bereich der Wirtschafts-und Sozialpolitik übertragen. Hierbei kann es vorkommen, daß in den Bestand von Grundrechten und -freiheiten eingegriffen wird. Als Schutzobjekte kommen in Betracht die menschliche Würde (im Fall Stauder) das gewerbliche Eigentum und die Berufsfreiheit (in den Fällen Internationale Handelsgesellschaft und Nold) Dazu kommen verfahrensrechtliche Grundsätze wie der Anspruch auf rechtliches Gehör und die Wahrung der Gleichheit der Parteien im Rechts-streit. Auch im Rahmen der Personalverwaltung der Gemeinschaft können grundrechtliche Fragen in bezug auf Meinungsfreiheit, Gleichbehandlung (im Fall Bertoni) oder Religionsfreiheit (im Fall Prais) auftauchen.
2. Grundrechtseingriffe der Mitgliedsstaaten
Zum anderen geht es um die Fälle, in denen Angehörige der Gemeinschaft vor nationalen Gerichten über Eingriffe eines Mitgliedsstaates in die Sphäre der ihnen vom Gemeinschaftsrecht verliehenen und garantierten Rechtspositionen Klage erhoben. Solche Fragen sind auf dem Weg über das Vorlageverfahren des Art. 177 EWGV zum Gerichtshof gelangt. Hierbei geht es vor allem um Maßnahmen wie Ausweisung, damit zusammenhängendem Freiheitsentzug oder Aufenthaltsbeschränkungen. Diese Probleme stellen sich im Zusammenhang mit der Anwendung gewisser Vertragsklauseln, durch welche sich die Mitgliedsstaaten Vorbehalten haben, die aus der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und der Niederlassungsfreiheit fließenden Rechte auf Grund der Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit einzuschränken
Diese bisher eingetretenen Fälle von Grundrechtsberührungen machen die Notwendigkeit eines umfassenden Grundrechtsschutzes im Rahmen der europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung nur zu deutlich. Es ist auch bestimmt nicht abwegig anzunehmen, daß die Gefahr der potentiellen Grundrechtsberührung oder -Verletzung um so größer wird, je weiter die Integration in Richtung einer Euro-päischen Union voranschreitet; dies vor allem wegen der damit zwangsläufig anwachsenden europäischen Exekutivmacht. Grundrechtsbeeinträchtigungen werden daher zukünftig eher zu-denn abnehmen, und es werden dann sicherlich nicht nur wirtschaftliche und soziale Rechte sein, sondern im Zuge der politischen Einigung auch jene sogenannten „klassischen Abwehrrechte". Der Fall Prais zeigt hier den Weg.
Diese Einschätzung teilt nun auch die Kommission der EG in ihrem Memorandum über den Beitritt der Gemeinschaften zur MRK. Während zuvor von den politischen Organen der Gemeinschaft zumeist nur der gegenwärtige Grundrechtsstandard als auch für die Zukunft ausreichend gewürdigt wurde postuliert die Kommission jetzt — unter dem Eindruck des fortgeschrittenen und artikulierten europäischen Grundrechtsbewußtseins — einen künftigen „wirksamen Grundrechtsschutz": „Die Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane im Rahmen der Verträge kann angesichts von Forderungen der öffentlichen Meinung, einiger letztinstanzlicher Gerichte sowie wichtiger Stimmen in der Rechtslehre in Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Grundsätzen sämtlicher Mitgliedsstaaten ohne einen wirksamen Grundrechtsschutz auf der Gemeinschaftsebene künftig nur unter Schwierigkeiten erfolgreich fortgeführt werden." Damit soll wohl von Seiten der Kommission nicht ausgedrückt werden, daß der gegenwärtig erreichte Grundrechtsstandard unzureichend ist, vielmehr soll betont werden, daß die fortschreitende Integration den Ausbau des Schutzes von Individualrechtspositionen erforderlich macht — zumindest dann, wenn die EG ihrer eigenen Zielbestimmung gemäß handelt, durch ihren Zusammenschluß Freiheit wahren und festigen zu wollen
IV. Grundrechtsansätze im geschriebenen Gemeinschaftsrecht
Liegt die Notwendigkeit eines effizienten Grundrechtsschutzes somit auf der Hand, muß andererseits festgestellt werden, daß die die EG konstituierenden Verträge keinen geschriebenen Katalog von Grundrechten enthalten. Es finden sich dennoch gewisse Vertragsbestimmungen, teils allgemeiner, teils besonderer Art, die in diesem Zusammenhang herangezogen werden können. Ansatzpunkte für individuelle Rechtspositionen sind mithin vorhanden, und zwar angesichts der primären Zielsetzungen der Gemeinschaftsverträge vornehmlich im Bereich der wirtschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten. Objektive Normen zum Schutz des einzelnen stellen vor allem folgende Vertragsbestimmungen dar: — Diskriminierungsverbote (Art. 7, 40, 45, 67, 79, 95 EWGV), — Gebote der Gleichstellung der Gemeinschaftsangehörigen auf den Gebieten des Arbeits-, Niederlassungs-und Dienstleistungsrechts (Art. 48, 52, 60 EWGV), — Gebot der Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 119 EWGV), — Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 48 ff. EWGV), Niederlassungsfreiheit (Art. 52 ff. EWGV), Freiheit des Dienstleistungsverkehrs (Art. 59 ff. EWGV), Freiheit des Kapitalverkehrs (Art. 67 ff. EWGV).
