Im Kontext von Theorien zur „Menschenführung“ und im Zusammenhang mit dem Legitimationskonzept „Innere Führung“ läßt sich der politische Unterricht in der Bundeswehr vielfach von der Intention zur Gesinnungserziehung leiten. Es werden Grundsätze, Wertvorstellungen und Leiturteile vermittelt, die eine Art „Rüstzeug“ für den Soldaten darstellen sollen, mit dem er fähig wird, seine Waffen und seine militärischen Kenntnisse auftragsgemäß einzusetzen. Solche Gesinnungserziehung bedient sich vorwiegend appellativer, imitativer und idealisierender Methoden und vertritt vorwiegend einen lehrer-und institutionsgestützten, indoktrinierenden Erziehungsansatz.
Davon versucht jetzt die Schule für Innere Führung in Koblenz abzukommen, indem sie derzeit zu den Unterrichtsthemen neue Arbeitsmittel herausgibt, die nach gewissen methodischen Gesichtspunkten aufbereitet sind. Sie sollen erreichen, daß das in der Zentralen Dienstvorschrift (ZDv) 12/1 „Politische Bildung in der Bundeswehr“ umrissene Minimum an politischem Unterricht in allen Gliederungen tatsächlich erreicht wird und daß bestimmte basale Wissensziele gewährleistet sind.
Im ganzen gesehen, kann für die Praxis der politischen Bildung in der Bundeswehr kein einheitliches Bild gezeichnet werden. So finden aufgrund von örtlichen Initiativen an verschiedenen Standorten Formen enger Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Volkshochschulen bzw. Akademien der Erwachsenenbildung in der politischen Bildung statt. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages hat ferner in seinem Jahresbericht 1977 neben einer Reihe gravierender Mängel auch
I. Einführung
auf beispielgebende Aktivitäten hingewiesen, u. a. auf erfolgreiche Bemühungen im Kommandobereich zweier Großverbände.
Darüber hinaus sind verschiedene Maßnahmen getroffen worden (bzw. in der Entwicklung befindlich) mit der Absicht „einer gezielten Verbesserung der pädagogisch-didaktischen Befähigung der Ausbilder — von denen sich ein erheblicher Teil nicht hinreichend ausgebildet fühlt, politisch bildenden Unterricht zu erteilen“ -Daher ist der politische Unterricht in den Streitkräften darauf angewiesen, daß die Hilfsmittel für den Unterricht besonders sorgfältig fachdidaktisch vorbereitet und durchdacht werden
Um dieser Forderung zu entsprechen, werden an der Hochschule der Bundeswehr in Hamburg zur Zeit Unterrichtsmodelle im Medien-verbund entwickelt, denen einige der nachstehenden didaktischen Überlegungen zugrunde liegen. Allgemein gilt dabei, daß politische Bildung in irgendeiner staatlichen Einrichtung der Bundesrepublik niemals etwas anderes als eben politische Bildung sein kann; die institutionsspezifische Gestaltung variiert in Fragen sekundärer Bedeutung wie Themenauswahl, Unterrichtsverfahren usw., nicht jedoch in den grundliegenden Intentionen des politischen Unterrichts. Zu ihnen gehört die geduldige Arbeit aller Träger der politischen Bildung an der politischen Aufklärung der Bürger und damit vor allem an der Entfaltung und Festigung der Demokratie in diesem Lande.
II. Der Ansatz eines „von unten" aus konzipierten Unterrichts
Wenn in der politischen Bildung der Bundeswehr Qualifikationen im Bereich der Gesinnungen, Einstellungen und Motive gegenüber denen der Urteils-und Kritikfähigkeit betont werden, so kann die Begründung aus den Aufgaben der Streitkräfte nur teilweise überzeugen. Die erheblichen Anforderungen an technische Kenntnisse und Fertigkeiten und die komplizierte sicherheitspolitische Struktur von Abschreckungs-und Entspannungsprozessen erzwingen eine Beachtung des Rationalitätsprinzips auch in der politischen Erziehung der Soldaten dieses Staates. Allerdings, wesentliche affektive Lernziele des politischen Unterrichts können allein durch kognitive Anforderungen nicht erreicht werden. Das didaktische Prinzip der Rationalität in der politischen Bildung, das seit der Ernüchterung infolge abgebremster Emanzipationskonzepte von vielen erneut favorisiert wird vermag lediglich unterstützend zu wirken, wenn es um die Aufgabe geht, staatsbürgerliche Verhaltensmotive zu bilden, die den Belastungen militärischer Einsätze standhalten. Wer seine Gesundheit und unter Umständen sein Leben in der Ausführung eines Kampfauftrages aufs Spiel setzt, kann mit der rationalen Verdeutlichung allgemeiner politischer Sinnzusammenhänge allein nichts anfangen; es muß ein unmittelbarer Bezug der Legitimationsgründe seines Einsatzes für sein eigenes Leben, seine eigenen Werterfahrungen bestehen.
Die problematische Beziehung zwischen rationaler Erhellung (Aufklärung) und werterfüllten Einstellungen (Gewissen) bedingt also — insbesondere in einer Institution wie der Bundeswehr — eine Konzeption der politischen Bildung, die den einzelnen auf seine An-’ sprechbarkeit für Politik untersucht, ohne ihn zu manipulieren und ohne kritische Rationalität als Bedingung für politische Vernunft zu schwächen. Dies kann nur durch eine entschieden auf den Demokratiebegriff des Grundgesetzes bezogene Politikerziehung geleistet werden. Ohne sie ist das Ziel, zur individuellen Identifikation mit dem schätzenswerten normativen Grundbestand der politischen Existenz in der Bundesrepublik und von da, aus zur aufgeklärten Einsicht in den Zweck des militärischen Dienstes hinzuführen, nicht zu erreichen. Solcher Aufbau von staatsbürgerlicher Kompetenz, die dem kürzlich vom Bundesverteidigungsminister Apel geprägten Begriff vom „Republikaner in Uniform” entspricht, bedarf übrigens im Gegensatz zu „militärischen” Kommunikationsformen unstrittig; nicht-indoktrinierender, argumentativ-untersuchender Unterrichtsbedingungen, die auf offener Interaktion beruhen und in die jeder Teilnehmer seine Interessen und Erfahrungen einbringen kann.
Jedoch herrscht über Inhalt und Methode einer solchen demokratischen Politikerziehung gegenwärtig in der politischen Didaktik keine Übereinstimmung. Kurt-GerhardFischerkon- statiert: „Sowenig . Vernunftrepublikaner'vom Stil eines Theodor Litt etwa und politisch . Wankelmütige'wie Eduard Spranger aus der Sackgasse Wege weisen konnten, sowenig ist bis in unsere Tage das Problem gelöst, was das Spezifische von demokratischer Politischer Bildung sei. Noch immer geht der Streit, ob nicht doch eine gehörige Dosis , Staatsgesinnung'für jede Politische Bildung konstitutiv sei (auch wenn man sich zwischenzeitlich griffigere Verschleierungsformeln dafür hat einfallen lassen). ”
Immerhin ist soviel klar: Das Spezifische an demokratischer politischer Bildung muß mit dem Spezifischen an demokratischer Politik übereinstimmen, nämlich daß sie sich von un-ten nach oben und nicht umgekehrt vollziehen soll. In einer Armee, auch der eines demokratisch verfaßten Staates, gilt indessen das Prinzip des militärischen Gehorsams, woran sich auch durch kooperative Formen der Interaktion, etwa durch die sogenannte Auftragstaktik, nichts ändert. Hinzu kommt, daß das Selbstverständnis einer hochtechnisierten modernen Armee als Bestandteil des öffentlichen Dienstes auf technisch-operative Effi-zienz gerichtet ist. Die Erlebbarkeit demokratischer Formen im Alltag einer solchen Streitmacht bleibt demgemäß weitgehend Illusion. Unbeschadet dessen ist es aber möglich — und theoretisch unverzichtbar —, auch unter die-sen Bedingungen in der Bundeswehr die politische Bildung insofern von „unten" anzulegen, als der einzelne, der Wehrpflichtige sowohl als der längerdienende Soldat, als Subjekt des politischen Bildungsprozesses zu begreifen ist und nicht, wie üblich, als . Adressat" der staatsbürgerlichen Lehrveranstaltung.
