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Geschichtlichkeit und Kontinuität des Grundgesetzes Das Sprechen von der Verfassung | APuZ 45/1979 | bpb.de

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APuZ 45/1979 Artikel 1 Das schwierige Vaterland. Geschichte und Geschichtsbewußtsein als Problem der Deutschen Geschichtlichkeit und Kontinuität des Grundgesetzes Das Sprechen von der Verfassung Das Grundgesetz zwischen historischer Erfahrung und Zukunftserwartungen Didaktische Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Geschichte

Geschichtlichkeit und Kontinuität des Grundgesetzes Das Sprechen von der Verfassung

Manfred Hättich

/ 13 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Geschichtlichkeit und Kontinuität sind nicht als Gegensätze aufzufassen. Kontinuität bedeutet nicht Stillstand, sondern geschichtliche Entwicklung unter Wahrung der Identität des Subjekts. Man kann eine Verfassung zum Gegenstand der Beobachtung machen und dann nach ihrem geschichtlichen Kontext und ihrer Entwicklung fragen. Setzt man aber als Subjekt die unter der Verfassung sich konstituierende Rechtsgemeinschaft ein, dann wird die Frage nach der Verfassung zur Frage nach unserer Verfaßtheit. Das Denken und Sprechen über die Verfassung bedarf der sozialen Kontinuität Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich verschiedene Diskontinuitäten konstatieren: die historische Relativierung der Verfassung, welche diese nur aus den Zeitumständen ihres Entstehens begreift; das ausschließliche Verstehen der Verfassung als Zukunftsprojektion, als bloßer Auftrag zu einer noch nicht verwirklichten Ordnung; Verfassung als rein formales Normensystem, das keine Werterfahrung tradiert; die völlige Relativierung der Verfassungsnormativität unter Hinweis auf die abweichende Wirklichkeit; die Instrumentalisierung der Verfassung im politischen Tageskampf. Es gibt instrumentelles und dialogisches Sprechen. Ersteres ist technischer Art und dient der Herstellung und Reproduktion von Sachen. Dialogisches Sprechen ist sinnstiftend. Das Sprechen über die und unter der Verfassung muß auch dialogisch sein, wenn es immer wieder aufs neue unsere Verfaßtheit als freie Rechtsgemeinschaft repräsentieren soll. In dieser Hinsicht weist die politische Sprache unserer derzeitigen politischen Kultur gefährliche Defizite auf. Die Verfassung verliert an sinnstiftender Wirkkraft, wenn sie nicht auch als Ethos erfahren wird.

Geschichtlichkeit und Kontinuität sind nicht in der Weise unterscheidbar, daß man in einem Kapitel die Geschichtlichkeit, in einem anderen die Kontinuität als deren Gegenstück abhandeln könnte. Geschichtlichkeit meint nicht einfach Relativierung von Kontinuität im Sinne von Wechsel, Diskontinuität oder Sprunghaftigkeit. Wir haben es in unserem Zusammenhang mit Lebensprozessen zu tun. Und da bedeutet Kontinuität nicht Stillstand. Und Geschichtlichkeit verwirklicht sich nicht nur als Situationsorientierung. Bloße Orientierung an Situationen wäre im Gegenteil geschichtslos, weil ohne Bezug zu Vergangenheit und Zukunft. Anders gesagt: Geschichtliches Denken ist ein Denken in Kontinuität. Dabei sind zwei Aspekte von Kontinuität wichtig: Man kann sie einmal als Entwicklung mit innerer Folgerichtigkeit begreifen, bei welcher ein neuer Zustand aus dem früheren in der Weise hervorgeht, daß der letztere einen Sinn behält und nicht nur als ein zu überwindender gesehen wird. Zum anderen sprechen wir von Kontinuität da, wo sich die Identität eines Subjektes durch dessen Veränderungen durchhält.

In einem oberflächlichen Sinne könnte Kontinuität des Grundgesetzes gemessen werden an Zahl und Gewicht der Verfassungsänderungen. Dies scheint mir aber in unserem Zusammenhang nicht die bedrängende Frage zu sein. Die Frage nach Geschichtlichkeit und Kontinuität der Verfassung füllt sich mit Leben, mit Anruf oder Aufforderung, wenn sie sich auf das fragende Subjekt zurückwendet.