Darüber hinaus ist auch zu verweisen auf Art. 164 EWGV, nach dem der EuGH die Wahrung des Rechts bei Auslegung und Anwendung des Vertrages zu sichern hat. Ähnlich Art. 173 EWGV, wonach der EuGH im Rah-men der Nichtigkeitsklage die Rechtmäßigkeit des Handelns von Rat und Kommission überwacht. Damit sind gewisse rechtsstaatliche Prinzipien angesprochen. Auf der Grundlage der in den Verträgen enthaltenen grundrechtsähnlichen Normen konnte der EuGH eine Reihe von für den Grundrechtsschutz bedeutenden Urteilen fällen. Es ist dieser rechtsschöpfende Weg, der den Grundrechtsschutz in der EG zu einem „Maximum-Standard" ausbauen will
V. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes — Der gegenwärtige Grundrechtsstandard
1. Grundrechtsquellen — Urteile
In Ermangelung eines geschriebenen Katalogs von Grundrechten in den Verträgen mußte der Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht von der Rechtsprechung auf dem Wege des rechtsfortbildenden Richterrechts geleistet werden. Der EuGH war aufgerufen, die Grundrechtslücke zu schließen. Damit aber stellte sich das Problem der Grundrechtsquellen. Woher sollte man die Grundrechte, die ja eben nicht vertraglich fixiert sind, gewinnen, um sie in den anliegenden Streitfällen zur Anwendung zu bringen?
Im Verlaufe seiner Jurisdiktion hat der EuGH drei Typen von Quellen herausgearbeitet:
— die allgemeinen Rechtsgrundsätze, — die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten, — völkerrechtliche Quellen. (1) Im Stauder-Urteil vom 12. November 1969 hat der Gerichtshof zum ersten Mal ausdrücklich zur Frage des Grundrechtsschutzes Stellung genommen und festgestellt, daß die Wahrung der Grundrechte zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehöre Dieser Gedanke wurde im Urteil vom 17. Dezember 1970, Internationale Handelsgesellschaft insofern ausgeweitet, als hier Bezug genommen ist auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, d. h. auf die Grundsätze des Rechts schlechthin. Diese allgemeinen Rechtsgrundsätze — im französischen Rechtsraum Prinzipien für eine an Gesetz und Recht gebundene Verwaltung — enthalten bei näherem Zusehen manches, was den Grundrechten des nationalen Rechts entspricht oder ihnen nahekommt Die Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Recht der EG kann in einem Inventarium der Rechtsprechung des EuGH festgehalten werden -Der EuGH bringt folgende allgemeine Rechtsgrundsätze im Zusammenhang des Grundrechtsschutzes zur Anwendung:
— Gleichheitssatz: im Preisrecht; Verbot von Sonderlasten; Gleichheit bei der Auferlegung öffentlicher Lasten; Gleichheit im europäischen Dienstrecht — Recht auf Gehör — Grundsatz ne bis in idem (Verbot der doppelten Bestrafung bei ein-und demselben Delikt)
— Prinzipien von Treu und Glauben — Grundsatz der Verhältnismäßigkeit — Grundsatz der Rechtssicherheit — Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung Die Aufzählung dieser Grundsätze macht die Nahe der Rechtsprechung des EuGH zur Grundrechtsproblematik sehr deutlich.
(2) Die Verweisung auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten findet sich zum ersten Mal in dem erwähnten Urteil vom 17. Dezember 1970 Gleichzeitig ist hier der Hinweis erhalten, daß sich die Gewährleistung der individuellen Rechte auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen müsse. Damit wird zwar einerseits der gemeinschaftsbezogene Aspekt des Grundrechtsschutzes herausgestellt, gleichzeitig jedoch auch eine integrationsfunktionale Einschränkung vorgenommen. Dies erscheint in einem gewissen Widerspruch zu der grundlegenden Feststellung des sehr wichtigen Nold-Urteils vom 14. Mai 1974 wonach in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden können, die mit den von den Verfassungen der Mitgliedsstaaten anerkannten und geschützten Grundrechten unvereinbar sind. Diese letzten Ausführungen wurden als die Ankündigung eines Maximum-Standards gewürdigt, nach dem der Gerichtshof die Grundrechte nicht weniger streng schützen werde als die Verfassung jedes einzelnen Mitgliedsstaates.
(3) In dem zuletzt referierten Nold-Urteil findet sich auch der Hinweis auf die völkerrechtlichen Quellen: Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte könnten Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen seien. Im Rutili-Urteil werden hierzu gewisse Bestimmungen der MRK herangezogen.
