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Ethik und Demokratie | APuZ 49/1979 | bpb.de

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APuZ 49/1979 Ethik und Demokratie Europäisches Bürgerrecht? Zur Entwicklung des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Gemeinschaft

Ethik und Demokratie

Christian Graf von Krockow

/ 53 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Im bewußten Gegensatz zum Relativismus der Weimarer Reichsverfassung steht die „wehrhafte" Verfassung des Bonner Grundgesetzes. Grundprinzipien der Verfassung und der Wesensgehalt der Grundrechte wurden für unantastbar erklärt Damit entsteht freilich eine gefährliche Starrheit, ein Mangel an Zukunftsoffenheit, besonders, wenn die Verfassungsinterpretation mit inhaltlich bestimmten Grundwerten operiert. Dem Dilemma läßt sich nur begegnen, wenn das, was wehrhaft absolut. gesetzt wird, die Offenheit selbst ist, die in der Würde des Menschen ihr Fundament hat. So gesehen, lebt Demokratie nicht aus letzten Werten und Wahrheiten, sondern aus der Möglichkeit des Dialogs über sie. Es folgt, daß demokratische Tugenden nicht originäre Werte verwirklichen, sondern als abgeleitete, sekundäre Verhaltensnormen sich darstellen. Sie sind Mittel dazu, die offene Ordnung der Freiheit funktionsfähig zu machen und zu erhalten. Aber gerade unter dieser Voraussetzung läßt sich zeigen, daß bestimmte Verhaltensnormen Demokratie erst ermöglichen und andere, traditionell in Deutschland oft hoch eingeschätzte, sie zerstören. Ein Problem ist, daß Demokratie als Ordnung des „Vorletzten" von sich aus nicht „Lebenssinn“ liefern kann. „Den müssen sich die Bürger schon selber suchen" (W. Scheel). Aber in einer Zeit, da die Säkularisation in ihrer vordergründigen Vollendung sich selbst aufhebt und der Zweifel am „Fortschritt" sich mit neuer, fast verzweifelter Sinnsuche paart, wird es fraglich, ob das „Vorletzte" verteidigt werden kann ohne Verankerung und Widerlager im „Letzten“. Die dialektische Spannung von Vorletztem und Letztem wird für uns durch die christliche Überlieferung bezeichnet; zu ihr führen deshalb am Ende die Überlegungen zum Verhältnis von Ethik und Demokratie zurück.

I. Das Wertproblem in der Demokratie

1. Weimar und Bonn: Die relativistische und die wehrhafte Verfassung

„Die Weltanschauung der Demokratie ist der Relativismus." Dieser Satz stammt nicht etwa von einem Verächter, sondern von einem Vorkämpfer und Verteidiger der Demokratie zur Zeit der Weimarer Republik, von Gustav Radbruch. Schneidender noch hat Hans Kelsen es ausgesprochen: „Die Regel, daß Zwang nur geübt werden solle, wenn und wie der Despot befiehlt, ist ebenso eine Rechtsregel wie die, daß Zwang nur geübt werden solle, wenn und wie die Volksversammlung es beschließt. Beides sind — vom Standpunkt eines positiven Rechtsbegriffes — gleichwertige Ursprungs-hypothesen. Hier aber liegt der entscheidende Punkt! Ethisch-politische Vorurteile sind es, die dem Staats-und Rechtstheoretiker diese beiden Ursprungshypothesen nicht als gleichwertig erscheinen lassen. Man geht — meist unbewußt — von einem naturrechtlichen Rechtsbegriff aus."

Die Weimarer Reichsverfassung entsprach solchen Auffassungen. Sie stand jederzeit — in ihren Grundrechtsproklamationen ebenso wie in ihren Organisationsbestimmungen — zur Verfügung des Gesetzgebers. Folgerichtig kann man fragen, ob die nationalsozialistische Machtergreifung im Ermächtigungsgesetz vom März 1933 nicht „streng legal” zustande gekommen ist — wenn man von ein paar «Schönheitsfehlern" wie der vorzeitigen Verhaftung kommunistischer Abgeordneter absieht. Im Sinne Kelsens jedenfalls war damit «der Führer“ statt der Volksversammlung zum Erzeuger und Hüter allen Rechts geworden;

konsequent genug konnte dann der Staats-Vorabdruck aus: Ethik und Politik, hrsg. von Rüdiger von Voss, mit Beiträgen von Lothar Späth, Christian v°n Krockow, Rüdiger Altmann, Heinrich Basilius odeithofen, Burkhard Wellmann und Rüdiger von 1980 ^eu^sc^er Instituts-Verlag, Köln, Frühjahr rechtslehrer Carl Schmitt die Mordserie des Röhm-„Putsches“ unter dem Titel „Der Führer schützt das Recht“ feiern Die Mehrheit der Deutschen hat es wohl nicht anders gesehen.

Diese bitteren Erfahrungen haben nicht nur Radbruch dazu geführt, sich nach 1945 einer Lehre vom übergesetzlichen Recht zuzuwenden. Die Väter des Bonner Grundgesetzes ha-INHALT I. Das Wertproblem in der Demokratie 1. Weimar und Bonn: Die relativistische und die wehrhafte Verfassung 2. Menschenwürde als Grundwert 3. Bedingungen der Toleranz 4. Das wohlverstandene Interesse II. Demokratische Tugenden 1. Kompromißbereitschaft 2. Mäßigung 3. Konfliktfähigkeit 4. Sensibilität für Spielregeln 5. Vertrauen und Mißtrauen 6. Engagement und Distanz 7. Selbstbewußtsein III. Die Demokratie und der Glaube 1. Ungläubige und gläubige Politik 2. Die gefährdete Säkularisation 3. Vom Vorletzten und vom Letzten ben die tragenden Verfassungsprinzipien jedem Zugriff — sei es noch so großer Mehrheiten — entzogen; der „Wesensgehalt" der Grundrechte wurde für unantastbar erklärt und das Bundesverfassungsgericht zum Hüter der Verfassung bestellt; die Grundrechte verwirkt, wer sie zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht. So entstand, was man die kämpferi-sehe, streitbare oder wehrhafte Demokratie nennt. Inzwischen ist überall nicht bloß von Grundrechten, sondern auch von den Grundwerten die Rede, die mit der freiheitlichen Verfassungsordnung untrennbar verbunden sein sollen.

Der wachsende geschichtliche Abstand mag es indessen leichter machen, sogar den Repräsentanten der Weimarer Republik Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und selbstkritische Fragen zu stellen. Darf man denn die Entscheidungen einer bestimmten historischen Situation absolut setzen und gleichsam „auf Ewigkeit" stellen? Wird damit die Offenheit für zukünftige Entwicklungen nicht gefährlich eingeengt, womöglich bis zu dem Punkt, an dem nur noch die Alternative bleibt: politische Lähmung oder revolutionärer Verfassungsbruch? Thomas Jefferson hat einmal gesagt: „Die Erde gehört den Lebenden, nicht den Toten. Es ist das Gesetz der Natur, daß Wille und Macht eines Menschen mit seinem Tode enden ... Jede Generation ist wie eine besondere Nation; sie hat das Recht, durch den Willen ihrer Macht sich selbst zu binden; aber so wenig sie die Bewohner eines fremden Landes in Fesseln schlagen darf, so wenig hat sie das Recht, die nachfolgende Generation zu binden."

Weiter: Darf das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eigentlich so in den Arm fallen und aus dem Grundgesetz inhaltliche Entscheidungen ableiten, wie es das — unter anderem — in den Fragen der Paritätenregelung an den Hochschulen, der Schwangerschaftsunterbrechung oder der Wehrdienstverweigerung getan hat? Und vor allem: Wenn jeder sich mit „Grundwerten" wie mit Keulen bewaffnet, um damit auf den parteipolitischen Gegner einzuschlagen und ihn, wenn irgend möglich, an oder sogar über den Rand der Verfassungsordnung zu drängen — entsteht dann statt des demokratischen Konflikts und Konsenses nicht das Freund-Feind-Verhältnis eines latenten Bürgerkrieges? „Jedermann als Reaktionär oder als linkssozialistischen Kollektivisten zu bezichtigen ist zwar an sich schon ein schönes Verdammungsurteil; doch zündend hört es sich erst an, wenn der Betroffene außerdem nicht mehr auf dem . Boden des Grundgesetzes'steht, also nicht nur politisch, sondern zudem . rechtskräftig'verurteilt ist. Die Gegenreaktion liegt auf der Hand: Weil es politisch nicht gerade förderlich ist, dermaßen gebrandmarkt zu sein, schwört nun wieder jeder Stein und Bein auf das Grundgesetz, alle auf denselben Artikel, so daß außer großem verbalen Aufwand nicht mehr gewonnen ist als eine heillose Verdeckung des eigentlichen politischen Konflikts."

Mit anderen Worten: Es ist nicht auszuschließen, daß die mit ihren Prinzipien gepanzerte, mit dem scharfen Schwert unverrückbarer Grundwerte bewaffnete Demokratie in ein ähnlich auswegloses Dilemma gerät wie ihre wehrlose, schmählich gemordete ältere Schwester, welche die jüngere noch immer in Alpträumen heimsucht. Kann man die Freiheit nicht auch zu Tode schützen, nachdem man sie einst selbstmörderisch preisgegeben hat? Das ist die Frage.

2. Menschenwürde als Grundwert

Ein Ausweg aus dem Dilemma läßt sich nur finden, wenn das, was in der Demokratie wehr-haft absolut gesetzt wird, die Offenheit selbst ist — die Offenheit auch für verschiedenartige und umstrittene Zukunftsentwicklungen. Diese wehrhafte Absolutsetzung der Offenheit ist unter der Bedingung möglich, daß der Begriff der Menschenwürde so zum Fundament gemacht wird, wie dies das Grundgesetz folgerichtig getan hat, indem es in Artikel 1 den Maßstab für alles weitere setzt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Übrigens ist es kein Zufall — darauf hat Adolf Arndt mit Recht hingewiesen —, daß der Begriff der Menschenwürde, der dignitas huma-na, bereits im 17. Jahrhundert bei Samuel Pufendorf zu einem Angelpunkt der Staatskonstruktion wurde. Der Begriff „beginnt seine geschichtliche Wirksamkeit in der Stunde, in der das Seelenheil aufhört, die gemeinsame Staatsformel zu sein, weil man sich über den Weg zum Seelenheil entzweite ... Über die Gleichberechtigung des Bürgers im Staate und über die Erträglichkeit des politischen Miteinanders entscheidet nicht mehr die Überein-stimmung in der Wahrheit, sondern das wechselseitige Anerkennen des Menschseins als eines unbedingten personellen Wertes." Was als Würde des Menschen nicht angetastet werden darf und in den weiteren Grundrechten, aber durchaus auch in Verfahrensregelungen der Verfassung und des Rechtsstaats sich entfaltet, was in der Geschichte der Neuzeit seit Pufendorf, Roger Williams und John Locke als Freiheit geistig entworfen, was dann politisch erkämpft und schließlich im Sozialstaat materiell untermauert wurde, das ist — im genauen und strikten Gegensatz zu jeder vorgegebenen und verordneten „Natur" oder inhaltlichen Zielsetzung menschlichen Daseins und gesellschaftlicher Verhältnisse — eben die Offenheit Es sind die Fähigkeit und das Recht jedes einzelnen, selbst über seine grundlegenden Werte und Wahrheiten zu befinden und zu entscheiden, wie und wohin er sein Leben im Letzten führen will. Demokratie wird dann möglich, sie ist dann — und nur dann — notwendig, wenn anerkannt wird, daß es keine inhaltlich bestimmten Sinn-konstruktionen oder Überlieferungen mehr gibt, auf die alle verpflichtet und über die alle inig sind, daß man vielmehr in einer Vielfalt der Wert-und Wahrheitsvorstellungen sich miteinander einzurichten hat, ohne einander zu verfemen, zu verfolgen und zu vernichten.

Die Offenheit in der Frage grundlegender Werte wird in der kämpferischen Demokratie absolut gesetzt, weil sie die einzige Alternative bildet zum Absturz ins radikale Freund-Feind-Verhältnis, in den weltanschaulich geprägten Bürgerkrieg, in die revolutionäre oder konterrevolutionäre Verschmelzung von Tugend und Terror.

