Das Ergebnis der britischen Parlamentswahl vom 3. Mai 1979 scheint schlagartig die innenpolitischen Erschütterungen und verfassungspolitischen Verwerfungen, die die drei Legislaturperioden seit 1970 gekennzeichnet und sich quantitativ in den Ergebnissen der beiden Wahlen von 1974 ausgedrückt hatten, wieder in das Lot der Normalität gebracht zu haben. Die Lehrbuchweisheiten über das „Westminster Modell" scheinen sich nach den Mai 1979 scheint schlagartig die innenpolitischen Erschütterungen und verfassungspolitischen Verwerfungen, die die drei Legislaturperioden seit 1970 gekennzeichnet und sich quantitativ in den Ergebnissen der beiden Wahlen von 1974 ausgedrückt hatten, wieder in das Lot der Normalität gebracht zu haben. Die Lehrbuchweisheiten über das „Westminster Modell" scheinen sich nach den massiven Verlusten der autonomistischen Regionalparteien und der anderen „Drittparteien", die im Oktober 1974 immerhin ein Viertel der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt hatten 1), nach der Stabilisierung des Zweiparteiensystems, das sich von 1974 bis 1979 nur noch auf die Stimmen von 54, 5 Prozent aller Wahlberechtigten stützen konnte, und nach der Wiederherst Prozent aller Wahlberechtigten stützen konnte, und nach der Wiederherstellung einer handlungsfähigen Mehrheitsregierung wieder zu reimen 2).
Die Politologen, die aus den Wahlergebnissen von 1974 eine Integrationskrise des Vereinigten Königreichs (United Kingdom UK) und eine Legitimitätskrise des politischen Systems folgern konnten 3), wurden offensichtlich durch die Ergebnisse der Devolutionsreferenden in Wales und Schottland und der Wahl von 1979 schnell und gründlich widerlegt. Wenn die sich in ökonomischer Stagnation und sozialen Verteilungskonflikten manifestierende „britische Krise“ im ursächlichen Kern eine Verfassungskrise ist 4), dann wurde dieser faule Kern durch die Rückkehr zum gewohnten Verfassungsszenarium zumindest wieder verdeckt. Auch die Wähler scheinen sich nach den Irritationen von 1974 wieder auf die ihnen von Politikern und Analytikern zugedachten Tugenden besonnen zu haben: Vertrauen („deference") zu den hergebrachten In-stitutionen, Parteien und Eliten, Mißtrauen gegenüber systemgefährdenden Veränderungen, Extremen und Außenseitern.
Zu dieser trügerischen Stabilität und Normalität der politischen Kultur gehört auch der Wahlmißerfolg der National Front, deren Erfolge bei Nach-und Kommunalwahlen in den Jahren 1976/77 nicht nur im Ausland (mit selbstrechtfertigender Häme gemischten)
INHALT I. Warum Mosleys „British Union of Fascists" (BUF) scheiterte 1. „Britische Krise“ und Faschismus 2. „Immigration" als Treibsatz für Rassismus II. Abgrenzungsprobleme auf der politischen Rechten III. Vor-und Entstehungsgeschichte der NF 1. Ideologie, Programmatik und Taktik der NF 2. Organisations-und Sozialstruktur der NF 3. Wahlsoziologie und Wahlpsychologie 4. Potential und Barrieren IV. Gegenreaktionen von Gesellschaft und Politik Zweifel an der Widerstandsfähigkeit der britischen „Musterdemokratie" gegenüber faschistischen Anfechtungen aufkommen ließen, sondern auch den betulich-konservativen The Economist zu der Feststellung verleitet hatten: „that Fascism is about to engulf the British" 5). Die von der National Front (NF) gezielt in Londoner Stadtteilen mit überdurchschnittlichen Anteilen farbiger Bevölkerung provozierten Krawalle, die Massenschlägereien mit der Anti-Nazi-League, in die Hundertschaften von Polizei verwickelt wurden und im Wahlkampf von 1979 das zweite Menschenleben — nach dem ersten Opfer beim Zusammenstoß auf dem Londoner Red Lion Square im Juni 1974 — in den Marschreihen der vor allem von linken Organisationen mobilisierten Gegendemonstrationen forderten, oder die rassistisch-antisemitischen Schmierereien in Vorortzügen, Bahnhöfen und an Mauern des Londoner Eastend haben einen Unter-und Hintergrund, der nicht nur die äußersten Ränder Von Gesellschaft und Politik berührt.
Das Wahlergebnis von 1979 könnte dazu verführen, diese häßlichen Ausgeburten der „britischen Krise" in verslumten Peripherien einiger Großstädte (London, Birmingham, Leicester, Bradford) hinter der wahlstatistischen Sammelkategorie „andere" zu verstecken — wie dies bisher in den Wahlanalysen von David E. Butler geschah. Aber die NF ist auch 1979 kein bloßer Wahlwitz oder eine politische quantit ngligeable, obgleich ihr Stimmenanteil nur 0, 4 Prozent ausmachte und alle Kandidaten ihr Deposit (bei weniger als einem Achtel der abgegebenen Stimmen) verloren. Sie konnte immer noch mehr Stimmen als die Communist Party, die Socialist Workers Party (SWP) oder die Okologisten gewinnen — und dieser Tatbestand ist in wirtschaftlichen Krisenzeiten bemerkenswert.
Gegen eine Verniedlichung der „Gefahr von rechts" sprechen mehrere Gründe.
Erstens täuscht das Wahlergebnis von 1979 über die Erfolge der NF bei Kommunal-und Nachwahlen hinweg (vgl. Kap. III. 3) und verdeckt das von der sozialempirischen Forschung offengelegte rassistisch-faschistische Potential (vgl. Kap. III. 4), das sich in einer anderen politischen Großwetterlage wieder in einer anderen Stimmabgabe entladen könnte. Zweitens ist die mit gewalttätigen Demonstrationen und mit dem in den Medien in Erinnerung gehaltenen Nationalsozialismus assoziierte NF für viele noch so abschreckend, daß sie das vorhandene Potential nicht an sich bin-den kann.