2. Einschätzung der Rechtsprechung des EuGH
— Der Konsens über den erreichten Standard: Gesicherter Grundrechtsschutz im gegenwärtigen Integrationsstand Der vom Gerichtshof eingeschlagene Weg der fortschreitenden Erzeugung eines Corpus europäischer Grundrechte durch Rechtsprechung hat in Politik und Wissenschaft fast einhellig Zustimmung gefunden. Ein Konsens über den bislang erreichten Grundrechtsschutz kann konstatiert werden. Dies drückt sich vor allem aus in der Gemeinsamen Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission Darin wird die vorrangige Bedeutung unterstrichen, die die politischen Organe der EG der Achtung der Grundrechte beimessen, „wie sie insbesondere aus den Verfassungen der Mitgliedsstaaten sowie aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hervorgehen". Inhaltlich hat diese Erklärung nichts Neues gebracht. Ihr Charakter ist eher politischer Art; sie dient allenfalls als rechtspolitische Orientierung, indem sie die von der Rechtsprechung erzielten Resultate zusammenfaßt, bestätigt und verallgemeinert. Damit wird dem EuGH zugleich auch eine Bedeutung attestiert, die ihm ohne Zweifel zukommt: Der EuGH hat sich als Motor der Integration auf juristischem Gebiet herausgebildet und erwiesen. Er bemüht die „gemeinsamen Verfassungstraditionen" der Mitgliedsstaaten für einen effizienten Schutz des europäischen Marktbürgers, er sucht jene europäische Gemeinschaftsrechtsordnung zu schaffen, die sich mehr auf den einzelnen und seine Freiheitsrechte hinorientiert — Die Prädominanz der wirtschaftlich-sozialen Rechte Dieser erreichte Stand des europäischen Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung des EuGH wird kaum angezweifelt. Grundrechtsschutz in der EG gilt derzeit als gesichert. Gleichwohl müssen relativierende Einschränkungen gemacht werden, die vor al-lem von gewisser Relevanz sind für den Zeitpunkt, wenn die jetzige Integrationsstufe der EG überholt sein wird. Es darf nicht verkannt werden, daß sich der materielle Gehalt der vom EuGH angenommenen und angewandten Grundrechte zu einem wesentlichen Teil beschränkt auf den wirtschaftlichen und sozialen Bereich. In Rede stehende Grundrechte waren Handels-und Gewerbefreiheit (zwei Fälle), Berufsfreiheit (ein Fall), Arbeitnehmer-Freizügigkeit (sechs Fälle) sowie das Eigentumsrecht (drei Fälle). Von den klassischen Grundrechten (das Eigentumsrecht kann auch hierzu gerechnet werden) waren dreimal der Gleichheitssatz, zweimal persönliche Freiheitsrechte, einmal die Religionsfreiheit sowie einmal die Unantastbarkeit der menschlichen Würde betroffen. Die Prädominanz der tangierten wirtschaftlich-sozialen Rechte erleichterte dem EuGH seine Tätigkeit; denn jene Individualpositionen sind z. T. in den Verträgen verbürgt und entsprechen außerdem der — noch vorwiegend — wirtschaftlichen Zielsetzung der EG. Die Bewährungsprobe auf die rechtsschöpfende Grundrechtsannahme des EuGH in den politisch-liberalen Teilhabe-und Abwehrrechten steht indes noch. aus. — Rechtsdogmatische Vorbehalte Eine andere kritische Bemerkung ist eher rechtsdogmatischer Art Die Frage ist, ob der vom Gerichtshof eingeschlagene Weg überhaupt gangbar ist. Offen ist, ob sich aus dem Gesichtspunkt der allgemeinen Rechtsgrundsätze weitere konkrete Grundrechtsverbürgungen, die notwendig in Schutzbereich und Schranken differenziert und konturiert sein müssen, herleiten lassen. Zudem sind jene „gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten" gar nicht so gemeinsam wie vom EuGH angenommen, sondern eher verschieden, wenn man ihren geschichtlichen Verlauf betrachtet Ebenso weichen die in den Verfassungen der Mitgliedsstaaten anerkannten und geschützten Grundrechte stark voneinander ab. Wie kann auf dieser historisch-politischen Grundlage im methodischen Wege der „wertenden Rechtsvergleichung" — wie ihn der EuGH vorschlägt — ein europäischer Grundrechtskode herauskristallisiert werden, der mehr ist als ein kleinster gemeinsamer Nenner Ein auf diese Weise anzustrebender Maximalstandard würde darin bestehen, quer über die Gemeinschaft auf jeden Sachverhalt die jeweils weitestgehende auffindbare Rechtsgarantie anzuwenden. Dies würde im Ergebnis wohl auf einen deutschen Grundrechtsexport in die übrige Gemeinschaft hinauslaufen — keine sehr beglückende Option.
Dies alles sind Fragen und Probleme, die z. T. schon die rechtspolitische Perspektive betreffen, also das, was zukünftig im fortschreitenden Integrationsprozeß an Grundrechtsschutz wünschenswert und möglich erscheint.
VI. Die rechtspolitische Perspektive
1. Die drei Modelle möglichen Grundrechtsschutzes in der „Interimszeit" bis zur europäischen Verfassung
Kontrovers war bislang die Perspektive in der rechtspolitischen Diskussion um den Schutz der Grundrechte in der EG. Einigkeit herrschte nur darüber, daß ein europäischer Bundesstaat mit einer eigenen europäischen Verfassung ohne geschriebene und detaillierte Grundrechtsgarantien nicht vorstellbar ist. Selbstverständlich gehöre ein Grundrechtskatalog an die Spitze einer solchen Verfassung. Doch die Schaffung eines wirklich vereinten Europas, mithin einer europäischen Föderation mit bundesstaatlicher Verfassung, ist wohl derzeit noch dem Bereich der — konkreten? — politischen Utopie zuzurechnen. Wie also soll zwischenzeitlich der Grundrechtsschutz gestaltet sein
Die Kontroverse hat sich durch die in jüngster Zeit eingetretene politische Entwicklung et-was entschärft, die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung in den Jahren seit 1974 hat die rechtspolitischen Zielvorstellungen der Gemeinschaftsorgane beeinflussen können. Drei Modelle des Ausbaus des Grundrechtsschutzes in der EG standen und stehen zur Diskussion. Durch die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 27. April 1979 und das Memorandum der Kommission über den Beitritt zur MRK scheint sich eine — zeitliche — Rangfolge ergeben zu haben
Die Modelle sind:
— die Weiterentwicklung der prätorischen Lösung, d. h. also der Garantie gewisser Grundrechte durch Richterspruch über den Weg des vom EuGH jeweils in concreto aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen zu eruierenden Standards, — die Ausarbeitung eines Grundrechtskatalogs,
— der Beitritt der EG zur Europäischen Menschenrechtskonvention.