Dies bedeutet nichts anderes, als den Ansatz der Schülerorientierung in der didaktischen Planung dahin gehend zu berücksichtigen, daß bestimmte reale Lebens-(Sozialisations-) erfahrungen der Soldaten für die unterrichtliche Arbeit maßgebend werden. Praktisches wird dazu unten näher ausgeführt. Die thematische und prozedurale Planung des Unterrichts muß gewährleisten, daß diese lebensgeschichtlich meist tiefen Erfahrungen sich im realen Unterricht artikulieren können und die Lernenden dadurch für politische Angelegenheiten und für ihre eigenen Probleme aufgeschlossen werden. Ernst-August Roloff hatte im 1. Band seiner „Erziehung zur Politik" die These entwickelt, daß die Schule selbst der Hauptgegenstand des politischen Unterrichts zu sein habe, da der Schüler von ihr zentral „betroffen" sei. Im 2. Band wird die Qualifikation der „Entscheidungsfähigkeit" auf die konkreten Felder des Betroffenseins (Schule, Beruf, Gesellschaft) bezogen. Dies ist, worauf Sutor hingewiesen hat, „nichts anderes als die berühmte und allenthalben in der Curriculumdiskussion gestellte Frage nach der Relevanz von Gegenständen in unserer Gesellschaft und für den Schüler Im allgemeinen wird zwischen „subjektiver" und „objektiver" Betroffenheit unterschieden; dadurch ist genauer gesagt, wie solche Relevanz im folgenden verstanden werden soll, nämlich nicht nur unter dem Gesichtspunkt thematischer Kompetenz (Repräsentation), sondern unter dem der Herausforderung (Provokation).
Gegen Becker/Herkommer/Bergmann die den Bezug zum „Nahbereich" als unangemessen für politisches Lernen ablehnen, halten Marz/Kohl/Steingrüber in ihrer empirischen „Bestandsaufnahme Sozialkundeunterricht" „das methodische Prinzip im Nahbereich — verstanden als unmittelbare Betroffenheit — der Schüler für eine der besten Möglichkeiten, die Schüler zu motivieren ... Als Bestätigung dieser These wäre z. B. die Interessenlage der Schüler zu nennen, nach der hauptsächlich Themen aus ihrem . Nahbereich'(Familie, Berufswahl u. a.) angegeben wurden"
Dieser Ansatz, der danach fragt, was den Lernenden im Bereich des Politischen betroffen macht, um ihn von hier aus zu vernünftigem politischen Urteilen und Handeln zu verhelfen, bietet für die Didaktik des politischen Unterrichts vielleicht zwischen den beiden Postulaten der Rationalität und der Identifikation die Möglichkeit einer theoretischen Verbindung. Es mag allerdings überraschen, daß ein Versuch, aus der theoretischen Sackgasse der politischen Bildung herauszufinden, ausgerechnet anhand von Überlegungen zur politischen Bildung in den Streitkräften unternommen wird. Jedoch hat dieses Praxisfeld den theoretisch schätzenswerten Vorzug der Extremsituation für sich. Es ist wohl unstrittig — und die Literatur zur Problematik der Friedenserziehung’ unterstreicht den Eindruck nur —, daß die Kategorie des Politischen, in der es nun einmal um Frieden und Krieg, Macht und Recht, Arbeit und Eigentum, Freiheit und Folter geht, die Nagelprobe des Problembewußtseins angesichts der Existenz von bewaffneten Truppen erfährt. Hier brechen die oft allzu leicht verkleisterten politischen Fronten in Begriffen wie Sicherheit, Entspannung, Menschenrecht, Emanzipation offen auf und ermöglichen kontroverse Diskussion, eröffnen volle Pluralität, erzwingen so auch didaktische Klarheit über das Demokratieverständnis in der Institution Bundeswehr.
III. Politisches Interesse und personale Betroffenheit
Der Zustand der Unsicherheit in der gegenwärtigen Diskussion zur politischen Didaktik wird gewiß mit verursacht durch verschiedene Störeinflüsse, die von den neuralgischen Punkten der derzeitigen demokratischen Kultur in unserem „schwierigen Vaterland" ausgehen. Es ist zu fragen, welche Bedeutung einzelnen problematischen Elementen der innen-und außenpolitischen Situation für die Resonanz von Wertvorstellungen und Lernzielen bei jungen Erwachsenen gegenwärtig zukommt. Die Ansprechbarkeit für wesentliche politische Ziele muß besonders in bezug auf solche Problembereiche diskutiert werden, die junge Menschen in ihren eigenen Daseinsfragen und Zukunftserwartungen angehen. Was betrifft den Schulabgänger, den jungen Erwachsenen, den seiner Wehrpflicht genügenden Soldaten zentral genug, um Bedeutung für die Identifikationsfrage zu erlangen? Der Ansatz einer Auseinandersetzung mit der . Alltagserfahrung" wird neuerdings verstärkt diskutiert. Behrmann kritisiert ihn zwar als eine politische Bildung ohne politischen Inhalt Aber dennoch bleibt bestehen, daß einen jungen Menschen nur solche Fragen politisch ansprechen können, deren Lebensund Wertbezug er in seinem eigenen Dasein unmittelbar verspürt.
Alfred Krink hat den Wert der Alltagserfahrung für die Entwicklung von historisch-politischem Verständnis hervorgehoben und ihn besonders für die Konfrontation der Wohlstandsjugend mit der Holocaust-Erfahrung ausgewertet Dieser Ansatz scheint zwar geeignet, das „Schreckliche in der Welt" (Schmie-derer) bewußtzumachen und die moralischen Kräfte zur Ablehnung und Verhinderung des Schrecklichen zu wecken. Aber da die Spiegelungen des historisch wahrhaft Schrecklichen im Alltag des jungen Menschen eine an Gleichnissen geübte Abstraktionsfähigkeit voraussetzen, die keineswegs für jeden angenommen werden darf, bleibt auch dieser Ansatz letztlich ein Stück Bildungsidealismus, eine empirisch nicht gesicherte Bindung von politisch-historischem Wissen und kategorischem Imperativ der politischen Ethik. Unter dem Gesichtspunkt der Alltagserfahrung hat ferner Gerhard Schulze die Bedingungen des politischen Lernens für die Jugend untersucht Sein Interesse ist auf Art und Verteilung der politischen Aktivitätsbereitschaft junger Menschen gerichtet. Dabei wird angesichts der aktuellen Identitätsproblematik auf die Intentionalität des politischen Engagements der Jugend abgehoben und die Wichtigkeit einer zunehmenden Aktivität der Jugend für die Demokratie in der Bundesrepublik betont. Schulze vermutet, daß die Bindung an demokratische Werte wahrscheinlich überhaupt erst im politischen Handeln zustande kommt. „Sie ergibt sich jedoch sicherlich nicht daraus allein, sondern muß zusätzlich gefördert werden."
Um Inhalt und Form dieser Förderung durch geplanten Unterricht geht es. Junge Men-sehen, z. B. wehrpflichtige Soldaten, sind für die „Spielregeln" der Demokratie und die ihnen zugrunde liegenden Werte • nicht ohne weiteres so zu interessieren, daß eine demokratische Charakterbildung, das ausschlaggebende Substrat der politischen Kultur einer freien Gesellschaft, möglich wird. Eine durchdachte Motiverziehung, die sich besonders auf die Interessenlage der Lernenden einstellt, gehört dazu. Behrmann, obwohl scharfer Kritiker des emanzipatorischen Ansatzes der politischen Pädagogik, hebt immerhin nachdrücklich die Bedeutung des politischen Interesses für politische Partizipation und die Wahrnehmung der Staatsbürgerrolle hervor Aber er gibt keine andere Auskunft, wie denn nun dieses Interesse erweckt wird und zu einem Persönlichkeitsmotiv erstarkt, als auf dem Wege über politisches Wissen und Argumentieren. Desgleichen stellt Sutordie ethische Wertbindung des politischen Urteilens und Handelns auf eine Erziehung zur differenzierten Analyse, letztlich auf eine im besten Sinne „formal” bleibende Grundwerteeinsicht
In jüngster Zeit wird der Begriff des Interesses in der pädagogischen Motivationsforschung stärker hervorgehoben. Die pädagogische Bedeutung des Interessekonzepts kann von den Definitionsmerkmalen abgeleitet werden, die von Schneider/Hausser/Schiefele zusammengefaßt worden sind Danach wird das Interesse nicht in einer grundlegenden Eigenschaftsstruktur fundiert, sondern „auf kognitiv vorbereitete und emotional beeinflußte Ent-Scheidungstendenzen" bezogen Sie sind dementsprechend gesellschaftlich vermittelt und „entstehen und wirken ausschließlich gegenstandsspezifisch, sie sind inhaltsrelevant"
Wesentlich für diesen Interessebegriff ist es, „sich unter Anstrengung der subjektiv entwikkelten Reflexionskompetenz für Werte, Ziele etc. entscheiden zu können und die Entscheidung als handlungsverbindlich zu setzen" Das setzt didaktisch die Ermöglichung von politischer Analyse durch den Lernenden resp. die Lerngruppe voraus. Aber dabei ist nicht stehenzubleiben. „Interesse existiert nicht ohne emotionale Anziehungskraft, die mit der kognitiven Auseinandersetzung mit einem Gegenstand gleichzeitig auftritt."