Drittens erhielt die NF auch 1979 mit 191 706 oder 1, 3 Prozent der (in 303 von 635 Wahlkreisen mit NF-Kandidaten) abgegebenen Stimmen gegenüber 3, 2 Prozent im Februar 1974 (in nur 54 Wahlkreisen) und 3, 1 Prozent im Oktober 1974 (in 89 Wahlkreisen) wesentlich mehr Stimmen als Oswald Mosleys BUF (British Ünion of Fascists) in ihren besten dreißiger Jahren oder jemals eine andere faschistische Gruppierung, die es immer im Parteienangebot gab.
Viertens verhindert der Mechanismus des relativen Mehrheitswahlsystems, verbunden mit dem für „Drittparteien" risiko-und verlustreichen Zwang zur Hinterlegung von £150, die Artikulation des vorhandenen Stimmenpotentials, das z. B. bei Fortschreibung des Wahlergebnisses vom Oktober 1974 für alle Wahlkreise auf immerhin etwa 750 000 schließen ließ.
Fünftens konnte Mrs. Thatcher, die sich mit ihrer vielbeachteten Warnung vor einer „Überschwemmung" Großbritanniens durch farbige Immigranten dem populistischen Rassismus Enoch Powells annäherte (vgl.
Kap. 1. 2), zwar der NF wahlwirksamen Wind aus den Segeln nehmen, ohne aber mit diesem wahltaktischen Opportunismus Einstellungen verändern zu können.
Sechstens zeigt sowohl die Geschichte der BUF als auch die Entwicklung der NF, daß beide Ausgeburt einer Krise sind, « die jedoch heute nicht primär außenwirtschaftlich bedingt ist und begründet werden kann und we-niger schnell lösbar erscheint als die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre.
Faschistische Organisationen konnten immer und nur in Zeiten wirtschaftlicher Not oder der subjektiv empfundenen Unsicherheit und Existenzangst gedeihen. Das Aufblühen der NPD in der Rezession von 1966/67 zeigt die-sen Zusammenhang von Faschismus und Krise am näherliegenden Beispiel. Ihr Erfolg liegt dabei nicht so sehr in ihrer eigenen Attraktivität, sondern in den gesellschaftlichen Bedingungen begründet. Diese Umweltbedingung des Faschismus könnte einerseits beruhigen, weil Stimmen für die NF oder NPD nicht zwangsläufig Zustimmung zu ihrer jeweiligen Programmatik signalisieren, andererseits allerdings dann beunruhigen, wenn das sich in rechtsradikaler Systemopposition gerierende Protestpotential nicht durch Erfolgserwartungen absorbiert werden kann. Die sozialökonomische und politische Entwicklung Großbritanniens läßt auch nach dem Wahlsieg der Konservativen keine erlösende Aufbruchstimmung zu, obgleich diese Partei nach ihrem geradezu epochalen Rechtsrutsch nach dem Führungswechsel von Heath zu Thatcher in der Lage ist, auch das Reservoir an ihren ultrakonservativen Rändern und jenseits davon zu absorbieren. Die folgende Einschätzung mag deshalb die Bedeutung der NF überzeichnen, warnt aber vor ihrer Verniedlichung und lie-fert zugleich eine ausreichende Relevanzbe’) gründung für diese Studie: „Britain has become the exception to the general European trend; it is the only country in Europe where it is possible to argue that fascism is politically stronger today than it was in the 1930s." Man möchte hinzufügen: gerade Großbritannien, das die Ausnahme zum allgemeinen Trend in Europa bildete.
I. Warum Mosleys „British Union of Fascists" (BUF) scheiterte
Mosley selbst führte den völligen Mißerfolg seiner faschistischen Mobilisierungsbemühungen in den dreißiger Jahren, 1948 bis 1951 und wieder Ende der fünfziger Jahre auf das Ausbleiben der „großen Krise" zurück: „An electorate never moves decisively except un-der severe economic pressure which is nearly always unemployment." Er gründete nach seinem Rücktritt aus dem Labour-Kabinett von Macdonaldzunächst seine NewPartyund dann 1932 die BUF, brachte furchterregende Massenversammlungen zustande und konnte dennoch nicht einmal im Londoner Eastend ei-'nen einzigen Sitz in den Kommunalparlamenten gewinnen, obwohl ihm respektable Mitglieder wie General oder Admiral Fuller Sir Barry Domville einige Honorigkeit verschafften
Die Gründe, warum der Faschismus in Großbritannien auch vor der Bedrohung durch den deutschen Faschismus zu keiner Massenbewegung werden konnte, liegen einerseits in dem wirtschafts-und sozialhistorischen Tatbestand begründet, daß die Weltwirtschaftskrise die britischen Massen nicht so schwer traf wie auf dem Kontinent. Großbritannien hatte in den kritischen Jahren absolut und prozentual weniger Arbeitslose als Deutschland und als Importland von Lebensmitteln den Vorteil fallender Preise, die die relativ geringen Einkommenseinbußen der Beschäftigten nahezu ausglichen Die für den Faschismus anfällige Mittelklasse war wesentlich weniger von der Depression betroffen als in Deutschland (z. B. waren 1931 nur 5 Prozent der Büroange-stellten arbeitslos) Andererseits hatte Großbritannien im Jahre 1933 immerhin fast 3 Mio. Arbeitslose, vor allem in den Exportindustrien. Warum der Faschismus auch in den am schwersten von der Arbeitslosigkeit betroffenen Regionen (z. B. Wales) oder marginalen Bezirken der Großstädte nicht Fuß fassen konnte, kann nur durch die Integratiönskraft von Arbeiterbewegung und Parteien sowie durch die Legitimationskraft des politischen Systems erklärt werden: „The B. U. F., unlike its Continental counterparts, attacked a political System the legitimacy of which had been established. The political were forms accepted, the political leaders respected and the political process, over time, effective." Während in den Notstandsgebieten Gewerkschaften und Labour Party das soziale Protestpotential sowohl gegenüber den korporatistisch-faschistischen Verheißungen des früheren Labour-Ministers Mosley wie gegenüber den Krisen-therapien der Communist Party weitgehend abschirmen konnten, ließen sich die Konservative Partei und die nicht durch eine revolutionäre Massenorganisation bedrohte Besitz-und Oberklasse nicht dazu verführen, durch ein Bündnis mit dem zwar gegen das Establishment agitierenden, aber als Mittelklasse-Bewegung perzipierten Faschismus die systemloyale Arbeiterbewegung zu stranguliern. Die innen-und außenpolitische Entwicklung des Nationalsozialismus tat ein übriges, eine in Ideologie, Symbolik und Sprache vergleichbare Bewegung im eigenen Land zu diskreditieren. Die britische Geschichte während der Weltwirtschaftskrise widerspricht Lipsets These, daß sich in Krisenzeiten die Arbeiterklasse dem Kommunismus, die Oberklasse autoritären Diktaturen und die bedrohte Mittelklasse dem Faschismus zuwende Auch marxistische Faschismustheorien, die den Faschismus aus der Krise des Kapitalismus ableiten und ihn als „Herrschaftsform des Monopolkapitalismus in einer Niedergangsperiode" bestimmen, kommen in Argumentationsnöte, wenn sie die Resistenz des britischen Kleinund Großbürgertums gegen den Faschismus trotz der objektiven Krise der Ökonomie erklären sollen.
