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Das schwierige Vaterland. Geschichte und Geschichtsbewußtsein als Problem der Deutschen | APuZ 45/1979 | bpb.de

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APuZ 45/1979 Artikel 1 Das schwierige Vaterland. Geschichte und Geschichtsbewußtsein als Problem der Deutschen Geschichtlichkeit und Kontinuität des Grundgesetzes Das Sprechen von der Verfassung Das Grundgesetz zwischen historischer Erfahrung und Zukunftserwartungen Didaktische Überlegungen zum Verhältnis von Politik und Geschichte

Das schwierige Vaterland. Geschichte und Geschichtsbewußtsein als Problem der Deutschen

Rudolf von Thadden

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Zusammenfassung

In den letzten Jahren ist viel darüber diskutiert worden, daß die Deutschen sich schwer mit ihrer Geschichte tun. Dabei ist wiederholt die These vertreten worden, daß dies vor allem mit der jüngsten deutschen Vergangenheit Zusammenhänge und speziell — so etwa Hell-mut Diwald — eine Folge des Jahres 1945 sei. Dagegen vertritt der Verfasser die Ansicht, daß das problematische Verhältnis der Deutschen zur Geschichte älteren Datums ist und nicht ohne die Überspanntheit des Historismus erklärt werden kann. Die auf das 19. Jahrhundert zurückgehende Neigung, Defizite an politischer Realität durch historische Ideen-gebilde zu kompensieren, hat dazu beigetragen, ein wirklichkeitsfremdes Geschichtsbewußtsein in Deutschland zu fördern. Dem „Verlust der Geschichte" nach 1945 ging also ein problematisches Verhältnis zur Geschichte voraus. Auf der anderen Seite weist der Verfasser eine Kontinuitätslinie der jüngeren deutschen Geschichte nach, die ihm für manche Verhaltensunsicherheiten der Deutschen bestimmend zu sein scheint: die eigentümliche Mischung von Traditionalität und Modernität im deutschen Denken. Bis in die Gegenwart hinein finden Kategorien der technisch-industriellen Modernisierung in Deutschland leichter Eingang als solche der politisch-sozialen Reform. Am Ende stehen vorrangig Wertmaßstäbe der Leistungssteigerung und der technischen Effektivität in beiden deutschen Teilstaaten — unabhängig von deren politischen Ordnungsvorstellungen. Entsprechend stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit die Frage, wie es mit der Identität der Deutschen steht

Bundespräsident Walter Scheel hat in seiner Eröffnungsrede zum Mannheimer Historikertag 1976 mit einem Ausdruck der Besorgnis geäußert, die Geschichte habe es schwer in unserem Lande. Und er hat nicht minder besorgt hinzugefügt: „Wir sind in Gefahr, ein geschichtsloses Land zu werden.“ Mit diesen Worten hat er eine Empfindung ausgesprochen, die weit über den Kreis der Fachhistoriker hinausreicht: die Empfindung nämlich, daß es mit der Geschichte bei uns nicht zum besten bestellt sei und daß dies Folgen für die Zukunft des Landes haben könne.

Freilich lassen die Formulierungen etwas im Unklaren, ob und wieweit dem Elend der Geschichte in Deutschland ein Elend des Geschichtsbewußtseins entspricht, oder genauer: wie sich die vermutete Problematik des historischen Bewußtseins zur angesprochenen Problematik der historischen Realität verhält. Daß Deutschland eine besonders schwierige Geschichte gehabt habe, ist eine Aussage, aus der nicht unbedingt die andere zu folgen braucht, daß auch das Geschichtsbewußtsein besonders gefährdet sei. Es gibt Länder mit wenig glückhafter Geschichte wie Polen, die von einem starken historischen Bewußtsein geprägt sind. Und es gibt Länder wie Schweden, deren Geschichte vergleichsweise geringen Belastungen ausgesetzt gewesen ist und in denen doch auch über einen Rückgang an historischem Bewußtsein geklagt wird. Von einer direkten Entsprechung zwischen dem Schwierigkeitsgrad der realen Geschichte und dem Krisenausmaß des historischen Bewußtseins kann also nicht die Rede sein.

Wohl aber ist die Frage zu stellen, warum in Deutschland die Geschichte in so eminentem Maße zum Problem geworden ist und warum die Deutschen sich mit ihr so schwer tun. Diese Frage ist um so nötiger zu stellen, als eine Reihe viel zu kurz gegriffener Antworten die Diskussion zu bestimmen versuchen, allen voran die These, daß die unglückliche jüngste Vergangenheit der Deutschen ihnen die Gewinnung eines unbefangenen Verhältnisses zur Geschichte kaum möglich gemacht habe. Das Fiasko des Deutschen Reiches 1945 und die schließliche Teilung Restdeutschlands in der Folge hätten das Geschichtsbewußtsein der Deutschen so nachhaltig gestört, daß diese in Gefahr geraten seien, nicht nur ihre nationale Identität, sondern auch ihre Geschichte insgesamt zu verlieren

Freilich läßt es sich nicht ganz von der Hand weisen, daß die jüngste Vergangenheit es den Deutschen nicht gerade leicht gemacht hat, der Geschichte unbefangen gegenüberzutreten. Zahlreiche Unsicherheiten, etwa in der Behandlung nationaler Feiertage oder in der Gewichtung des Geschichtsunterrichts in der Schule, machen deutlich, wie aufgewühlt der Boden ist, auf dem wir uns bewegen. Besonders anschaulich werden solche Unsicherheiten im Umgang mit deutschen Ortsbezeichnungen in den alten Ostgebieten; hier lassen sich zwei Verhaltensweisen beobachten, die gleichermaßen von Befangenheit zeugen. Entweder wird — beispielsweise — Wroclaw oder Gdansk gesagt und damit zum Ausdruck gebracht, daß diese Orte als zu Polen gehörig betrachtet werden. Oder es wird von Breslau oder Danzig gesprochen und damit angedeutet, daß es letzten Endes doch deutsche Städte seien, bei denen man einen Anspruch zu wahren habe. Was fehlt, ist die einfache, jedem Ausländer geläufige Haltung, die Benennungen in der eigenen Sprache zu benutzen er-2 überarbeitete Fassung eines Vortrages, gehalten sufder gemeinsamen Konferenz der Landeszentra-a em n un^ der Bundeszentrale für politische Bildung 14. Juni 1979 in Hannover. laubt, ohne daraus aktuelle Besitzansprüche abzuleiten. Ein Franzose würde sich wundern, wenn ein Deutscher in seiner Sprache von „Strasbourg" im Elsaß spräche und nicht selbstverständlich „Straßburg" sagen würde, von der Adjektivform etwa in „Straßburger Münster" ganz zu schweigen

Aber diese Verhaltensunsicherheiten der Deutschen sind sicher nicht nur eine Folge ihrer unglücklich verlaufenen jüngsten Geschichte. Bei ihnen ist mehr im Spiel als eine schwer auflösbare Verkrampfung in der viel erörterten Bewältigung der nationalen Vergangenheit. Um dies zu verdeutlichen, genügt es, an die Unausgewogenheiten des älteren deutschen Geschichtsbewußtseins zu erinnern, an jene Überdehnungen und Zwiespältigkeiten etwa gegenüber der Frage, welche Bedeutung der geschichtlichen Bildung als identitätsstiftender Potenz bei der Ausbildung des Nationalstaats zukomme. Angesichts der Integrationsschwierigkeiten des neuen Reiches der Deutschen schien es sinnvoll zu sein, die Geschichte nicht nur als Bildungs-, sondern auch als Ordnungsmacht zu bemühen — mit dem Ergebnis, daß sie vielfältig überfordert wurde. Wo die Integration auseinander-strebender Kräfte nicht gelingen wollte, wurden politische Positionen ungebührlich historisch überhöht und mit geschichtlichen Ansprüchen überlagert, die zur konkreten Realität in keinem vernünftigen Verhältnis standen. Alle Lebensbereiche gerieten in den Bann historisierender Betrachtungen oder Ableitungen, so daß eine Geisteshaltung wie der Historismus weit über den Bereich der Fachwissenschaft hinaus Einfluß gewann Besonders sinnfällig wurde diese Neigung zur Überhöhung aktueller Politik durch Geschichte im Begriff des Reiches selbst. Was entsprechend der Intention des Reichsgründers Otto von Bismarck zumindest dem Ansatz nach als Stärkung der preußischen Staatsmacht gedacht war, wurde vielfach als Verlängerung mittelalterlicher Reichsherrlichkeil drapiert; die neue politische Ordnung in Mitteleuropa trat nicht als gewöhnlicher Staat, sondern als anspruchsvolles Reich in Erscheinung. In zahlreichen Denkmälern und Selbst-darstellungen wurde dieser Eindruck bestärkt:

Historische Restaurationen wie die Goslarer Kaiserpfalz machten deutlich, daß geschichtliche Überhöhungen gewollt wurden, um der neuen politischen Realität eine besondere Weihe zu geben