Diese Emotionen erhalten in der politischen Bildung eine Schlüsselfunktion, sobald man den Rang der affizierten Bedürfnisse nach ihrer Bedeutung für die Wertbegriffe der Autonomie, der Liberalität, der Solidarität usw. beurteilt. Eine entschieden demokratische Werterziehung muß nun versuchen, Situationen aufzugreifen, in denen ein konkretes Geschehnis — z. B. eine Entlassung von Arbeitskräften wegen Konkurs der Firma — zentrale individuelle Bedürfnisse berührt und entsprechende Gefühle auch bei den nicht direkt Beteiligten auslöst. In diesen Gefühlen äußert sich Grad und Art der Betroffenheit dessen, der von dieser Situation erfährt
Die spezifischen Bedürfnisse, die bei jemand in einer gegebenen Situation tangiert werden, hängen eng mit seinen lebensgeschichtlich erworbenen subjektiven Wertmustern zusammen. Die herausfordernde Wirkung besteht entweder in dem Bewußtsein, sich bestätigt zu sehen („jawohl, einsperren sollte man die!., "), oder im Diskrepanzerlebnis („das könnt ihr doch nicht mit ihm machen!.."). Bei jungen Erwachsenen sind solche Einstellungen sozialisationsbedingt bereits erheblich stabilisiert und können im allgemeinen durch Belehrung nicht mehr gelöscht, nur noch modifiziert werden Demokratische Verhaltensmuster, von der Erziehung gleichsam post festum eingepflanzt, gedeihen bekanntlich mühsam.
Über die Änderung von Einstellungen stellen Heller/Nickel fest: „Jedes Verfahren zur Beeinflussung von Einstellungen wird nur dann erfolgreich sein können und den gewünschten Effekt hervorbringen, wenn es die Funktionen berücksichtigt, die solche Einflüsse für die einzelne Person haben." Die Wahrscheinlichkeit für die Änderung von Einstellungen bei Soldaten im Grundwehrdienst wird von Zimmermann im Rahmen einer empirischen Stu-die zur politischen Bildung in der Bundeswehr eindeutig bejaht Er findet, „daß insgesamt sehr wohl die Möglichkeit einer Einstellungsänderung gegeben ist, und daß — ceteris paribus — die Veränderungen am leichtesten möglich sind in der Reihenfolge Politisches Engagement, Politische Tendenz und Wehrmotivation"
Eine Theorie der Entwicklung demokratischer Einstellungen durch Aktivierung fundamentaler Wertmotive (Freiheitsbedürfnis, Rechtsempfinden, Eigentumsachtung, Solidarität usw.) setzt einen spezifischen Zusammenhang zwischen diesen allgemeinen Motiven und den besonderen demokratischen Grundwerten voraus. Dieser Zusammenhang kann in der unterrichtlichen Praxis nicht durch eine Apologie der sozialen Errungenschaften und der demokratischen Institutionen hergestellt werden. Er muß auf dem Wege über eine Thematisierung der gesellschaftlichen Probleme (Ziele, Konflikte, Defizite) gesucht werden — daran führt kein Weg vorbei. Anders kommen wir nicht zu „wahren“ Aussagen über die notwendigen Bedingungen des Gesellschaftssystems, die eine humane politische Kultur stiften. Ohne die Möglichkeit zur Offenlegung des cui bono im politischen Kampf und der Ungleichheiten im sozialen Wandel kann ein jun-ger Mensch nicht die eigenen Lebensinteressen als das entscheidende Werkzeug seines persönlichen politischen Bildungsprozesses für das Verständnis der Umstände einbringen und fruchtbar machen. Insbesondere kommt es hier auf Interessen an, die für das künftige Leben junger Menschen im Vordergrund ste-hen Von diesen aus bewerten sie das Bild, das ihnen die gesellschaftliche Wirklichkeit im Gegensatz zur Unwahrheit der Sonntagsreden-Demokratie bietet.
Die fachdidaktische Theorie hat sich mit dem Spektrum der Erlebniswelt des Nachwuchses jedoch noch nicht genügend auseinandergesetzt. Hermann Giesecke spricht von einer Analyse von „Rollenerwartungen" und führt diesen Ansatz inhaltlich in seiner Methodik unter Beziehung auf den Bericht des Jugendhofes Dörnberg näher aus. Er weist darauf hin, daß die Methode der „Provokation" strenggenommen nur Einstiegfunktion hat. „Indem sie nämlich politische Widersprüche in der Form ihrer subjektiv-individuellen Verinnerlichung zum Thema macht, enthält sie von sich aus noch keine Hinweise auf die Bearbeitung der so gewonnenen Selbsterfahrung."
Nach Grosser 39) kann man zwar nicht, wie es z. B. Robinsohn seinerzeit erwartete, einen Konsens über einen differenzierten Katalog von „Lebenssituationen" erreichen, doch von den „allgemeinen und grundlegenden Situationen des Urteilens und des Partizipierens an Politik", vor allem im sozialen Alltag, ausgehen
Damit dieser Ansatz nicht für beliebige Inter-essen verfügbar wird, soll „die Bindung an Grundwerten menschenwürdigen Zusammenlebens" als Erziehungsziel im Sinne einer grundlegenden Wertpräferenz festgehalten werden -Doch dies ist theoretisch unklar. Die Frage, wie ein künftiges Auschwitz ausgeschlossen werden kann, läßt sich nur beantworten, wenn gezeigt wird, auf welche Weise denn die grundlegende Wertpräferenz ihre bindende Wirkung tatsächlich erzielt. Die Anwendung eines „Instrumentariums zur selbständigen Analyse und Bewertung von Sachverhalten" der Politik im Sinne von Aufklärang und Güterabwägung leistet das noch nicht; Wissen und Zweifel können und müssen zwar die Werkzeuge politischen Verantwortungsbewußtseins sein, bringen es aber nicht allein hervor.
Hans-Günther Assel stellt in einem Rückblick auf zehn Jahre politischer Bildung in der Bundesrepublik ebenfalls die Aufgabe einer Qualifizierung zur „politischen Rationalität“ heraus und plädiert dafür, daß „das Bewußtsein für die wertbewußte und streitbare Demokratie und für ihre Verfassung der Freiheit'aktiviert wird, um unverzichtbare Errungenschaf-ten dieser Demokratie zu verteidigen". Eine theoretische Einsicht, wie die freie Gesellschaft bei dem „Mangel an positivem Wertbewußtsein" eigentlich zu schützen sei, soll aus dem Hinweis auf die wachsende Unsicherheit gegenüber Technologie und Großorganisation gewonnen werden: „Deshalb erhalten grundlegende Normen wie die Respektierung der Menschenwürde, der Freiheit und des sozialen Rechtsschutzes eine so große Bedeutung überall in der Welt, weil der moderne . Leviathan'nur durch die Beachtung solcher Grundwerte zu bändigen ist.“
Der beschwörende Ton ist unüberhörbar. Das Problem der Betroffenheit durch freiheits-und humanitätsgefährdende Folgewirkungen des sozialen Wandels ist in der Tat didaktisch von Bedeutung. Zunächst muß aber gefragt werden, ob die bloße „Beachtung" der Grundwerte etwas gegen die Inhumanität der Zivilisationsresultate ausrichten kann. Die didaktische Frage ist, wie sie vermittelt werden. Dies setzt voraus, daß der Erlebnis-, Erwartungs-und Bedürfnishorizont der Jugend in Betracht gezogen wird. Eine Identifikation mit dem Wertsystem der Menschenrechte ist ohne Antworten auf diese Erfahrungen und Nöte nicht zu erwarten Nur unpädagogisches Denken könnte hoffen, daß sich innere Wertbindungen in Gestalt, demokratischer Verhaltensprinzipien ohne unmittelbar erlebbare Zugänge im Bereich des eigenen Betroffenseins bilden lassen.