1. „Britische Krise" und Faschismus
Die Gründung der NF als Sammlung mehrerer nationalistisch-rassistischer Sektierergruppen (1967) fiel ebenso wie die Erscheinung des „Powellismus" (vgl. Kap. II) in die zweite Hälfte der sechziger Jahre, als die auch vom Staatsinterventionismus der Labour-Regierung unkontrollierbare ökonomische Stagnation in Form von Arbeitslosigkeit, Inflation und Kaufkraftverlust die Massen erreichte. Die „britische Krise“ erwies sich als ein Bündel von Krankheitssymptomen, nicht nur als eine Wirtschaftskrise, sondern nun auch als eine Krise der Gesellschaft und der politischen Kultur (als Sammelbegriff für politische Einstellungen und die subjektive Problemverarbeitung): „Economic decline has been accompanied by the loss of Empire and a world political role, by threats to internal authority, and by rapid social change in sexual und cultural Codes. All these occurred alongside continuing Problems of poor housing, overcrowding, and urban decay."
Heute sind nicht nur Teile der selbständigen (Handwerker, Händler) und unselbständigen Mittelklasse (Angestellte, Akademiker), Hilfsarbeiter und Schulabgänger strukturell durch Konzentrations-und Rationalisierungsprozesse existentiell bedroht, sondern es überwiegen Pessimismus und Unsicherheit über die künftige Enwicklung, die auch durch die illusionsnährenden und deshalb fatalen Verheißungen einer besseren Zukunft durch die Politiker oder durch die Hoffnung auf den krisenlösenden Segen des Nordsee-Öls nicht überwunden werden können. Die Streikwellen und ihre Deutung durch die konservative Fleetstreet-Presse haben die Macht der Gewerkschaften und das Treiben der „Militants“ und „Trotzkisten" in Gewerkschaften und Labour Party zu einer Bedrohungsvorstellung gemacht, über die auch die im Ausland gepflegte Stereotype der „britischen Gelassenheit" nicht mehr hinwegtäuschen kann. Wenn der Econo-
mist-Journalist und Direktor der NationalAssociation for Freedom, Robert Moss, im Stile von Orwell für 1985 die Apokalypse einer kommunistischen Diktatur ausmalt werden politische Ängste erzeugt und geschürt, die geradezu „patriotische" Operationen zur „nationalen Rettung" provozieren. Die organisierte Aufwallung nationaler und monarchistischer Emotionen im Jubiläumsjahr 1978 nimmt sich wie eine Flucht aus der Wirklichkeit aus, nachdem auch das verlorene Empire kein Krisenventil und keine emotionale Ersatzbefriedigung mehr bieten konnte.
Das von Francois Bondy als „Krise ohne entsprechendes Krisenbewußtsein" bewunderte „britische Wunder“ mag alltäglichen Eindrücken entspringen, wird aber durch die sozialempirische Forschung nicht gestützt. Sicherlich verwundert die unhysterische Reaktion auf alltägliche Unbill den Außenstehenden, aber hinter diesem Verhalten verbirgt sich nicht ein wundersamer Mangel an Realitätsbezug. Die britische civic culture, nach den Untersuchungen von Almond/Verba in den „goldenen Fünfzigern" durch eine hohe Identifikation der Bürger mit dem politischen System, den Institutionen und Eliten gekennzeichnet durchlief im folgenden Jahrzehnt einen tiefgreifenden Wandel 1975 stand Großbritannien in der Skala der Zufriedenheit der Bürger mit dem Funktionieren der Demokratie an vorletzter Stelle der neun EG-Länder, in der Skala der Zufriedenheit mit der eigenen Gesellschaft an drittletzter Stelle Auch wenn man solchen unhistorischen Survey-Daten, die aktuellen Umweltbedingungen entspringen, mit der gebührenden Skepsis begegnet können sie doch vor intuitivem Wunderglauben schützen.