Sehr plastische Beispiele für solche Überhöhungen sind Reden Wilhelms II. So konstruierte der Kaiser aus Anlaß des bevorstehenden 100. Geburtstages seines Großvaters, des Kaisers Wilhelms L, bei einem Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtages einen romantischen Bezug zum mittelalterlichen Kaisertum Barbarossas: „Da wird der Blick eines jeden von Ihnen zurückschweifen in die Vergangenheit. Denken wir zurück in der Geschichte: Was ist das alte Deutsche Reich gewesen! Wie haben so oft einzelne Teile desselben gestrebt und gearbeitet, zusammenzukommen zu einem einigen Ganzen, um teils für das große Ganze ersprießlich zu wirken, teils um den Schutz des gesamten Staates gegen äußere Eingriffe zu ermöglichen. Es ist nicht gegangen: das alte Deutsche Reich wurde verfolgt von außen, von seinen Nachbarn, und von innen, durch seine Parteien. — Der einzige, dem es gelang, gewissermaßen das Land einmal zusammenzufassen, das war der Kaiser Friedrich Barbarossa. Ihm dankt das deutsche Volk noch heute dafür. Seit der Zeit verfiel unser Vaterland, und es schien, als ob niemals der Mann kommen sollte, der imstande wäre, dasselbe wieder zusammenzufügen. Die Vorsehung schuf sich dieses Instrument und suchte sich aus den Herrn, den wir als den ersten großen Kaiser des neuen Deutschen Reiches begrüßen konnten." Kritische Kommentare von Zeitgenossen blieben nicht aus. So schrieb Paul Liman in seiner Schrift „Der Kaiser" im Rückblick auf die Kaiserrede mit deutlicher Distanz: „Wieder strömt hier in reichen Bildern die Auffassung der Romantik hervor... Neben dem Weißbart erhebt sich die Gestalt des Helden vom Kyffhäuser, des einzigen, dem es gelungen sei, . gewissermaßen das Land einmal zusammenzuraffen'. Aber wie hier der Hohenstaufe, der in weltentlegener Ferne starb, nachdem ihm trotz endloser Kämpfe sein Lebenswerk mißglückt war, statt der nüchtern-klaren und herrschgewaltigen Sachsenkönige als der Einiger des Reiches genannt wird, so entwickelt Kaiser Wilhelm auch den Charakter und das Streben des ersten Hohenzollernkaisers nicht nach den ruhigen Feststellungen der Geschichte, nicht aus den kühlen Daten der Tatsachen, sondern aus der poetischen Anschauung des Romantikers heraus, und statt der historischen Gestalt führt er uns mit dichterischer Schaffenskraft den phantastischen Kaiser der Legende vor."

Problematische Bemühungen der Geschichte waren freilich nicht auf Deutschland beschränkt. Auch in anderen Ländern Europas trieben Historisierungsideologien ihre Blüten und täuschten konstruierte Kontinuitäten über Mängel der realen politischen Identität hinweg. Aber in den alten gefestigten Nationalstaaten Westeuropas konnten sie keine vergleichbaren Schäden anrichten, weil genügend Gegengewichte vorhanden waren. So hatte etwa auch Frankreich seine anfechtbaren Jeanne d'Arc-Traditionen, und England ließ es sich nicht weniger nehmen, aktuelle Machtansprüche in historischem Gewände zu präsentieren, wie das Beispiel der Empire-Romantik zeigt. Aber diese Staaten waren fest genug gegründet, um sich von Pseudolegitimationen nicht blenden und in ihrer Staatsräson nicht beirren zu lassen.

Die Erhaltung einer unverbildeten Staatsräson sollte jedoch zum Hauptproblem des neuen Deutschen Reiches werden. National-staatlich begründet und doch ohne Erfüllung in nationalstaatlichen Zielvorstellungen, litt das neue Reich von vornherein an einem Un-genügen, das allen wirtschaftlichen und politischen Erfolgen zum Trotz nie ganz behoben werden konnte. Konkret ging es nicht zuletzt um die Frage, wie weit das Reich in den Entscheidungen der großen Politik seine fundamentalen Interessen als mitteleuropäische Landmacht im Auge behielt oder sich von diesen ablenken ließ und luftigeren Zielen wie denen einer alldeutschen Annexionspolitik oder seemachtberauschten Weltpolitik nachzujagen verleitet war.

Diese Gefahr der Ablenkung von den realen Staatsinteressen ist besonders sichtbar geworden in der Politik des Reichskanzlers von Bülow. Mehr von hochfliegenden Ideen als von nüchternem Realitätssinn bestimmt, ließ sie Deutschland auf einen Weg geraten, der politische Unsicherheiten schuf und gerade deswegen zu einem wachsenden Verlangen nach Kompensation durch andere, vermeintliche Sicherheiten führte. Auch hier bot sich die Geschichte wiederum als dankbare Hilfskonstruktion an, die vorhandene Vakuen an Einsicht in die Staatsräson mit besser, nämlich „geschichtlich" begründeten Zielvorstellungen zu füllen vorgab und mehr und mehr ersatzpolitische Funktionen ausübte.

Kaum jemand war sich dieser Problematik des politischen Wirklichkeitsverlustes und seiner Folgen mehr bewußt als der Reichskanzler von Bülow selbst. In seinem während des Ersten Weltkrieges geschriebenen Buch „Deutsche Politik" erörterte er die Hintergründe der von ihm betriebenen „Weltpolitik" des Reiches und führte dabei für die Flottenpolitik folgende Motive an: „Die öffentliche Meinung ließ sich nur in Bewegung bringen, wenn gegenüber der im ersten Jahrzehnt nach dem Rücktritt des Fürsten Bismarck in Deutschland herrschenden unsicheren und mutlosen Stimmung das nationale Motiv mit Entschiedenheit betont und das nationale Bewußtsein wachgerufen wurde. Der Druck, der seit dem Bruch zwischen dem Träger der Kaiserkrone und dem gewaltigen Manne, der diese Krone aus der Tiefe des Kyffhäusers hervorgeholt hatte, auf dem deutschen Gemüt lastete, konnte nur überwunden werden, wenn dem deutschen Volk, dem es gerade damals an einheitlichen Hoffnungen und Forderungen fehlte, von seinem Kaiser ein neues Ziel gesteckt und ihm der Platz an der Sonne gezeigt wurde, auf den es ein Recht hatte und dem es zustreben mußte."

Bülows Sätze machen deutlich, daß Deutschlands Ausgriff in die „Weltpolitik" nicht weniger als der Rückgriff auf historische Legitimationsbilder auch der Empfindung eines Ungenügens entsprang. Obwohl der ehemalige Reichskanzler nicht müde wurde zu betonen, daß das Reich seine Ausgangsbasis im preußischen Staat nicht aus dem Blick verloren habe, mußte er einräumen, daß Unsicherheiten im politischen Selbstbewußtsein der Deutschen bestimmte Kompensationen nötig machten. Die Frage war nur, ob diese sich so weit verselbständigen würden, daß sie eines Tages — wie die deutsche Schlachtflotte — funktionslos umhertrieben oder von der Erkenntnis der realen Aufgaben ablenkten.

Der Kern der Problematik des zunehmend wirklichkeitsfremden Staats-und Geschichtsbewußtseins der Deutschen, jedenfalls der tonangebenden Schichten, vor 1914 lag in der Ungeklärtheit der Frage, mit welchem Ziel eigentlich das neue mächtige Reich existierte, mit welcher inneren Raison es seinen Bestand vor der übrigen Welt rechtfertigen konnte. Das bloße Faktum eines starken deutschen Nationalstaats im Herzen Europas konnte ja nicht ausreichen, um auch Nichtdeutsche von seiner Nützlichkeit zu überzeugen. Das Zusammenleben von Menschen deutscher Zunge und deutscher Kultur konnte allein nicht genügen, um das übrige Europa an dem neuentstandenen Machtgebilde Gefallen finden zu lassen. Auch wenn der Reichsgründer Bismarck immer wieder betont hatte, daß das neue Reich saturiert sei und zum Frieden in der Mitte Europas beitrage, so war doch nicht sicher, ob das auch immer so bleiben würde. Vor allem stellte sich die Frage, was Deutschland mit seiner neu gewonnenen Macht anfangen würde, wenn sich die Weltverhältnisse einmal wandeln und Möglichkeiten der Expansion bieten sollten. Im Sinne solcher Befürchtungen schrieb der damals bekannte deutsche Publizist Paul Rohrbach in einer wenige Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges verfaßten Schrift mit dem bezeichnenden Titel „Der deutsche Gedanke in der Welt" die bedenklichen Sätze: „Sedan und die Kaiser-proklamation von Versailles waren zwei große Momente in der deutschen Geschichte, aber ihr höchster Wert für uns besteht doch nicht darin, daß sie die Einheit und das Reich geschaffen, sondern darin, daß sie uns infolge der Einigung gerade noch rechtzeitig den Zugang zum Wettbewerb der Weltvölker um die Gestaltung des Weltschicksals eröffnet haben! Wenn wir das nicht einsehen, so werden wir bald genug auf sie zurückblicken können wie auf die Schlacht von Poitiers oder auf die Siege der Staufer in Italien.“