Rolf Schmiederer hat sein 1971 entwickeltes Konzept unter dem Gesichtspunkt „Interesse der Schüler" ausgebaut und den „Ansatz des Unterrichts bei der Lebenssituation der Schüler" in den Mittelpunkt seiner didakti-sehen Überlegungen gestellt. Statt jedoch den politischen Gehalt in der Erlebniswelt der Schüler empirisch zu analysieren, wird eher ein Weg allgemeiner pädagogischer Ausweitung des Selbstbestimmungsziels auf jegliches Lernen in der Schule gezeigt Mit Hilfe des Prinzips der Betroffenheit wird die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse zentrale Aufgabe des politischen Unterrichts, wobei sich letztlich als Schüler-„Interesse" ein den Schülern lediglich zugeschriebenes „objektives" Interesse an der Veränderung der Verhältnisse entpuppt
Der in unserem Zusammenhang interessante Versuch von Siegfried George den Unterricht an den (in acht Bereiche aufgelisteten) Lebenssituationen der Schüler zu orientieren soll dazu dienen, „die grundlegenden sozialen Prozesse der Gesellschaft" als „Inhalt und Probleme des politischen Unterrichts" zu verstehen. Dies geschieht ohne daß implizit eine bestimmte politische Philosophie mitgeliefert wird, die dadurch unvermeidlich heimliches Lernziel werden müßte Seinen „phänomenologischen Ansatz" kennzeichnet George so: „Die Lebenswelt, das Alltagsleben, das Alltagsbewußtsein — diese Begriffe umschreiben den Erkenntniszusammenhang, aus dem heraus auch Schüler — und nicht nur Wissenschaftler — ihre Welt interpretieren. Um an den vielfältigen Vorerfahrungen der Schüler anknüpfen zu können, müßte die Lebenswelt der Schüler bewußtgemacht und für den Unterricht genutzt werden. Die Lebenswelt müßte rekonstruiert werden, um dem Schüler Sinnverstehen des eigenen Lebens zu ermöglichen.“
Wer die subjektive Betroffenheit als Praxiskriterium für eine didaktische Theorie der politischen Bildung in Anspruch nimmt, muß allerdings zeigen, wie eine Dominanz der subjektiven Interessen gegenüber der politischen Rationalität vermieden werden soll. Das Rationalitätspostulat besagt ja gerade, daß der Lernende bei der Beurteilung eines Konflikts nicht allein durch seine partikularen Interessen geleitet werden soll. Es wird erwartet, daß er sich so verhält, wie die Vernunft es gebietet und nicht bloß seine Bedürfnisse es tun. In dieser Objektivierung der eigenen Position ist ja gerade der bildende Sinn politischen Lernens zu erblicken, das den einzelnen befähigen soll, Zusammenhänge zu sehen und das Maß seiner politischen Mündigkeit am Grad dieser Horizonterweiterung zu finden. Entscheidend für diese Ausbildung politischer Vernunft bleibt aber die Frage, ob und wie mit ihr über die subjektiven Interessen und Ansprüche im Namen von Wertvorstellungen und Programmen verfügt werden kann, über die der einzelne nicht mitbefunden hat und die ihm u. U. nicht zu mehr Selbstbestimmung und nicht zu höheren Lebenschancen verhelfen. Von politischer Vernunft kann daher sinnvoll nur geredet werden, wenn damit ein Den-ken gemeint ist, das den jeweils politisch Betroffenen gerecht wird, also zugleich konkret und human ist — und nicht etwa eines, das sich mit allgemeinen politischen Ordnungsund Gestaltungsideen begnügt.
Die Kategorie der Betroffenheit, so verstanden, stiftet damit keine Dominanz der subjektiven Lagen gegenüber der politischen Rationalität, kann aber gewährleisten, daß diese nicht zum Herrschaftsmittel pervertiert und so den Begriff des Gemeinwohls aushöhlt, ohne den Politik als Interessenauseinandersetzung gar nicht sinnvoll gedacht werden kann.
IV. Didaktische Bedingungen und Mängel der politischen Bildung in der Bundeswehr
brachtet man Ziele wie politische Ansprechrkeit und demokratische Einstellungen als ufgaben der politischen Bildung in der Bunswehr, dann ist auch zu untersuchen, welie Bedingungen im militärischen Dienst da-
r anzutreffen sind. Die Wirksamkeit der po-tischen Bildung in der Bundeswehr sowie die edingungen ihrer Praxis sind in mehreren wissenschaftlichen Studien untersucht woren Wassmann stellt schwerwiegende ängel verschiedener Art fest: „Einbußen am Sesamterfolg sind allerdings mit hoher Wahrcheinlichkeit zu erwarten, wegen der Schwieigkeiten im Verhältnis von politischer Biliung und spezifisch militärischer Ausbildung, vegen der Nichterfüllung wesentlicher Kriterien moderner Erwachsenenbildung wie Freiwilligkeit der Teilnahme, partnerschaftliche Interaktion und Mitwirkung bei didaktischen Entscheidungen, wegen der didaktischen und methodischen Defizite und wegen der Lücken und Mängel bei den Materialien. Diese Erkenntnisse sind sicherlich Anlaß, die Planung, die Organisation und den Ablauf des Erziehungsprozesses . politische Bildung in der Bundeswehr'zu überprüfen."
Ebenfalls konstatiert Zimmermann, „daß die Stimulus-Funktion der politischen Bildung in der Bundeswehr, einschließlich der gesamten mit dem Wehrdienst zusammenhängenden Kommunikation und Interaktion nicht stark genug ist, um den Lernzielabstand wesentlich zu verringern, und auch nicht differenziert genug, um den unterschiedlichen Ebenen im Anspruchsniveau gerecht zu werden."
Ferner ergibt sich aus der Studie von Lippert u. a. sowie aus den Wirkungsanalysen zur politischen Bildung, die vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr durchgeführt worden sind, im ganzen der vieldiskutierte Befund, daß es der Bundeswehr nicht gelungen ist, einem Großteil der Wehrpflichtigen den Sinn des Wehrdienstes zu verdeutlichen, obwohl es im Verlauf der Wehrdienst-zeit bei den Wehrpflichtigen zu einer im ganzen positiven Entwicklung der sozialen, politischen und demokratischen Einstellungen und Tendenzen kommt, wofür aber eindeutig nicht die Auswirkung des politischen Unterrichts in der Bundeswehr verantwortlich ist.
Eine der Ursachen für die relative Wirkungslosigkeit der politischen Bildung in der Bundeswehr wird auch im Selbstverständnis der Offiziere gesehen. „Dieses Selbstverständnis ist nicht nur das des engagierten, aufgeschlossenen und lernwilligen Staatsbürgers; in ihm äußert sich zugleich eine Grundeinstellung, in der Disziplin, Autorität und Hierarchie betont werden. Vorbehalte gegenüber einem , Zuviel an Demokratie (vor allem in der Armee) kommen deutlich zum Ausdruck."