In der Tat ist also Demokratie insofern relativistisch und muß es sein, als sie nicht aus „der Wahrheit“ lebt, aus keiner Art von letzter Wahrheit — sondern aus der Suche nach Wahrheit und der Möglichkeit des Dialogs über sie. Der Sachverhalt wird vor allem vom Gegenpol, von der Negation her einsichtig:

Wo „der Führer" die „Vorsehung" kommandiert oder eine Monopolpartei die Wahrheit der Geschichte verwaltet, da gibt es Demokratie allenfalls als Farce; es gibt sie jedenfalls nicht als Freiheit zum legitimen Abweichen und Anderssein. Und gesetzt sogar, irgendeine Elite hätte tatsächlich die Wahrheit schlechthin in den Händen, so wäre dennoch ihr Anspruch, daraus zugleich die Legitimation herrschaftlicher Durchsetzung abzuleiten, strikt zurückzuweisen. Denn damit verkäme die Wahrheit schon zu Propaganda und Indoktrination, der Dialog zur Unterwerfung, die Würde der je eigenen Entscheidung des Bürgers zu seiner Entmündigung. „Ein Staat, der sagt, was gut und schön, richtig und wahr ist, ein Staat, der vorgibt, ein Hort menschlicher Wärme zu sein, kann nur repressiv für seine Bürger, lähmend für eine lebendige Entwicklung, lächerlich und hassenswert für den Außenstehenden sein." Genau an diesem Punkt und einzig hier beginnt die rechtmäßige, unverzichtbare Wehrhaftigkeit des demokratischen Prinzips und der darauf gegründeten Verfassung. Um es in sarkastischer Zuspitzung zu sagen: Grundwerte sind verfassungswidrig — sofern, sie, vom Staat verbindlich gemacht, inhaltliche Festlegungen meinen, die die Würde des Menschen als Mündigkeit, Entscheidungsfähigkeit und Offenheit zur Zukunft hin verletzen.

Im einzelnen darf und muß man gewiß darüber streiten, was getan werden muß, um die Würde des Menschen zu wahren und die Mündigkeit, die Eigenverantwortung des Bürgers zu stärken. Es geht auch um materielle Bedingungen, vom Mindestmaß sozialer Sicherheit bis zum Optimimum an Chancen-gleichheit für Bildung und Beruf. Aber nur die praktische Erfahrung kann sagen, was nützlich und was schädlich ist. Das notorische, um nicht zu sagen neurotische deutsche Bemühen jedenfalls, alles zum angeblichen „Verfassungsauftrag"

zu stilisieren, sollte tief verdächtig sein. Es gibt — um nur zwei Beispiele zu nennen — einen Verfassungsauftrag weder zum traditionell gegliederten Schulsystem noch einen zur Gesamtschule. Und es gibt keinen Verfassungsauftrag für eine bestimmte Wirtschaftsordnung, es sei denn in der Negation:

Wer etwa den Bürgern vorschreiben will, was ihre „wahren" Bedürfnisse seien und was sie demgemäß zu konsumieren hätten und was nicht, der betreibt das Geschäft der Entmündigung.

Insgesamt gilt: „Je mehr die politischen Kräfte dazu neigen, nur solche Interessen für achtbar zu halten, die sich direkt auf einen Verfassungsauftrag berufen können, um so stärker leisten sie dem fatalen Vorurteil Vorschub, wonach politische Interessen für sich genommen nicht nur nicht besonders anerkennenswert sind, sondern geradezu verwerflich.

Diese Denunziation des Politischen muß ein parlamentarisches System auf das empfindlichste treffen, abgesehen von dem hohen Maß an Realitätsverlust, das sie bei seinen Bürgern auslösen kann." Die Konsequenz ist eben: der Versuch, sich wechselseitig an oder über den Rand der Verfassung zu drängen, das Freund-Feind-Verhältnis als Inbegriff des Politischen — und Starrheit als politische Tugend. Erstarrung aber, die negative Spirale von Unterdrückung und Aggression, bedroht am Ende die politische Ordnung mit Reformunfähigkeit und damit mit dem katastrophenartigen Zusammenbruch; auch dies ist ja eine der politischen Lehren, die aus der neueren deutschen Geschichte zu ziehen sind.

Die Versuchung, „Grundwerte" und letzte Wahrheiten in die politische Auseinandersetzung mit Hilfe der Verfassungsinterpretation einzuführen, ist in den letzten Jahren ständig gewachsen. Deshalb gilt mit noch verstärkter Aktualität, was Adolf Arndt, und nicht bloß für Parteien, schon 1960 formuliert hat: „Ich bitte, es als das Herzstück meines Versuchs, als den beschwörenden Zuruf meiner Ausführungen aufzufassen, wenn ich jetzt sage: Die Unmenschlichkeit bricht aus, sobald im Vorletzten, wie es jeder demokratischen Partei als Ort gebührt, eine letzte Wahrheit vom Menschen zum Maßstab für mitmenschliche Gemeinschaft erhoben wird."

3. Bedingungen der Toleranz

Dem Begriff der Menschenwürde geschichtlich und der Sache nach eng verwandt ist das Prinzip der Toleranz. Es sei darauf näher eingegangen, weil an ihm eine weitere Bedingung der freiheitlichen und doch wehrhaften Demokratie sichtbar gemacht werden kann.

In Lockes „Brief über Toleranz“ — einem ideellen Manifest der „glorreichen" Revolution von 1688 — heißt es: „Der wirft Himmel und Erde zusammen, diese am weitesten voneinander entfernten und gegensätzlichen Dinge, der die beiden Ordnungen vermischt, die in ihrem Ursprung und Amt und in jeder Hinsicht total verschieden sind." Locke proklamiert damit die Trennung von Staat und Kirche als Prinzip des Friedens; zum mindesten proklamiert er, daß der Status des Staatsbürgers vom Konfessionsstatus unabhängig sein und der eine auf den anderen keine Auswirkungen haben soll.

Von der Proklamation zur Praxis ist es freilich ein weiter Weg. Zwar gibt es schon frühzeitig Zitadellen der Toleranz, wie in den Niederlanden; es gibt dann in Brandenburg-Preußen die von „oben“ aufgezwungene, eine administrierte Toleranz, die „unten", bei den Untertanen, allerdings ganz überwiegend auf Unverständnis und Widerstand stößt und einen frommen Lutheraner und berühmten Liederdichter wie Paul Gerhardt gewissermaßen zum Märtyrer der Toleranz macht — man ist versucht zu sagen als einen „Radikalen" seiner Zeit, der deshalb sein Amt verlor. Aber erst im späten 18. Jahrhundert, in der Verfassung von Virginia, die das Modell für die Vereinigten Staaten schuf, wurde die Trennung von Staat und Kirche ausdrücklich zum Prinzip erhoben. Wie dramatisch die von Locke proklamierte Wendung tatsächlich war, mag ein weiteres Zitat anschaulich machen: „Die Toleranz“, schrieb die während der großen puritanischen Revolution in Westminster tagende „Assembly of Divines" an das englische Parlament, „würde aus diesem Königreich ein Chaos, ein Babel, ein zweites Amsterdam(!), ein Sodom, ein Ägypten, ein Babylon machen. Wie die Erbsünde die Ursünde ist, die den Samen und Laich aller Sünden in sich trägt, so trägt die Toleranz alle Irrtümer und alle Sünden in ihrem Schoß." Nachträglich ist es leicht, dies einfach als Fanatismus und Bigotterie abzutun — oder, auf der Gegenseite, als einen Zynismus der Staatsräson. Das alles war gewiß auch, aber keineswegs nur im Spiel; es handelt sich um viel mehr: Das „cuius regio, eius religio“ war angesichts der Religionskämpfe, der Kriege und Bürgerkriege, die Europa erschütterten und verwüsteten, im 17. Jahrhundert die schlechthin rettende Friedensformel. So hat es auch noch Lockes großer Vorgänger, Thomas Hobbes, gesehen und einsichtig zu machen versucht

Wenn schließlich doch das andere, auf die Toleranz gegründete Friedensprinzip sich mehr und mehr durchzusetzen vermochte, dann beruht das auf einer Voraussetzung, die sich durchaus nicht von selbst versteht und die in ihrer Bedeutung nur selten gewürdigt wird. Gesellschaftliche Voraussetzung der Toleranz ist nämlich, was als Entwicklung zur Komplexität oder zur Gliederung des sozialen Gesamtsystems in Subsysteme beschrieben werden kann. Dabei ist das Individuum im Gegensatz zu den ständischen oder kastenartigen Gliederungen der vormodernen Gesellschaft nicht nur einem Subsystem dauernd zugeord-net, sondern jeder einzelne muß in vielen Bereichen mit ständig wechselnden Anforderungen seine „Rollen" spielen. Anders und einfacher ausgedrückt: Der vormoderne Mensch ist typischerweise das, was er ist, ganz und für immer: Knecht, Bauer, Grundherr, Priester; es geht nicht um auswechelbare Teilrollen, sondern in aller Regel um ein vorgegebenes Schicksal. Der moderne Mensch dagegen erwirbt oder verläßt eine Vielzahl von Rollen: des Ehepartners, Berufs, -Vereins-, Partei-, Konfessionsangehörigen und so fort. Und er muß die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der jeweiligen Rollenzumutungen tragen und ausbalancieren, oft sogar als Konflikt erfahren und bestehen.

Doch gerade hierin steckt die gesellschaftliche Bedingung der Freiheit und der Toleranz: Staatsbürgertum und Konfessionszugehörigkeit vereirgen sich zwar in der gleichen Person, aber da sie sich auf verschiedenartige „Subsysteme“ oder „Rollen" beziehen, sollen ihre jeweiligen Erwartungen, Anforderungen und Sanktionen nichts miteinander zu tun haben. Dabei stellt das konfessionelle Toleranz-prinzip heute natürlich nur noch den Sonderfall eines allgemeinen Prinzips dar, wie es der Gleichheits-und Toleranzartikel des Grundgesetzes deutlich macht, in dem es heißt: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden." Was gemeint ist und was dies praktisch bedeutet, wird wiederum in der Negation anschaulich:

Wo immer jemand auf eine Rolle festgelegt, sozusagen festgenagelt wird, die in alle anderen Rollen durchschlägt und die als ein Schicksal, als gleichsam naturhafte über den Rollenträger verfügt wird — der Deutsche, türkische Gastarbeiter, Neger, Jude, Homosexuelle, Zigeuner, die Frau, der Radikale oder Kapitalist, was immer —: da ist das in der modernen Gesellschaft ein Sigpal der Intoleranz, der verweigerten Freiheit. Verfemung ist dann mindestens latent immer schon vorhanden, und die Verfolgung kauert sich zum Sprung. Es ist das Obszöne an Regimen, die wir gemeinhin „totalitär" nennen, daß sie mit allen verfügbaren modernen Gewaltmitteln diese Intoleranz, also eine prinzipielle Antimodernität unter irgendwelchen Vorzeichen angeblich letzter Werte und Wahrheiten neu durchsetzen und befestigen wollen.

Es gibt noch eine andere Gefahr. In den vergangenen Jahren ist oft und mit dem Pathos der Geringschätzung, ja der Verachtung behauptet worden, als „bürgerliche" sei die Demokratie „nur formal". Doch auf der Formalisierung jedes einzelnen zum Menschen und zum Bürger, unabhängig davon, was er sonst noch in der Vielzahl seiner Rollen ist oder nicht ist, beruht mit dem Gleichheits-und Toleranzprinzip unsere Freiheit. Die neuzeitliche Geschichte der Menschen-und Bürger-rechte hat die Formalisierung zu ihrem Fundament: das Abstrahieren von inhaltlich-materiellen, dem Individuum schicksalhaft vorgegebenen Bestimmungen, wie sie zum Beispiel einer Ständeordnung auch im Rechtssinne gemäß sind. Materielle Festlegung muß deshalb entweder den Rückfall in eine mit äußerster Gewaltsamkeit hergestellte und befestigte neue Ungleichheit mit sich bringen — oder die rigorose Gleichschaltung, die keine Freiheit zum Anderssein mehr duldet und ebenfalls nur mit äußerster Gewaltsamkeit durchgesetzt werden kann. In der Praxis dürften Ungleichheit und Gleichschaltung sich paradox und folgerichtig genug verbinden; die nationalsozialistische Barbarei hat dies demonstriert. Im übrigen sollte die Tatsache, daß es noch und immer wieder Diskriminierung gibt — etwa die Benachteiligung der Frau im Beruf—, nicht zu dem Kurzschluß verführen, das Gleichheits-und Toleranzprinzip als „formalen Schwindel“ anzuklagen. Im Gegenteil: Im Kampf gegen die Diskriminierung bildet es die Hauptwaffe, den einzigen und unverzichtbaren Rechtstitel.