2. Der Beitritt der EG zur MRK
— Das Modell Das letzte Modell, der Beitritt der Gemeinschaften zur MRK, ist wohl die am kurzfristigsten zu realisierende Möglichkeit, weil sie am wenigsten umstritten ist. Die Einfügung bzw. Übernahme der materiellrechtlichen Bestimmungen der MRK in die Gemeinschaftsrechtsordnung und damit die Überprüfbarkeit von Gemeinschaftsakten durch Kommission und Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ist wenig problematisch (was nicht für die Beitrittsverhandlungen zutreffen muß). Der EuGH zieht die MRK bereits jetzt für seine Entscheidungen heran, wie er im Rutili-Urteil ausgeführt hat; materiellrechtlich gehört der Bestand von Individualrechtsverbürgungen der MRK quasi zur Gemeinschaftsrechtsordnung der EG Zum anderen haben sich alle Mitgliedsstaaten der EG bereits der MRK unterworfen; ein Gemeinschaftsangehöriger kann also auch dann vor den Instanzen der MRK Beschwerde erheben, wenn er sich durch einen Gemeinschaftsakt verletzt fühlt in seinen Rechten und dieser Akt ein national zu verantwortender Hoheitsakt im mitgliedschaftlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechtes ist (denn nur dann ist eine Beschwerde im Sinne des Art. 1 MRK zulässig, vorausgesetzt auch, das Individualbeschwerderecht ist anerkannt). Daß es in einem solchen Fall zu einer 44 etwaigen Divergenz zwischen EuGH und den Straßburger Instanzen kommen kann, wenn der EuGH eine Grundrechtsverletzung verneint, der Gerichtshof der MRK im gleichen Fall eine Verletzung der MRK bejaht, ist mehr für juristisch-rechtsordnerisches Denken von Interesse als für den konkreten Rechtsschutz des einzelnen. Was bei Realisierung dieses Modells folglich neu wäre, das ist der formelle Beitritt der Gemeinschaften als Gemeinschaft zur MRK. Damit wäre dann auch formell die letztinstanzliche Entscheidungsgewalt der Europäischen Kommission für Menschenrechte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte anerkannt und ein von den Organen der EG direkt erlassener Akt justitiabel gemacht. — Das Memorandum der Kommission Seit wenigen Jahren findet die insbesondere vom Europäischen Parlament erhobene Forderung nach Beitritt der EG zur MRK (zuletzt die Entschließung von April 1979) wachsendes Echo. Die Kommission hat mit der Vorlage ihres Memorandums diese politische Zielsetzung respektiert und ihre eigene 1976 formulierte Position der Ablehnung eines Beitritts geändert Die Kommission hält den Beitritt der EG zur MRK für rechtlich möglich und politisch wünschenswert: „Das Memorandum kommt zu der Schlußfolgerung, daß der Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur MRK aus einer ganzen Reihe von Gründen wünschenswert erscheint Keine der sich in diesem Zusammenhang stellenden Schwierigkeiten erscheint unüberwindlich" (S. 5) Als für den Beitritt der Gemeinschaften zur MRK sprechende Argumente führt die Kommission an: 1. Die Konsolidierung der Vorstellung von Europa als ein Gebiet der Freiheit und der Demokratie (S. 11), 2. die institutionelle Verstärkung durch die Unterstreichung der eigen-ständigen Rechtspersönlichkeit der Gemein schäft bei einem Beitritt zu einem internatio nalen Rechts-und Kontrollmechanismu:
(S. 12), 3. die Verstärkung des Grundrechts Schutzes innerhalb der Gemeinschaft. Gerade durch den letzten Punkt sieht die Kommissior die seit langem erhobene Forderung erfüllt die Gemeinschaft an geschriebene Grund rechte zu binden: „So richtig und unterstüt zenswert nun aber die vom Gerichtshof ent wickelte Methode ist, so kann sie doch zumindest einen der Mängel, die sich für die Rechtsordnung der Gemeinschaften aus dem Fehler eines geschriebenen Grundrechtskatalogs ergeben, nicht beseitigen: die Unmöglichkeit, im vorhinein zu wissen, welches die Freiheitsrechte sind, die die Gemeinschaftsorgane in keinem Fall beeinträchtigen dürfen. Der europäische Bürger hat ein berechtigtes Interesse daran, auch gegenüber den Gemeinschaften seine Rechte im vorhinein fixiert zu sehen'(S. 7). Diese Aussage ist insofern neu, als die Kommission bislang die Notwendigkeit schriftlich fixierter Rechte für den Grundrechtsschutz in der EG verneint hat. So heißt es auch: „Vertiefte Überlegungen haben der Kommission neuerlich die Nachteile klar werden lassen, die sich aus dem Fehlen eines geschriebenen Katalogs sowohl für das Ansehen der Gemeinschaft im allgemeinen als auch für den Rechtsschutz des europäischen Bürgers ergeben. Die Kommission hat daraufhin ihre Haltung überprüft." (S. 8).