Aus der Analyse von Wassmann kann entnommen werden, daß die von ihm geforderte Prüfung der politischen Bildung nach Methoden und Konzept gut daran täte, die Ansatzpunkte für die besondere politische Betroffenheit der Soldaten aufzugreifen. Dies liegt insbesondere deshalb nahe, weil die institutions-spezifischen Bedingungen einer demokratischen politischen Bildung in der Bundeswehr ungünstig sind. Es steht außerordentlich wenig Zeit zur Verfügung und die fachliche und pädagogische Ausbildung der Unterrichtenden für politischen Unterricht ist nicht gegeben; beherrschend steht im Mittelpunkt des Dienstes die technische und taktische Aufgabenerfüllung, so daß der Rollenwechsel von „militärischem" Tun zum politischen Lernen vielfach nicht gelingen kann. Hinzu kommt ein im allgemeinen nicht an demokratischen Kommunikationsformen orientiertes Rollen-verständnis der Vorgesetzten. Dies ist um so bedauerlicher, als „die Bildungsmaßnahmen der Bundeswehr, bedingt durch die soziale Umorientierung und die spezifische Lebens-welt der Wehrpflichtigen, in eine Phase relativer Offenheit für Einflußnahme und Prägung" fallen.
Schließlich ist auch der Rahmenlehrplan zur politischen Bildung in der Bundeswehr selbst, die ZDv 12/1, in seiner Intention in einem Hauptpunkt unklar. Die bejahende Einstellung zur Grundordnung dieses Staates wird als Lernziel aufgefaßt. Es hat im Paragraph 8 des Soldatengesetzes die Form der gesetzlichen Pflicht des Soldaten erhalten, „die freiheitliche demokratische Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes anzuerkennen und durch sein gesamtes Verhalten für ihre Erhaltung einzutreten". Von Bedeutung ist nun, daß dieses Ziel auf die Grundordnung abstellt, während die von der Bundesregierung 1968 gesetzten Ziele der politischen Bildung im vierten Ziel „die Bejahung der Grundwerte der freiheitlichen Demokratie" aufführen Es ist aber offenbar nicht nur sprachlich nicht dasselbe, ob man als Identifikationsinhalt entweder von der Grundordnung oder von den Grundwerten dieser Demokratie spricht. In dem einen Fall wäre der Frage nachzugehen, wie sich der Jugendliche bzw.der Soldat gegenüber den obersten Verfassungsnormen verhält, im anderen Fall, wie er sich zu den Gütern verhält, die durch diese Normen verbürgt werden sollen. Die erste Frage richtet sich auf das politische System und seine Geltung, die zweite Frage auf seine Wertsubstanz und deren Bedeutung für das Leben der Menschen und jedes einzelnen.
Die „besonderen Ziele politischer Bildung“ sind nach der ZDv 12/1 nun sehr deutlich eher an der ersten als an der zweiten Frage orientiert. Die entsprechenden „Inhalte der politischen Bildung in der Bundeswehr" gehen in erster Linie davon aus, die Demokratie als ein politisches System zu betrachten, das auf Frieden angewiesen ist und Frieden stiftet (in den 38 Zeilen der Ziffern 303— 305 der Vorschrift taucht das Wort Frieden dreizehnmal, das Wort Freiheit dagegen zweimal auf). In dieser dem Frieden verpflichteten Konzeption drükken sich Auftrag und Selbstverständnis der Bundeswehr aus. Der Sinn dieser Armee ist es, den Frieden zu erhalten. Jedoch ist der Frieden, auch unter der atomaren Bedrohung, nur die Bedingung des Gutes, das er schützen soll, der Freiheitlichkeit des Lebens in diesem Staat. Wenn die Armee den Frieden schützt und wenn sie eben dazu leistungsbereite Soldaten braucht, dann müssen sich diese nicht nur mit dem Ziel der Friedenserhaltung identifizieren, sondern vor allem mit dem entscheidenden Gut, das zu schützen ist und das Frieden braucht, der Freiheitlichkeit als Grundbedingung dieser demokratischen Ordnung.
Eine Ursache für das Fehlen einer klaren didaktischen Konzeption in der Vorschrift ist wahrscheinlich eine Abneigung nicht weniger militärischer Führer, die konkrete politische Aufklärung, die in den von der Bundesregierung 1968 beschlossenen Zielen der politischen Bildung gefordert wird, auch durchzusetzen. übrig bleibt dann so etwas wie liberale Gesinnung plus Bundesrepublik-Deutschland-Patriotismus. Indiz einer im Prinzip aufklärungsfeindlichen Praxis der politischen Bildung wäre u. a. ein Ausklammern der „heißen Eisen“ aus dem Unterricht, der Ausbildung, den Richtlinien. Wer da zweifelt, kämpft schlecht, lautet solch kurzschlüssiges Vorurteil.
Der von vielen Verantwortlichen häufig herausgestellte Stolz auf die freiheitliche Ordnung in der Bundesrepublik muß aber daran gemessen werden, wie denn die Jugend deren Wirklichkeit erlebt. Und hier hilft kein Augenschließen vor dem von allen einschlägigen Untersuchungen bestätigten Sachverhalt, daß es beträchtliche Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Bedingungen, Angst vor der Zukunft, Skepsis gegenüber den Organen des Staates und den Interessen der Wirtschaft gibt. Schulstreß und Konsumstreß sind keine Nebensachen, ebensowenig die Diskrepanz zwischen Bildungs-und Beschäftigungssystem. Der effektive Grad an Liberalität und Humanität muß nicht nur am Rande an den Erfahrungen der Sozialarbeit mit jugendlichen Kriminellen, Drogen-und Alkoholsüchtigen, mit Selbstmord-und Jugendreligionstendenzen, mit der allgemeinen politischen Stimmungslage in größeren Teilen der Jugend gemessen werden. Für einen auf hoffnungsloser Stellungssuche befindlichen Jugendlichen ohne Hauptschulabschluß z. B. bedeutet das Recht auf freie Berufswahl ein Eckstein der freiheitlichen Sozialverfassung, faktisch nichts. Infratest fragte 1976 Westberliner Jugendliche zwischen 13 und 24: „Wenn Sie die Ansicht hören: , Bei uns kann jeder frei seine Meinung sagen, zu jedem Problem, auch zur Politik. Er hat davon keine Nachteile'. Würden Sie sagen: das stimmt oder das stimmt nicht?" 51 Prozent verneinten, daß das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung verwirklicht sei, 26 Prozent bejahten es, 22 Prozent wußten keine Antwort
Wer allzu betont auf den freiesten deutschen Gesellschaftszustand aller Zeiten verweist, zieht sich den Verdacht zu, an der Abschaffung seiner Schwachstellen, an der Veränderung seiner Mängel nicht entschieden genug interessiert zu sein. Politische Handlungskompetenz als Lernziel der politischen Bildung bedeutet letztlich immer auch die Befähigung zu praktischem politischen Mithandeln, nicht zuletzt also zur Veränderung der Gesellschaft in den Politikbereichen, wo es not tut. Dies reicht von der Veränderung der Gehsteige zugunsten von Rollstuhlfahrern bis zur Diskussion über Alternativen zur Jugendpolitik, ja zur vorfindlichen Form des Rechtsstaates.
Ein gewichtiger empirischer Grund, der eine ernsthafte didaktische Befassung mit der Kategorie der Betroffenheit in der politischen Bildung der Bundeswehr nahelegt, ist der Befund der jüngsten Sozialisationsstudie des SOWI-Instituts der Bundeswehr Danach hat sich die politische Sozialisation in der Bundeswehr in den letzten Jahren, offenbar im Zusammenhang mit einer bei der Jugend verbreitet angewachsenen Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen, auffällig negativ entwickelt: „Ein nicht nur für die Bundeswehr allein wichtiges Ergebnis kann auf die kurze Formel gebracht werden: Der Wehrpflichtige des Jahres 1977 ist mit dem aus dem Jahre 1972 bezüglich der politischen Einstellungen kaum mehr vergleichbar. Einer nunmehr verstärkten politischen Entfremdung und einer vermehrten unpolitischen Haltung der jungen Erwachsenen korrespondiert eine ablehnendere Haltung gegenüber politischem Engagement. Angesichts dieser Situation ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich früher nachgewiesene Einstellungsänderungen nicht mehr replizieren lassen. Dieses Ergebnis ... kann auch nicht einer veränderten Situation in der Bundeswehr ängelastet werden, denn die Ursachen liegen vor und unabhängig von der Bundeswehr in der vorangegangenen Sozialisation der Wehrpflichtigen begründet."