4. Das wohlverstandene Interesse

„Die Demokratie will und kann ihren Bürgern nicht ihren Lebenssinn, handlich verpackt, liefern; den müssen sich die Bürger schon selber suchen." Dieser Satz eines entschiedenen Liberalen — des Bundespräsidenten Walter Scheel — zieht eine Art Quersumme aus unseren bisherigen Überlegungen. Aber was eigentlich sind die Konsequenzen? Daß Demokratie und Ethik unvereinbare Größen darstellen und demgemäß von „demokratischer Moral“ oder „demokratischen Tugenden“ sprechen hölzerne Eisen schmieden heißt? Keineswegs. Es gibt Tugenden, die Demokratie fördern oder überhaupt erst ermöglichen, und es gibt Untugenden, ja sogar Tugenden, die sie behindern oder zerstören. Von . Augenmaß" bis „Zivilcourage" könnte wohl jeder, der etwa mit „Politischer Bildung" je zu tun hatte, ein demokratisches Tugendalphabet entwerfen. Von solchen Tugenden und Untugenden wird im zweiten Teil die Rede sein. \ Freilich: Es handelt sich eben nicht um Handlungsanweisungen, die unmittelbar aus originären „Grundwerten" sich ergeben, sondern es geht um abgeleitete, um sekundäre Tugenden. Ihr einziger Eckstein ist die dignitas humana; es geht darum, die Freiheit des Bürgers politisch zu bewahren. Was er mit seiner Freiheit im Letzten dann anfängt, bleibt offen und ungewiß.

Bewahren! mögen manche ausrufen: Ist das nicht eine konservative Kategorie? In der Tat: Die üblichen Lehrbuchvorstellungen von demokratischen Verhaltensweisen setzen, bisweilen naiv, die Existenz von Demokratie schon voraus. Natürlich ist sie alles andere als selbstverständlich. Und wo es um den Widerstand oder die revolutionäre Erhebung gegen die Gewaltherrschaft geht, da braucht man andere Tugenden als die, die der Freiheitswahrung nützlich sind: heroische. Darin liegt einer der Gründe dafür, daß siegreiche Revolutionen die in sie gesetzten Erwartungen so oft und so bitter enttäuschen; indem die einstigen Revolutionäre wieder und wieder den Heroismus ihrer Kampfzeit beschwören, reißen sie die Freiheit schon wieder ein, die sie doch aufrichten wollten. Insofern gilt die Brechtsche Maxime: Wehe dem Land, das Helden nötig hat.

Die demokratische Verfassungsordnung wird hier also ausdrücklich schon vorausgesetzt; ebenso wird unterstellt, daß Reformen, schrittweise Verbesserungen bestehender Verhältnisse mit demokratischen Mitteln prinzipiell möglich sind. Unter diesen Voraussetzungen könnte man sagen, daß es um Einstellungen und Verhaltensregeln geht, die sich im Begriff des wohlverstandenen Interesses zusammenfassen lassen: Es ist das wohlverstandene Interesse aller Bürger, demokratische Verhältnisse als Bedingungen der Freiheit jedes einzelnen zu bewahren. Genau in diesem Sinne hat Alexis de Tocqueville, als er am amerikanischen Modell demokratische Tugenden untersuchte, vom wohlverstandenen Interesse gesprochen: „Als die Welt durch eine kleine Zahl mächtiger und reicher Personen geführt wurde, liebten diese es, sich eine erhabene Vorstellung von den Pflichten des Menschen zu bilden; sie verkündeten, es sei ruhmreich, sich selbst zu vergessen und das Gute, wie Gott selbst, ohne Eigennutz zu tun." Davon ist nun nicht mehr die Rede, ganz im Gegenteil: „Die Amerikaner lieben es, sämtliche Handlungen ihres Lebens aus dem wohlverstandenen Eigennutz abzuleiten; selbstgefällig zeigen sie, wie die aufgeklärte Eigenliebe sie ständig dazu anspornt, sich gegenseitig zu helfen und für das Wohl des Gemeinwesens einen Teil ihrer Zeit und ihres Reichtums zu opfern. Ich denke, daß sie sich hierin oft selbst Unrecht tun, denn wie anderswo sieht man in den Vereinigten Staaten, daß die Bürger sich von spontaner und uneigennütziger, dem Menschen natürlicher Begeisterung fortreißen lassen; die Amerikaner geben aber nicht zu, daß es so ist,, sondern geben lieber ihrer Philosophie als sich selbst die Ehre."

„Die Lehre vom wohlverstandenen Interesse steht nicht hoch, aber sie ist klar und sicher. Sie bewirkt keine restlose Selbstaufgabe, regt aber täglich zu kleinen Opfern an; für sich allein bringt sie keine tugendhaften Menschen hervor; sie formt aber eine Vielzahl von ordentlichen, gemäßigten, ausgeglichenen, vorausblickenden und selbstbeherrschten Bürgern, und lenkt sie auch nicht unmittelbar durch den Willen zur Tugend, so führt sie doch durch Gewöhnung unmerklich an sie heran." „Würde die Lehre vom wohlverstandenen Interesse in der sittlichen Welt zu völliger Herrschaft gelangen, so wären die außergewöhnlichen Tugenden zweifellos seltener. Wahrscheinlich wären dann aber auch die groben Entartungen seltener. Diese Lehre hält einige davon ab, sich über den Durchschnitt der Menschheit zu erheben; die vielen aber, die darunter sanken, begegnen ihr und werden von ihr festgehalten. Man betrachte einige Individuen, sie werden durch sie erniedrigt. Man betrachte das Menschengeschlecht, es wird durch sie erhöht. Ich scheue mich nicht zu sagen, daß die Lehre vom wohlverstandenen Interesse mir von allen philosophischen Lehren die zu sein scheint, die den Bedürfnissen des heutigen Menschen am besten entspricht, und daß ich sie für die wirksamste Sicherung des Menschen vor sich selbst halte. Deshalb müssen die Moralisten der Gegenwart ihr sich vor allem zuwenden. Selbst wenn sie sie als unvollkommen ansehen, muß man sie gleichwohl als notwendig bejahen." „Im ganzen glaube ich nicht, daß wir egoistischer sind als die Amerikaner; der einzige Unterschied besteht darin, daß der Egoismus bei ihnen aufgeklärt ist und bei uns nicht. Jeder Amerikaner hat gelernt, einen Teil seiner Sonderinteressen aufzuopfern, um das übrige zu retten. Wir wollen alles behalten, und so verlieren wir oft alles.“

Tocquevilles Hoffnung, daß ein aufgeklärter Egoismus der menschlichen Selbstgefährdung am zuverlässigsten vorzubeugen vermag, könnte sich allerdings als brüchig erweisen. Zwar heißt es auch bei Kant — im sinngemäßen Anschluß an Hobbes —, das Problem der Staatserrichtung sei selbst für ein Volk von Teufeln auflösbar — wenn sie nur Verstand haben Aber die Frage ist, ob die Menschen oft nicht eher unverständigen Engeln gleichen: Wesen, die heroisch-idealistisch lieber alles zerstören, sogar sich selbst, als ihr Prinzip zu opfern und das, was sie für ihre Ehre oder den Befehl ihres Gewissens halten. „Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind", schrieb Ernst Jünger im Jahre 1932 Das erwies sich als buchstäblich und schrecklich wahr.

Von dem offenbar zentralen Problem, das sich hier andeutet, wird später noch zu sprechen sein. Zunächst aber sollen wichtige demokratische Tugenden analysiert werden.

II. Demokratische Tugenden

1. Kompromißbereitschaft

In seinem „Traktat über den Kompromiß" schreibt Theodor Wilhelm: „Die Neigung, das Unmögliche zu wollen und so das Mögliche unmöglich zu machen, hat in Deutschland seinen tiefgestaffelten geschichtlichen Hintergrund ... Wo Kompromisse geschlossen werden, wird das Subjekt in Abhängigkeit gebracht. Abhängigkeit von den äußeren Umständen, die gegeben und nicht beliebig veränderbar sind, und Abhängigkeit von anderen Menschen, die das Subjekt in seiner Willkür einschränken. Der Kompromiß ist eine Form des Sichentschließens, welche die Meinung und den Willen anderer zur Kenntnis nimmt und das eigene Konzept damit in Einklang bringt. Die Selbstherrlichkeit des Ichs wird ganz entschieden eingeschränkt. Eine positive Theorie des Kompromisses bricht insofern brutal in das umfriedete Gehege des deutschen Freiheitsbegriffes ein.“ Denn dieser Freiheitsbegriff war eigentlich immer ein „rein geistiger“ und eben damit absoluter; die praktische Folge jedoch war und ist „die Flucht des Subjekts, das durch Freiheitsbeschränkung von außen her bedroht ist, in den Innenraum der Gesinnung“

Nun kann man natürlich sagen — und so wird es in der Regel ja auch anerkannt —, daß Kompromißbereitschaft unvermeidbar ist in einer komplexen und dynamischen politisch-gesellschaftlichen Ordnung, in der stets vielfältige und in vielem sogar gegensätzliche Anschauungen und Interessen miteinander konkurrieren. Die Alternative wäre: Gewalt, die Unterdrückung des jeweils Schwächeren durch den Stärkeren. Doch dann bliebe der Kompromiß noch immer etwas Negatives-— und die Proklamation der Bereitschaft zum Kompromiß ein notwendiges Übel, von dem man annehmen muß, daß die aufs Ganze gehende Gesinnung es hinter sich läßt und wie eine Maske von sich wirft, sobald dies ohne schwerwiegende Folgekosten möglich scheint. Die Kompromißbereitschaft kann indessen und sie sollte mehr sein: ein positiver Akt, eine echte demokratische Tugend. Denn sie enthält, ja sie konstituiert die Anerkennung des Anderen in seinem Anderssein. Und in einer „Reziprozität der Perspektiven" bedeutet dies wiederum die Anerkennung meiner eigenen Individualität und Besonderheit. Die Positivität der Kompromißbereitschaft enthält damit nichts Geringeres als das moralische Fundament der Freiheit. Wo aber das Anderssein des Anderen nicht wirklich anerkannt, sondern nur als notwendiges Übel hingenommen wird, da wird zugleich die eigene Besonderheit an ein angeblich höheres, abstrakt Allgemeines verraten, in des-sen Namen letztlich allem Abweichen und Anderssein die Legitimität abzusprechen ist. So kommt es zur Selbstverkrüppelung der Individualität. Es sei im übrigen darauf hingewiesen, daß Kompromißbereitschaft als Tugend zugleich ein „gemischtes", also im positiven Sinne vom Kompromiß geprägtes Verfassungssystem voraussetzt. Es versteht sich, daß in einem einseitig von „oben“ bestimmten Regime, unter welchem Vorzeichen immer, der Kompromiß nur als Übel, als allenfalls taktische Maßnahme auf Zeit und auf Widerruf verstanden werden kann. Entsprechendes gilt aber auch für die absolute, angeblich „reine“ Herrschaft von „unten", wie sie etwa der mit der Forderung nach dem imperativen Mandat verbundene Rätegedanke verkörpert. Das imperative Mandat schließt ein Verhandeln der Räte über Kompromisse seiner Idee nach aus; eben deshalb muß der erzielte Kompromiß grundsätzlich als „Verrat" erscheinen, der mit sofortiger Abberufung der beteiligten Räte zu quittieren ist. Da das System kaum funktionieren kann, schlägt in der Praxis die Hoffnung auf absolute Freiheit ins Gegenteil um: in die rigorose Erziehungsdiktatur, die erst zu schaffen behauptet, was ursprünglich doch vorausgesetzt wurde

2. Mäßigung

Mäßigung ist der Kompromißbereitschaft eng verwandt, wie auch der Toleranz, von der schon die Rede war und die daher nicht mehr gesondert behandelt werden soll.

Freiheit schafft die Möglichkeit zu maßlosen Unterstellungen und maßlosen Forderungen. Aber mit maßlosen Unterstellungen wird dem politischen Gegner der gute Wille abgesprochen, mit maßlosen Forderungen am Ende immer nur die Unfähigkeit des „Systems" demonstriert, sie zu erfüllen. So zerstört Freiheit sich selbst. „Menschen", sagt Edmund Burke, „sind genau in dem Maße zu bürgerlicher Freiheit qualifiziert, in dem sie ihren Begierden Bindungen auferlegen ... Eine Gesellschaft kann nicht bestehen, wenn nicht irgendwo eine kontrollierende Macht gegenüber dem Willen und den Begierden existiert, und je weniger es diese Macht in den Menschen selbst gibt, desto mehr muß sie von außen kommen. In der ewigen Ordnung der Dinge ist es bestimmt, das Menschen von ungezügeltem Geist nicht frei sein können. Aus ihren Leidenschaften entstehen ihre Fesseln.“

Als Selbstkontrolle schafft Mäßigung die Voraussetzungen dafür, daß die Kontrolle durch äußere Gewalt allmählich zurückgedrängt werden kann. Geschichtlich gesehen, geht es um einen sehr langfristigen, über Jahrhunderte hin ablaufenden — und stets von Rückschlägen bedrohten und begleiteten — Prozeß der Selbstdisziplinierung

Mäßigung macht eine demokratische Verfassungspraxis erst möglich. Wenn Mehrheiten ihre Macht rücksichtslos ausspielen, werden sie „streng legal“ und womöglich besten Gewissens Minderheiten unterdrücken und in verzweifelt subversiven Widerstand treiben. Wenn andererseits Minderheiten Mehrheitsentscheidungen nicht respektieren, werden sie die Unterdrückung provozieren, die sie dann beklagen.