Das Wahlergebnis von 1979 könnte zwar dazu verführen, in ihm eine Bestätigung für die von Lipset/Raab und Shils im Vergleich mit dem Rechtsradikalismus in den USA oder von Benewick aus der Geschichte des britischen Mosley-Vaschismus abgeleitete These zu finden, daß Großbritannien aufgrund seiner durch Toleranz und „deference" gekennzeichneten politischen Kultur immun gegenüber Extremismus aller Art geworden sei. Diese „deference" in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft schirmte nach Auffassung von Lipset und Shils sowohl die politischen Eliten als auch das politische System — im Gegensatz zu den USA — von populistisch-faschistischen Anfechtungen ab, während der Konsens unter den Eliten die Kontrolle über die Massen sicherte
Roger King stellt dieses „deference" -Theorem, das Jahrzehnte lang herhalten mußte, um die politische Stabilität Großbritanniens im allgemeinen und das Verhalten der „working-class Tories" im. besonderen zu erklären grundsätzlich in Frage und betont dagegen gerade die Affinität dieser „deference“ -Attitüde zu latent faschistoiden Einstellungen und Verhaltensweisen aufgrund veränderter politischer Umweltbedingungen: „If deference ever existed amongst the British working-class, the growth of coloured Immigration, Britains declining economic performance, and persisting unemployment and Inflation have changed social and political attitudes."
Es muß untersucht werden, ob Lipsets und Adornos in der Sozialpsychologie höchst umstrittenes Theorem der „autoritären Arbeiter-persönlichkeit" tauglicher als das „deference" -Theorem ist, um die in lokalen und nationalen Samples nachgewiesene Anfälligkeit von Arbeitern — also nicht nur bedrohter Mittel-schichten und „Kleinbürger" — für rassistische und faschistische Parolen der NF oder des Po- wellismus zu erklären.
2. „Immigration“ als Treibsatz für Rassismus
Für rechtsradikale Krisengewinnler ergab sich mit der Verschärfung der „britischen Krise" die Chance, ein explosives Gemisch aus objektiven Krisenfaktoren (Arbeitslosigkeit, Inflation, realem Verlust von Kaufkraft und Lebensqualität) und subjektiven Krisendeutungen politisch auszuschlachten, das durch die »Rassenfrage“, d. h. die Immigration aus dem farbigen New Commonwealth, verdichtet wurde. Allein von 1955 bis 1957 waren 132 000 far-bige Immigranten ins Land gekommen bzw. von der Industrie und der staatlichen Arbeitsverwaltung gerufen worden, die sich in wenigen Großstädten und Industriebezirken konzentrierten. 1958 kam es in Nottingham und im Londoner Stadtteil Notting Hill zu den ersten Rassenkrawallen, provoziert von rechtsextremistischen Organisationen. Mosley versuchte, die Abwehrhaltung der Einwohner in den von Immigranten „bedrohten" Vorortslums Zu einem letzten politischen Comeback zu nutzen Vorläufer der NF entdeckten „Immigration“ als agitatorischen Aufhänger für ihr buntes Bündel von faschistischen Dauerthemen (vgl. Kap. III. 1). Untersuchungen zeigten ein widersprüchliches Bild von der Bedeutung und Perzeption der „Rassenfrage" außerhalb der Städte und Distrikte mit hohen und wachsenden Anteilen farbiger Bevölkerung. Einerseits waren schon 1963, als Immigration noch kein politisches Thema war, 84 Prozent der Befragten der Meinung, daß schon zu viele Immigranten im Land seien, andererseits gaben 1970, als sie zu einem Thema geworden war, nur 8 Prozent der Rassenfrage höchste politische Priorität Inzwischen war „Immigration" zu einem „issue of high potential" (Butler/Stokes) geworden, das nicht nur den hoffnungslos im politischen Abseits stehenden rechtsextremistischen Organisationen agitatorischen Zündstoff lieferte, sondern auch Randfiguren der Tories dazu verführte, wahltaktisches Kapital aus diesem Potential zu schlagen. Der Wahlsieg des offen rassistisch agitierenden konservativen Kandidaten Peter Griffith gegen den Labour-An& en- minister Gordon Walker im bisher sicheren Labour-Wahlkreis Smethwick (1964) hatte zwar noch wie ein Schock gewirkt dennoch keine abschreckende Wirkung. Vier Jahre später (am 20. April 1968) hielt Enoch Powell seine berühmt-berüchtigte „River of Blood" -Rede in Birmingham, die ihn zwar den Platz im Schattenkabinett kostete, ihn aber schlagartig zum populärsten Oppositionspolitiker machte. Die von ihm adressierten englischen „strangers in their own country" hörten und beklatschten die Botschaft, die sie dann später in immer neuen Variationen von der NF zu hören bekamen: „They found their wives unable to find hospital beds in childbirth, their children unable to obtain school places, their ho-mes and neighbourhoods changed beyond recognition, their plans and prospects for the future defeated."