Wakenhut, der in seinen Untersuchungen von der Annahme ausgeht, daß eine Beeinflussung des politischen Verhaltens im Sinne demokratischer Präferenzen neben dem Inhaltsaspekt auch eine strukturelle Höherentwicklung der moralischen Urteilskraft voraussetzt, kommt zu der resignierenden Feststellung: „Wenn es nicht einmal gelingt, Präferenzurteile zu politischen Themen auf der Inhaltsebene zu beeinflussen, ist auch eine strukturelle Höherentwicklung, die erst zu stabilen Dispositio-nen für politisches Handeln führen würde, wenig wahrscheinlich.
Zwar ist die Schule der Bundeswehr für Innere Führung, wie oben erwähnt, angewiesen worden, verbesserte Arbeitsmittel zu entwickeln, ferner erhofft man sich durch eine Ausrüstung der Truppe bis zur Kompanieebene mit einer Videorecorderanlage eine bessere Ausnutzung der politischen Sendungen des öffentlichen Fernsehens für die Zwecke der politischen Bildung, aber diese Maßnahmen haben kein erkennbar reformiertes didaktisches Konzept hinter sich und stellen im wesentlichen Optimierungsversuche im Rahmen des bisherigen didaktischen Ansatzes dar.
In der gegebenen Situation erscheint es daher notwendig, didaktische Planungsentscheidungen der politischen Bildung in der Bundeswehr in den Bereichen der Themenauswahl, der Unterrichtsverfassung, der Interaktionsformen usw. so zu treffen, daß zumindest die Ansprechbarkeit für Politik gewährleistet ist. Dem Ansatz, auf die Bedürfnislagen zu rekurrieren, die für den Wehrpflichtigen oder längerdienenden Soldaten durch die Bedingungen des militärischen Dienstes selbst gegeben sind, käme erstrangige Bedeutung zu, setzte er nicht professionell ausgebildete, sozialwissenschaftlich versierte Lehrer voraus. Dies ist, wie gesagt, bei den Unterrichtenden in den Streitkräften aber nicht der Fall; in ihrer Doppelrolle als militärische Vorgesetzte und als politische Lehrer sind sie hoffnungslos überfordert. Dem Offizier, insbesondere dem Einheitsführer, wird in der Praxis gleichwohl immer wieder die Aufgabe zugemutet, politische Bildung durch Aufgreifen der individuellen Konsequenzen des militärischen Dienstes zu betreiben. Ein beliebtes Thema ist z. B. „Dienen oder verdienen?" Allem pädagogischen goodwill der Lehrenden zum Trotz und mit oder ohne Verwendung von Gruppenarbeit, Visualisierungsmitteln usw. kommt mangels fachmännischer didaktischer Planung und Organisation selten etwas anderes heraus, als eine mehr oder weniger raffinierte Indoktrination fragwürdiger apologetischer Thesen zum Wehrdienst und Verteidigungsauftrag. Niemand darf sich wundern, daß die Soldaten dies meist stumm über sich ergehen lassen und vor allem ganz andere latente Lernerfährungen machen, etwa über die Beförderungsrelevanz von simulierten Argumentationen oder über den Einfluß von Beteiligungsritualen auf die Gruppensolidarität.
Die fehlenden pädagogischen und fachdidaktischen Qualifikationen der unterrichtenden Offiziere werden hier nicht als eine Art beklagenswerter Ausbildungsmangel angeprangert. Der Fehler liegt darin, daß einem als Einheitsoder Zugführer ausgebildeten Offizier außerdem etwas zu tun zugemutet wird, wofür er, wenn nicht spezifisch vorstrukturiertes Material ihn entlastet, eine zusätzliche professionelle Lehrerqualifikation mitbringen müßte. Darüber hinaus ist allerdings nicht zu übersehen, daß Untersuchungen über die Berufsrolle des militärischen Vorgesetzten ausgewiesen haben, daß es die Tendenz zu einem verkürzten, belasteten Menschenbild des dienenden Soldaten in den Augen des Offiziers gibt Nicht zuletzt zum Abbau solcher Dienstrangstereotypen und Sozialschichten-Klischees war das Konzept der „Inneren Führung" entworfen worden, deren Kernstück die politische Bildung sein soll.
Wenn zur Abhilfe der Misere des politischen Unterrichts vorgeschlagen wird die Leistungen z. B.der Einheitsführer in der „Durchführung" der politischen Bildung beförderungsrelevant zu machen, ohne daß aber diese Voraussetzungsstruktur geändert werden kann, so ist abzusehen, daß die Praxis der politischen Bildung erst recht in das Fahrwasser eines Unterrichtsstils von vorgestern gerät, bei dem der Katechismus der „FDGO" abfragbar gemacht wird, um den Schein von Lerneffizienz und damit von Leistungserträgen der unterrichtenden Offiziere zu produzieren, die dann im Personalbericht als Punkte zählen. Hier haben wir ein besonders krasses Beispiel für das didaktische Problem aller politischen Bildung vor uns: Das Erlernen der Elemente der Demokratie ist ohne demokratische Struk-tur in der elementaren Lernorganisation, den Interaktionsformen des Unterrichts, nicht möglich. Partizipation und Freiheitlichkeit können nicht unter Lernbedingungen begriffen werden, in denen sie eliminiert sind.
V. Praktische Aspekte des Ansatzes bei subjektiver Betroffenheit
Aus diesen Gründen erscheint es angebracht, für die politische Bildung in der Bundeswehr eine gleichsam zweitbeste Lösung zu wählen, die darin besteht, daß nicht die unmittelbare Alltagsbetfoffenheit stehenden Fußes politikunterrichtlich ausgewertet wird, sondern daß man zu provozierenden Situationen von grundsätzlicher Exemplarität für das Wertempfinden junger Menschen (Soldaten) greift, und zwar solchen, die Modellcharakter tragen und sich zur vorgängigen professionellen Aufbereitung anbieten. Dies können allerdings durchaus auch (aber nicht allein) Situationen aus dem militärischen Handlungsfeld sein, wobei freilich folgende Überlegungen wesentlich sind:
Die Betroffenheit der Soldaten ist zunächst einmal umfassend gegeben durch das Organisationsziel der Bundeswehr. «Als vorrangiges Organisationsziel hat der im Grundgesetz festgeschriebene Verteidigungsauftrag zu gel-ten, der die Bundeswehr im Falle eines militärischen Angriffs verpflichtet, die Bundesrepublik zu verteidigen. Dieses globale Organisationsziel ist bestimmend für die militärische Ausbildung i. e. S. und schafft für den Wehrpflichtigen eine ganz spezifische Lebenswelt, die insbesondere durch den Umgang mit Waffen, durch Kasernierung und Tragen von Uniform gekennzeichnet ist."
Der umfassenden Betroffenheit des Soldaten durch das militärische Organisationsziel entspricht die Betroffenheit jedes Bürgers durch die sicherheitspolitische Haftungsgemeinschaft Das Sicherheitsrisiko deckt die Gesellschaft der Bundesrepublik insgesamt und nicht etwa allein der „Staat" oder die Streit-kräfte. Die Chance der beeinflussungswirksamen Ansprechbarkeit liegt noch nicht in der umfassenden Betroffenheit, die unabhängig von der Art der bewußten Verarbeitung und erlebten Einwirkung, also unabhängig vom individuellen Wollen und Denken ist. Sie liegt erst in der Ebene der subjektiven Betroffenheit Erst die Frage, wieder einzelne den militärischen Zwang, die Einschränkung einzelner Grundrechte usw. erlebt, ergibt für die Praxis der politischen Bildung die Anknüpfungspunkte, von denen aus über den Sinn des militärischen Dienstes und über die Grundwerte, die er schützen soll, nachgedacht werden kann.