Ein großer Teil des Memorandums (S. 12— 16) ist der Prüfung der Einwände gewidmet, die gegen den Gedanken eines Beitritts vorgebracht worden sind. So räumt die Kommission ein, daß die MRK sowohl dem Wortlaut als auch der Entstehungsgeschichte nach allein auf die Mitwirkung von souveränen Staaten angelegt ist. Dies sei jedoch kein Hindernis für die Öffnung dieser Konvention gegenüber einer internationalen Organisation, die bereit sei, ihre Rechtsakte der in der Konvention vorgesehenen gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen, und die nicht den Anspruch erhebe, bei der Kontrolle des Schutzes der Menschenrechte durch die übrigen Vertragsparteien eine aktive Rolle zu spielen. Was die Beschwerde nach Art. 24 und 48 MRK (aktives Beschwerderecht) anbelange, so vertritt die Kommission den Standpunkt, daß die Gemeinschaft angesichts ihrer begrenzten Befugnisse auf dieses Beschwerderecht nur zurückgreifen sollte, wenn es sich um Verletzungen seitens eines Drittstaates handelt und wenn das betreffende Grundrecht mit den Befugnissen der Gemeinschaft in enger Berührung steht. Die Kommission weist weiter nach, daß aus Art 13 und 14 keine ernsthaften Hindernisse für den Beitritt erwachsen. Die Rechtsweggarantie des Art. 13 sei — wenn auch auf gemeinschaftsspezifische Weise — gewährleistet. Die Bevorzugung von EG-Bürgern gegenüber Bürgern aus Drittstaaten durch die EG-Verträge folge aus den parastaatlichen Funktionen, sie verletze Art. 14 nicht. Die Kommission geht dann von dem Gedanken aus, daß im Fall eines Beitritts zur MRK die zwingende Zuständigkeit des EuGH von Anfang an für sämtliche Rechtsakte der Gemeinschaft akzeptiert werden muß. Sie will zwar für eine Übergangszeit eine Ausnahmebestimmung vorsehen, befürwortet jedoch die Möglichkeit der Individualbeschwerde nach Art. 25 ohne die der Beitritt nur für Drittstaaten von Vorteil wäre. Was die Mitwirkung der Gemeinschaft in den MRK-Organen betrifft, so unterstreicht das Memorandum die Eigenständigkeit der Gemeinschaft und deren eigene Rechtspersönlichkeit gegenüber Staaten. Daraus ergibt sich für die Kommission, daß die Gemeinschaft sowohl in der Menschenrechtskommission wie im Straßburger Gerichtshof vertreten sein müßte. Infolgedessen müßten die Art. 20 und 38 MRK geändert werden, denen zufolge beiden Organen jeweils nur ein Vertreter jedes einzelnen Staates angehören darf.
Politisch steht mit diesem Memorandum der Kommission und der Entschließung des Europäischen Parlaments der Beitritt der EG zur MRK auf der Tagesordnung. Das Europäische Parlament forderte den Brüsseler Ministerrat auf, den Beitritt vorzubereiten. Der Ministerrat selbst „begrüßte" es, daß im Rahmen der Neuner-Gemeinschaft die Frage des Beitritts geprüft werde. Der Justizminister der Bundesrepublik hat den Beitritt befürwortet in Frankreich und Irland sind die Meinungen geteilt, die Briten warten noch ab, nur Dänemark hat sich dagegen ausgesprochen So schwungvoll sich die Beitrittsabsichten politisch ausnehmen mögen, so schwierig und langwierig dürften sich vor allem die Beitritts-verhandlungen gestalten. Die Kommission spricht von „mehreren" Jahren (S. 21).
3. Die Schaffung eines gemeinschaftsbezogenen Systems von Menschen-und Bürgerrechten
Durch den Beitritt der Gemeinschaft zur MRK könnte die Lücke zum Schutz der Grundrechte mit Hilfe des Europarates vorerst geschlossen werden. Darüber hinaus hätte der Beitritt eine europapolitische Bedeutung für das Europa der 21, denn Europa ist mehr als das organisierte Europa der Neun Doch zur Integration innerhalb der EG trägt der MRK-Beitritt nicht viel bei: Mit diesem kleinsten aller drei möglichen Wege zu umfassendem Grundrechtsschutz wird durch Instanzenvermehrung eine Erweiterung der Rechtsschutz-garantie erreicht — ein bestimmt nicht gering zu achteAder Fortschritt. Aber ein gemeinschaftsbezogenes System von Bürger-und Menschenrechten, ein System innerhalb der europäischen Gemeinschaftsordnung, ist damit noch lange nicht geschaffen. Grundrechte sind nicht nur Rechtsschutzgarantien, sondern auch konstitutive Elemente der öffentlichen (hier: europäischen Gemeinschafts-) Ordnung 51). Grundrechte haben in einem entstehenden politischen System eine gestalterische Signalfunktion für Bürger und Amtsträger, sie haben legitimierende Funktion. Ein Verband, der, wie die EG, mit dem Anspruch auftritt, eine neben den Staaten (langfristig: staaten-überwindende) notwendige Organisationsform zu bilden, kann nur dann existieren und sich fortentwickeln, wenn es ihm gelingt, ein eigenes Grundrechtssystem für den europäischen Bürger (nicht bloß „Marktbürger") zu entwickeln, mithin ein europäisches Menschen-und Bürgerrecht.
Unter diesem integrationistischen Aspekt geht die Kontroverse über das zuerst diskutierte Modell hinaus. Es geht darum, wie in Zukunft ein solches gemeinschaftsbezogenes Grundrechtsschutzsystem angegangen werden soll: Schutz der Grundrechte auf dem Weg der fortschreitenden Grundrechtserzeugung durch die Rechtsprechung des EuGH oder Schutz der Grundrechte durch einen geschriebenen Katalog mit individuellen Verbürgungen?
Die Kommission hat in ihrem Memorandum ausgeführt, daß sich die Bemühungen der Gemeinschaft letztlich darauf konzentrieren müßten, „die Verträge durch einen speziell auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft zugeschnittenen Grundrechtskatalog zu ergänzen" (S. 5). Es ist abzuwarten, ob sich durch diese klare Kommissionsmeinung die politisch-wissenschaftliche Kontroverse abflacht Immerhin hat die Kommission diese Auffassung nicht immer vertreten, und es liegen seit langer Zeit zwei Denkschulen aus unterschiedlichen Grundrechts-und Verfassungstraditionen miteinander in Streit.