Diese Sätze von Paul Rohrbach zeigen mehr Probleme auf, als den Zeitgenossen vermutlich bewußt waren. Zunächst einmal machen sie deutlich, daß vielen Deutschen vor 1914 das Reich nur Mittel zum Zweck war, keine sich selbst genügende Staatsordnung, sondern ein Sprungbrett zu weitreichenden Ambitionen. Sodann aber lassen sie erkennen, daß diese Ambitionen primär machtpolitischer Natur waren und einer ethischen Motivation entbehrten. Deutsch sein bedeutete hier, es den Engländern und Franzosen gleichzutun und Einfluß in der Welt zu gewinnen. Kein Wort über die geistigen und moralischen Grundlagen dieses Einflusses, kein Wort auch über einen für andere Völker annehmbaren Sinn der erstrebten deutschen Machtausweitung. Deutsche Macht war selbstredend besser als andere. Das Dilemma solcher Machtpolitik ohne tragenden Gedanken hat — mit etwas anderer Akzentsetzung — auch der bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges verantwortliche deutsche Reichskanzler gesehen. In seinen „Betrachtungen zum Weltkriege" schreibt Theodor von Bethmann Hollweg im Rückblick auf das Jahr 1914: „Der brutalen Tatsache muß die deutsche Politik ins Gesicht sehen, daß kein großer Menschheitsgedanke die Politik der Kabinette bestimmte, daß vielmehr die Staatskunst nichts anderes vermochte oder nichts anderes wollte, als die Verwirklichung ihrer Aspiratio-nen von dem Glück der Waffen abhängig zu machen.

Kein großer Menschheitsgedanke in der Politik— das ist das Fazit des letzten noch in Friedenszeiten amtierenden Kanzlers des Deutschen Kaiserreichs, die Bilanz eines Mannes, der wie wenige deutsche Staatsmänner über den Sinn von Politik nachdachte und unter ihrer Bürde litt Nach Bethmann Hollweg war Europa in die Sackgasse geraten, weil kein übergreifender Gedanke die Politik bestimmte, weil das Vorwalten wirtschaftlicher Interessen und machtpolitischer Ambitionen keine lohnenden staatsbürgerlichen Perspektiven aufkommen ließ. Vor allem das Deutsche Reich, das im 19. Jahrhundert Zielpunkt hoch-fliegender Ideale gewesen war, kannte schließlich nur noch platte Realpolitik, von der keine Impulse mehr für eine geistige und moralische Orientierung der Menschen ausgingen.

Es hat an Versuchen nicht gefehlt, diesen Substanzverlust des Reiches — lange vor seiner Zerstörung durch Hitlers Größenwahn — zu erklären. Von Verpreußung Deutschlands bis hin zu Entfremdung Deutschlands gegenüber der Demokratie reichen die Vorwürfe, die dem Bismarck-Reich von seinen Kritikern gemacht wurden und werden. Im Rahmen dieser Erklärungsversuche, die alle einen Teilaspekt zu erhellen vermögen, will einer besonders einleuchten, der von einer sehr einfachen Beobachtung ausgeht. Es handelt sich um die Beobachtung, daß Deutschland im Kaiserreich von einer eigentümlichen Mischung von Traditionsbindung und Modernität geprägt gewesen ist, von einer Mischung, die dem Reich geradezu ein Doppelgesicht gegeben hat.

Auf der einen Seite war Deutschland in atemberaubendem Tempo zu einem hochentwikkelten, modernen Industriestaat auf hohem technischen Niveau geworden, zu einer Vormacht wissenschaftlich-technischen Leistungsvermögens;

auf der anderen Seite blieb es verblüffend stark veralteten sozialen Ordnungsvorstellungen verhaftet und schaffte es nicht, sich von seinen vorindustriellen gesellschaftlichen Eierschalen zu befreien. Obwohl längst über den Entwicklungsstand der älteren Industrieländer England und Frankreich hinausgewachsen, hielt es doch weit mehr als diese an alten Sozial-und Wertvorstellungen fest, die aus der agrarisch geprägten Welt stammten. Ein Industrieller oder Wissenschaftler galt viel im Kaiserreich, zu höchstem Ansehen aber war er erst gelangt, wenn seinen Namen ein Adelsprädikat schmückte oder der Titel eines Geheimrates zierte. Von besonderer Anziehungskraft war die Position eines Reserveoffiziers. Es gab Todesanzeigen von hochverdienten Professoren aus der Kaiserzeit, die ihre Stellung als Leutnant der Reserve noch vor ihrer Mitgliedschaft in hohen Akademien der Wissenschaften angaben.

Positionen in der parlamentarisch-demokratischen Welt galten daneben nicht viel. Mitglied des Reichstags zu sein, bedeutete weit weniger als eine Charge am Hof zu haben, und Stadtverordnete nahmen sich eher bescheiden neben Offizieren der Garnison aus. Die ganze Welt der Vertretungskörperschaften verblaßte neben dem Glanz ererbter Würden aus dem Ancien Rgime. Dies alles zeugte von tieferen inneren Unstimmigkeiten in der Struktur des Deutschen Reiches. Für sich genommen war jedes einzelne dieser Phänomene zwar noch kein Indiz für eine Krise, in der Summe wirkten sie sich jedoch bedenklich aus, weil Anspruch und Wirklichkeit immer weiter auseinandertraten. Auf der einen Seite scheute Deutschland keine Anstrengung, um sich zu einer modernen technischen und militärischen Großmacht zu entwickeln; auf der anderen Seite aber unternahm es nichts, um entsprechende Verantwortungsstrukturen zu entwickeln und Verhaltensweisen einzuüben, die zu der neu gewonnenen Macht paßten. Wenn beispielsweise der Reichskanzler im Reichstag in Uniform auftrat, so wirkte er martialischer, als er vielleicht war und sein wollte. Aber das Reich hatte noch keine zivilen Repräsentationsformen gefunden, die dem Anspruch auf Geltung seiner Würdenträger entsprachen

Dies führte im Ausland wie im Inland fast zwangsläufig zu Verhaltensunsicherheiten. Im Ausland wußte man häufig nicht, woran man mit den deutschen Politikern eigentlich war, ob man es mit Schafen im Wolfspelz oder mit Wölfen im Schafspelz zu tun hatte. Im Inland dagegen mehrte sich die Zahl derjenigen, die zwischen extremen Positionen schwankten und im politischen Verhalten zunehmend unsicher reagierten. Die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ging schließlich bisweilen so weit, daß Anzeichen einer ausgesprochenen Identitätskrise auftraten. Man wollte modern sein — und doch auch wieder nur partiell. Man wollte aber auch Tradition haben, wenngleich keine, die zuviel forderte. Den alten Nationalstaaten im Westen Europas gegenüber trat Deutschland vorzugsweise in der Pose des jungen, zukunftsträchtigen Neureichen auf. Den Repräsentanten neuer Welten und Schichten gegenüber gab es sich hingegen als Verkörperung alter Reichstraditionen, als Anwalt des Wertvollen und Beständigen.

In einzelnen Fällen konnte diese Zwiespältigkeit geradezu bizarre Züge annehmen. Am sichtbarsten manifestierten sie sich im Verhalten des Kaisers, der den Chinesen und Japanern gegenüber als Vorkämpfer des alten Europa auftrat (und damit diese alten Kulturvölker demütigte), den alten europäischen Nationen gegenüber jedoch ein naßforsches, modernistisches Gehabe an den Tag legte, das diese Nationen aufs äußerste aufreizte. Es ließen sich mühelos zahlreiche Sprüche und Randbemerkungen Wilhelms II. anführen, die alle das Urteil bekräftigen, daß dem Deutschen Reich ein tiefer innerer Zwiespalt innewohnte, ein Zwiespalt, der aus einer klaffenden Diskrepanz zwischen technisch-wirtschaftlichem Modernismus einerseits und gesellschaftlich-politischem Traditionalismus andererseits resultierte. Mit allem Respekt vor der Person des Kaisers gab dem sogar ein so behutsam abwägender Historiker wie Hermann Oncken in einer Rede von 1913 Ausdruck: „Wir haben eine nach neuen Werten suchende und eine die traditionellen Werte pflegende Kultur, eine zur höchsten individuellen Verfeinerung gesteigerte ästhetische Kultur und eine technisch verwegene und von außerordentlichen Erfolgen strotzende Kultur der Mechanisierung des Lebens: von wo sollten wir den absoluten kulturellen Maßstab entnehmen, um der Persönlichkeit des Kaisers gerecht zu werden?