Dabei zeigt sich, daß die Verwendungs-und Funktionsbereiche in der Bundeswehr außerordentlich differenziert sind und sich nicht entfernt bereits mit den einzelnen Truppengattungen decken. „Unter der Frage nach den wirklichen und wirksamen Bedingungsfaktoren der politischen Bildung ist die Bundeswehr keine Einheit", schreibt Bastian und führt dazu das Beispiel an: „Hinsichtlich ihres politischen Bildungsprofils vertreten die Wachsoldaten der Sicherungsgruppe und die Piloten auf der Basis zwei verschiedene Gattungswesen. Die militärischen Teilgruppen bilden aufgrund ihrer spezialisierten Funktionsregelri arteigene . Umwelten', in denen gleiche Alltagserfahrungen mit sehr ungleichen Reaktionsmustern verarbeitet werden." Es gilt also mit der politischen Bildung dort anzusetzen, wo die Lage des einzelnen Soldaten als Problem seiner latenten politischen Sozialisation zur Sprache gebracht werden kann. Die Summe der subjektiven Betroffenheiten läßt sich zusammengefaßt als „Erfahrung"
apostrophieren. Politische Bildung hat die Aufgabe, ihr gerecht zu werden. Will sie in diesem Sinne „empirisch" verfahren, so ist, wie oben gesagt, angesichts der Qualifikationslage der Unterrichtenden nur der Weg über eine an ausgearbeiteten Unterrichtsmodellen orientierte Aufbereitung dieser Erfahrung gangbar und nicht ein Ad-hoc-Unterricht. Modelle eines Politikunterrichts in der Bundeswehr, die dazu angetan wären, auf dem Wege über die subjektive Betroffenheit didaktisch die Brücke von der Problemeinsicht zur Identifikation mit Grundwerten der Demokratie zu schlagen, bieten sich in einer Reihe von Situationen an, die viele Soldaten betreffen. Als Beispiele seien genannt:
1. Probleme militärischer Disziplin, wie z. B. Art und Grad der Sanktionen und Kontrollen; Ergebenheitsmotive gegenüber Vorgesetzten wegen deren Beurteilungskompetenz; unsinnige Formen von Leistungskonkurrenz usw. 2. Spezielle Probleme der Verwendung und Aufgabe, so z. B. Probleme des Know-how in der militärischen Spezialeinheit; entpersönlichende Anpassung an die Bedingungen technischen-Geräts; waffenspezifische Formen von Korpsgeist; tödliche Unfälle; Enttäuschung von Erwartungen über den Nutzen des Dienstes für die eigene Ausbildung und Entwicklung; Belastbarkeit mitmenschlichen Vertrauens in Krisenlagen.
3. Ärgernisse des militärischen Dienstes wie z. B. Stumpfsinn im Routinedienst nach der Grundausbildung; auf Kosten Untergebener ausgetragene Rangstreitigkeiten; Entfremdungseffekte der militärischen Bürokratie; ungelöste Freizeitprobleme, besonders Alkoholgenuß. Es dürfte ersichtlich sein, daß die politisch bildende Erörterung jedes dieser Punkte erheblichen pädagogischen Sachverstand voraussetzt. In Ermangelung dessen kommt es immer wieder zu Leserbriefen wie diesem: „Gern zur Bundeswehr geht kaum jemand. Aggression oder Depression erscheinen als zwangsläufiges Verhalten des Soldaten innerhalb einer Armee, die wenig Rücksicht auf seine eigenen Bedürfnisse und Probleme nimmt — die technische Höchstleistungen bringt, die menschlichen dabei jedoch vernachlässigt und sich auf ein fassungsloses Hände-über-den-Kopf-Zusammenschlagen beschränkt, wenn sie die Auswirkungen dieses ihres Fehlverhaltens aufgedeckt sieht; die versucht, durch Befehl zu beseitigen, was sich nur bei intensiver Beschäftigung mit diesem Thema ändern läßt."
Unterrichtsmodelle, die derartige Situationen aufgreifen, erfordern eine Planung, durch die es im Unterricht zur Untersuchung der Kernfragen des Sachverhalts kommt. Die Aufklärung einer Lage, die als schlimm, unerträglich, widerspruchsvoll etc. empfunden wird, verlangt eine Untersuchung über die Sachgründe der Empörung und damit eine Auseinandersetzung über Bewertungsprobleme, also über Grundsätze des sozialen Handelns. Die subjektive Betroffenheit fungiert hier als Auslöser einer Aktivierung von politischem Grundwertebewußtsein. In dieser Katagorie konkretisiert sich politische Bildung als Bestandteil eines Führungskonzepts, das die Teilhabebelange der Geführten und ihren Anspruch auf Offenlegung politischer Probleme durch Diskurs berücksichtigt und eben darin einen konkreten Ausdruck der gesellschaftlichen Legitimation des Verteidigungsauftrages erblickt. Deshalb zwingt uns nichts, bei Unterrichtsmodellen aus der militärischen Alltagserfahrung stehenzubleiben und das methodische Prinzip ihrer Konstruktion nicht auch auf alle politisch-sozial möglichen Situationen, die besonders Betroffenheit bewirken, auszudehnen. Modelle solcher Fälle sind etwa:
— die aufgedeckte Nahrungsmittel-und Landschaftsvergiftung durch ein bekanntes Chemiewerk einschließlich bekanntgewordener staatlicher Beschwichtigungs-und Einschüchterungsmaßnahmen oder — die an Einzelfällen hervorgetretene Frage der Bedeutung von Datenaustausch-und Rastermethoden im Zeichen der'Mikroprozessorentechnologie für Integrität und Rechts-gleichheit des Bürgers. Wie stark betrifft es uns, wenn bereits Rechtfertigungsargumente gebraucht werden können, die zynischerweise Menschenrechte in Anspruch nehmen, um elektronische Massenkontrollmaßnahmen zu rechtfertigen? „Je mehr Datensammlungen zu Ermittlungszwecken genutzt werden könnten, desto sicherer gerate das Raster, desto geringer werde mithin der Anteil jener, die vom Computer zu Unrecht verdächtigt werden." Ausgehend von Situationsanalysen, die derartige Auslöser von Betroffenheit sein können, werden vom Verfasser und einer Gruppe von Mitarbeitern Unterrichtsmodelle im Medien-verbund für die politische Bildung in der Bundesrepublik entwickelt (sie sind darüber hinaus im Bereich der Sekundarstufe 2 und der Erwachsenenbildung anwendbar), die so gestaltet werden, daß sie auch von Offizieren ohne pädagogische Qualifikation und von Lehrern ohne spezielle fachdidaktische Kompetenz benutzt werden können. In diesen Modellen wird das Kriterium des Betroffenseins als Untersüchungsanstoß für Fallanalysen in Kleinstgruppen verwendet; in ihnen und nicht über das Medium des Unterrichtsleiters spielt sich der wesentliche Lernprozeß ab. In der Entwicklung und zum Teil in der Erprobung befindet sich eine Modellreihe zum Problemkreis der Grundrechte. Sie ist Gegenstand eines fachdidaktischen Projekts zur pädagogischen Handlungsforschung. Untersucht werden besonders — die Auswirkung der Arbeit in den Modellen auf die Unterrichtszufriedenheit der Beteiligten (Lernende und Unterrichtende), — die Beeinflussung der Lernaktivität durch das Material und die Sozialformen, — die Erkennbarkeit und Veränderung der politischen Einstellungen durch die Unterrichtsteilnahme, — der Transfer des Unterrichts auf generelle Ziele wie Sinnverständnis des militärischen Dienstes, Identifikation mit demokratischen Werten usw. .
Bisherige praktische Versuchsergebnisse mit Pilotfassungen zweier Modelle zeigen, daß einzelne Annahmen sich zu bestätigen scheinen, wie z. B., daß es im Rahmen des Modells zu Offenheit, Aktivität und Konzentration der Teilnehmer kommt, daß die Unterrichtsleiter den Rollentausch vom Vorgesetzten zum Lerngehilfen leichter bewerkstelligen, ferner daß untersuchende, informationsbeschaffende, nachforschende Lerntätigkeiten stattfinden und daß es zum Einbringen kontroverser individueller Erfahrungen, Kenntnisse und Interessen kommt. Diese ersten Ergebnisse scheinen eine in die Breite gehende Auswertung des Versuchs zu rechtfertigen, zumal so eine immanente, mit der wiederholten Verwendung der Modelle verbundene unterrichtspraktische Ausbildung der Unterrichts-leiter erreichbar ist.