Ohne Mäßigung keine Gewaltenteilung. Man stelle sich zum Beispiel einmal vor, die gegenwärtige Oppositionsmehrheit im Bundesrat — oder ein von der Opposition ständig angerufenes Bundesverfassungsgericht — würde rigoros die Gesetzesvorlagen von Bundestags-mehrheit und Bundesregierung blockieren. Eine Verfassungskrise wäre dann über kurz oder lang unabwendbar. Sie könnte wohl nur durch die Roßkur der Gewaltenkonzentration behoben werden — das heißt um den Preis der beschädigten Freiheit aller. Entsprechendes gilt für die Funktionsfähigkeit von Demokratie insgesamt als eines Systems, das „Staat“ und „Gesellschaft" übergreift; man denke an Verhalten und Verantwortung der Verbände, besonders der Tarifparteien, an Bürgerinitiativen, an die Verhältnisse in den Hochschulen und alle Formen der Mitbestimmung, an die Kirchen und vieles andere mehr.

3. Konfliktfähigkeit

Konflikte gehören zum Alltag der Demokratie und der offenen Gesellschaft. Mehr noch: Konflikte, die aus der Konkurrenz der Anschauungen und Interessen, der Parteien um Mehrheit und Macht erwachsen, sind notwendig. Denn sie sorgen für Veränderungsmöglichkeiten, für Reformfähigkeit; sie bewahren das politisch-gesellschaftliche System vor Erstarrung. Eine dem Anspruch und Anschein nach konfliktlose Ordnung muß deshalb tief verdächtig sein.

In Deutschland gibt es allerdings eine tief verwurzelte Konfliktscheu. Obwohl — oder weil — die sozialen Fronten weniger verhärtet und zum Beispiel Arbeitskämpfe weitaus seltener sind als in vielen anderen westlichen Industriestaaten, erregen Streiks nicht bloß Aufsehen, sondern Angst, manchmal bis an die Grenzen der Hysterie. Parteien gelten für stark, wenn sie Einmütigkeit demonstrieren, für schwach dagegen, wenn es „Flügel" gibt und etwa auf Parteitagen kritisch und kontrovers diskutiert wird. Politische Bildung wurde, nicht bloß dem Namen nach, in der Bundesrepublik lange als „Gemeinschaftskunde" verstanden; als dann in den sechziger Jahren eine „Konfliktpädagogik" sich entwickelte, geriet sie alsbald ins Kreuzfeuer der Verdächtigungen, so als betreibe sie schlechthin das Geschäft der „Systemveränderer" und eines gewaltsüchtigen Radikalismus. Daß es Einseitigkeiten und dogmatische Verengungen gegeben hat, sei nachdrücklich zugestanden Aber die Kritik schoß weit übers Ziel hinaus, verlor manchmal jedes Maß und offenbarte eben damit die Abgründe deutscher Harmoniebesessenheit. Doch noch einmal: In der offenen Ordnung der Demokratie ist es notwendig und legitim, daß die Vielfalt der Anschauungen und Interessen sich zum Kampf um ihre Durchsetzung organisiert. Und die auftretenden Konflikte können produktiv statt destruktiv ausgetragen werden, sofern sie allgemein anerkannten Verfahrensregelungen unterliegen, die Rechtsstaat, Verfassung und Konventionen bereitstellen — ein Insgesamt von geschriebenen und ungeschriebenen „Spielregeln", an die alle Beteiligten sich binden.

Die Offenheit ist so wichtig wie die Verfahrensregelung, und beide sind aufeinander bezogen. Nur wo alle Interessen und Anschauungen zum Zuge kommen und nicht vorweg ausgeschlossen werden, kann man erwarten, daß sie auf die Dauer die Spielregeln achten und einhalten, statt entweder in Resignation oder in verzweifeltes Aufbegehren zu verfallen.

Wo indessen die geltenden Regelungen Organisations-und Aktionsmöglichkeiten eröffnen, da läuft jede Regelverletzung auf die Störung, letztlich auf die Zerstörung der offenen Ordnung hinaus: Insgeheim wird der eigene Anspruch absolut gesetzt, der Konfliktpartner nicht als solcher anerkannt; genau damit wird die Offenheit für legitim verschiedenartige Anschauungen und Interessen schon verneint. Als Folge wird eine negative Spiralbewegung in Gang gesetzt: Der nicht anerkannte Konfliktpartner muß um seiner Selbstbehauptung willen ebenfalls die Partnerschaft aufkündigen und sich zu den geltenden Regelungen subversiv verhalten; er muß und wird versuchen, sie zu seinen Gunsten umzustürzen, um die eigene Vorherrschaft zu sichern und auf Dauer zu stellen -Allgemein entsteht ein Klima des abgründigen Mißtrauens. Gerade diese Negativität zeigt im Kontrast, daß die Wechselbezüglichkeit von offener Ordnung und anerkannter Verfahrensregelung auch — oder sogar gerade in der Legitimation von Konflikten zugleich Integration bedeutet und das Gegenteil von brachialer Gewalt meint: Die Konfliktparteien sind in dem Sinne Partner, daß sie einander eben als legitime Konfliktparteien anerkennen und das Vertrauen auf die Einhaltung der Verfahrensordnungen vorgeben.

Konfliktfähigkeit stellt also eine elementare demokratische Tugend dar. Allerdings handelt es sich um eine komplexe Tugend, in die andere Tugenden — vor allem: Sensibilität für „Spielregeln", engagierte Distanz, Selbstbewußtsein — schon eingegangen sind. Von diesen Tugenden wird noch zu sprechen sein. Hier wie überall kommt es darauf an, nicht Einzelaspekte zu isolieren, sondern Verschränkungen, Bedingungszusammenhänge zu beachten.

Die Bedeutung der Konfliktfähigkeit als ein-geübter Tugend zeigt sich nicht zuletzt in ihrer immunisierenden Wirkung gegenüber der Faszinationskraft des totalitären Regimes. Diese Faszinationskraft ergibt sich wesentlich daraus, daß es um den — im Grunde un-und vorpolitischen — Traum von der Idylle, von der Konfliktfreiheit und absoluten Harmonie geht: als „Endlösung" nach einem letzten, äußersten Kampf, gleich ob revolutionär oder restaurativ; daher erweist sich der totalitäre Traum in Krisenlagen immer dort als gefähr-lieh attraktiv, wo es an demokratischen Traditionen mangelt Man denke an die unterschiedlichen, ja gegensätzlichen deutschen und amerikanischen Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise: hier die Vernichtung der Demokratie in der nationalsozialistischen Machtergreifung und in der Proklamation der „Volksgemeinschaft", dort die Entscheidung für Roosevelt und seinen New Deal, also für den Versuch demokratischer Erneuerung. Der Traum von der umfassenden Gemeinschaft kann Abweichen und Anderssein keinesfalls dulden, denn wo es um das Gemeinschafts-und Menschheitsheil schlechthin geht, wird jeder, der abweicht und ausbricht, zum Gemeinschafts-und Menschenfeind schlechthin, der entweder zwangsweise bekehrt und eingefügt oder aber — sofern er sich nicht bekehren läßt oder als nicht einfügbar definiert wird — vertrieben und vernichtet werden muß. Der schauerliche Doppelsinn, der sich mit dem Begriff der „Endlösung" verbindet, macht die Zusammenhänge sichtbar: Der Schein der Volksgemeinschaft und der Idylle findet seine nur zu folgerichtige Ergänzung in der Realität des Konzentrations-und Vernichtungslagers und im Krieg. Im übrigen panzert die Behauptung, man werde im Fegefeuer des absoluten Kampfes die absolute Gemeinschaft verwirklichen, den Terror und die Gewalt mit dem guten Gewissen. In den auf den Stalinismus bezogenen Worten von Jules Monnerot: „Um mitten im Frieden die kriegerischen Aktionen, die konzentrationären Praktiken und das Wiederauftauchen der Sklaverei zu entschuldigen, bedarf es nichts geringeren als einer Verheißung des Paradieses. Auf diese Weise kommt es zu einer unmittelbaren Verbindung zwischen Heilsgewißheit und menschlicher Scheußlichkeit." Das ist die Alternative: Entweder die Freiheit zum Anderssein, zur legitimen Vielfalt und auch Gegensätzlichkeit von Anschauungen und Interessen in der offenen, demokratisch verfaßten Ordnung um den Preis der ausdrücklich anerkannten Konflikthaftigkeit — oder scheinhafte Geborgenheit in der Gemeinschaftsidylle um den Preis teils der totalen Konformität, teils der Gewalt und des Terrors.

4. Sensibilität für Spielregeln

Tugenden sind kein Naturereignis; sie fallen nicht vom Himmel. Ebensowenig lassen sie sich durch pure Willensakte herbeizwingen. Tugenden entwickeln sich oder verkümmern mit den Umständen; sie sind Produkte der Erziehung im weitesten Sinne, einschließlich der Erziehung durch bewußte oder vorbewußte geschichtliche Überlieferungen.

Die Bedeutung einer Sensibilität für Spielregeln muß nach dem schon Gesagten kaum mehr eigens betont werden. Sie erweist sich in der Reaktion auf Regelverletzungen; die Sicherheit demokratischer Freiheit hängt entscheidend davon ab, daß Bürger zum Beispiel durch Änderung ihres Wahlverhaltens den Machtmißbrauch ahnden, den die Regelverletzung signalisiert. Die Erfahrung, daß Machtmißbrauch zum Machtentzug führt, stellt zugleich den denkbar wirksamsten präventiven Schutz der Freiheit dar. Für freiheitsfeindliche Regime ist hingegen typisch, daß sie die Bedeutungslosigkeit formaler Regelungen gegenüber den Inhalten und Zielen proklamieren oder jedenfalls stillschweigend praktizieren.

In solcher Perspektive wird die Frage wichtig, was eigentlich für die Erziehung zur Spielregelsensibilität getan oder nicht getan wird. Politische Bildung will in der Regel entweder Kenntnisse vermitteln oder für „Anliegen" engagieren; von den Spielregeln handelt sie kaum. Ob dies im Rahmen eines Bildungswesens geändert werden kann, in dem es ständig um den Ernstfall des Überlebens im Zensuren-wettkampf geht, ist freilich nicht sicher. Überdies müßte es wohl weniger um den lehrhaften Disput als vielmehr um praktische Verhaltenserziehung gehen. Dem Herzog von Wellington wird der Satz zugeschrieben, die Schlacht von Waterloo sei auf den Spielfeldern von Eton gewonnen worden. Wohlgemerkt: auf den Spielfeldern, nicht in den Studierstüben. Der Satz dürfte noch mehr besagen, wenn er auf die Entwicklung zur Demokratie statt auf eine Schlacht angewandt wird. Die anglo-amerikanische Ganztagsschule bietet für die praktische Verhaltenserziehung ja ganz andere Möglichkeiten als unsere Vormittags-Wortschule, in der sich Verhaltenserziehung meist auf ein disziplinierendes Minimum beschränkt: Seid ruhig, schreibt nicht ab, prügelt euch nicht auf dem Pausenhofl Die Sensibilität für Spielregeln wird nicht nur durch die Bildungsinstitutionen vermittelt oder verschüttet, sondern entscheidend durch das, was Parteien, Parlamente, Regierungen und Verwaltungen tun. Hierzulande ist freilich die Neigung groß, auf jede auftauchende Schwierigkeit mit dem Ruf nach Regelverän-B derungen zu reagieren; das Grundgesetz wurde in den dreißig Jahren seines Bestehens schon häufiger und teilweise tiefgreifender verändert als die amerikanische Verfassung in beinahe zwei Jahrhunderten.

Man kann aber mit der Verfassung und mit dem Rechtsstaat gar nicht konservativ genug umgehen. Gerade darauf beruht die Zukunftsoffenheit. Das Vertrauen darauf, daß „die anderen" die Regeln achten und nicht etwa umstürzen werden, sobald sie einmal mit der Mehrheit und der Macht allein sind, schafft erst die Voraussetzung dafür, daß ein demokratischer Wandel sich angstfrei vollziehen kann. Manipulationen dagegen zerstören dieses Vertrauen, und die Folge ist Erstarrung: Wo einmal die Regeln mißachtet wurden, kann es wieder geschehen; deshalb „umarmt" man einander krampfartig, damit nur ja keine Hand frei wird, die nach dem Dolche greifen kann. In diesem Sinne war etwa die langjährige Große Koalition in Österreich wesentlich ein Produkt der bitteren Bürgerkriegserfahrungen, die „Schwarz" und „Rot" zwischen den Weltkriegen miteinander gemacht hatten.