— Ausbau des Grundrechtsschutzes allein durch die Rechtsprechung In ihrem Bericht zur Europäischen Union hatte die Kommission noch die Meinung vertreten, es sei wünschenswert, die Gemeinschaft mit einem eigenen Grundrechtskatalog auszustatten. 1976 ist sie davon abgerückt Genauso muß die Gemeinsame Erklärung der drei politischen Organe gewertet werden, die sich der Empfehlung der vergleichenden Stu-die von Bernhardt anschließen: In Würdigung und Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung des EuGH wird der Weg des rechtsfortbildenden Richterrechts im Bereich des Grundrechtsschutzes favorisiert. Ein großer Teil der juristischen Fachliteratur hat sich diesem Votum angeschlossen. Folgende Argumente sind vorgebracht worden:
Zum einen wird der Weg der Rechtsprechung als praktikabler und flexibler angesehen. Die wertende Rechtsvergleichung könne die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen besser fruchtbar machen, zumal dadurch eine Fall-zu-Fall-Behandlung ermöglicht werde. Diese richterliche Kasuistik sei die adäquate Methode für einen ausbaufähigen Grundrechtsschutz. Die anderen Argumente sind zumeist Argumente ex negativo, Argumente, die aus Nachteilen der Kataloglösung resultieren. Das Argument der Zeitgemäßheit führt zu einer Einschätzung der Aufstellung des Kata-logs europäischer Grundrechte als verfrüht und utopisch, von den Chancen der Realisierung her gesehen. Zudem würden Verhandlungen zwischen den Regierungen, die im gegenwärtigen rechtlichen Zustand der Gemeinschaft erforderlich wären für eine Ausarbeitung eines Katalogs, zu dilatorischen Formelkompromissen und Amputationen des Grundrechtsschutzes führen. Nur durch schrittweises Vorgehen der Rechtsprechung könne negativer staatlicher Einfluß auf die Ausgestaltung der Rechte des europäischen Bürgers zurückgedrängt und verhindert werden, daß Lösungen auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners herauskommen. — Schutz durch einen Grundrechtskatalog Vor allem zwei Urteile nationaler Gerichtshöfe haben die Kontroverse entflammen lassen. Beide intendieren einen umfassenden Grundrechtsschutz in Katalogform. Es handelt sich um den vielzitierten „Solange-Beschluß“ des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Mai 1974 und um ein Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofs Beide Entscheidungen weisen auf die Unvollständigkeit des Grundrechtsschutzes im Rechtssystem der Gemeinschaft hin und behalten deshalb eine eventuale und letztinstanzliche Kontrollbefugnis der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit für ihren nationalen Bereich vor. Das Bundesverfassungsgericht führt in seinem Leitsatz aus: „Solange der Integrationsprozeß der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten ist, daß das Gemeinschaftsrecht durch einen vom Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthält, der dem Grundrechtskatalog des Grundgesetzes adäquat ist", muß nationales Recht zur Kontrolle angewendet werden. Hier wird also die Entwicklung eines europäischen Grundrechtskatalogs zur Voraussetzung für die Aufgabe nationaler Kontrollbefugnisse gemacht
Die Argumente für einen Katalog lassen sich wie folgt zusammenfassen: Ein Katalog würde die Rechtssicherheit erhöhen und der Weiterentwicklung des Rechts durch die Rechtsprechung eine tragfähige Grundlage verleihen. Darüber hinaus würde er das Gewicht der Grundrechte nachdrücklich betonen, letzte Zweifel über ihre Maßgeblichkeit ausräumen und die demokratische Basis des Gemeinschaftsrechts verstärken. Ein Katalog würde schließlich, weil er eine konkrete juristische Basis abgäbe, günstigere Voraussetzungen für die Ausübung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte durch die Gemeinschaftsbürger schaffen.
— Unterschiedliche Verfassungstraditionen — Unterschiedliche Konzeptionen des Grund-rechtsschutzes
Diese Kontroverse um Grundrechtsschaffung durch Rechtsprechung oder einen Katalog geschriebener Grundrechte ist eine — fast — rein deutsche Kontroverse. Die breit angelegte Diskussion über Bedeutung und Form des Grundrechtsschutzes in Europa hat in der bundesrepublikanischen juristischen Fachwelt begonnen und wird dort ausgetragen, findet aber — mit Ausnahme der Reaktionen der EG-Organe selbst und der ihnen angehörenden Wissenschaftler bzw. Europarechtler — nirgendwo, in keinem weiteren Mitgliedsland der EG ihr gleichwertiges Pendant. Dabei ist es bestimmt nicht so, daß in anderen Staaten Verwaltung und Gesetzgebung etwa weniger grundrechtsfreundlich und weniger rechtsstaatlich wären, obwohl einige Mitgliedsstaaten keinen geschriebenen Katalog von Grundrechten haben und eine Verfassungsgerichtsbarkeit nicht kennen Handelt es sich also um querelles allemandes? Zwei Anmerkungen müssen hierzu gemacht werden:
Zum einen: Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland hat den Grundrechtsschutz des einzelnen bekanntlich in einer Weise ausgestaltet, die weder in früheren deutschen Verfassungen noch in vergleichbaren ausländischen Verfassungsordnungen eine Parallele findet. Dies gilt weniger für die garantierten Rechte selbst, als vielmehr für die Art und Weise ihres Schutzes. Gegen alle Verletzungen des einzelnen durch die öffentliche Gewalt steht der Rechtsweg offen. Zudem kann auf verschiedenen Wegen die Überein-stimmung von Gesetzen mit der Verfassung und den Grundrechten überprüft werden.