Eine weitere Annahme, von der offen ist, ob sie im Verlauf eines ausgeweiteten Feldversuchs mit den Unterrichtsmodellen bestätigt werden kann, ist die Rückwirkung der angst-freien Kommunikation im Unterricht auf das übrige dienstliche Verhalten der Beteiligten. Von Teilnehmern an den Unterrichtsversuchen wurde der Eindruck mitgeteilt, daß die Unterrichtserfahrungen sich auch z. B. in der Ausbildung im Gelände und am Gerät in Richtung auf Reversibilität, Zuwendungsstil und andere Merkmale der Interaktion auszuwirken scheinen, und zwar im Sinne eines nicht läßlicher werdenden Umgangstones, sondern einer Auffassung von Disziplin als Selbstbestimmung im Gegensatz zum entmündigenden Verfügungsgehorsam.
VI. Objektive Betroffenheit und Geschichtsbewußtsein
Jedoch nur wenn es gelingt, in der Bundeswehr sowohl die auf Betroffenheit beruhende offenherzige Artikulation politischer Fragen als auch besonders eine sanktionsfreie Reflexion über die Kommunikationsweisen und Sozialstile zum Element der politischen Bildung zu machen, kann auch erwartet werden, daß die grundlegenden Aporien der Verteidigungs-und Sicherheitspolitik geistig ausgehalten werden. Im Vordergrund steht das paradoxe „Kämpfen, um nicht kämpfen zu müssen" Darüber hinaus aber handelt es sich um Aporien, von denen ausnahmslos alle Bürger betroffen sind. Das Nato-Konzept der „Vorne-Verteidigung" (gegen Angriffsakte aus dem Bereich des Warschauer-Paktes) schließt logisch die Vorstellung ein, daß das Gebiet der Bundesrepublik Kriegsschauplatz ist. Wenn aber das Ziel der Verteidigung nur mit dem Mittel teilweiser Selbstzerstörung erreichbar ist, wird es sinnlos. Der „Sinn des militärischen Dienstes" ist vom Problem des Kriegsbildes aus nicht ohne weiteres plausibel zu machen. Er muß anderswo gesucht werden.
Aber bei einer Politik, die auf den Nichteinsatz der Streitkräfte zielt, verwandelt sich der Einsatzbegriff in die Rechengröße des Bedrohungspotentials. Diese Verschiebung ist identisch mit einer Verschiebung des operativen Denkens in den präoperativen Bereich der Optimierung des technologischen und funktionalen Wertes der Streitmacht. Dem entspricht die komplizierte Militärdiplomatie der SALT-und MBFR-Verhandlungen, in deren Zusammenhang die KSZE-Politik, aber auch die Ostpolitik der Bundesrepublik zu analysieren ist. In diesen Konturen verschwimmt für den einzelnen Soldaten und Offizier ebenso wie für den einzelnen Bürger die Einsicht in den Bedingungszusammenhang. Damit hängt der Friede nicht nur strategisch von der relativen Unkalkulierbarkeit des Risikos, sondern auch politisch vom Vertrauen in das Funktionieren eines abstrakten politisch-technischen Stabilisierungs-und Entscheidungsmechanismus ab. Der „blinde Gehorsam" des Liniensoldaten der Kabinettskriege feiert Urständ auf einem, neuen, raffinierten Niveau. Ein am Effizienzdenken orientiertes Leistungsverhalten und die Ausbildung eines technisch hochentwickelten Know-how gewähren im militärischen Betrieb leicht das Maß an Beanspruchung und Befriedigung, das ausreicht, um die Fragen des politischen Problemzusammenhanges zurückzustellen und sich hier mit Schlagwortlösungen wie „Verteidigung der Freiheit" usw. zu begnügen.
Solche Formeln verlieren ihren Sinn, wenn ihr Aussagekern die Alltagserfahrung der Wehrpflichtigen gegen sich hat und von ihnen desavouiert werden. Nimmt man die Prozentsätze von Wählerpräferenzen für die „grünen“ und „bunten" Listen als Indikator für die gesellschaftspolitische Bedürfnislage einer wichtigen Minorität der jüngeren Generation, so drückt sich darin ein geschärftes Bewußtsein in entscheidenden Politikbereichen aus, z. B. für ökologische Kritik am ökonomischen Prinzip und für die Kritik an antidemokratischen Ausuferungen des Prinzips der streitbaren Demokratie. Ein solcher Bürger kann als Soldat diesen Staat aber nur mit Entschiedenheit und Kraft verteidigen, wenn er ihn in der Freiheit bestärkt, die Alternativen zu bedenken, die sein Leben im Kern betreffen und darunter auch die zu vertreten, die ihm aus dem Sinn der Verfassung einleuchten. Der Soldat muß die Sorgen und Erwartungen, die er über sein und unser gesellschaftliches Dasein hegt, aussprechen und politisch erörtern dürfen. Er muß dann freilich Hilfen zur Erkenntnis-und Verhaltensbildung erhalten.
Diese Hilfen können allerdings nicht ohne die historische Dimension beurteilt werden. Hier liegt eine zusätzliche Schwierigkeit der politischen Bildung in der Bundeswehr; sie kann nicht damit rechnen, daß die Soldaten aus ihrer Schulbildung über historische Kenntnisse verfügen, die für politisches Urteilen ausreichen. Minister Apel nannte u. a. diesen Mangel im Juni 1979 vor dem Beirat für Innere Führung eine „mittlere Katastrophe". Die von allen Seiten erhobene Forderung nach mehr Geschichtsbewußtsein bedingt eine Untersuchung der Intentionen, die hinter der Forderung stehen. Es geht um die politischen Zielvorstellungen, für die das Geschichtsbewußtsein in Anspruch genommen werden soll. Die Erwartung, sich mit den Grundwerten dieses Staates zu identifizieren, bezieht sich auf historische Größen. Die besondere Problematik eines deutschen Geschichtsbewußtseins aber ist in der realen Situation des geteilten Deutschland greifbar.
Wer mehr Geschichtsbewußtsein will, muß also sagen, welche geschichtlichen Tatsachen und Vorgänge er bewußtmachen möchte. Wer demokratisches Bewußtsein geschichtlich begründen will, der muß sich damit auseinander-setzen, daß die Geschichte der deutschen Demokraten meist eine Geschichte von Personen, Gruppen und Ideen war, die in Opposition handelten, unterdrückt waren (wenn nicht sogar vogelfrei), nicht in der Verantwortung standen. Und weiter müssen wohl zum demokratischen Geschichtsbewußtsein Kenntnisse gehören, wie es kommt, daß sich in Deutschland Präferenzen für Ordnung und gegen Konflikt, für Konsens und gegen Kompromiß gebildet haben und bis heute immer wie-der durchschlagen. Schließlich muß Geschichtsbewußtsein, soll es die Demokratie stärken, Kriterien enthalten, die sensibel machen für Tendenzen der Zerstörung demokratischer Fundamente, z. B. durch defätistische Gesetzgebungstendenzen.
Ein gewisser Konsens der Fürsprecher eines besseren Geschichtsbewußtseins besteht in der Intention, durch geschichtliches Wissen besonders über die Zeit des Nationalsozialismus eine erneute Zerstörung der Demokratie durch ihre Gegner zu verhindern. Aber schon die Frage nach Relevanz und Konsequenzen der Totalitarismustheorie offenbart, daß von dem Geschichtsbewußtsein nicht die Rede sein kann. Dies ist nicht zuletzt durch die Grundwertediskussion beleuchtet worden.
Wir ziehen das Fazit, daß die Sorge um eine derzeit beobachtbare Geschichtslosigkeit im Denken der jungen Generation zu relativieren ist aus der Erfahrung der Manipulierbarkeit und Verfügbarkeit von Geschichtsbewußtsein. Demokratische politische Bildung ist unwiderruflich auf einen offenen historischen Horizont angewiesen. Sie ist angesichts der Schwäche und Brüchigkeit der deutschen Demokratieüberlieferung vor allem gehalten, aus der Geschichte der Bundesrepublik selbst zu schöpfen und die Einsicht zu überliefern, daß der Wesensgehalt des Kernbestandes ihrer Verfassung, das Prinzip der Freiheitlichkeit, welches das faire Ringen um jedes denkbare politische Ziel und Programm einschließt, zu stärken und zu entfalten ist. Und hierin schließlich liegt der eigentliche Legitimationsgrund des „Verteidigungsauftrages".