Das Subjekt ist aber nicht die Verfassung, das Subjekt sind wir. Dann zielt die Frage mitten in unser Denken und Sprechen von der Verfassung. Es geht um unser Verfassungsdenken, nicht um das Denken eines mehr oder weniger Unbeteiligten, für den diese Verfassung ein eher zufälliger, austauschbarer Forschungsgegenstand ist. Wie sprechen wir miteinander über die Verfassung? So gewendet, gibt die Antwort auch Auskunft über die „Verfassung", in der wir sind.

Im gemeinsamen Sprechen, im Dialog, erhält die Kategorie der Kontinuität eine Dimension, die über die Kategorie der Zeit hinausreicht. Man kann das soziale Kontinuität nennen. Mit ihr ist das Zeitkontinuum nicht ausgeblendet, weil wir stets als geschichtliche Wesen, also im Kontinuum der Zeit miteinander sprechen. Aber eben dies können wir auch vergessen und dann auf ungeschichtliche Weise miteinander reden. Dies ist aber gleichbedeutend mit Zerfall des Dialogs und transformiert das Miteinander in ein Nebeneinander. Vergeßlichkeit bewirkt Diskontinuität im Denken und zerstört den sozialen Zusammenhang. Voraussetzung für das Gelingen von Dialog ist eine Verständigung über seinen Sinn. Damit ist nicht Übereinstimmung in den Inhalten gemeint, sondern ein gemeinsamer Sinnhorizont, der es für die Beteiligten sinnvoll macht, miteinander zu sprechen. Für das Miteinander-Leben im Staat kann oder soll die Verfassung als Formulierung eines gemeinsamen Sinnhorizontes verstanden werden.

Was heißt, miteinander über die gemeinsame Verfassung sprechen? Was kann es heißen? Was sollte es heißen? Was sollte es nicht heißen? Die möglichen Antworten können hier nicht durchgespielt werden. Die folgenden Überlegungen dienen mehr der Begründung meiner Auffassung, daß diese Fragen wieder bewußter gestellt werden müssen.

Oberarbeitete Fassung eines Vortrages im Rahmen der Didaktischen Fachtagung der Bundeszentrale '^politischen Bildung „Verfassung und Geschichte der Bundesrepublik Deutschland im Unterricht"

om 28. Mai bis 1. Juni 1979 in Bonn.

Diskontinuität im Verfassungsdenken

In unserem Denken und Sprechen von Verfassung ist Diskontinuität in verschiedener Hinsicht zu beobachten:

Diskontinuität liegt vor, wenn die Verfassung ausschließlich aus den punktuellen Zeitumständen ihres Entstehens heraus erklärt, begriffen und damit relativiert wird. Ein solches Verfassungsverständnis betont den geschichtlichen Charakter der Verfassung auf eine stark reduzierende Weise, weil sie als Denken in der Gegenwart im extremen Falle nur auf Distanz zur Vergangenheit geht Eine umgekehrte Reduktion von Geschichtlichkeit ist gegeben, wenn die Verfassung fast ausschließlich als Zukunftsprojektion, als Auftrag und Aufforderung zu einer ganz anderen Gesellschaft, die nur in Zukunftsvisionen existiert, verstanden wird.

Zur sozialen Diskontinuität führt es aber auch, wenn die Verfassung in unserem Verstehen unter Ausblendung von Geschichtlichkeit zum abstrakten, starren und rein formalen Normensystem wird. Dabei wird übrigens ihr normativer Charakter nur dem Scheine nach verstärkt, weil solches Denken der Normen keine Werterfahrungen mehr tradiert. Ohne gemeinsame Werterfahrungen reduziert sich aber die Wirkkraft sozialer Normen auf die bloße Chance erfolgreicher Sanktionen.

Schließlich verlangt die Kontinuität in der normativen Dimension, daß die Normen ihren

Normcharakter unbeschadet aller Friktionen in den Anwendungsbereichen im Denken und Sprechen durchhalten. Ein verbreiteter, unreflektierter Empirismus verführt uns immer mehr dazu, die Gültigkeit von Normen an den Abweichungen zu messen. Natürlich gibt es so etwas wie die normative Kraft des Faktischen. Aber die faktische Kraft des Normativen war für die bisherige Geschichte des Menschen-geschlechtes nicht weniger konstitutiv und antreibend.