Den dialektischen Zusammenhang zwischen Konservativität hinsichtlich der formalen Regelungen und Progressivität, Veränderungsoffenheit in der Sache hat J. A. Schumpeter einmal in ein plastisches Bild gebracht: Ein Auto muß nicht langsamer, sondern kann im Gegenteil um so schneller fahren, je wirksamere Bremsen es hat. In der Tat: Ohne Bremsen forsch zu fahren, ist nicht etwa ein Zeichen von Mut, sondern unverantwortlicher Leichtsinn — und die Panik der Passagiere, ihr Wunsch, um jeden Preis anzuhalten und auszusteigen, dann nur zu verständlich.

Zu bedenken ist auch: Häufige Regelveränderungen, sogar wenn sie „streng legal" vollzogen werden, stumpfen die Sensibilität des Bürgers ab — Regeln sind offenbar nicht so wichtig.

Der Schritt zur Apathie und Resignation ist dann nicht mehr groß: „Die da oben machen ja doch, was sie wollen!“ So darf man sich nicht wundern, wenn die kritische Reaktion ausbleibt, wo sie nötig wäre.

5. Vertrauen und Mißtrauen

Ohne Vorgabe von Vertrauen ist Demokratie nicht möglich. Davon war eben schon die Rede. Aber die Demokratie lebt zugleich auch vom Mißtrauen: Macht verführt zum Machtmißbrauch, besonders wenn sie sich-in einer Hand konzentriert und zum Monopol gerinnt.

Gewaltenteilung will dem begegnen; sie ist deshalb ein Ausdruck des institutionalisierten Mißtrauens. In klassischer Form wurde der Sachverhalt in den amerikanischen „Federalist Papers" formuliert:

„Die wichtigste Sicherung gegen die allmähliche Konzentration der Gewalten in einem Zweig besteht darin, dafür zu sorgen, daß die Männer, welche die verschiedenen Zweige verwalten, die notwendigen verfassungsmäßigen Mittel besitzen und ein persönliches Interesse daran haben, sich den Übergriffen der anderen Zweige zu widersetzen. In diesem wie in allen andern Fällen müssen die Maßnahmen zur Verteidigung der voraussichtlichen Stärke des Angriffs entsprechen. Ehrgeiz muß durch Ehrgeiz unschädlich gemacht werden. Das persönliche Interesse muß mit den verfassungsmäßigen Rechten des Amtes Hand in Hand gehen. Es mag ein schlechtes Licht auf die menschliche Natur werfen, daß solche Kniffe notwendig sein sollten, um Mißbräuche in der Regierung hintanzuhalten. Aber setzt nicht schon die Tatsache, daß Regierung überhaupt nötig ist, die menschliche Natur in ein schlechtes Licht? Wenn die Menschen Engel wären, so bedürften sie keiner Regierung. Wenn Engel über die Menschen herrschten, dann wäre weder eine innere noch eine äußere Kontrolle der Regierung notwendig. Entwirft man jedoch den Plan einer Regierung, die von Menschen über Menschen ausgeübt werden soll, so liegt die große Schwierigkeit darin, daß man zuerst die Regierung instand setzen muß, die Regierten zu überwachen und im Zaum zu halten und dann die Regierung zwingen muß, sich selbst zu überwachen und im Zaum zu halten. Die Abhängigkeit vom Volk ist zweifellos das beste Mittel, um die Regierung im Zaum zu halten. Aber die Menschheit hat aus Erfahrung gelernt, daß zusätzliche Vorsichtsmaßregeln notwendig sind."

Dialektik von Vertrauen und Mißtrauen: Dahinter steht weder ein optimistisches noch ein pessimistisches, wohl aber ein skeptisches Menschenbild. Der amerikanische Theologe Reinhold Niebuhr hat es prägnant bezeichnet: „Des Menschen Sinn für Gerechtigkeit macht Demokratie möglich, seine Neigung zur Ungerechtigkeit macht Demokratie notwendig." Wie immer wird im Kontrast anschaulich, worum es geht. Autoritäre oder totalitäre Re-gime, was auch sie proklamieren mögen, zerstören die Dialektik von Vertrauen und Mißtrauen durch Polarisierung. Dem Volk gegenüber beherrscht die Machthaber abgründiges Mißtrauen. Das Volk erscheint als schwach, gefährlich verführbar und eben deshalb als führungsbedürftig. Für sich selbst dagegen fordern die Machthaber grenzenloses Vertrauen. In seinem Gedicht „Die Lösung" hat Bertolt Brecht das sarkastisch dargestellt:

Nach dem Aufstand des 17. Juni Ließ der Sekretär des Schriftsteller-verbands In der Stalinallee Flugblätter verteilen Auf denen zu lesen war, daß das Volk Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe Und es nur durch verdoppelte Arbeit Zurückerobern könne. Wäre es da Nicht doch einfacher, die Regierung Löste das Volk auf und Wählte ein anderes?

6. Engagement und Distanz

„Engagiert euch!“ tönt es allüberall, „denn das . Ohne mich'ist der Tod der Demokratie." An solchen Forderungen gemessen steht es um die Entwicklung in der Bundesrepublik nicht schlecht. Wahlbeteiligungen liegen ohnehin sehr hoch; die Mitgliederzahlen der Parteien sind in den letzten zehn Jahren erheblich gewachsen; Bürgerinitiativen haben sich wie ein Buschfeuer ausgebreitet.

Aber so einfach und eindeutig verhält es sich keineswegs. Nicht bloß ist das Recht zum Nichtengagement ein demokratisches Freiheitsrecht, das schätzen lernt, wer je mit dem Zwangs-Enthusiasmus Bekanntschaft machte. Sondern es stellt sich die Frage, ob es womöglich auch eine verderbliche Form von Engagement geben kann. Das gilt in der Tat für ein Engagement ohne Distanz, das den ganzen Menschen einfordert und deshalb Sachliches und Persönliches nicht mehr zu unterscheiden vermag. Wo man aber distanzlos alles „persönlich" nimmt, da wird unvermeidbar jede Sachdifferenz zur Kränkung, zum Widerhaken, der Wunden reißt — und jedes Auseinandertreten einst übereinstimmender Meinungen zum „Verrat“.

Weil das schwer erträglich ist, wächst einerseits die Konfliktscheu und andererseits das Bedürfnis nach Harmonie, Idylle und totaler Gemeinschaft. So hängt das eine mit dem anderen zusammen — und der verbitterte Rückzug ins radikale „Ohne mich!“ bildet wiederum nur die Kehrseite und Konsequenz radikaler, erst übersteigerter und dann enttäuschter Gemeinschaftserwartungen. Weil jedoch die distanzlose Gemeinschaft unabwendbar Spannungen erzeugt, weil sie insgeheim immer von Spaltung und Resignation bedroht wird, übt sie auf ihre Mitglieder einen massiven Konformitätsdruck aus. Auf diese Weise schlägt ausgerechnet das ganz persönliche Engagement in die Uniformierung und autoritäre Disziplinierung um; im Extremfall entsteht, was Jean Paul Sartre die fraternit^ terreur genannt hat — ein Terrorismus der Gruppe nach innen. Er findet sein Gegenstück in einem Mißtrauen nach außen, das sich bis zur hemmungslosen Aggression steigern kann, in einem Freund-Feind-Verhältnis, das geradezu wahnhaft erfunden und nötigenfalls herbeiprovoziert wird, weil der Druck von außen als Bindemittel und Disziplinierungsinstrument nach innen gebraucht wird.

An der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft kann man die Zusammenhänge exemplarisch erkennen. „Volksgemeinschaft", Disziplinierung und Aggression, bis hin zum Verbrechen der „Endlösung", bilden ein pathologisches Bedingungsgefüge, das sich auf die eigene Katastrophe zu immer mehr verdichtet. Entsprechendes gibt es aber auch bei kleinen Gruppen, etwa bei der Entwicklung des Terrorismus in unserer Zeit. Mindestens in ideologischen Ansätzen findet man verwandte Züge jedoch schon im Alldeutschtum, im Imperialismus und Einkreisungssyndrom des Kaiser-reichs — und unter anderen Vorzeichen in Selbsteinschließung und Erziehung zum Haß auf den „Klassenfeind" in der „sozialistischen Gemeinschaft" der DDR. Und ist die Bundesrepublik ganz freizusprechen? Im Zeichen des Kalten Krieges und des Antikommunismus herangewachsen, hat sie jedenfalls in erheblichem Maße die Disziplinierung nach innen mit einer ebenso ängstlichen wie aggressiven Abgrenzung gegen „den Osten" verbunden; auch in Wahlkämpfen ist diese Verbindung mehr als einmal hergestellt oder doch demagogisch nahegelegt worden.

Wie kann man die Gefahren abwenden? Es ist an das zu erinnern, was schon über die Bedingungen der Toleranz gesagt wurde: Der einzelne wird in der modernen, hochkomplexen und in „Subsysteme" gegliederten Gesellschaft mit einer Vielzahl von „Rollen" -Anforderungen konfrontiert. Man könnte auch von einer Vielzahl der Loyalitätsanforderungen sprechen; Familie und Freundeskreis, Beruf, Kirche, Partei, Staat und noch manches andere verlangen je ihr Recht: Hingabe und Treue. Doch sie relativieren einander zugleich. Die Diskriminierung beginnt dort, wo jemand auf eine einzige Rolle schicksalhaft festgelegt wird — und die Gefährdung, auch und gerade die Selbstgefährdung dort, wo eine Loyalitätsforderung absolut gesetzt wird und alle anderen gleichsam erschlägt. Denn damit werden die Distanzierungs-und Differenzierungsmöglichkeiten zerstört; die Pathologie der „Gemeinschaft" beginnt.

Das Prinzip der Differenzierung und Relativierung setzt sich übrigens bis in die speziellen Rollen hinein fort, sogar in die politischen im engeren Sinne. Der Abgeordnete zum Beispiel soll ebenso Partei-und Fraktionsdisziplin wie Unabhängigkeit wahren und im Grenzfall seinem Gewissen folgen; er soll die Sonderinteressen seiner Wähler vertreten und dennoch das Gemeinwohl nicht aus dem Auge verlieren. Alle Analysen, die nur das eine oder das andere betonen und etwa das Repräsentationsprinzip (Art. 38 GG) gegenüber dem Parteienprinzip (Art. 21 GG) für hinfällig erklären, gehen deshalb fehl. Sie blenden die Differenzierung und Relativierung der Anforderungen aus, auf die es gerade ankommt.

Entsprechendes wäre für Politische Bildung, ja für soziale Erziehung im weitesten Sinne zu sagen. Differenzieren lernen, statt das eine, zufällig Aufdringliche absolut zu setzen: dies würde vielleicht zu einem angemessenen Begriff von Bildung führen. Und vielleicht könnte man das, was Demokratie und offene Gesellschaft erfordern, in bewußt paradoxer Pointierung bezeichnen als: ein Ethos der engagierten Distanz 26).

7. Selbstbewußtsein

„Die Bundesrepublik Deutschland ist, dreißig Jahre nach den Bemühungen der Väter ihres Grundgesetzes, an objektiven Maßstäben gemessen der stabilste Großstaat Westeuropas. Nur — ihre Bürger können es nicht glauben. Für den, der immer wieder sein Leben in Deutschland durch längere Auslandsaufenthalte unterbricht, ist dies bei jeder Rückkehr aufs neue der paradoxe Eindruck. Der objektiven Stabilität , entspricht keine subjektive Sicherheit, dem Selbstverständnis der Bundesdeutschen fehlt die Selbstverständlichkeit. Was die Umfragen als die Angstlücke beschrieben haben — daß von der großen Mehrheit, der es nach eigenem Befinden gut geht, ein erheblicher Teil Schlimmes erwartet —, erscheint vielen ausländischen Beobachtern geradezu als die deutsche Ideologie von heute oder, wenn man will, als das Grundproblem der kollektiven Psychologie deutscher Zeitgenossen." Diese Sätze Richard Löwenthals werden wieder und wieder durch in-und ausländische Urteile bestätigt: Es fehlt an Gelassenheit und Selbstbewußtsein Das läßt sich geschichtlich erklären. Dem deutschen Bürgertum — seit dem Dreißigjährigen Krieg langfristig ruiniert, stets mit der Übermacht eines Obrigkeitsstaates konfrontiert, dessen entscheidende Kommandoposten der Adel besetzt hält — ist es nie gelungen, siegreich, aus eigener Kraft eine ihm gemäße politische und gesellschaftliche Lebensordnung durchzusetzen. Die Revolution von 1848 scheitert. Die nationale Einigung geht hervor aus der Organisationstüchtigkeit und militärischen Schlagkraft des alten Staates, der damit zu einem Zeitpunkt nachhaltige Wiederaufwertung erfährt, als er eigentlich historisch überholt ist. Die Demokratie hält erst im Gefolge der Weltkriegskatastrophen Einzug, am Ende auf der Spitze fremder Bajonette.