Grundrechtsschutz in der Bundesrepublik stützt sich auf zweierlei: Grundrechtsverbürgungen und Verfassungsgerichtsbarkeit. Dieses Grundrechtssystem ist Kernstück des bundesrepublikanischen Staatsverständnisses und Antwort auf den Nationalsozialismus, für den Menschen-und Bürgerrechte nicht zählten. Daher die besondere deutsche Empfindlichkeit in Grundrechtsfragen, und daher auch eine umfassende deutsche Rechtsprechung zu den auf diese Weise konkretisierten Grundrechten sowie die umfassende Auslegung und dogmatische Verarbeitung der Grundrechte in der deutschen Verfassungslehre. Nur hier findet man Untersuchungen zu den verschiedenen Funktionen der Grundrechte (Abwehr-funktion, positive Teilhaberechte, institutioneile Garantie, Wertordnung, Drittwirkung etc.), zu den Schranken, den Grundrechtsträgern, zur Grundrechtsbindung von Gesetzgebung, Verwaltung und Gerichtsbarkeit, zum übermaßverbot etc. In den anderen Mitglieds-ländern der EG steckt diese Dogmatik noch in den Anfängen
Zum anderen: Diese besondere Sensibilität darf natürlich nicht dazu führen, daß sich die deutsche Rechtswissenschaft zum praeceptor europae in Sachen Grundrechtsschutz macht. Hierbei werden zu leicht ganz andere Verfassungstraditionen übersehen. Was in der bundesrepublikanischen Rechtsordnung unter dem Thema Grundrechte vorgebracht wird, ist in anderen Rechtstraditionen einfach ordnungsgemäße Verwaltung. So ist dem französischen Rechtsdenken etwa die verfassungsrechtliche Absicherung eines genau umschriebenen Bestandes einzelner Grundrechte gegenüber dem Staat fremd. Einen geschlossenen Grundrechtskatalog in der Verfassung gibt es nicht, die Präambel verweist auf einige libertös publiques. Grundfreiheiten können auch als allgemeine Rechtsgrundsätze der französischen Rechtsordnung und Rechtstradition immanent sein. Es handelt sich also im wesentlichen um Richterrecht und um das methodische Verfahren der allgemeinen Rechts-grundsätze, dem Verfahren also, durch das der EuGH den Grundrechtsschutz in der EG bislang verwirklicht.
In Großbritannien wird — um ein zweites Beispiel heranzuziehen — die Gesetzgebung nur durch selfrestraint des Parlaments auf die Grundsätze des Rechtsstaates (rule of law) beschränkt; gegenüber Verwaltung und Gerichtsbarkeit übernehmen das Gesetz und vor allem das common law die Funktion der Verfassungsgrundrechte. *
VII. Chancen für das Europäische Bürgerrecht
Der Schutz der Grundrechte in der EG wird bisher von der Rechtsprechung des EuGH durch die Methode der fortschreitenden Erzeugung eines Corps europäischer Grundrechte gewährleistet. Dabei stützt sich der EuGH vornehmlich auf allgemeine Rechtsgrundsätze und die „gemeinsamen Verfassungstraditionen" der Mitgliedsstaaten. Somit sollte und soll weiterhin ein Maximum-Standard erreicht werden. Nun zeigt sich, daß jene Verfassungsüberlieferungen in ihren konkreten Ausformungen eher verschieden sind, die Kontroverse Rechtsprechung oder Katalog sich zu einem großen Teil gerade aus dieser Unterschiedlichkeit des Rechtsdenkens speist. Das methodische Vorgehen des EuGH war bislang fruchtbar und effizient, die anliegenden Grundrechtsstreitigkeiten konnten zufriedenstellend gelöst werden. Mit zunehmender Integration jedoch könnte sich die immanente Beschränktheit des Weges der Grundrechtsfortbildung durch Rechtsprechung herausstellen — nicht zuletzt auf Grund der sich teilweise widersprechenden methodischen Ansätze des EuGH zur Grundrechtserzeugung. Die Kontroverse um die weitere Ausgestaltung des europäischen Grundrechtsschutzes dürfte sich durch die Entschließung des Europaparlamentes und das Memorandum der Kommission abflachen. Geht es nach den Vorstellungen dieser beiden politischen Organe der EG, dann kann von einem verbundenen Ausbau des Schutzes der Grundrechte in der EG gesprochen werden. Die oben dargestellten Modelle — MRK-Beitritt, richterliche Rechtsfortbildung, Katalog — stehen nicht mehr als wissenschaftlich-theoretische Denkmöglichkeiten nebeneinander, sondern sie sind in eine zeitliche Rangfolge ihrer Realisierung gerückt. Das Europäische Parlament hat Rat und Kommission aufgefordert, unverzüglich den Beitritt zur MRK vorzubereiten, gleichzeitig wird die Errichtung eines Sachverständigenausschusses zur Ausarbeitung einer Europäischen Charta der Bürgerrechte „geplant". Die Kommission hat in ihrem Memorandum ausgeführt, daß die ideale Lösung darin läge, die Verträge durch einen Grundrechtskatalog zu ergänzen. Sie hält dieses Ziel jedoch angesichts der Meinungsverschiedenheiten, „die innerhalb der Mitgliedsstaaten über die Ausgestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte bestehen", für kurzfristig nicht erreichbar. Deshalb, und um den Rechts-B schütz des Bürgers „sofort und in möglichst effizienter Weise" zu stärken, sollte die EG so schnell wie möglich an die MRK gebunden werden Die Kommission stellt jedoch klar, daß ein Beitritt „weder der Ausarbeitung eines speziellen Gemeinschaftskatalogs im Wege steht, noch den Europäischen Gerichtshof daran hindert, seine vorbildliche und von der Kommission stets begrüßte Rechtsprechung auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes fortzuentwickeln" (S. 8). Mit einer solchen klaren politischen Vorgabe ist die Konfliktlinie Beitritt zur MRK oder Grundrechtsfortbildung durch Rechtsprechung oder Katalog hinfällig. Europaparlament und Kommission setzen zunächst auf Beitritt der EG zur MRK, sodann auf die Ausarbeitung eines Katalogs. Aus der Grundsatzkontroverse ist damit ein Problem der konkreten Ausgestaltung geworden — und eine Frage der Zeit, die maßgeblich vom europäischen Ministerrat beantwortet werden muß, denn nur er kann die erforderlichen Zusatzverträge beschließen.