Nach dieser Rede, die die Immigrationsfrage in den Mittelpunkt der Innenpolitik rückte und einen peinlichen politischen Opportunismus in Gang setzte, bezeichneten 25 Prozent der britischen Bevölkerung aller Klassen (wenn auch stärker in unteren Klassen mit niedrigem Bildungsniveau) und aller Parteigänger (z. B. ein Fünftel der Labour-Anhänger und 23 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder) Powell als den einzigen Politiker, den sie bewundern, nachdem er bisher der breiteren Bevölkerung nahezu unbekannt war Nach einer Gallup-Umfrage wollten im Oktober 1969 immerhin 36 Prozent der Briten ihn als Premierminister haben, während die anderen Parteiführer weit abfielen. Die bis heute anhaltende Attraktivität des Powellismus beruht nicht auf den eigenwilligen Ideen oder der militanten Gegnerschaft des Tory-Dissidenten zur EG, der 1974 sogar zur Wahl für die EGfeindlichere Labour Party aufgerufen hatte und sich einen Wahlkreis in Nordirland such-te, um von dort für die bedrohte Einheit des Vereinigten Königreiches zu kämpfen, sondern auf seiner eingängigen Botschaft zur Rassenfrage die in der Forderung nach Repatri-ierung der bereits in Großbritannien ansässigen farbigen Staatsbürger gipfelte. Powellgab der Konservativen Partei ein immigrationspolitisches Image, das zwar nicht der Politik der Parteiführung entsprach, aber ihr 1970 zum unerwarteten Wahlsieg verhalf. Diesem Image, dem dann sowohl die konservative wie die Labour-Regierung durch Verschärfung der Einwanderungskontrollen Rechnung zu tragen versuchte, wurden in der Wahl von 1970 sogar 6, 7 Prozent der für die Konservativen abgegebenen Stimmen zugeschrieben Durch die Zunahme der Zahl der „Immigranten“ von knapp 1 Million (1966) auf 1, 8 Millionen (1977) oder von 1, 8 Prozent auf 3, 4 Prozent der Gesamtbevölkerung, bestehend aus durchschnittlich 45— 50 000 jährlichen Geburten im Land (deshalb „Immigranten" in Anführungsstrichen!) und etwa ebenso vielen Netto-Einwanderern dramatisiert durch die Aufnahme der aus Uganda (1972) und Malawi (1976) ausgewiesenen Asiaten, erhielt die NF um so mehr propagandistische Munition, je mehr sich die beiden großen Parteien nach 1970 um eine Verbesserung der Rassenbeziehungen bemühten: „the NF is able to play the . racist card'in an already prepared arena in which blacks are already nationally defined as , a problem', if not , the problem“
II. Abgrenzungsprobleme auf der politischen Rechten
In einem neueren Sammelband über die „britische Rechte" finden sich die Tories, Mosley, Powell wnd die NF vereinigt. Obwohl in Großbritannien „rechts" kein Schimpfwort ist, ergeben sich aus dieser politischen Koordinate delikate Abgrenzungsprobleme. Die NF steht hier zwar im Mittelpunkt, aber die Frage nach den Gründen, Ursprüngen und Chancen des Rechtsextremismus kann sich nicht auf die Analyse der Sozialstruktur und Sozialpsychologie ihrer Mitglieder und Wähler beschränken. Das Spektrum muß weiter gefaßt werden: von anderen rechtsradikalen Splittergruppen mit jeweils nur einigen Hundert Mitgliedern über die paramilitärischen Organisationen des General Walker und Colonel David Stirling, die die Nation vor der Zerstörung durch die Gewerkschaften retten wollen und erstmals Putschgerüchte aufkommen ließen bis an die ultra-konservativen Ränder der Konservativen Partei, die sich in der National Association for Freedom oder im sehr einflußreichen Monday Club organisierten. Dieser Club, „a halfway house between the Tories and the NF“ wurde zum Sammelbecken der Tory-Rechten, agitiert rassistisch nach innen (indem er Powells Immigrationspolitik propagiert) und außen (indem er die Fahne des weißen Südafrika und Rhodesien hochhält), rabiat antigewerkschaftlich und antiliberal in der Rechtspolitik.
Während der Monday Club, zu dessen Stargästen regelmäßig Powell zählt, mehr innerparteilich wirkt, erreicht der nicht-organisierte Powellismus die Massen. Für Tom Nairn stellt nicht der abgeschmackte Faschismus der NF, sondern Powells pathetischer Nationalismus und trivialer Rassismus eine Gefahr für die Demokratie dar Während Lipset noch davon ausging daß die britischen Eliten zur Sicherung ihres Führungsanspruchs nicht auf populistische Massenverführung angewiesen seien, sieht Nairn im Powellismus den Versuch der „Neuen Rechten", durch Populismus die in der Krise verlorengegangene Kontrolle über die Massen wiederherzustellen.
Weder Powell, den Tony Benn im Wahlkampf von 1970 mit Hitler verglich, noch die im Monday Club versammelte Tory-Rechte können als faschistisch denunziert werden, obgleich sich nicht nur in der Immigrationspolitik verräterische Gemeinsamkeiten mit der NF nachweisen lassen Andererseits schützt auch das Bekenntnis zum parlamentarischen System, das auch NF-Sprechern leicht über die Lippen geht, nicht vor dem Abgleiten in politische Positionen, die außerhalb der guten Sitten parlamentarischer Demokratie liegen. Wenn ein Autor Faschismus durch eine programmatische Kombination von Nationalismus/Rassismus, Antikommunismus, Etatismus und Kapitalismus sowie der antidemokratischen Art und Weise, wie diese Ideologie durchgesetzt werden soll, bestimmen wollte dann könnte er Powell und die Powelliten im Monday Club allenfalls durch das Festhalten an parlamentarischen Prozeduren exkulpieren. Nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts bestimmt sich Extremismus durch den Versuch, die Verfahrensregeln der staatlichen Gemeinschaft zu ihrer Beseitigung und sozialen Neuformierung mißbrauchen zu wollen