Sogar der wirtschaftliche Aufschwung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts schafft keinen Wandel. Vielmehr entsteht die Paradoxie einer mehr und mehr bürgerlich geprägten Gesellschaft — ohne bürgerliches Selbstbewußtsein, ja mit zunehmend antibürgerlichen Sym-bolen und Zielvorstellungen. Nach der Reichs-gründung werden quasi-feudale Attribute — die Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung und der Status des Reserveoffiziers — zu Renommier-„Standes''-Idealen. Der einzige je populäre nationale Feiertag hieß: „Sedan". Sein gebrochenes Selbstbewußtsein macht es dem Bürgertum unmöglich, neuen Herausforderungen — besonders der aufkommenden Arbeiterbewegung — produktiv, auf dem Wege von Reformen statt bloß repressiv zu begegnen. In der Weimarer Zeit wird die endlich erreichte bürgerliche Republik — symbolisiert (und verächtlich gemacht) in den bürgerlichen Farben von 1848 — sozusagen in verkehrter Frontstellung von der Sozialdemokratie gegen das aus seinen einstigen Fortschrittspositionen desertierte Bürgertum verteidigt, und am Ende wird die Liquidierung des bürgerlichen Rechtsstaates mit aktiver Unterstützung oder doch unter dem Beifall weiter Teile des Bürgertums vollzogen. Man könnte geradezu von einer antibürgerlichen Bürgerlichkeit, vom bürgerlichen Selbsthaß sprechen; er wird besonders sichtbar in bürgerlichen Jugendbewegungen, die seit der Jahrhundertwende unter nur vordergründig wechselnden Vorzeichen gegen alles Bürgerliche rebellieren.

Ist wenigstens seit 1945 ein Wandel eingetreten? Konrad Adenauer, der Ziehvater des neuen Gemeinwesens, konnte vielleicht deshalb so erfolgreich sein und prägend wirken, weil er die Ausnahmeerscheinung eines durch und durch selbstbewußten Bürgers war — wie auf seine Weise auch der erste Bundespräsident, Theodor Heuss. Aber sogar Adenauer wurde von Zweifeln heimgesucht. Sie haben sich seither kaum vermindert, und heute trifft die besondere deutsche Problematik womöglich zusammen mit einer allgemeinen Krise bürgerlicher Werte, Vorstellungen und Verhaltensformen. Die Frage ist: Kann man, politisch-gesellschaftlich gesehen, Selbstbewußtsein überhaupt beeinflussen oder gar schaffen? Kann man es pflegen und festigen? Die Frage führt in Tiefendimensionen menschlicher Existenz. Denn der Mensch hat ein — prinzipiell immer labiles, offenes, gefährdetes — Verhältnis zu sich. Darum braucht er Ansehen, ein sozial vermitteltes und abgestütztes Selbst-Bewußtsein. Und darum reagiert der Mensch auf die Beschädigung oder Zerstörung seines Ansehens mit Aggression, bis hin zum Selbstmord oder Mord. In der ehrwürdig unheimlichen Geschichte von Kain und Abel, diesem Urmythos von der Aggression, antwortet Kain auf den Entzug „gnädigen Ansehens“ durch Jehova nicht mit der Auflehnung, schon gar nicht mit Achselzucken, sondern mit der Jagd auf den Sündenbock, mit dem Brudermord. Die Geschichte hat im 20. Jahrhundert, im Angesicht von Auschwitz, nichts von ihrer Aktualität verloren.

„Idealtypisch" gesehen, kann sich nun Selbstbewußtsein in zwei Grundformen oder Dimensionen entwickeln. Die eine ist die „vertikale". In Hegels „Phänomenologie des Geistes" gibt es ein tiefsinniges deutsches Kapitel, das vom Selbstbewußtsein handelt unter dem Titel: Herrschaft und Knechtschaft. Vereinfacht und verkürzt ausgedrückt: Der Herr gewinnt Selbstbewußtsein durch seine Macht über andere; noch der Neid, den er auf sich zieht, stärkt seinen Stolz. Der Knecht aber gewinnt Selbstbewußtsein teils in seiner „Anerkennung" durch den Herrn und in seiner Identifikation mit ihm, teils durch die Verachtung derer, die „anders" und noch unter ihm sind und die, gegebenenfalls, seiner insgeheim aufgestauten Aggressivität als Jagdobjekte freigegeben werden.

Die zweite, alternative Möglichkeit liegt in der „horizontalen" Dimension der Gleichheit, der Solidarität, christlich gesprochen der Brüderlichkeit und der Liebe. Dabei geht es — wohlgemerkt! — nicht etwa um Gleichmacherei oder Gleichschaltung — was praktisch stets auf Herrschaft und Hierarchie hinausläuft —, sondern um die Anerkennung im Anderssein: Selbstbewußtsein wird gewonnen und gefestigt in jener Reziprozität der Perspektiven, in der die Partner gerade in ihrer Besonderheit und Individualität einander bestätigen und reicher machen, ja: beglücken, statt daß sie sich als Bedrohung wahrnehmen. Es liegt nahe zu sagen: Nur ein starkes Selbstbewußtsein kann so empfinden. Aber es handelt sich um ein Bedingungsgefüge: Weil Selbstbewußtsein nicht aus dem Nichts entspringt, vielmehr im sozial-biographischen Kontext sich entwickelt, wird die Stärke des Selbstbewußtseins zugleich durch Erfahrungen der Anerkennung im Anderssein aufgebaut. In der Realität trifft man niemals auf die idealtypisch reinen Fälle, sondern stets auf Mischungsverhältnisse. In Deutschland allerdings war die „vertikale" Ausrichtung stets stärker als die „horizontale". Aus Gründen, die hier skizziert wurden, gab es nie den „Vatermord" oder die Vertreibung des Herrn, so wie sie anderswo die Ursprungsmythen der siegreichen Revolution oder des Unabhängigkeits-B kampfes markieren, um damit Traditionen der Modernität und nationales Selbstbewußtsein demokratisch zu begründen.

Eben darum wirkt der nicht vollzogene „Vatermord" als Selbsthaß weiter. Eben darum gab es die barbarische Konterrevolution der Ungleichheit. Der Erfolg des Nationalsozialismus als Massenbewegung ist mir so wirklich zu verstehen: Demokratisierung wird als „Zersetzung" von Herrschaft und Hierarchie erfahren; sie weckt in der Tiefe des bedrohten Selbstbewußtseins Angst und Aggressivität. Und dies nicht nur bei den Herrschenden, sondern auch und gerade bei den Beherrschten, die sich von der Anerkennung durch die Herrschenden und von der Identifikation mit ihnen nicht hatten lösen können. So kommt im Krisenfall der Schrei nach dem starken Mann, nach dem rettenden „Führer" auf, dem man sich im idealistischen Taumel des Selbst-Opfers unterwirft, sofern er nur die Wiederherstellung von Herrschaft und Hierarchie verspricht und verkörpert.

In solcher Perspektive zugleich theoretischer Überlegungen und geschichtlicher Erfahrungen wird die neuzeitlich-westliche Egalitätsrevolution als eine ungeheure Herausforderung des Menschen erkennbar; es wird verständlich, warum Tocqueville, der größte Analytiker dieser Herausforderung, in der Einleitung zu seiner „Demokratie in Amerika" sagen konnte: „Das vorliegende Buch ist völlig unter dem Eindruck einer Art religiösen Schauders geschrieben, welche der Anblick dieser unwiderstehlichen Revolution im Herzen des Verfassers hervorgerufen hat."

Doch wenn die Egalitätsrevolution wirklich unwiderstehlich ist, dann in dem Sinne, daß es zu ihr keine tragfähige Alternative gibt, daß sie die Basis bildet ebenso für die Befreiung des Menschen aus seiner Untertänigkeit wie für die Entdeckung seiner Würde, seiner Freiheit und der Vielfalt seiner Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Dann freilich kann der Herausforderung nicht begegnet werden durch ängstliches Zurückweichen, das die Gier zur Aggression erst weckt und ständig wachsen läßt, sondern einzig durch die entschlossen voranschreitende Verwirklichung von Demokratie, die das sozial vermittelte Ansehen, die Bestätigung des Selbstbewußtseins aus der „vertikalen" in die „horizontale" Dimension wendet. Gewiß handelt es sich um einen langwierigen und schmerzhaften, stets von Rückschlägen bedrohten, nicht zuletzt in seiner institutionellen Umsetzung höchst komplizierten, schwerlich durch Patentlösungen abzukürzenden Entwicklungs-und Lernprozeß. Aber es gibt nun einmal, außer dem Brudermord, keine Alternative. Um nochmals Tocqueville zu zitieren: „Es geht nicht mehr darum, die besonderen Vorteile zu retten, die die Ungleichheit der gesellschaftlichen Bedingungen den Menschen verschafft, sondern das neue Gute zu sichern, das ihnen die Gleichheit zu bieten vermag. Unser Ziel kann nicht darin bestehen, unsern Vätern gleich zu werden, sondern wir müssen um die Art von Größe und Glück kämpfen, die uns angemessen ist."

III. Die Demokratie und der Glaube

1. Ungläubige und gläubige Politik

Der Ort, der jeder demokratischen Partei gebührt, ist nach den Worten Adolf Arndts das Vorletzte. Aber das gilt eben nicht nur für Parteien, sondern für freiheitliche, demokratische Politik insgesamt. Vielleicht könnte man den Sachverhalt noch anders und zugespitzt ausdrücken in dem Satz: Demokratische Politik — eine Politik, die Freiheit und Würde des Menschen achtet und wahrt — ist nur in einem Horizont des Unglaubens möglich.

Noch einmal im Kontrast: Gläubige Politik will das Menschheitsheil schlechthin, die Erlösung von allem Übel. Sie glaubt an das Endziel und daran, die Wege und Mittel zum Ziel zu kennen. Theologisch gesprochen, ist gläubige Politik in ihrem Grunde heilsgeschichtlich, eschatologisch bestimmt; sogar die Sprengung aller ursprünglichen Vorstellungen vom baldigen Eintritt der Endzeit — Parusieverzug — kann sie nicht beirren.

Gläubige Politik erweist sich als doppelt attraktiv. Einmal spricht sie den idealistisch gestimmten Opfersinn zumal junger Menschen an. Die Bereitschaft zum Selbstopfer wächst dabei in dem Maße, in dem — in der Perspektive gläubiger Politik — das gegenwärtig Bestehende sich als sinnentleert darstellt Unvermeidbar freilich — und vielfach auch gewollt und kalkuliert — wird mit der Bereitschaft zum Selbstopfer zugleich die Bereitschaft geweckt und gerechtfertigt, den Fremden zu opfern.

Zum anderen wächst aus gläubiger Politik ihren Propheten, Führern und Bewegungen mindestens auf den ersten Blick eine Legitimität zu, die sich drastisch abhebt von der behaupteten und vielberedeten Legitimitätskrise ungläubiger Politik. Da es um das Letzte, ums absolute Menschheitsheil oder -Unheil geht, ist letztlich auch die Legitimität gläubiger Politik in ihrem Selbstverständnis absolut. Sie sieht sich zu allem ermächtigt, was zum Ziel führt; es gibt keine Grenzen und Bedenken — außer allenfalls taktische — hinsichtlich der Mittel.

Zwei Umstände sind noch besonders einzubeziehen, wenn man die Bedeutung gläubiger Politik abschätzen will. Der erste betrifft die Reichweite des Politischen. Politik ist im modernen Zeitalter das Schicksal geworden; es gibt keine Lebensbereiche mehr, die von Politik unberührt bleiben, überall kann man eingreifen, verändern, zum mindesten beeinflussen; überall gibt es deshalb Konflikte um das, was getan oder nicht getan werden soll, sind Menschen politisch verantwortlich — und werden folgerichtig Menschen für das, was unvollkommen ist und bleibt, für schuldig erklärt. Robespierre war nur der erste, der den damit geschlossenen Kreislauf von Tugend und Terror hellsichtig erkannte und zielbewußt in praktische Politik umsetzte.

Unter vormodernen Bedingungen war es anders. Schicksal war in erster Linie, was Natur und Gott bestimmten; niemand konnte an den vorgegebenen Lebensverhältnissen wesentliches ändern. Politik blieb deshalb eine Randerscheinung des Daseins, etwas für die wenigen, die es sich gewissermaßen als Luxus leisten konnten, um Herrschaft zu streiten, für die vielen aber etwas, was man als zweite Natur wie Sonne oder Hagel duldend hinzunehmen hatte. Der Stellenwert des Politischen hat sich also seit Beginn der Neuzeit entscheidend verändert; man könnte von einem unaufhaltsamen und nicht umkehrbaren Prozeß der Fundamentalpolitisierung sprechen. Er tendiert, wie Clausewitz es vom Kriege gesagt hat, zum äußersten. Natur selber wird zum Politikum: etwas, was künstlich bewahrt oder wiederhergestellt werden muß und was man — bezeichnende Worte! — im Reservat, im Naturschutzpark besichtigen kann.