Was geschieht eigentlich, wenn das Verfassungssprechen zu einem Kürzel wie die „FDGO" gerinnt, das für die einen zum Gift-pfeil des Spottes, der gehässigen Ironie oder des Zynismus wird, für die anderen zur gebetsmühlenhaften heidnischen Zauberformel zum Zwecke der Vertreibung vermeintlicher oder tatsächlicher böser Geister? In beiden Weisen scheint mir die Verfassung weitgehend instrumentalisiert. Sie ist zum Mittel, zur Waffe im politischen Kampf geworden. Man schlägt sich die Verfassung gegenseitig um die Ohren. Damit hört sie auf, ein Befehl zu sein, dem man sich gemeinsam unterstellt. Aber was für einen Sinn hat eine Verfassung, wenn sie nicht mehr Gemeinschaft im Gehorsam stiftet gegenüber einem gemeinsam anerkannten Recht? Es geht dabei um unser Recht, nicht um das von einer Obrigkeit in eigener Machtvollkommenheit gesetzte.

Dialogische und instrumentelle Sprache

Es gibt dialogisches und instrumentelles Sprechen. Instrumentelles Sprechen ist technisch im weitesten Sinne des Wortes. Es dient der Herstellung oder Reproduktion von Sachen, dies ebenfalls im weitesten Sinne des Wortes. Auch das Austüfteln eines komplizierten Rentensystems oder der Entwurf eines Energie-programms ist in diesem Sinne eine Sache. Die Beispiele deuten die ständige und vielfältige Notwendigkeit von Sachen an; und sie verweisen darauf, daß die Sachen keineswegs bar jeder ethischen oder humanen Bedeutung sind. Aber über die Sachgerechtigkeit bei der Herstellung von Sachen entscheiden Qualifikationen, deren Träger austauschbar sind, nicht Personen.

Wo man in der Sprache der Funktion und Zahlen miteinander spricht, da gibt es keine Anrufe zwischen Personen. Im Arbeitsteam arbeitet und spricht man einander zu, meint aber die Funktionen — man bittet sich nicht, dankt sich nicht, verspricht sich nichts, tröstet sich nicht; man greift nicht einen anderen an, sondern streitet sich um der Sache willen; man ruft den anderen im Grunde nicht mit Namen, sondern bezeichnet ihn nur damit, um ihn zu unterscheiden. Wo solches oder ähnliches dennoch geschieht, stört es die Herstellung der Sache oder es passiert als notwendige Unterbrechung — damit es dann in der Sache weiter gehen kann. In diesem Falle ist dann etwas Personhaftes oder Personbehaftetes in die Produktion eingebrochen, das mit der Sachorientierung allein nicht mehr integrierbar scheint.

Natürlich ist die Wirklichkeit vermischt Die technische Kooperation kann in Dialog münden, wenn etwa am Ende einer sagt: „Es war gut, mit dir zusammenzuarbeiten, ich danke dir.“ Doch da hat man die Produktion bereits verlassen. Aber ein solches Ende kann zurückstrahlen; die Austauschbarkeit der Personen hat Grenzen, die bis zum Scheitern der Produktion führen können. Jeder von uns kennt Mitmenschen, mit denen er nicht oder nur unter Qualen unbeschadet der Qualifikationen zusammenarbeiten kann. Was ich hier idealtypisch auseinandergenommen habe, ist in Wahrheit verschränkt. Der Dialog, das Anrufen und Angerufenwerden beim Namen scheint ein Urbedürfnis zu sein, das sich bei der Herstellung von Sachen nicht völlig unterdrücken läßt.

Das dialogische Sprechen stiftet Sinn, der nicht einer Sache als einem Dritten entspringt. Das Dritte ist das Wort, der logos; der aber ist nicht als Ziel oder Zweck gemeint. Die Sprechenden meinen gegenseitig sich selbst; sie kommen zu sich selbst, indem sie den anderen anrufen, ihm ein Angebot zur Gemeinschaft machen. Dialog führt zum Wir, treibt aus der Isolation, ohne Ich und Du aufzulösen. Das Wir will nicht Aufzählung oder Zusammen-zählung bleiben, es verlangt alsbald nach Namen wie Freundschaft, Liebe, Familie, Gemeinde, Volk.

Sprechen wir von unserer Verfassung wie von einer Sache? Haben die Verfasser des Grundgesetzes nur eine Sache hergestellt? Reproduziert unser Verfassungsdenken eine Sache? Oder sprechen wir von unserer Verfaßtheit? Und wenn ja, wer ist dann das „Wir"? Wir sollten zwischen zwei Fragen unterscheiden lernen: Was für eine Verfassung haben wir, lautet die eine, in welcher Verfassung sind wir, die andere.