Dies will Powell nicht. Wenn sich aber nach Manfred Funke der Rechtsextremist durch einen „offensiven Werte-und Strukturkonservatismus aus Autoritätsgläubigkeit, Tradition, Bodenständigkeit, völkischem Denken" auszeichnet dann sind auch Powell und die Powelliten Rechtsextremisten. Ihr irrationales Gemisch aus Rassismus, Nationalismus, law and order-Etatismus und antigewerkschaftlichem Wirtschaftsliberalismus ihre Mobilisierung der Vorurteile des „kleinen Mannes", die viel mit dem rassistischen Populismus eines George Wallace gemein hat nähren den Boden-und Treibsatz für Faschismus. Sie wollen zwar keine Massenmobilisierung zur Veränderung des Systems, mobilisieren aber Ressentiments in den Massen, um strukturellen und normativen Veränderungen entgegenzuwirken, und sind deshalb reaktionär. Powells mit korporatistischen Komponenten angereichertes Konzept des Wirtschaftsliberalismus appelliert vor allem an die von nationalen und internationalen Monopolen bedrohten Kleinunternehmer, aber auch in widersprüchlicher Weise an die Arbeiter: „The dimension of corporate philanthropy can likewise be seen as an appeal to the middle-class with its championship of independent welfare Provision, and to the working-class with its support for state action to ensure a tolerable Standard of living for all, and the dimension of nationalism can be seen as an appeal to both classes to unite for the higher interests of the nation itself." Schließlich verbindet sich Powells agitatorisches Strickmuster der „great simplicities" in unheilvoller Weise mit der Regieanweisung des NF-Vorsitzenden Tyndall, an „the hidden forces of human soul" zu appellieren. Rassismus ist nicht identisch mit Faschismus, aber ein Ingredienz und Vehikel faschistischer Massenpropaganda. Der Powellismus verbreitert das Potential einer rassistisch-faschistischen Partei, obgleich er es zugleich in das bestehende Parteiensystem einbindet. Diese Integration ist aber nicht ohne rechtslastige Verschiebungen des Gesamtsystems möglich. Deshalb sieht Tom Nairn in der durch Powell personifizierten „Neuen Rechten“ eine das Parteienspektrum nach rechts bewegende Schubkraft. Die Entwicklung der Konservati-ven Partei von Heath zu Thatcher bestätigt seine Prognose von 1971
Die NF wurde hier schon mehrfach als faschistische Organisation etikettiert; aber auch diese Qualifizierung bedarf noch einer genaueren Begründung. Zu erfragen ist auch, wieweit die zunächst verblüffende ideologische und taktische Ähnlichkeit der in der deutschen Rezession von 1966/67 aufblühenden NPD zu der mit der „britischen Krise" gedeihenden NF reicht; ob in der Stimmabgabe für die NF nicht rassistische oder faschistische Einstellungen, sondern lediglich ein diffuser Protest zum Ausdruck kommen, den die etablierten Oppositionsparteien als integrale Teile des Establishments nicht zu binden vermochten; ob also die NF ebenso wie die schottischen und walisischen Nationalisten mehr vom Überdruß an den Großparteien profitieren denn aus einem gewachsenen Reservoir des Rechtsextremismus schöpfen konnte.
III. Vor-und Entstehungsgeschichte der NF
Die Entstehungsgeschichte der NF spielt sich in einer politischen Randszene ab, die durch eine schnelle Abfolge von Gründungen, Spaltungen, Fusionen und Namenwechsel von Organisationen, erbitterten Fraktions-und Führungskämpfen zwischen einigen wenigen Figuren mit „Führer" -Ambitionen geprägt ist, propagandistisch begleitet von einer Kampfpresse (Candour, Combat, Spearhead, Britain First und Beacon), die in der Aggressivität die „Deutsche Nationalzeitung" oder die „Deutschen Nachrichten" der NPD überbietet und in der Qualität sogar noch unterbietet. Tyndall, eine der ambitioniertesten und umstrittensten Figuren dieses rechtsextremistischen Dschungels und Halbdunkels, beschrieb selbst sein Umfeld als „an incohesive mass of jealously squabbling tin-pot Caesars, more concerned with the pursuance of private vendettas than with the aim of ultimate national salvation“ Allerdings zeigte kein anderer seiner Gesinnungsgenossen und Konkurrenten solch cäsaristische Neigungen und befand sich so oft in einem intriganten Kleinkrieg wie er selbst. Die wiederholten Versuche, das kleine Reservoir von allenfalls einigen Tausend Aktivisten zu sammeln (z. B. in der Racial Preservation Society mit einem für alle Gruppen akzeptablen Programmpunkt), konnten diese persönlichen Rivalitäten nicht überwinden. Jenseits der kurzlebigen Zwischenspiele unter verschiedenem Namen kann jedoch eine erstaunliche personelle und ideologische Kontinuität zwischen Mosleys BUF und Nachkriegskreation Union Movementvind der 1967 gegründeten NF festgestellt werden.
Die NF entstand durch einen Zusammenschluß mehrerer Gruppen, deren bedeutendste die League of Empire Loyalists (LEL) mit etwa 300 Mitgliedern, die British National Party (BNP) mit etwa 1 000 Mitgliedern, die Racial Preservation Society und das Greater Britain Movement (GBM) mit je knapp 150 Mitgliedern waren. Katalysator für diese Sammlung zerstrittener Gruppen war das Wahlergebnis von 1966, in der die rassistische Karte noch nicht national gegen die Labour Party gestochen und das Ergebnis von Smethwick sich nicht wiederholt hatte. Der Guar-
dian-Journalist Martin Walker, wohl der intimste Kenner der rechten Szene, beschreibt detailliert das teilweise groteske Feilschen der einzelnen „Führer" um Einflußpositionen in der neuen Sammlungsbewegung
Die LEL war 1954 von dem früheren BUF-Aktivisten A. K Chesterton gegründet worden; sie fand mit ihrem militanten Antisemitismus, Antikommunismus und Imperialismus, die propagandistisch geschickt die Bedrohung des Empire mit der Bedrohung durch den Kommunismus verbanden, in der Agonie des Empire auch an den rechten Rändern der Tory-Imperialisten einige Resonanz sie wurde mit ihrer grotesken Verschwörungstheorie, die Juden, Immigranten, Kommunisten und das internationale Finanzkapital in einer großen antiarischen und antibritischen Verschwörung bündelte, zur ideologischen Schule der jüngeren Generation der Neofaschisten (vgl. Kap. III. 1).
Die BNP war 1960 aus der Verschmelzung von Colin Jordans White Defence League und der vom heutigen NF-Vize A. FountainegeiiLEt^ National Labour Party (die sich wiederum aus der Bankrottmasse der LEL rekrutierte) hervorgegangen, die sich beide als Organisatoren und Scharfmacher der ersten Rassenkrawalle in den Londoner Vororten hervorgetan hatten und einen Racial-Nationalist Folk State unter Ausschluß von Juden und Farbigen propagierten Der spätere BNP-Vorsitzende John Bean, der seine Organisation als größte Fraktion in die NF einbrachte, machte die Rassenfrage zur zentralen Agitationsformel des Rechtsextremismus. Sein Kampfblatt Combat schlachtete mit primitiver Brutalität die Vorurteile gegen die „Immigranten" aus.