Der zweite Umstand wird durch den ersten bedingt: Jede Politik, . die angesichts des zur Möglichkeit gewordenen Äußersten nicht auch das Äußerste will, gerät leicht in Zwielicht und Zweifel. Im historischen Vergleich: Im England des 18. Jahrhunderts sprach man ironisch vom „government by corruption". Es funktionierte ausgezeichnet und schuf die Fundamente britischer Weltmacht. Heute wäre dergleichen nicht nur unwirksam, sondern sähe sich einem Sturm der Entrüstung preisgegeben. Moral muß her; mit Zynismus und Bereicherung allein läßt sich kein Staat mehr machen, geschweige denn verteidigen und auf weite Sicht stabilisieren. Der Amoral bleibt im besten oder eher schlimmsten Falle nur ein das Ende schon ahnendes „Nach uns die Sündflut!“.

Im Gegenentwurf zu allen heilsgeschichtlichen Weltentwürfen ließe sich die Maxime, der Glaube ungläubiger Politik wahrscheinlich in den Satz Kants fassen: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden." Recht verstanden geht es jedoch nicht um jene Mängel menschlicher Natur, die konterrevolutionärer Gewalt und politischer Entmündigung zum Vorwand dienen. Auch geht es nicht nur darum — so richtig dies im übrigen sein mag —, daß unser Erkenntnisvermögen nicht ausreicht, um die Mittel und Wege zum organisierten Glück aller zu bestimmen; ohnehin wird jeder Pächter des Menschheitsheils solche Skepsis überspielen. Sondern es geht um das, was ebenfalls Kant als das Prinzip der Aufklärung bezeichnet hat: um den Ausgang des Menschen aus selbst — also heute: politisch — verschuldeter Unmündigkeit. Mündigkeit besagt — wie die Würde des Menschen, zu der sie gehört —, daß jeder nur für sich entscheiden kann, wie und wohin er sein Leben im Letzten führen will. Aufgabe und Abgrenzung ungläubiger Politik hat Bernard Crick beschrieben, wenn er sagt: „Vielleicht läuft alles darauf hinaus, daß die Politik zwei große Feinde hat: Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid und Leidenschaft für Gewißheit in Dingen, die wesentlich politisch sind. Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid macht freie Regierungen unglaubwürdig, wenn sie nicht fähig oder nicht mutig genug sind, die Möglichkeit und die Gewohnheit der Freiheit von den wenigen auf die vielen auszudehnen. Die Leidenschaft für Gewißheit verachtet die politischen Qualitäten — Vorsicht, Konzilianz, Kompromißbereitschaft, Vielfalt, Anpassungsfähigkeit und Lebhaftigkeit — zugunsten einer Pseudowissenschaft des Regierens, einer absolut klingenden Ethik oder Ideologie, eines Weltbildes rassischer oder wirtschaftlicher Art. Vielleicht ist es sonderbar oder einfach unnatürlich, daß Menschen, die mit Würde und Ehrbarkeit leben können angesichts solcher Ungewißheiten wie Tod, Unfall oder Krankheit, wie der Liebe mit all ihrer Labilität, Vergänglichkeit, ihrer Abhängigkeit von Willen und Launen der anderen, dennoch verrückt sind nach Gewißheit im Regieren, einer Gewißheit, die Politik und Freiheit tötet. Eine freie Regierung ist eine, die Entscheidungen politisch und nicht ideologisch trifft." 2. Die gefährdete Säkularisation Ob es wirklich sonderbar, unnatürlich oder verrückt ist, wenn Menschen nach Gewißheit im Regieren suchen — wohlgemerkt unter Bedingungen, die Politik zum Schicksal machen —, das ist allerdings die Frage. Wer Verhaltensweise oder Verhältnisse für widernatürlich erklärt, gerät in das typische konservative Dilemma hinein, erklären zu müssen, wie es zum Abfall von dem, was die „Natur" vorschreibt, überhaupt hat kommen können. Nur zu leicht mündet dieses Dilemma in Wahnvorstellungen von Verführung und Verschwörung, welche dann die Verfolgung, die Sündenbockjagd mit dem guten Gewissen panzern: Irgendwer ist des Teufels; die Juden, die Kommunisten oder die multinationalen Konzerne sind an allem schuld.

Vielleicht müßte man gerade umgekehrt argumentieren: Die Sehnsucht nach Gewißheit und die Suche nach Sinn, über die Endlichkeit des Individuums hinaus, erweisen sich als existentiell wichtig für ein Wesen, das die Zeit und den Tod kennt. Religion, als Beheimatung des Menschen im Unmenschlichen, im bodenlos Un-Heimlichen, mag in ihren konkreten Ausprägungen Epochen und Kulturen trennen. Aber sie ist ein menschheitliches Phänomen. Säkularisation ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme, die der Erklärung bedarf.

Es ist überdies die Frage, ob sie seit Beginn der Neuzeit so selbstverständlich und so unaufhaltsam sich vollzieht, wie dies zumeist dargestellt wird, ob sie nicht immer begrenzt, gefährdet und zerbrechlich geblieben ist: etwas, was der sorgsamen Zurüstung und Verteidigung bedarf, um freiheitliche Politik in einem Horizont des Unglaubens möglich zu machen.

Untersucht man Standfestigkeit und Verteidigungsfähigkeit des Unglaubens, so stößt man rasch auf „Schwachstellen". Vier Probleme seien hier kurz bezeichnet.

Erstens: „Im Mittelalter lagen die beiden Seiten des Bewußtseins — nach der Welt hin und nach dem Inneren des Menschen selbst — wie unter einem gemeinsamen Schleier, träumend oder halbwach. Der Schleier war gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn; durch ihn hindurchgesehen erschienen Welt und Geschichte wundersam gefärbt; der Mensch aber erkannte sich nur als Rasse, Volk, Partei, Korporation, Familie oder sonst in irgendeiner Form des Allgemeinen. In Italien zuerst verweht dieser Schleier in die Lüfte; es erwacht eine objektive Betrachtung und Behandlung des Staates und der sämtlichen Dinge dieser Welt überhaupt; daneben aber erhebt sich mit voller Macht das Subjektive; der Mensch wird geistiges Individuum und erkennt sich als solches."

Mit diesen berühmten Sätzen zeigt Jacob Burckhardt nicht nur den zentralen Vorgang der Renaissance in Italien, sondern den abendländischen Weg in die Säkularisation. Die Entdeckung des Individuums als der primären Realität mag man nun als Befreiung oder als Sündenfall deuten-, in jedem Falle dürfte sie sich nicht zurücknehmen lassen, es sei denn um den Preis barbarischer Regression. Doch es wird zugleich eine einzigartige Spannung, um nicht zu sagen Bedrohung erzeugt: Die Fragwürdigkeit seiner Existenz rückt als Endlichkeit dem Menschen entscheidend und buchstäblich auf den Leib. Sie konnte gleichsam auf Distanz gehalten werden, solange der einzelne sich nur als „Form des Allgemeinen" kannte, zum Beispiel indem er der Generationenfolge als des eigentlich Bedeutsamen und ihn Transzendierenden versichert war. Die chinesische Kultur etwa dürfte ihre Standfestigkeit, auch ihren „Materialismus" und ihr bemerkenswertes Maß an Nüchternheit wesentlich der Tatsache verdanken, daß eben die Generationen-folge und nicht die individuelle Existenz als wirklich bedeutsam angesehen wurde.

Zweitens: Wenn mit der modernen Entwicklung Politik zum Schicksal wird, dann bedeutet dies doch nicht, daß kreatürliches Geschick verschwindet Im Gegenteil: Es wird für den einzelnen Menschen zum kaum mehr zu bewältigenden Problem. Die schwere, womöglich unheilbare Krankheit, das Altern, den Tod kann man den Blicken entziehen, verdrängen, den Fachleuten in Klinik und Pflegeheim und dem Beerdigungs-„Unternehmer" überantwor19 ten. Aber das Verdrängte bleibt als heimliche Angst gegenwärtig.

Drittens: Der titanische Versuch umfassender Weltbemächtigung stößt heute auf Grenzen; er wird nicht bloß als Ausbeutung, sondern als Zerstörung von Natur erkennbar. Damit werden nicht nur die ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Institutionen erschüttert, die sich bisher durch die Produktion von „Wachstum" legitimierten, sondern „Fortschritt" insgesamt als der Sinn aller Anstrengungen und Opfer gerät in die Zonen des Zweifels.

Viertens: Die Zweifel am Sinn des Fortschritts treffen in unserer Gesellschaft zusammen mit einem beispiellos gestiegenen Konsumniveau nicht nur der wenigen, sondern auch und gerade der vielen Damit verschieben sich, der Tendenz nach, die Bedürfnisse vom Materiellen hinauf ins Immaterielle, Spirituelle. Diese spiritualisierten Bedürfnisse sind indessen kein Luxus, von dem man asketisch auch lassen könnte, sondern sie nehmen genau den Rang ein, der bisher den materiellen Bedürfnissen zukam. Die alte biblische Weisheit, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, macht sich in eben dem Maße handgreiflich bemerkbar, in dem es am Brot nicht mehr mangelt. Gleichzeitig rücken die Folgekosten des materiellen Fortschritts ins Blickfeld, die man übersah, solange die Erfüllung der elementaren Bedürfnisse noch nicht als selbstverständlich erschien.

3. Vom Vorletzten und vom Letzten

Was bleibt? In seinem Traktat über „Die Zukunft des Unglaubens" schrieb vor Jahren Gerhard Szczesny: „Entweder sind wir davon überzeugt, daß die menschlichen Werte auch ohne Christentum begriffen und verteidigt werden können, oder aber wir bereiten uns auf die Kapitulation vor."

Unsere Überlegungen laufen auf die Frage hinaus, ob genau dies nicht die falsche Alternative ist. Daß Aufklärung keinen einfachen, linearen Prozeß bezeichnet, sondern einen, der seine eigene Dialektik mit sich führt, ist nachgerade geläufig. Das heißt jedoch: Wenn der Mensch auf ein Letztes nicht verzichten kann, während er zugleich um seiner Freiheit und Würde willen auf das Vorletzte als einen heute schicksalhaft bedeutsamen Eigenbereich nicht verzichten darf, dann kommt es offenbar darauf an, das Verhältnis von Letztem und Vorletztem nicht als ein Entweder-Oder, sondern als dialektische Spannung zu verstehen und zu bewahren. Wenn überdies Säkularisation ein spezifisches westlich-neuzeitliches Phänomen darstellt, dann folgt daraus die weitere Frage, ob die weltliche Ordnung, auch und gerade politisch, nicht einzig durchgesetzt und verteidigt werden kann, sofern jene Bedingungen einer-Freigabe des Vorletzten wirksam bleiben, die im Abendland nun einmal vom christlichen Erbe her bezeichnet werden. Ganz besonders geht es dabei um die dialektischen Beziehungen von Protestantismus und Säkularisation — noch über die Wirkungen hinaus, die seit Max Webers Forschungen aufgedeckt worden sind.

Bei Luther heißt es so schroff wie klar: „Der der Theologie eigentümliche Gegenstand ist der der Sünde schuldige und verlorene Mensch und der rechtfertigende und den sündigen Menschen erlösende Gott. Was immer außerhalb dieses Gegenstandsbereichs in der Theologie erforscht und erörtert wird, ist Irrtum und Gift." Diese Schroffheit hat Epoche gemacht. Denn sie gibt die Weltlichkeit der Welt, alles Wissen von der Welt und alles Handeln in der Welt, alles Vorletzte also, ausdrücklich frei: Theologie hat es mit dem Letzten zu tun und mit nichts sonst.