Aber auch unabhängig von der Person des Kaisers stellt sich die Frage, wie Deutschland in dieser Verfassung innerer Zwiespältigkeit die große Belastungsprobe des Ersten Weltkrieges aushalten konnte. Es ist und bleibt doch eine erstaunliche Tatsache, daß ein so junges, innerlich wenig gefestigtes Reich über vier Jahre hinweg einen Mehrfrontenkrieg durchgestanden hat — einen Mehrfrontenkrieg, der sich gegen Staaten mit teilweise ganz verschieden geprägten Verfassungen und Sozialstrukturen richtete. Da war auf der einen Seite das republikanische Frankreich mit seinen parlamentarisch-demokratischen Traditionen und bürgerlichen Lebensformen, Daneben stand das konstitutionell-monarchische England, dessen Parlamentarismus das Ergebnis einer Verbindung von aristokratischem Eigenständigkeitsstreben und städtisch-bürgerlichem Aufstiegswillen darstellte. Auf der anderen Seite kämpfte ein autokratisch-zaristisches Rußland, das wirtschaftlich und sozial völlig rückständig war und keinerlei Traditionen des europäischen Bürgertums kannte. Hinzu trat schließlich die von alten europäischen Sozialstrukturen völlig unbelastete neue Macht Amerika, für die Begriffe wie Freiheit, Demokratie und Fortschritt frei von europäischen Klassenkampfvorstellungen waren.

Wie hat sich Deutschland in dieser verwirrend vielfältigen Frontstellung verhalten? Für welche Werte hat es gekämpft? Gegen welche Leitbilder und Ordnungsvorstellungen ist es zu Felde gezogen? Es ist die Tragödie des deutschen Volkes im Ersten Weltkrieg gewesen, daß es keine eindeutigen Antworten auf diese Fragen hatte. Den Sozialdemokraten wurde gesagt, daß sie Deutschland gegen die Armeen des reaktionären Zarismus verteidigten, den Konservativen wurde suggeriert, daß sie gegen die nivellierende Macht der westlichen Demokratien kämpften, und die Liberd-* len wurden in dem Glauben bestärkt, daß es vor allem gegen die Bedrohung deutscher Handelsfreiheiten anzugehen gelte. Zusammengehalten wurden alle Frontstellungen durch die einigende Kraft eines mitreißenden Nationalismus, der nicht viel nach Inhalten fragte und sein Genügen in sich selbst hatte. Wenn alle Stricke rissen und die Argumentationen nichts mehr fruchteten, blieb immer noch der altbewährte Satz: Deutsch sein heißt eine Sache um ihrer selbst willen tun!

Letzten Endes ist es also vor allem Selbstbehauptungswille gewesen, was Deutschland im Kriege so viele Jahre hat durchhalten lassen. Die zahlreichen inneren Widersprüche und Zwiespältigkeiten konnten nur dadurch in ihren Auswirkungen aufgefangen werden, daß man von einer inhaltlichen Präzisierung nationaler Leitvorstellungen absah und übergreifende ethische Zielsetzungen zurückstellte. Um so stärker wurde der Rückschlag nach der Niederlage. Jetzt brachen nicht nur die inneren Gegensätze und unausgetragenen Streitigkeiten mit neuer, ungeahnter Wucht auf, jetzt stellte sich auch die Frage mit Radikalität, was denn eigentlich Ziel und Ende eines deutschen Geschichts-und Nationalbewußtseins sein könne und müsse. Die ganze Epoche der Weimarer Republik war erfüllt von leidenschaftlichen Auseinandersetzungen über die Perspektiven einer nationalen Existenz der Deutschen — Perspektiven, die zugleich die Vorstellungen von sozialer und politischer Ordnung reflektierten. Zwar blieb die Einheit des Reichs erhalten, aber die Zerreißproben gingen zeitweilig doch bis an die Grenze des Erträglichen. Kaum ein anderer Staat Europas ist in den zwanziger und dreißiger Jahren so stark von Kämpfen um Grundpositionen staatlicher und gesellschaftlicher Existenz erschüttert worden wie der deutsche.

An diesen Auseinandersetzungen waren selbstverständlich auch zahlreiche Historiker beteiligt. Ein Blick in die Reden aus Anlaß der nationalen Gedenktage damals zeigt, wie häufig sie ihre Stimme erhoben Von wenigen liberalen oder „vernunftrepublikanischen"

Köpfen abgesehen, standen sie dem neuen demokratischen Staatswesen jedoch überwiegend mit Distanz oder Ablehnung gegenüber, einige sogar mit offener Feindschaft Dabei war das Bedenkliche, daß sie nicht nur die Mühsal der Weimarer Republik mit einem idealisierten Bild des Bismarck-Reichs konfrontierten, sondern daß sie im Namen einer vermeintlich heilen Welt der Vergangenheit die schwierige Welt der Gegenwart angriffen. Die zur Vergangenheit reduzierte Geschichte wurde geradezu eine Fluchtburg zur Abwehr der Gegenwart.

In diesem Sinne schwärmte der Bismarck-Biograph Erich Marcks in einer Rede zur Fünfzigjahrfeier der Reichsgründung in der Aula der Universität München von vergangener Größe: „Der Historiker strebt jede Vergangenheit in ihrer eigenen Lebendigkeit, in ihrer eigenen Berechtigung zu erfassen. Und diese Vergangenheit ist und bleibt mir mehr [als die Gegenwart, d. Verf. j. Sie lag ehedem in heller Sonne und ist uns jetzt von dichten Wolken umzogen: aber die Alpen bleiben Alpen... Und mehr noch: die Vergangenheit ist unser einziger sicherer Besitz. Wir wollen und werden sie uns nicht rauben lassen. Wir schöpfen aus diesem Besitztum Kraft und Trost, Stolz und Liebe und Hoffnung; wir haben in ihm, was unserem Tage fehlt, die Größe."

Hier wird die problematische Rolle dieses Geschichtsverständnisses deutlich, das durch Idealisierung einer bestimmten Vergangenheit blind für die Bedingungen und Möglichkeiten einer anders geprägten Gegenwart wurde. Nicht nur, daß hier eine Verzeichnung geschichtlicher Wirklichkeit erfolgte; die zitierten Sätze zeigen an, daß die Gegenwart durch die Geschichte verfehlt werden kann. Wo die Geschichte nichts anderes ist als eine Versteinerungsform einmal bejahter Herr-Schaftsverhältnisse und Sozialzustände, wird sie zum Gegenteil dessen, was sie — kritisch verstanden — sein kann: einer Orientierungshilfe für die Gegenwart.

Das Ergebnis der Gegenwartsverfehlung in den zwanziger Jahren ist bekannt. Weil die Chance der Weimarer Republik weder begriffen noch ergriffen wurde, konnte das NS-Regime die Macht erlangen. Hitler hatte Erfolg — nicht weil es in Deutschland zu wenig Geschichtsbewußtsein gegeben hätte, sondern weil ein fragwürdiges und höchst anfechtbares Verständnis von Geschichte dominierte und irreführende Geschichtsbilder das Denken der Zeitgenossen bestimmten Hätten die Historischen Seminare der deutschen Universitäten auch nur annähernd so viele Anhänger des Staatswesens der Weimarer Republik gehabt wie die deutschen Parlamente der Zeit, so wäre es den Gegnern dieses Staates wahrscheinlich nicht so leicht gelungen, dessen geistige Grundfesten zu erschüttern.

Aber Hitler siegte nicht nur allgemein wegen eines herrschenden problematischen Geschichtsbewußtseins in Deutschland. Er siegte auch insbesondere, weil er Gegensätzliches scheinbar zu verbinden verstand und den Hoffnungen zahlloser Deutscher auf eine Synthese von Modernität und Traditionalismus entsprach. Wie der Begriff des Nationalsozialismus besagt, versuchte Hitler den Eindruck zu erwecken, daß er nationalistische und sozialistische Elemente verbinden, daß er die anscheinend unüberbrückbaren Gegensätze überbrücken könne 15a). Hitler war kein simpler Deutschnationaler, der vergangenen Zeiten nachtrauerte und alte Welten zu restaurieren trachtete. Er wollte auf seine Weise modern sein, sich der neuesten Techniken bedienen und das deutsche Volk auf die höchsten Stufen wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Leistungskraft führen. Die technische Qualität der nationalsozialistischen Propaganda, die Fähigkeit der nationalsozialistischen Führer, mit den Mitteln des Rundfunks, des Films und der Presse umzugehen, und nicht zuletzt die Raffinesse der politischen Massenführung zeigen, daß Hitler und seine Leute nicht einfach von gestern waren. Im Gegenteil: In bestimmten Bereichen waren sie in beängstigender Weise modern, auf Neuerungen versessen, skrupellos gegenüber dem überkommenen.

Revolutionäres Aufbegehren war ihnen im 'Zweifelsfall willkommener als geduldige Evolution oder auch reformerische Initiative, auch wenn der Anspruch der Nationalsozialisten, eine Revolution der deutschen Geschichte bewirkt 'zu haben, vor der Geschichte nicht standhalten kann.