Dialogisches Sprechen begibt sich in ein soziales Kontinuum. Es will nicht nur gehört, sondern verstanden werden. Dialogisches Sprechen verlangt nach Antwort und läßt dem anderen die Möglichkeit, zu antworten. Solches Sprechen ist immer auch Frage: Was meinst du, was meint ihr dazu? Was uns in der Regel als politisches Sprechen entgegentritt, ist kein fragendes Sprechen. Es erwartet nicht Antwort, sondern will den Monolog der anderen provozieren. Es entspringt nicht dem Bedürfnis, sich mit der anderen Meinung auseinanderzusetzen, sie in das eigene Fragen zu integrieren oder gar gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Man will die anderen herauslocken, um dann sagen zu können: Seht ihr, wir wußten es ja, daß deren Meinung falsch oder gar bösartig ist.

Ich will damit auf den permanenten Sprach-zerfall in unserer Demokratie aufmerksam machen. Mit Blick auf unsere Verfassung sehe ich Diskontinuität eben darin, daß auch unser Sprechen über sie immer mehr aus der sozialen Kontinuität des Dialogs herausfällt und in die Pluralität der Monologe zerfällt. In dem Maße, in dem das geschieht, hört das Sprechen von der Verfassung, hört die Verfassung selbst auf, Frieden unter einem gemeinsamen Recht zu stiften.

Unser politisches Selbstverständnis

Auch der streitbare Dialog stiftet noch Frieden, solange der andere als Gesprächsgegner anerkannt wird, und das heißt, solange ihm der Anspruch auf Gehör und Antwort zugestanden wird. Dafür gibt es im Grunde nur Anlaß, wenn so etwas wie eine Gemeinsamkeit vor-Hegt. Aber welcher Art ist für uns diese Gemeinsamkeit, welcher Art kann sie sein? Die Präge muß erlaubt sein, ob wir nicht selbst da noch Opfer eines dumpfen und dummen, gedankenlos anmaßenden Mythos von der Volksgemeinschaftsind, wo wir glauben, diese durch völlige Abstinenz überwinden zu können. Wollen wir wirklich der Hitler-Bande noch länger den Triumph gönnen, alles mit sich in den Untergang gerissen zu haben? Den physischen Ruin haben wir dank eigener Kraft und fördernder Umstände sehr schnell über-21 wunden. Aus dem Verlust der staatlichen Einheit haben wir, wiederum durch eigene Einsicht und fördernde, nämlich hindernde Umstände, eine wichtige Erkenntnis gewonnen, die wir nun vielen Völkern voraus haben: daß die staatliche Einheit ein hoher Wert, aber nicht der Güter höchstes ist. Freiheit und Frieden stehen über ihr. Um es lapidar zu sagen: Die staatliche Einheit ist uns keinen Krieg wert Noch nicht, zumindest nicht in guter Weise genesen sind wir von der Erkrankung unseres politischen Selbstverständnisses als einer stets freisetzenden und zugleich verpflichtenden Rechtsgemeinschaft. In das Vakuum drang die Ideologie vom Klassenkampf, die bei den konsequentesten unter ihren Anhängern bis zur ausdrücklichen Aufkündigung der Rechtsgemeinschaft durch die Symbole von Brandschatzung und Mord führte. In das Vakuum trat die sogenannte Polarisierung, in der jede Gruppe sich für das Ganze oder zumindest für den alleinigen Sachwalter des Ganzen hält.

1 Martin und Sylvia Greiffenhagen haben ein Wort aus der Antrittsrede des Bundespräsidenten Gustav Heinemann zum Titel ihres jüngst erschienenen Buches zur politischen Kultur Deutschlands gemacht. Der damalige Bundespräsident sagte: „Es gibt schwierige Vaterländer. Eins davon ist Deutschland. Aber es ist unser Vaterland. Hier leben und arbeiten wir. Darum wollen wir unseren Beitrag für die eine Menschheit mit diesem und durch dieses Land leisten." An diesem Wort habe ich eigentlich nur eine einzige Kritik anzubringen. Es suggeriert leicht die Vorstellung, es gäbe Vaterländer, die überhaupt nicht schwierig sind. Den Komparativ ließe ich mir gefallen: Es mag schwierigere und weniger schwierigere Vaterländer geben. Wenn aber einer mit seinem Vaterland überhaupt keine Schwierigkeiten hat, dann ist ihm dieses Vaterland entweder völlig gleichgültig oder er lebt in blindem Patriotismus, was nichts anderes ist als verblendete Eigenliebe — auch und gerade dann, wenn er sich für dieses Vaterland opfert.