In der neueren Theologie war es vor allem Dietrich Bonhoeffer, den den Sachverhalt unter dem Titel „Die letzten und die vorletzten Dinge" zum Thema machte „Ursprung und Wesen allen christlichen Lebens liegt beschlossen in dem einen Geschehen, das die Reformation Rechtfertigung des Sünders aus Gnade allein genannt hat ... Was geschieht hier? Ein letztes, von keinem menschlichen Sein, Tun oder Leiden zu Ergreifendes." Daraus folgt: „Es gibt also kein Vorletztes an sich, so also, daß sich irgend etwas an sich als Vorletztes rechtfertigen könnte, sondern zum Vorletzten wird etwas durch das Letzte, das heißt in dem Augenblick, in dem es bereits außer Kraft gesetzt worden ist. Das Vorletzte ist also nicht ein Zustand an sich, sondern ein Urteil des Letzten über das ihm Vorangegangene.“ Aber dies ist nur die eine Seite. Würde nämlich das Letzte das Vorletzte unwesentlich machen, es gleichsam aufsaugen, so hieße dies in ein vorreformatorisches, um nicht zu sagen heidnisches Verständnis zurückfallen. Es gäbe die Differenz nicht mehr, auf die alles ankommt, und das Letzte wäre nicht mehr als Letztes zu erkennen. „Daraus folgt etwas entscheidend Wichtiges: Das Vorletzte muß um des Letzten willen gewahrt werden." Der Mensch ist zwar, was immer er menschlich tut, in Sünde verloren, „aber es bleibt der Unterschied, ob das Vorletzte beachtetand ernst genommen wird oder nicht. Es gehört zur Wegbereitung, das Vorletzte zu beachten und in Kraft zu setzen um des nahenden Letzten willen.“

Dies scheint nun genau die geistige Position zu sein, die vom Glauben her ungläubige Politik, eine Politik des Vorletzten möglich macht Das Handeln wird vom Letzten getragen und abgestützt, aber zugleich als ein Eigenbereich freigegeben, entlastet von den letzten Sinn-und Heilsfragen. Es wird die politisierende Theologie wie jene Theologisierung der Politik vermieden, die weltanschauliche Abgründe aufreißt und den Gegner zum Verworfenen stempelt. Man kann also Konflikte unter dem sichernden Vorbehalt der Skepsis austragen: in der Gewißheit, daß es nicht ums EndGültige, ums Heil oder Unheil schlechthin geht, daß weder unter konservativen noch unter progressiven Vorzeichen sich mehr erreichen läßt als Bewahrung und Besserung im Unvollkommenen und Vorläufigen. Gleichwohl bleiben, im Lichte des Letzten, Bewahrung und Besserung wichtige, ernste, des Einsatzes und Kampfes würdige Aufgaben. Reform wird zum politischen Prinzip: konservativ als Anpassung überkommener Institutionen an gewandelte Anforderungen, progressiv als Erprobung des möglichen Neuen.

Doch es gehört zur Sache, daß die Geschichte der Theologie und der Kirche, auch der reformatorischen, nicht so glatt aufgeht wie ein Rechenexempel, daß sie vielmehr schon im Ansatz Fehlentwicklungen wenn nicht enthält, dann zum mindesten begünstigt. Luthers Schroffheit verführt dazu, die dialektische Spannung der Bereiche als beziehungslose Trennung mißzuverstehen, mit der Folge, daß unter dem überwältigenden Eindruck des Letzten das Vorletzte — die Welt mit ihren politischen Gestaltungen, einschließlich der institutionellen Formgebung des Glaubens in ihr — nahezu gleichgültig („Adiaphora") wird.

Das heißt praktisch, daß man einerseits die politischen Ordnungen der jeweils vorgefundenen Obrigkeit überläßt, also sich ins Unpolitische zurückzieht, während zugleich der Glaube im „rein Geistigen“ sich einschließt. Andererseits werden in diesem rein Geistigen, weil es weltlich und politisch dem Anschein nach keinerlei Folgen hat, um so weiter schweifende, von keinem Realitätsbezug mehr kontrollierte Entwürfe möglich. „Machtgeschützte Innerlichkeit“, wie Thomas Mann den Sachverhalt prägnant bezeichnet hat, ist so gesehen nicht nur das Ergebnis einer politisch mißlungenen Emanzipationsgeschichte des deutschen Bürgertums, sondern auch ein Produkt seiner Konfessionsgeschichte. Der politischen Gebrochenheit und Resignation aber entspricht es, daß eben dieses in der Praxis mißachtete Politische dann unversehens — nur eben: in verdorben eschatologischer Mißgestalt — in die „rein geistigen" Entwürfe einschießt; auch die geschichtsphilosophischen Sinnkonstruktionen der neueren deutschen Ideengeschichte verweisen daher auf die Hintergrundsbedingungen der Konfessionsgeschichte. Sie sind, verkürzt ausgedrückt, entlaufenes Luthertum. Und schließlich: Einer obrigkeitlich verwalteten Kirche der Oberkirchenräte und der mumifizierten Gemeinden, in denen Reform weder theologisch noch praktisch ein Thema ist, entspricht nur zu gut eine politisierende Theologie der innerweltlich aufgeladenen Heilserwartungen, handle sie nun — gestern — von der Nation oder — seither, in vielfachen Abwandlungen — von der Revolution.

Innerhalb der westlichen Welt gibt es übrigens markante Unterschiede. Wenn Reformfähigkeit das politische Prinzip der erhaltenen, durchgehaltenen Spannung zwischen dem Vorletzten und dem Letzten bezeichnet, dann wird zum Beispiel kaum zufällig der englische Reform-Liberalismus des 19. Jahrhunderts von den bürgerlich-puritanischen Schichten getragen, denen Differenz und Wechselbedingtheit von Vorletztem und Letztem durch die geschichtliche Erfahrung eingebrannt waren. Von diesem Liberalismus konnte deshalb Bernhard Guttmann sagen: „Seine sittliche Autonomie stammt aus theologischer, nonkonformistischer Wurzel und aus dem zwei-hundertjährigen Widerstande gegen den als Baalsdienst angesehenen anglikanischen Kult. Der französische Liberalismus ist wenig mehr als das juste milieu zwischen Revolution und Beharrung. Der deutsche blieb von der Philosophie der Aufklärung übrig, ein verirrter Schatten aus dem Reich der Literatur." Und noch ein Bertrand Russell, der erklärt, daß und warum er kein Christ ist, läßt sich deutlich als Erbe nonkonformistischer Glaubensstärke erkennen. Kurzum, in der Zuspitzung Eduard Heimanns: „Reformfähigkeit haben die Leute aus ihrer christlichen Erziehung gelernt; es gibt sie nirgends sonst in der Weit"

Heute allerdings dürfte wohl gerade die Perfektionierung und selbstzufriedene Verabsolutierung des Vorletzten zum Problem geworden sein: Das Letzte macht sich als Abwesenheit, als ein Leerraum bemerkbar. Es fehlen überzeugende Antworten auf die Frage nach dem „Warum?" und „Wozu?", nach dem Sinn. Daher ist es vielleicht nur folgerichtig, wenn ausgerechnet die Erben luxurierter Bürgerlichkeit, vor sich selbst schamhaft maskiert als Avantgarde der materiell Notleidenden, leidenschaftlich gegen eine Bürgerlichkeit aufbegehren, der es ohnehin an Tradition und an Selbstbewußtsein fehlt. Und kaum zufällig ha-ben die selbsternannten Propheten jeder Spielart Konjunktur. In äußerster Konse-quenz: Die Entschlossenheit zum Letzten, die sich in der terroristischen Gemeinschaft manifestiert, ist, obschon politisch verkleidet, wohl eher Ausdruck eines religiösen Wahns, hinter dem die meta-physische Verzweiflung am Werke ist. Eben dies wird von einer „normalen", ganz aufs Vorletzte beschränkten Gesellschaft vorbewußt als die eigentliche Herausforderung erfahren, auf die man keine Ant-wort weiß. So kommt es zur repressiven Überreaktion aus Angst gegenüber allem „Radikalen" und Abweichenden, weit über das hinaus, was als Abwehr im rein praktischen Sinne notwendig wäre. Und so droht, im Zirkel der Angst, die Selbstzerstörung der offenen Gesellschaft.

Ist ungläubige Politik ohne ihre Spannung zum Glauben hin auf die Dauer möglich? Muß sie, als Vorletztes absolut genommen, nicht im Opportunismus verdorren und am Letzten scheitern? Dies bleibt die Frage; es könnte eine zentrale Frage unserer Zeit und der Zukunft sein. „Wo keine Weissagung ist, wird das Volk wild und wüst", sagt die Bibel.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, Tübingen 1922, S. 187. — Auch Kelsen war Demokrat; eine seiner Schriften heißt „Vom Wesen und Wert der Demokratie".

  2. Abgedruckt in: Carl Schmitt, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar — Genf — Versailles, Hamburg 1940, S. 199 ff.

  3. Brief an J. W. Eppes, 1813.

  4. Robert Leicht, Das Grundgesetz — eine säkularisierte Heilsordnung? Zur Technik der politischen Triebbefriedigung, in: Grundgesetz und politische Praxis, München 1974, S. 137.

  5. Adolf Arndt, Politische Reden und Schriften, hrsg v. H. Ehmke u. C. Schmid, Berlin u. Bonn-Bad Godesberg 1976, S. 265.

  6. Guy Kirsch, Radikale Liberalität in einer geizigen Welt — Gedanken zur Umorientierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 23/79, 9. Juni 1979, S. 24.

  7. R. Leicht, a. a. O., S. 140.

  8. A a. O„ S. 273.

  9. Zit. nach E. Bernstein, Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution, Stuttgart 19082, S. 67.

  10. Siehe dazu v. Verf: Soziologie des Friedens, Gütersloh 1962, Teil I.

  11. Nach dreißig Jahren: Die Bundesrepublik Deutschland — Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, herausgeg. v. W. Scheel, Stuttgart 1979, S. 15.

  12. über die Demokratie in Amerika, Bd. II, Teil II, Kap. VIII.

  13. Zum Ewigen Frieden, Erster Zusatz: Von der Garantie des ewigen Friedens.

  14. Der Arbeiter, S. 71.

  15. Stuttgart 1973, S. X, 54.

  16. Wilhelm, ebd.

  17. Die konsequente Darstellung eines solchen Systems findet man bei Rousseau; vgl. dazu v. Verf.: Herrschaft und Freiheit — Politische Grundpositionen der bürgerlichen Gesellschaft, Stuttgart 1977, S. 76 ff. — Die schlechthin klassische Formulierung der Gegenidee der Repräsentation stammt von Edmund Burke aus seiner „Rede an die Wähler von Bristol"; siehe v. Verf. a. a. O., S. 110 ff.

  18. Letters to a Member of the National Assembly..., 1791. Vgl. The Works of Edmund Burke, Boston 1839, Bd. 3, S. 326.

  19. Die Sozialgeschichte der Mäßigung als Geschichte der Selbstdisziplinierung hat unübertroffen beschrieben: Norbert Elias, über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde„ Frankfurt a. M. 19763.

  20. Zur Darstellung und Kritik am Beispiel der „Hessischen Rahmenrichtlinien Gesellschaftslehre" vgl. V. Verf.: Reform als politisches Prinzip, München 1976, S. 62 ff.

  21. Bei Richtungskämpfen in Hochschulen wurde „Pluralismus“ oft gefordert, um Einfluß zu gewinnen, aber verneint, sobald Vorherrschaft gesichert schien — ein für die Offenheit tödlicher Vorgang.

  22. Soziologie des Kommunismus, Köln und Berlin 1952, S. 356.

  23. Paper No. 51. Deutsche Ausgabe: Der Föderalist, hrsg. v. F. Ermacora, Wien 1958, S. 296 f.

  24. Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis, München 1947, S. 8.

  25. Die Polarität von schwacher, verführbarer Masse und revolutionärer Führungselite hat programmatisch schon Lenin in seiner Schrift „Was tun?" (1902) entworfen.

  26. Stabilität ohne Sicherheit — Vom Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, in: Der Monat. H. 1/1978, S. 75ff.

  27. Vor allem mehr Gelassenheit und Selbstbewußtsein wünschten deshalb Gratulanten der Bundesrepublik zu ihrem 30. Geburtstag. Siehe u. a.: Reden auf die Republik, hrsg. v. R. Klett, Stuttgart 1979.

  28. über die Demokratie in Amerika, Bd. II, Schlußbetrachtung.

  29. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt-bürgerlicher Absicht, Sechster Satz.

  30. Eine Lanze für die Politik, München 1966, S. 198.

  31. Für die Notleidenden ergibt das als neuartiges und schwieriges Problem: daß sie zu Minderheiten geworden sind.

  32. München 1958, S. 214.

  33. Weimarer Ausgabe 40 II, S. 328.

  34. Ethik, zusammengest. u. hrsg. v. E. Bethge, München 19532, S. 75 ff.

  35. England im Zeitalter der bürgerlichen Reform, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1923, S. 551.

  36. Theologie der Geschichte, Berlin 1966, S. 212.

Weitere Inhalte

Christian Graf von Krockow, Dr. phil., geb. 1927 in Ostpommern; 1961— 1969 Professor für Politikwissenschaft in Göttingen, Saarbrücken und Frankfurt a. M.; seither freier Wissenschaftler und Publizist. Neuere Veröffentlichungen u. a.: Nationalismus als deutsches Problem, 19742; Sport und Industriegesellschaft, 19742; Mexiko — Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur, 1974; Reform als politisches Prinzip, 1976; Herrschaft und Freiheit — Politische Grundpositionen der bürgerlichen Gesellschaft, 1977; (zus. m. H. Fischer u. H. Schubnell) China — Das neue Selbstbewußtsein — Gesellschaft, Bevölkerung, 1978.