Im Grunde kann man sagen, daß das nationalsozialistische Deutschland, das sogenannte Dritte Reich, weder von konservativen noch von progressiven Leitvorstellungen geprägt war, sondern ein eigentümliches, ja gefährliches Konglomerat von Modernismus und Traditionalismus darstellte. Ähnlich wie in der Zeit vor 1914 war das Reich in seiner gesellschaftlichen und politischen Struktur rückständiger als in seiner wirtschaftlichen und technischen Kapazität. Aber im Unterschied zu damals wurde es jetzt von einem machtpolitischen Fanatiker regiert, der keine Hemmungen in der Anwendung aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel kannte. Hatten die unzureichenden Verantwortungsstrukturen im Kaiserreich nur zur Folge, daß Wirtschaft und Militärtechnik sich verselbständigten und zunehmend der politischen Kontrolle entglitten, so ermöglichten sie jetzt eine Situation, die noch im Rückblick Angst einzuflößen vermag:

ein jeglicher Einbindung bares Potential an technischer, wirtschaftlicher und militärischer Macht in den Händen eines hemmungslosen Machtpolitikers, der weder durch alte konservative Ordnungsvorstellungen noch durch neue demokratische Loyalitäten in Pflicht zu nehmen war Das Ende erwies sich als entsprechend katastrophal. Zerstört waren nicht nur das Reich und die mit ihm gegebene Staatlichkeit, erschüttert waren auch die geistigen und politischen Fundamente, auf denen der deutsche Nationalstaat seit 1871 aufgeruht hatte. Hitler hatte nicht'nur den nationalsozialistischen Spuk mit ins Grab genommen, er hatte auch das Erbe Bismarcks, die eigenständige politische Ordnung Mitteleuropas zwischen Ost und West, in Grund und Boden gerichtet. Potenz und Einfluß besaßen jetzt nur noch die Kräfte, die in Opposition zum Reich gestanden hatten: die Benachteiligten und Bedrängten unter der preußisch-deutschen Machtentfaltung. Das waren zum einen die progressiven Liberalen, die schon immer auf einen Ausbau der parlamentarischen Demokratie im westeuropäischen Sinne gedrängt hatten. Das waren ferner die Sozialdemokraten, die seit jeher für eine soziale Füllung und Fundierung der Demokratie gekämpft hatten. Und das war schließlich das Zentrum, das aus konfessionellen Gründen mit dem Bismarck-Reich in Konflikt geraten war. Sie alle konnten an alternative Denkmodelle zur Konstruktion des Reichs anknüpfen und politische Leitbilder präsentieren, die auch die Siegermächte nicht als von vornherein inakzeptabel abzuwerten vermochten. In gewisser Weise galt dies auch für die Kommunisten, die nur durch ihre starke Bindung an Sowjetrußland weniger überzeugend wirkten.

Die Startbedingungen des neuen Deutschland waren 1945 andere als 1918. Während die Niederlage im Ersten Weltkrieg die Einheit des Reiches nicht zu zerstören vermocht hatte und auch den Bestand der alten Füh-

rungskräfte in den Bereichen des Staates, der Verwaltung und der Armee im Grunde unberührt gelassen hatte, ging die Niederlage im Zweiten Weltkrieg an die Substanz des Reichs und seiner Traditionen. Diesmal zerbrach nicht nur die Einheit des Reichs, jetzt nagten auch Zweifel an der Brauchbarkeit national-staatlicher Lösungen, an der Richtigkeit des nationalstaatlichen Weges. Unbeschadet vieler positiver Neuansätze im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben riß eine Lücke auf, die langfristig gefährlich werden konnte, wenn sie nicht durch überzeugende neue Zukunftsperspektiven gefüllt wurde.

Die Zerstörung des Reichs und seiner Einheit hat, genau genommen, zwei grundverschiedene Entwicklungen freigesetzt. Auf der einen Seite sind zweifellos die nicht machtstaatlich orientierten Traditionen des Denkens und Handelns in Deutschland erheblich aufgewertet worden; sie haben im Grunde zum ersten Mal seit 1871 eine ernsthafte Chance für ihre Entfaltung erhalten. Zu ihnen sind sowohl die Kräfte der demokratischen Erneuerung als auch die der föderalistischen Gliederung des Staates und der kommunalen Selbstverwaltung zu zählen. Desgleichen gehören die Bemühungen um verstärkte Mitverantwortung in den Kirchen, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen dazu.

Auf der anderen Seite hat die Zerstörung des Reiches auch eine Entwicklung gefördert, die bedenkliche Züge haben konnte: eine Entwicklung zur Verdrängung der Geschichte, die für das politische Bewußtsein der Deutschen so belastend war. Nach den Jahrzehnten nationalstaatlich verengter Strapazierungen der Geschichte und historisierender Überhöhungen einer zunehmend brüchigen politischen Realität konnte es nicht ausbleiben, daß Rückschläge für das allgemeine Interesse an der Geschichte eintraten und andere Fragestellungen in den Vordergrund traten Wo diese Rückschläge als Herausforderung zur kritischen Besinnung aufgenommen wurden, kam es zur Auseinandersetzung mit dem Erbe des Historismus und zu einem neuen Ver-ständnis von Geschichte, das sich Fragen aus dem Bereich der Soziologie und der politischen Wissenschaft nicht verschloß Wo die Rückschläge hingegen nur als Ausdruck einer letztlich unabwendbaren Fatalität verstanden wurden, verstärkten sich die Neigungen zur geschichtswissenschaftlichen Esoterik und zur Flucht aus einer politisch zu verantwortenden Geschichte.

Es kann nicht überraschen, daß die Verunsicherung des deutschen Nationalbewußtseins nach der Zerstörung des Reichs durch Adolf Hitler auch langfristig zu einer Verunsicherung des Geschichtsbewußtseins der Deutschen beigetragen hat. Aber es wäre falsch, diese letztere ausschließlich auf die Katastrophe der jüngsten nationalstaatlichen Vergangenheit der Deutschen zurückzuführen und von anderen Faktoren abzulösen. Auch andere Völker haben in der Krise des Nationalismus Erschütterungen ihres historischen Bewußtseins erlebt. Und nicht nur die Deutschen sind durch die Sogkraft der modernen Konsumgesellschaft in Gefahr geraten, historische Wurzeln der Existenz geringzuschätzen. Wohl aber wird man sagen müssen, daß die Deutschen stärker als andere europäische Nationen den Versuchungen einer primär ökonomisch interessierten Leistungsgesellschaft nachgegeben haben und offenbar weniger Gegengewichte gegen die Kräfte einer Minderung geschichtlicher Bindungen zu setzen hatten. Lagen sie im Jahrhundert bei den Historisierungsbemühungen in Europa sicherlich vorn, so kamen sie nun in den Ruf, eine „Technokratie ohne Gedächtnis" zu sein 19).

Das Nachkriegsdeutschland ist zweifellos in Gefahr geraten, den alten Fehler des wilhelminischen Deutschland in gewandelter Form erneut zu begehen, nämlich technische Modernität und Effektivität als Werte zu verselbständigen und entsprechend zu überschätzen.

Zwar ist nicht mehr der eklatante Mangel an politischen Verantwortungsstrukturen gegeben, der vor 1914 die Kontrolle der Entwicklung des Machtpotentials so schwer machte, dafür hat aber der Schwund an historischem Sinn und Empfinden für Relationen die Möglichkeiten einer Bindung dieses Potentials auf andere Weise verringert. Leistungs-und Modernitätsbegriffe sind quasi absolute Werte geworden, bei denen kaum noch nach den Rahmenbedingungen und Zielen gefragt wird. Der eigentlich selbstverständliche Satz, daß die Technik für den Menschen und nicht umgekehrt der Mensch für die Technik da ist, hat an Boden verloren.

Zu dieser Entwicklung hat ohne Zweifel auch der am tiefsten einschneidende Vorgang der deutschen Nachkriegsgeschichte, die Teilung der Nation, beigetragen. Daß nach der Erschütterung des deutschen Geschichtsbewußtseins unter Hitler Deutschland keine Phase ruhiger Selbstbesinnung vergönnt war, sondern ein weiteres Joch in Gestalt der Teilung auferlegt wurde, konnte nicht ohne Folgen bleiben. Was war denn nun der Deutschen Bestimmung, was ihre Identität, wenn als Alternative zum gescheiterten Nationalstaat die Zerissenheit der Nation trat? War es bei der Nichterfüllung der fundamentalen politischen Hoffnungen nicht naheliegend, daß wieder unpolitische Ziele anvisiert, technische Erfolge angestrebt wurden? Es gehört zu den charakteristischen Merkmalen der deutschen Nachkriegsentwicklung, und zwar in beiden Teilen Deutschlands, daß technische und wirtschaftliche Leistung in der Skala der Werte wieder weit obenan stehen. Bis in den Sport hinein gelten die Bundesrepublik und die DDR in der internationalen Öffentlichkeit als die Staaten, in denen andere Werte als Leistungssteigerung und technische Modernität ein vergleichsweises Schattendasein führen. Zwar erheben beide deutsche Staaten den Anspruch, mit ihrem Leistungswillen für übergeordnete Ziele zu stehen, faktisch entwickelt sich jedoch ein Selbstverständnis der Deutschen, das nahezu ausschließlich vom Stolz auf technische und wirtschaftliche Werte bestimmt wird. D-Mark und Goldmedaillen bilden — zugespitzt formuliert — den Kern des deutschen Nationalbewußtseins.

Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist dies auch sicherlich verständlich. Es ist, für sich genommen, auch keineswegs nur negativ zu sehen, sind Leistung und Modernität doch durchaus Werte, die auch ethisch zu rechtfertigen sind. Aber ohne Einbettung in ein weiteres historisches Sinnverständnis, ohne Rückbindung an verantwortliches geschichtsbezogenes Denken können diese Optionen gefährlich werden. Eine Nation — wie jede menschliche Gesellschaft — muß wissen, wo sie herkommt und wo sie hingeht; sonst ist der Stolz auf gute Marschausrüstung eitel.

Dies läßt sich freilich leichter fordern als realisieren. Ein Blick auf die Diskussion über die nationalen Gedenktage der Deutschen zeigt, wie schwer es diesen fällt, einen geschichtlichen Identifikationspunkt zu finden. In seiner Rede zum 25. Jahrestag des 17. Juni 1953 sagte Bundespräsident Walter Scheel: „Wir . begehen'heute den Tag der deutschen Einheit'. Aber die gibt es nicht... Es gibt heute nichts zu feiern." Und auch der 20. Juli 1944 bietet keinen Anlaß zum Feiern. Was fehlt, sind Gelegenheiten, die es den Deutschen erlauben, sich ihrer tragenden Grundlagen zu vergewissern und diese im Sinne des Gelingens eines Aufbruchs ins allgemeine Bewußtsein zu heben. Tage des Scheiterns moralisch-politischer Befreiungsversuche wie der 20. Juli 1944 oder der 17. Juni 1953 — so wichtig sie in der Geschichte der Deutschen sind — reichen dafür nicht aus.

Die Schwierigkeiten einer überzeugenden Selbstvergewisserung der Deutschen werden noch dadurch verstärkt, daß ihre Nachkriegs-staatswesen aus einer Reihe von tiefgreifenden Wandlungsprozessen hervorgegangen sind, die auch auf das Bewußtsein ihrer Bürger wirken mußten. Dies gilt in vieler Hinsicht für beide deutschen Staaten-, die Entwicklung in der Bundesrepublik hat jedoch ein besonderes Gewicht, da die überwiegende Mehrheit der Deutschen in ihr den ersten Bezugspunkt der politischen Bewußtseinsbildung sieht.

Zunächst ist hier eine demographische Wandlung zu nennen, ein Prozeß der nationalen Konzentration und Verschmelzung, der im Gefolge der großen Bevölkerungsverschiebungen am Ende des Zweiten Weltkrieges die regionale Differenzierung Deutschlands erheblich verändert hat. Millionen Deutsche sind aus den weiten Räumen Ostmitteleuropas in den deutsch gebliebenen Rest des ehemaligen Reiches eingeströmt, so daß sich auf diesem Territorium nicht nur die Bevölkerungsdichte, sondern auch die Bevölkerungsstruktur gewaltig gewandelt hat. Diesem nationalen Konzentrationsprozeß entspricht ein Prozeß der sozialen Angleichung insofern, als — über die vom NS-Staat bewirkte Egalisierung hinaus — die Eingliederung der Vertriebenen und Umsiedler unter Abschleifung sozialer Unterschiede erfolgte. Entsprechend wirkte auch ein Prozeß der konfessionellen Vermischung, der Städten und Dörfern bisweilen ein völlig neues Gepräge gab.

Dies alles war nun begleitet und gefolgt von einem Prozeß der wirtschaftlichen Umstrukturierung und Expansion, der manche Bürger der Bundesrepublik alte Heimatorte im Westen Deutschlands weniger wiedererkennen läßt als alte Heimatorte im heutigen Polen oder Rußland. Das Gesicht vieler deutscher Landschaften hat sich in den letzten dreißig Jahren mehr verändert als in ganzen Jahrhunderten davor.

Aber nicht genug damit. Zu den genannten Entwicklungen liefen Vorgänge auf internationaler Ebene parallel, die nicht ohne nachhaltige Rückwirkungen auf das Bewußtsein der Deutschen bleiben konnten. Allen voran der erwähnte Prozeß der staatlichen Teilung Restdeutschlands, der die Ausbildung eines in sich ruhenden Geschichtsbewußtseins mit Sicherheit am meisten erschwerte. Kaum daß die Folgen der nationalsozialistischen Perversion des Nationalstaats voll erfaßt waren, da zeichnete sich eine neue Belastung der Identität der Deutschen ab: Was haben Frankfurter und Leipziger politisch heute noch gemeinsam?

Aber auch dieser Prozeß der staatlichen Desintegration der Deutschen vollzog sich nicht für sich allein. Ihm korrespondierte ein solcher der europäischen Integration, der, auch wenn er bisweilen ins Stocken geriet, neue, übernationale Solidaritäten entstehen ließ. Nimmt man die Verflechtung der Bundesrepublik in die Gemeinschaft der westlichen Welt hinzu, so rundet sich das Bild eines vielseiti13 gen Beziehungsgeflechts, in dem einfache Identitäten sich kaum noch finden lassen

Die Bundesrepublik Deutschland steht im Zeichen einer eigentümlichen Spannung. Auf der einen Seite ist sie ein gewaltiger Schmelztiegel, in dem Traditionen und Positionen der verschiedensten Prägung eingeschmolzen wurden und werden. Auf der anderen Seite greift sie weit über sich hinaus und stellt ihre Bürger zunehmend in ein internationales Beziehungsfeld, das hohe Anforderungen an das Orientierungsvermögen stellt. In beiden Fällen reicht das herkömmliche Selbstverständnis der Deutschen nicht mehr aus, um der Komplexität der neuen Wirklichkeit gerecht zu werden.

Die tiefgreifenden Wandlungen, die das deutsche Volk in seiner inneren Struktur und Zusammensetzung in den letzten hundert Jahren erfahren hat, lassen sich in einem Vergleich zwischen zwei Gesprächssituationen veranschaulichen. Man stelle sich eine Gesprächs-runde in der Zeit der Bismarckschen Reichseinigung in etwa folgender Besetzung vor: ein Rheinländer, ein Sachse, ein Ostpreuße, ein Balte, ein Böhmendeutscher, ein Österreicher, ein Elsässer und — nicht zuletzt — ein jüdischer Bürger aus Berlin. Und man versuche, diese Gesprächsrunde in die Gegenwart zu transponieren.

Der Rheinländer: damals in einer — wenn auch wirtschaftlich wuchtigen — Randprovinz Preußens lebend, heute Bürger eines Kernlandes der Bundesrepublik: der Sachse: damals Einwohner eines Landes, dessen starke Arbeiterbewegung wachsende Bedeutung für ganz Deutschland gewann, heute eine prägende Kraft im anderen deutschen Teilstaat; der Ostpreuße: damals Vorposten Preußen-Deutschlands in Ostmitteleuropa, heute in andere Gebiete West-oder Mitteldeutschlands verschlagen; der Balte: damals als Träger deutscher Kultur im russischen Zarenreich lebend, heute sozial assimiliert vorwiegend in Westdeutschland; der Böhmen-oder Sudetendeutsche: damals ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor in den tschechischen Gebieten der Donaumonarchie, heute in Gegenden lebend, die nur von der Bismarckschen Reichsgründung erfaßt wurden; der Österreicher: damals selbstverständlich Deutscher in Konkurrenz mit Preußen, heute Angehöriger eines eigenen, selbständigen Staatsvolkes; der Elsässer: damals Kulturdeutscher mit französischen politischen Überzeugungen, heute auch den deutschen Sprach-und Kulturtraditionen bald völlig entfremdet; der Berliner jüdische Bürger schließlich: damals der deutschen Kultur meist völlig assimiliert und einer ihrer wichtigsten Träger, heute — soweit zu den wenigen Überlebenden des hitlerschen Infernos zählend — entweder hebräisch sprechender Bürger des Staates Israel oder Angehöriger eines anderen Kultur-bereichs in der Welt.

Wer sich diese ungeheuren Wandlungen vergegenwärtigt, wird zu dem Schluß kommen müssen, daß es kein Wunder ist, wenn die Deutschen Schwierigkeiten haben, zu sich selber zu finden. Es wird noch mancher Zeit bedürfen, bis sie ein historisches Bewußtsein entwickeln, das der Vielfalt der ins Land eingeströmten Traditionen und der neuen Wirklichkeit zugleich entspricht. Deswegen kommt vieles darauf an, daß die Diskussion um die Probleme des heutigen deutschen Geschichtsbewußtseins mit Geduld und Sorgfalt geführt wird. Es wäre in hohem Maße bedenklich, wenn aus einem horror vacui heraus wirklichkeitsfremde Geschichtsbilder entworfen würden, in denen die Geschichte selbst nicht genügend verarbeitet ist.

Diese Überlegungen drängen sich auf vor dem Hintergrund der in der Bundesrepublik neu entfachten Dikussion über den Wert einer einheitlichen Gesamtkonzeption der nationalen Geschichte für die politische Orientierung. So hat der Mannheimer Historikertag 1976 einen eigenen Themenbereich der Frage nach dem „Geschichtsbild und Geschichtsbewußtsein im 20. Jahrhundert" gewidmet in dessen Rahmen Hellmut Diwald in einem Referat über diese Problematik im gegenwärtigen Deutschland das Fehlen eines geschlossenen Geschichtsbildes in der Bundesrepublik beklagt hat. „Dieses Defizit läßt sich" — laut Diwald — „... auch nicht durch wissenschaftstheoretische Argumente verdecken oder zu einem Positivum beschönigen, also etwa durch Hinweise auf den Methodenpluralismus als Indiz moderner Wissenschaftlichkeit, auf die Notwendigkeit wechselnder Perspektiven oder die unterschiedlichen Wertungszwänge, die sich — angeblich — unweigerlich aus den jeweiligen Standortfixierungen ergeben".