Es gibt für den Menschen auf dieser Welt keine Identifizierung, Zurechnung, Solidarität oder Loyalität ohne Leiden an ihr, es sei denn unter Ausschluß der Vernunft. Man kann es geradezu als Symptom für die Rationalität einer personalen Beziehung betrachten, daß man an dieser Beziehung auch leidet, weil man in ihr nicht blind und taub, sondern sehend und hörend lebt. Wenn der Aufruf des Bundespräsidenten Scheel zur kritischen Sympathie vom Wissen um diese fundamentale Struktur menschlicher Beziehungen aufgenommen wird, bleibt er nicht so oberflächlich, wie er vielleicht auf Anhieb klang. Sympathie meint im ursprünglichen Wortsinn das Mitleiden, nicht im Sinne situationsbedingter sentimentaler Anwandlung, sondern als sehende Treue.

Das führt zu einer wichtigen Diskontinuität in unserem Verhältnis zu unserer Verfassung. Es ist uns als Volk bis jetzt nicht gelungen, den geschichtlichen Ort dieses Grundgesetzes — genauer des Staates, für den das Grundgesetz steht — als Neubeginn in unserem Denken und Sprechen durchzuhalten. Neubeginn, das heißt auch erleidende Integration dessen, was vorher war. Die Bekenntnisse Augustins wären keine Bekenntnisse und würden keine Erkenntnisse im Gefolge haben, würden sie erst dort einsetzen, wo er die Stimme „Nimm und lies" vernimmt. Wer unsere Verfassung nimmt und liest, dabei aber nicht fähig oder nicht willens ist, dem, was voranging, Namen zu geben, der schleicht sich aus der zeitlichen und sozialen Kontinuität dieses Volkes heraus.

Arten von Rationalität

Meine Andeutungen mögen den Eindruck hervorrufen, es gehe mir beim Lernziel „Verfassung" um eine Revitalisierung der emotionalen Dimension gegenüber einer vermeintlichen oder tatsächlichen Überbetonung des Kognitiven. Ob dieser Eindruck zutreffend ist, hängt für mich nicht zuletzt von der Verständigung über den Begriff der Rationalität ab.

Was ich als Diskontinuitäten unseres Verfassungsdenkens skizzierte, steht für mich weniger im Spannungsfeld der Alternative kognitiv oder emotional, sondern mehr in der Spannung zwischen einem verengenden und einem anthropologisch ausholenden Rationalitätsverständnis. Verengte und damit verengende Rationalität — damit aber auch Reduktion der kognitiven Dimension — sehe ich vor allem in zwei Varianten:

Die eine ist die Zweck-Mittel-Rationalität. Sie instrumentalisiert ihre Gegenstände, ihre Inhalte, auf jeden Fall aber die Mittel. In gewisser Hinsicht instrumentalisiert sie auch ihre Ziele; diese hat man oder setzt sie. Die Inhalte liegen gewissermaßen außerhalb des Subjekts und werden ihm verfügbar. Es gibt aber Inhalte, die nicht, zumindest nicht ausschließlich oder primär Zielcharakter in diesem Sinne haben. Sie haben eher Repräsentationsfunktion, sind expressiv, sind so etwas wie Lebensäußerung, Lebensverwirklichung oder Selbstverständnis. In allgemeinster Weise tritt das Gemeinte beim Leben selbst in Erscheinung. Es gibt nicht viel Sinn, zu sagen, das Leben sei unser Ziel. Natürlich gibt es viele Ziele, die dazu dienen, uns das Leben zu erhalten. Aber viele unserer Handlungen sind nicht einfach als Mittel zum Ziel „Leben" zu verstehen, sondern schlicht als Ausdruck, als Vollzug des Lebens selbst. Sie repräsentieren uns als Lebendige — nicht als Subjekte, die Leben haben. Nun leben wir auch als Gemeinschaften. Gemeinschaften sind nicht nur Mittel zum Leben. Sie haben auch expressiven und damit repräsentativen Charakter. Sie repräsentieren, daß wir als solche oder als solche da sind oder da sein wollen. Die Frage , ist, ob uns Verfassung mehr oder auch anderes ist als ein bloßes Zweck-Mittel-System. Die Besitzanzeige löst das Subjekt in einem Zweck-Mittel-Schema auf, vergegenständlicht es. Wir haben nicht Gemeinschaft, wir sind Gemeinschaft. Wir haben nicht Leib, wir sind Leib. Wir haben nicht nur Sprache, wir sind als Sprechende. .