Aus dieser Gruppierung spaltete sich 1962 der heutige NF-Vorsitzende John Tyndall ab und gründete zusammen mit Colin Jordan das National Socialist Movement (mit bewußter Anlehnung an das deutsche Vorbild), aber schon zwei Jahre später — nach einem Streit mit Jordan und nun zusammen mit dem späteren NF-Organisator Martin Webster— das Grea-ter Britain Movement (GBM). Zwei ausgewählte Passagen aus dem Parteiprogramm des GBM illustrieren, wes Geistes Kinder die heutigen NF-Führer sind:
„We aim for an authoritarian System of government in Britain, based on personal as opposed to the democratic principle of rule by conflicting committees and factions ... We hold it to be the Jewish influence, in politics and commerce, in morals and culture, that is perhaps more than any other single factor responsible for the organised filth and corruption that has infected the body of our society. The removal of the Jews from Britain must be a Cardinal aim of the new order ...
For the protection of British blood, racial laws will be enacted forbidding marriage between Britons and non-Aryans. Medical measures will be taken to prevent procreation on the part of all those who have hereditary defects, either racial, mental or physical."
In diesen Passagen ist die ganze Ungeheuerlichkeit des nationalsozialistischen Antisemitismus, Rassismus und Führerprinzips gebündelt. Tyndall, der häufiger Gast bei den westdeutschen Neo-Nazis war, verehrt nicht nur Hitler, sondern konnte unter dem Schutz der Liberalität der politischen Justiz Großbritanniens solche Gedankengänge auch ungetarnter und unverblümter als z. B. die NPD in der Bundesrepublik verbreiten. Nachdem sich die ehemaligen GBM-Exponenten Tyndall und Webster auch in der NF-Führung durchsetzen konnten (zumindest bis zu der im Sommer 1979 schwelenden Neuauflage einer Füh-
rungskrise), kommt solchen Positionen bei allen opportunistischen Anpassungen an die Aufnahmebereitschaft von Mitgliedern und Wählern auch Bedeutung für die ideologische Standortbestimmung der NF zu.
Die aus verschiedenen Organisationen stammenden Gründungsväter der NF konnten sich leicht auf gemeinsame Agitationsthemen verständigen. Streit entstand allerdings auch weiterhin über konkurrierende Führungsansprüche, denen allenfalls ideologische Rechtfertigungen nachgeschoben wurden. Nach einigen Diadochenkämpfen mit geschmacklosen persönlichen Verunglimpfungen, gegenseitigen Parteiausschlüssen und den demonstrativen Parteiaustritten der beiden ersten Parteivorsitzenden (Chesterton und John O'Brien) aus Protest gegen die Machenschaften der Clique um Tyndall, spaltete sich Ende 1975 auch der dritte Vorsitzende Kingsley Readab und gründete die National Party (NP). Diese Spaltung der rechtsradikalen Sammlungsbewegung lähmte vorübergehend die NF-Aktivitäten, bis sie sich durch die Wahlerfolge von 1976/77 wieder als eindeutig stärkste Kraft der extremen Rechten stabilisieren konnte Die „Populisten" in der NP (so die Sprachregelung der NF-Kampagne gegen die Dissidenten) versuchten, sich durch den Anspruch zu profilieren, eine härtere Linie gegen die Immigration zu verfolgen und zugleich „demokratischer" als die NF zu sein; ihre Organisation verkümmerte aber langsam, so daß sie hier vernachlässigt werden kann. Der Kampf um Gefolgschaft hatte dazu geführt, daß sich beide Gruppen durch Radikalität zu überbieten versuchten, obwohl beiden programmatisch nichts Neues oder Trennendes einfiel
1. Ideologie, Programmatik und Taktik der NF
Die Analytiker der NF-Ideologie erkannten eine propagandistische Doppelstrategie: eine außengerichtete, von dep National Front Newsverbreitete und an Mitglieder und Wähler gerichtete Propaganda der „great simplicities", die sich auf die Rassenfrage konzentriert, und eine innengerichtete, von Tyndalls Monatszeitschrift Spearhead elaborierte und auf die Selbstverständigung der inneren Zirkel abzielende Indoktrination, die sich im verworrenen Kreise der Verschwörungstheorie dreht. Die NF agiert in der Öffentlichkeit als militant nationalistische und rassistische Opposition gegen die Immigration aus dem farbigen New Commonwealth. „Britain First" ist die eingängige Parole. In den „Immigranten" fand sie die Sündenböcke, die die Juden um die Jahrhundertwende für die British Brothers League und dann wieder für Mosleys BUF in den dreißiger Jahren darstellten Nun werden sie für alle möglichen Probleme und Übel der „weißen Rasse" verantwortlich gemacht: für Arbeitslosigkeit, Mangel an billigem Wohnraum in den kommunalen Council Houses, die Verslumung der Vorstädte und Verbreitung von Krankheiten, Ratten und Verbrechen. „Mugging" (d. h. Straßenraub) wurde durch Kampagnen zum „schwarzen Verbrechen" an „weißen Opfern" stilisiert. Unbestreitbare Sachverhalte wie die überproportionale Beteiligung farbiger Jugendlicher an der Jugendkriminalität, die Verslumung von Wohnvierteln oder die Qualitätsminderung von Schulen werden nicht auf erklärbare Ursachen zurückgeführt, sondern als „Rassenproblem" verkürzt und verzerrt. Die NF spricht geschickt die Vorurteile und Ängste des „kleinen Mannes" an, dessen Reihenhaus durch farbige Nachbarn an Wert zu verlieren droht.