Die in diesen Sätzen enthaltene Kritik an der Geschichtswissenschaft, die es vermeintlich unterlasse, Hilfen für die politische Orientierung zu geben, geht von der falschen Annahme aus, daß ein pluralistisch geprägtes Verständnis der Geschichte eine verantwortungsvolle Haltung gegenüber der eigenen Nationalgeschichte erschwere, wenn nicht gar unmöglich mache. Darüber hinaus unterstellt sie, daß die nationale Geschichte noch einen Primat in der politischen Bewußtseinsbildung innehabe und einen ausreichenden Orientierungsrahmen für das Selbstverständnis der Bürger bilde. Als ob geschichtliche Identität sich in nationaler Identität erschöpfe, schreibt Diwald: „Ein deutsches Geschichtsbild wird so lange fehlen, solange die Deutschen, das deutsche Volk nicht wieder ein Bewußtsein ihrer wesensmäßigen Zusammengehörigkeit, ihrer historisch begründeten Gemeinsamkeit besitzen und dies unmißverständlich ausdrükken."

Nein: ein deutsches Geschichtsbild wird solange fehlen, ja fehlen müssen, wie Geschlossenheiten prätendiert werden, die sich ohne Zwang nicht herstellen lassen, und Identitätsforderungen unbesehen aus alten Wertvorstellungen abgeleitet werden, die es erst einmal neu zu begründen gilt. Das heißt nicht etwa, daß nationale Fragen im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts keine Rolle mehr spielen. Es heißt auch nicht, daß Bemühungen um eine Zusammenschau, um übergreifende Interpretationen und größer angelegte Synthesen keinen Platz mehr in der Geschichtsschreibung haben sollen. Aber es heißt, daß keine Geschichtskonzeptionen in die Welt gesetzt wer-den dürfen, die an elementaren Gegebenheiten der geschichtlichen Wirklichkeit vorbeigehen und die Komplexität der heutigen Lebenswelt außer acht lassen

Solche elementaren Gegebenheiten der geschichtlichen Wirklichkeit der Deutschen nach dem Fiasko ihres Hegemoniestrebens im Zweiten Weltkrieg sind nun aber die Erfahrung der Grenzen nationaler Solidaritätsstrukturen und die Feststellung, daß gewaltsam vereinfachte Identitätskonstruktionen nur zu Identitätskrisen oder gar einem Verlust von Identität führen. Wenn nicht mehr die Möglichkeit besteht, sich mit seinen Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen in Konzeptionen oder Deutungen der Geschichte wiederzufinden, bleibt nur die Flucht aus der Geschichte, es sei denn, man nähme es auf sich, Geschichte als für die eigene Identität irrelevantes Museumsobjekt zu betrachten.

Jürgen Habermas hat aus einer ähnlich gelagerten Befürchtung heraus die Frage gestellt, ob komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden können, und dabei drei Richtpunkte für eine Suche nach Antworten formuliert Diese besagen, daß die neue Identität einer staatenübergreifenden Gesellschaft 1. nicht einfach „auf ein bestimmtes Territorium bezogen" sein kann, 2. nicht in festen „Weltbildern" zu artikulieren ist und 3. weder nur „retrospektiv an überlieferten Werten" noch „ausschließlich prospektiv an Planungsaufgaben oder projektierten Lebensformen ausgerichtet" sein kann. „Eine solche Identität braucht keine fixen Inhalte mehr, um stabil zu sein; aber sie braucht jeweils Inhalte. Identitätsverbürgende Deutungssysteme, die heute die Stellung des Menschen in der Welt verständlich machen, unterscheiden sich von traditionellen Weltbildern nicht so sehr in ihrer geringeren Reichweite, als vielmehr in ihrem revisionsfähigen Status."

Auf das Problem des historischen Bewußtseins der Deutschen heute angewandt, würden diese Sätze bedeuten, daß weder eine Festschreibung einer ausschließlich aus nationalen Vergangenheitsbildern gewonnenen Identität noch eine andere rückwärtsgewandte Fixierung noch überhaupt eine abschließende Verfestigung möglich und sinnvoll ist. Das historische Bewußtsein ist immer im Fluß; es ist notwendig offen und auf Wandel angelegt. Nur so taugt es dazu, die Zukunft vorzubereiten. Dies zu verdeutlichen, ist gerade die Lage der Deutschen geeignet, die nicht Abschließung, sondern Offenheit verlangt und mehr von vernünftigem Wandel als von starren Positionen zu erwarten hat.

Freilich stellt eine solche Bemühung um historisch begründete, zukunftsorientierte Identität einige Anforderungen. Zunächst setzt sie allgemein die Einsicht voraus, daß nicht alle geschichtlichen Vorgänge gleichermaßen eine Orientierungshilfe auf dem Wege in die Zukunft sind und daß ferner Identitätskrisen nicht ohne weiteres aus einem Mißverhältnis zur Geschichte resultieren. Es gibt Geschichte, die nicht in die Gegenwart hineinreicht, und es gibt Probleme gegenwärtiger Identität, die nicht einfach aus Entwicklungen der Geschichte ableitbar sind. Deswegen kann die heute allenthalben laut werdende Forderung nach Stärkung des Geschichtsbewußtseins nur heißen, daß ein kritisches Bewußtsein der in unsere Zeit hineinreichenden Traditionen und Kräfte geweckt wird, nicht aber, daß Bindungen an Traditionen ohne Rücksicht auf deren Bedeutsamkeit verpflichtend gemacht werden. Das gilt besonders für die deutsche Geschichte, die in ihrer regionalen, konfessionellen und kulturellen Heterogenität ohne konkret verantwortete Akzentsetzungen geradezu verwirrend und identitätsstörend wirken kann.

Daraus folgt — zweitens —, daß eine Bemühung um eine historisch begründete, zukunftsorientierte Identität der Deutschen ohne Anerkennung pluralistischer Prinzipien verfehlt ist. Mehr als die anderer Völker zeigt die Nationalgeschichte der Deutschen, daß allzu eng angelegte Unifizierungsversuche immer nur um den Preis von Verkrampfungen zu realisieren sind. Mehr als die anderer Völker zeigt sie auch, daß monokulturelle Identifikationsangebote mehr belasten als helfen. Deswegen legt sie eine Haltung nahe, die sich der Wirklichkeit konkurrierender geschichtlicher Prägungen aufschließt und die Möglichkeit eines Lebens in komplexen Identitäten ernst nimmt. Auch ohne die Teilung ihres Landes in zwei Staaten hätten die Deutschen nach dem gescheiterten Totalitätsanspruch des Nationalismus Anlaß, die Vielfältigkeit existentieller Bindungen positiv zu begreifen. Wie viel mehr müßte sie die Herausforderung der DDR dazu bewegen, auf neu gewollte Identitätsvereinfachungen nicht ebenfalls mit Vereinfachungen zu antworten!

Drittens schließlich verlangt die Bemühung um eine historisch fundierte, zukunftsorientierte Identität eine Schärfung des Sinns für Wandlungen der Identitätsbasis eines Volks oder Volksteils. Es ist keine Seltenheit, daß sich die Lebensgrundlagen von Menschen rascher ändern als die Lebenserwartungen und Lebensformen. Entsprechend treten Spannungen zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf, welche die Identitätsbildung stören. So hat die Industrialisierung gerade in Deutschland die Fundamente des täglichen Lebens schneller und nachhaltiger verändert als die Lebens-vorstellungen der Menschen — mit der Folge, daß nationale oder gesellschaftliche Leitbilder vielfach nicht zu der Wirklichkeit paßten. Auch heute noch spielen Diskrepanzen dieser Art eine Rolle, allen voran diejenige zwischen Gefühlen der Unsicherheit und tatsächlich gegebener Sicherheit. Es gibt zur Zeit kaum ein Land in Europa, in dem subjektive Ängste und objektive Lagen so weit auseinandertreten wie in der Bundesrepublik Deutschland....... ihre objektive Stabilität“, so charakterisiert Heinrich August Winkler die derzeitige Bundesrepublik, „geht einher mit einer Angst vor politischen und sozialen Erschütterungen, die eher aus Erfahrungen der Vergangenheit als aus der unmittelbaren Gegenwart zu erklären ist. Die Folge dieser Angst ist ein verbreiteter Hang zur Illiberalität“ Die mangelnde Kongruenz zwischen der Welt als Wille und Vorstellung und der Welt als Wirklichkeit ist in der Tat ein weitverbreiteter Zug im Denken der Deutschen heute. Sie berührt nicht nur das politische Urteilsvermögen, sondern reicht tiefer; sie ist Ausdruck der Identitätsproblematik, die sich wie ein roter Faden durch die jüngste deutsche Geschichte zieht. Ängste aus innerer Unsicherheit und damit zusammenhängend eine Neigung zur Illiberalität begleiten den Modernisierungsprozeß der sich scheinbar unbeeinflußbar in unserer Mitte vollzieht. Ob er sich schließlich ohne Rückbindung an oder im Einklang mit der Entwicklung unserer politischen Kultur vollzieht, daran wird sich entscheiden, ob die Deutschen aus den Verkrampfungen ihres Verhältnisses zur Geschichte herausfinden werden

Fussnoten

Fußnoten

  1. Walter Scheel, Ansprache zur Eröffnung des deutschen Historikertages 1976 in Mannheim, in: Beiheft zu Geschichte in Wissenschaft und Unter-richt, 1977, S. 12.