Die zweite Verengung geschieht, wenn Rationalität auf den analysierenden Verstand beschränkt wird. Verfassung wird dann, wie schon erwähnt, zum Gegenstand strenger empirischer oder primär empirisch orientierter Wissenschaftlichkeit. Ist es für die politische Bildung zureichend, wenn sie sich an dieser Wissenschaftlichkeit ausrichtet? Rationalität ist auch als Vernunft, als synthetische Funktion zu begreifen. Sie bedeutet Offenheit für Ganzheiten als kontrollierte Sensibilität für Inhalte, die sich strenger Wissenschaft zumindest insoweit entziehen, als ihre — wie immer verstandene — „Richtigkeit" nicht verifizierend oder gar falsifizierend erweisbar ist. Umfassende politische Rationalität versteht Verfassung auch als Ethos. Ich meine Ethos als Verortung, — als Ort vertrauten und gesicherten Umgangs, — als Ort verabredeter Lebensvollzüge, — als Gewährleistung sozialer Kontinuität, — als Heimat. Heimat als Notwendigkeit besagt vor allem auch, daß der Mensch auf Lebenskreise der Verabredung angewiesen ist. Verabredungen werden tradiert, aber auch immer wieder neu getroffen. Soziale Kontinuität bedeutet Verläßlichkeit. Will man die Inhalte des Denkens politisch verläßlich machen, gerät man in den autoritären oder gar totalitären Staat. Freiheitliche Ordnung muß Verläßlichkeit garantieren, nicht in dem, was alle denken, sondern in der Weise, wie sie sich ihr Denken mitteilen, unter die Leute bringen und durchsetzen. Staat bedeutet Regierung, damit Unterordnung. Es gibt viele Varianten der Konstruktion eines Staates, diese Grund-tatsache aber bleibt konstant. Wer dies in der politischen Bildung nicht mitteilt oder den Leuten suggeriert, politische Herrschaft könne abgeschafft werden, zielt auf ein falsches, weil wirklichkeitsblindes Bewußtsein. Wenn Staat nicht nur als Sanktionsgewalt erfahren werden soll, bedarf er einer Moral der Anerkennung und des Gehorsams. Man kann dies vertikale politische Moral nennen. Aber in der Demokratie ist die Vertikale eine Funktion der Horizontalen. Politische Moral in der Demokratie ist zunächst mitbürgerliche Moral. Weil wir eine politische Rechtsgemeinschaft sein wollen, brauchen wir Regierung, Institutionen, Ämter. Die Autorität der Regierenden ist eine von uns abgeleitete und verliehene Autorität, aber eben nicht trotzdem, sondern gerade dadurch Autorität. Merkwürdig genug, daß die politische Bildung ausgerechnet in der Demokratie dies nicht mehr mitteilen will. Man kann dies bis zu einem gewissen Grade als eine, aber ungute Antwort auf die verbreitete Gewohnheit der Politiker sehen, uns einerseits zu regieren, andererseits um uns zu werben — kaum aber über ihr Regieren mit uns zu sprechen. Diskontinuität im Verfassungsdenken und im Verfassungsleben ist auch da gegeben, wo vertikale und horizontale Moral zu weit auseinanderfallen.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Manfred Hättich, Dr. rer. pol., Professor für politische Wissenschaften an der Universität München; Direktor der Akademie für Politische Bildung in Tutzing. Veröffentlichungen u. a.: Begriff und Formen der Demokratie, 1966; Nationalbewußtsein und Staatsbewußtsein in der pluralistischen Gesellschaft, 1966; Demokratie als Herrschaftsordnung, 1967; Grundbegriffe der Politikwissenschaft, 1966; Lehrbuch der Politikwissenschaft, 3 Bde., 1967, 1969, 1972; Rationalität als Ziel politischer Bildung, 1977.