Tatsächlich dürften beide Unternehmungen viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Kommission gesteht mehrere Jahre für die Beitrittsverhandlungen zur MRK ein (S. 21 des Memorandums) und setzt sich damit in einen gewissen Widerspruch zu ihrem Argument der schnellen und sofortigen Mehrung des individuellen Rechtsschutzes beim MRK-Beitritt, dies vor allem als Argument gegenüber der Kataloglösung. Bei der Etablierung einer Grundrechts-Charta dürften die Schwierigkeiten einer einvernehmlichen Formulierung geschriebener gemeinschaftseigener Grundrechte zwar groß, aber nicht unüberwindbar sein. Die Schwierigkeiten liegen in der Herbeiführung eines inhaltlichen Konsenses über wirtschaftliche und soziale Grundrechte und ihrer richterlichen Durchsetzbarkeit in Ergänzung eines auf einen Kern definierbarer und justitiabler Freiheits-und Abwehrrechte zugeschnittenen Schutzsystems. Denkbar wäre auch, daß eine solche Kodifikation nicht nur mit allgemeinem Geltungsanspruch definierte und justizförmig gesicherte Individualpositionen enthielte, sondern auch Rechte programmatischen Charakters, die einzelstaatlicher bzw. EG-supranationaler Gewähr-leistungsmaßnahmen im Einzelfall bedürften. Diese Schwierigkeiten der Schaffung eines EG-eigenen Grundrechtskataloges sollten sich genauso meistern lassen wie jene des Beitritts zur MRK. Dabei kommt dem gemeinschaftseigenen Katalog eine größere politische Bedeutung zu: er hätte integrierende und legitimierende Wirkung:
Die EG und die europäische Gemeinschaftsrechtsordnung kranken noch an einem demokratischen Defizit, das auch nach der Direktwahl nicht beseitigt ist. Die Kommission hat in ihrem Bericht zur Europäischen Union zum Ausdruck gebracht, daß sie in der Demokratie eine der Grundvoraussetzungen für ein Zusammenleben und Zusammenwachsen der Mitgliedsstaaten sieht. Und weiter: „Ein unabdingbarer Bestandteil jeder Demokratie ist die Wahrung und Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die allein erst dem Bürger die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ermöglichen. Ohne Anerkennung und Wahrung von Menschenrechten und ohne Garantie der Freiheit des Bürgers kann es keine Demokratie geben. Dies gilt auch für die Gemeinschaft." Bei der Weiterentwicklung des Grundrechtsschutzes in der EG geht es um diesen untrennbaren Zusammenhang von Demokratie und Grundrechten. Hier ist ein Akt der demokratischen Legitimierung grundrechtlicher Verbürgungen gefordert. Zudem sollte nicht der Integrationseffekt unterschätzt werden, der von einem System garantierter Freiheitsrechte ausgeht. Wie 1 alle Grundrechtssysteme würde auch ein europäisches teilhaben an einem Maß von gemeinsamen Wertvorstellungen, es könnte den „europäischen Bürger" aus sich heraus freisetzen.
Und nicht zuletzt ist ein kodifiziertes europäisches Menschen-und Bürgerrecht ein Sprung nach vorn. Die Verbürgung von individueller Freiheit, bürgerlicher Mitwirkung und gesellschaftlicher Teilhabe ist in weitem Maße Verfassungsgestaltung, Voraus-Entwurf für ein wachsendes Gemeinwesen Grundrechtskodifikation wäre der Schritt in eine neue europäische Verfassungsqualität. Dies zu befördern, ist eine Aufgabe des direkt gewählten Europäischen Parlaments. Hierzu wäre es dienlich, wenn die europäischen Parteibünde jetzt konkrete Unternehmungen für eine europäische Charta in Angriff nähmen. Nur durch konkrete Entwürfe lassen sich die Schwierigkeiten ermessen, die der Formulierung eines Kataloges entgegenstehen. Die Wahlprogramme für die erste Direktwahl des Europaparlamentes mit ihren Forderungen eines gemeinschaftsbezogenen Systems von Schutz-und Teilhaberechten der Bürger wollen ernst genommen werden.
Dem EG-Grundrechtskatalog gebührt folglich die politische Priorität. Auf die Dauer kann das Grundrechtsproblem der Gemeinschaft nicht dadurch gelöst werden, daß es an ein anderes Schutzsystem angehängt wird. Der Schutz durch die MRK ist ein , aliud'; ein gemeinschaftsbezogenes Grundrechtssystem ist das allein angemessene für ein auf fortschreitende Integration angelegtes europäisches Gemeinwesen. Der Beitritt zur MRK wäre augenblicklich zwar eine Verstärkung des Rechtsschutzes, ein Alibi für die Hintanstellung der Katalogbemühungen darf es indes nicht sein. Hier bleibt das Europäische Parlament aufgefordert und an seine ihm durch demokratische Legitimation auferlegte Verantwortung erinnert, den Status des Europäischen Bürgers zu definieren. Die Zeit ist reif für das Europäische Bürgerrecht.