  2. So vor allem Hellmut Diwald, Geschichte der Deutschen, Frankfurt a. M. /Berlin/Wien 1978, S. 15: „Unsere heutige Lage ist mit der Jahreszahl 1945 unlösbar verkettet. Mit ihr verbindet sich der verheerendste Bruch in der deutschen Geschichte ... Im Jahr 1945 riß die historische Kontinuität der Deutschen ab.'

  3. Aus ähnlichen Erwägungen plädieren die deutsch-polnischen Schulbuchempfehlungen „aus didaktischen Gründen“ für eine zweisprachige Bezeichnung geographischer Ortsnamen. S. die 5. Empfehlung des geographischen Teils der Empfehlungen für Schulbücher der Geschichte und Geographie in der Bundesrepublik Deutschland und in der Volksrepublik Polen, Braunschweig 1977, S. 47.

  4. In diesem Sinne spricht Helmuth Plessner von einem „Verlegenheitshistorismus" der bürgerlichen Welt des wilhelminischen Deutschland in einem „Traditionslosigkeit und Bedürfnis nach geschichtlicher Rechtfertigung des Lebens" überschriebenen Kapitel in: Die verspätete Nation, über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 19592, S. 84 f.

  5. Zur Bedeutung der Goslarer Kaiserpfalz für das Geschichtsbild der Zeitgenossen s. neuerdings die anregende Arbeit von Monika Arndt, Die Goslarer Kaiserpfalz als Nationaldenkmal. Eine ikonographische Untersuchung, Hildesheim 1976, vor allem S. 71 ff.

  6. Zit. nach: Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., hrsg. v. Ernst Johann, München (dtv) 1966, S. 68.

  7. Paul Liman, Der Kaiser, Berlin 1904, S. 98 f; auch 'n: Reden des Kaisers, a. a. O., S. 135.

  8. Bernhard Fürst von Bülow, Deutsche Politik, Berlin 1916, S. 20.

  9. Paul Rohrbach, Der deutsche Gedanke in der Welt, Düsseldorf und Leipzig 1912, S. 99 f.

  10. Theodor von Bethmann Hollweg, Betrachtungen zum Weltkriege, Bd. 1, Berlin 1919, S. 131.

  11. Vgl. hierzu bei Karl Dietrich Bracher, Das deutsche Dilemma. Leidenswege der politischen Emanzipation, München 1971, vor allem den Abschnitt über den Wilheiminismus, S. 66 ff.

  12. Hermann Oncken, Der Kaiser und die Nation. Rede bei dem Festakt der Universität Heidelberg zur Erinnerung an die Befreiungskriege und zur Feier des 25jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II. 15. Juni 1913, in: Historisch-politische Aufsätze und Reden, Bd. 1, München u. Berlin 1914, S. 12.

  13. Kurt Sontheimer, Die Haltung der deutschen Universitäten zur Weimarer Republik, in: Nationalsozialismus und die deutsche Universität, Universi-tätstage 1966, Berlin 1966, S. 24 ff. ‘Ferner: Hans Herzfeld, Staat und Nation in der deutschen Ge-

  14. Erich Marcks, Das Deutsche Reich von 1871 bis 1921, in: Männer und Zeiten. Aufsätze und Reden zur neueren Geschichte, Bd. 2, 6. Aufl., Leipzig 1922, S. 393.

  15. In diesem Sinne warnte Bundespräsident Walter Scheel in seiner Ansprache zum 25. Jahrestag des 17. Juni 1953 vor bloßen Forderungen eines verstärkten Geschichtsbewußtseins: . Auch die Millionen, die in den Ersten und in den Zweiten Weltkrieg zogen, hatten ein Geschichtsbewußtsein. Man hatte dafür gesorgt, daß sie es hatten. Eine Wiederbelebung des Geschichtsbewußtseins in der falschen Richtung könnte katastrophale Folgen für unser Land haben.“ Sonderdruck der Rede „Die Einheit der Deutschen", hrsg. v. Kuratorium Unteilbares Deutschland, Berlin 1978, S. 13 f.

  16. Diese Interpretation des Nationalsozialismus unterscheidet sich partiell von der Dahrendorfs. Wie der seinigen geht es ihr um eine Zuordnung von Traditionalität und Modernität im Deutschland

  17. Zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft im Nachkriegsdeutschland vgl. Hans Mommsen, Haupttendenzen nach 1945 und in der Ära des Kalten Krieges, in: Geschichtswissenschaft in Deutschland, a. a. O., S. 112 ff.

  18. So vor allem Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971, S. 23 ff.; Rudolf Vierhaus, Geschichtswissenschaft und Soziologie, in: Geschichte heute. Positionen, Tendenzen und Probleme, hrsg. v. Gerhard Schulz, Göttingen 1973, S. 69 ff.; Hans Mommsen, Die Herausforderung durch die modernen Sozialwissenschaften, in: Geschichtswissenschaft in Deutschland, a. a. O., S. 138 ff.

  19. So die Überschrift eines Leitartikels von Karl-Heinz Janßen zum 25. Jahrestag des 17. Juni in der Wochenzeitung „Die Zeit", 16. 6. 1978.

  20. Walter Scheel, Die Einheit der Deutschen, a. a. O.,

  21. Zur Entwicklung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten vgl. vor allem Alfred Grosser, Geschichte Deutschlands seit 1945. Eine Bilanz, München (dtv) 1976, der seine Analyse jedoch weniger auf das politische Bewußtsein der Deutschen abstellt.

  22. Die Referate dieser Sektion des Mannheimer Historikertages sind zusammen mit seiner lesenswerten Vorbemerkung von Ernst Schulin abgedruckt in: Saeculum, Bd. 28, 1977, S. 1— 41.

  23. Hellmut Diwald, Geschichtsbild und Geschichtsseußtsein im gegenwärtigen Deutschland, ebd.,

  24. Ebd., S. 29.

  25. In diesem Sinne auch die kritischen Gedanken von Karl Dietrich Erdmann, Die Frage nach dem „Geschichtsbild", in: GWU 28/1, 1977, S. 159: „Ich sehe nicht, welchen Sinn es haben könnte, den Historikern der Bundesrepublik die Aufgabe zuzuweisen, sich als Geschichtsbildlieferanten zu betätigen ... Man kann Geschichtsbilder nicht wollen und nicht erfinden. Ihr Wachstum ist das Ergebnis elementarer Vorgänge, auch der elementaren historischen Forschung.“

  26. Jürgen Habermas, Können komplexe Gesellschaften eine vernünftige Identität ausbilden?, in: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1976, S. 92 ff.

  27. Ebd., S. 115 ff.; das Zitat S. 117.

  28. Heinrich A Winkler, Einleitung zu: Wendepunkte deutscher Geschichte 1848— 1945, hrsg. V; Carola Stern und Heinrich A Winkler, Frankfurt/M. (Fischer) 1979, S. 11.

  29. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Das liberale Defizit in den Traditionen des deutschen Konservativismus und Nationalismus, in: Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen, hrsg. von Rudolf v. Thadden, Göttingen 1978, S. 54 ff.

  30. Zum gegenwartspolitischen Aspekt dieser Frage unter politikwissenschaftlichen Gesichtspunkten s. neuerdings die informative Untersuchung von Martin und Sylvia Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland. Zur Politischen Kultur Deutschlands, München 1979, vor allem die beiden Schlußkapitel S. 298 ff. Zur Gesamtproblematik jetzt auch die von Jürgen Habermas herausgegebene und eingeleitete Aufsatzsammlung in der edition suhrkamp: Stichworte zur . Geistigen Situation der Zeit', l. Band: Nation und Republik, 2. Band: Politik und Kultur, Frankfurt/M. 1979.

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Rudolf von Thadden, Dr. phil., geb. 1932; Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Göttingen. Veröffentlichungen u. a.: Die brandenburgisch-preußischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1959; Fragen der Kirchenreform (hrsg. m. Harald von Rautenfeld), Göttingen 1964; Restauration und napoleonisches Erbe. Der Verwaltungszentralismus als politisches Problem in Frankreich 1814— 1830, Wiesbaden 1972; Das liberale Defizit in den Traditionen des deutschen Konservatismus und Nationalismus, in: Die Krise des Liberalismus zwischen den Weltkriegen (Hrsg.), Göttingen 1978.