Die „Immigranten" werden als Konkurrenten auf dem Arbeits-und Wohnungsmarkt (obwohl sie Arbeiten und Wohnungen annehmen, die Briten nicht mehr akzeptieren) und als Parasiten des britischen Wohlfahrtsstaates verteufelt, denen die „race relations industry" sogar Vorrechte gegenüber den zu Bürgern zweiter Klasse degradierten Einheimischen einräume. Diese bösartige Polemik verdreht nicht nur gröblich Tatbestände sondern heizt auch unverhohlen den „Rassenkrieg" (nach eigener Diktion) an. Schließlich werden die „Negroes" und „Pakkis“ nicht nur als unbewußte Agenten des Zionismus in den skurrilen Okkultismus der Verschwörungstheorie eingebaut sondern vulgärdarwinistisch und in kaum verhüllter Anlehnung an die nationalsozialistische Rassenlehre als minderwertige Rasse dargestellt, die den Bestand der überlegenen weißen Rasse gefährde
Im Gebrauch von Sündenböcken reagiert sich nach sozialpsychologischer Deutung die diffuse Frustration am faßbaren Objekt ab: der farbige „Immigrant" aus dem verlorenen Kolonialreich, das heute den Niedergang Großbritanniens symbolisiert, wird zum sicht-und greifbaren Symbol der eigenen und nationalen Misere. Die von der NF propagierte Therapie zur „Rassenfrage“ radikalisiert Powells Repatriierungsforderung, indem sie es nicht bei der Freiwilligkeit belassen will und als abschrekkende Zwischenlösung Apartheid in Wohnvierteln, Schulen ect. fordert (auf „nicht-offiziellen" Flugblättern auch die Kastration). Die schon mehrfach erwähnte Verschwörungstheorie liefert die umfassende und alle Bewegungen und Ereignisse der Weltgeschichte erklärende Weltformel: der Verschwörer ist der weltweit operierende und auf Weltherrschaft erpichte Zionismus. Er wird als Drahtzieher hinter dem internationalen Finanzkapital, den internationalen Organisationen (von der EG über den IMF bis zur UNO), den Linken in Gewerkschaften, Labour Party und Universitäten, hinter der IRA und selbst hinter der Bedrohung durch den internationalen Kommunismus vermutet, der hier als Komplize und Agent des Zionismus erscheint. So abstrus und skurril diese Weltformel ist, so gehört sie doch — wie M. Billig in Tiefeninterviews von NF-Aktivisten herausgefunden hat — zum Kernbestand der NF-Ideologie und zur politischen Glaubenslehre ihres Mitgliederstamms. Der Zionismus, geflissentlich dem Begriff des Judentums übergestülpt, um dem Vorwurf des Antisemitismus und dem Vergleich mit der BUF zu entgehen bildet den unsichtbaren Sündenbock im Hintergrund, der durch die „Immigranten" sichtbar gemacht wird: „The conspiratorial element of the Front's scapegoating thus provides not only a simple and understandable explanation for both private and national ills, but it also may be used as a salve for nationalists who wish to continue believing in Britains great-ness but who need also to explain her decli-ne."
Zwar steht die von der Verschwörungstheorie umrahmte Immigrationsfrage im Mittelpunkt der Agitation, weil sie den größten Zulauf verspricht, aber die NF bietet ein breiteres Schwerpunktprogramm an, wobei sie sich geschickt und opportunistisch aktuellen Stimmungen anpaßt und propagandistisch verheißungsvolle Nischen im Parteienspektrum sucht: Sie schloß sich als nationalistische Partei nicht nur der Anti-EG-Front an, sondern fordert auch den Austritt aus der NATO, UNO und anderen internationalen Organisationen (wo die „Farbigen" dominieren), um die na-tionale Souveränität zurückzugewinnen; sie plädiert für Handelsprotektionismus und korporatistischen Staatsinterventionismus; sie will die Gelder für Entwicklungshilfe für die Slumsanierung verwenden und massiv konventionell und nuklear aufrüsten; sie verspricht, rigoros Moral (durch Verbot von Pornographie) und law and Order wiederherzustellen sowie die „rote Bedrohung" im Innern zu beenden; schließlich und beispielhaft für Spießerideologie, Taktik und Sprache: „Large sections of British youth, deprived of leadership, are drifting to drugs, dirt and the worship of weird alien jungle rhythms. The National Front aims to restore in youth the virtues of discipline, fitness, smartness and national pride."
In deutscher Übersetzung wäre dieses Programm kaum von dem der NPD unterscheidbar. Wie diese schlachtet die NF Krisensym-'ptome der westlichen Gesellschaften, Veränderungen der Werte und Verhaltensmuster (bis hin zu Kleidung und Haartracht) und das ganze Reservoir der kleinbürgerlichen Spie-Bergesinnung aus. Die meisten der politischen Programmpunkte der NF können wiederum auch in Erklärungen von Tory-Rechtsaußen entdeckt werden: sei es zur Immigration, zur Rüstungs-oder Rechtspolitik (mit der Forderung nach Wiedereinführung der Todesstrafe und Entliberalisierung von Strafrecht und Strafvollzug), zur Bildungs-oder Sozialpoliük
Um so mehr stellt sich die Frage, welche Elemente dieser Ideologie und dieses programmatischen Negativkatalogs als spezifisch faschistisch bestimmt werden können. Weder der militante Nationalismus noch der Rassismus oder Antisemitismus, so widerwärtig, abstrus und konfus sie für sich und in Kombination sein und wie nahe sie den Erscheinungsformen des klassischen Faschismus kommen mögen, reichen für eine eindeutige Zuordnung aus. Die Ansätze von außenwirtschaftlichem Protektionismus und staatswirtschaftlichem Korporatismus erinnern zwar an Mosleys Krisenrezepturen, wurden aber auch in den keineswegs vom Faschismusverdacht belegten neokorporatistischen Krisentherapien der kapitalistischen Staaten entdeckt Sicherlich:
„To think of National Front members as Fascists in the classic sense of the 1930s is silly." Aber auch das Neo-Epitheton im Neofaschismus bedarf einer inhaltlichen Begründung.
Faschismus ist eine Herrschaftsorganisation, gekennzeichnet durch die antipluralistische, soziale Harmonie erzwingende und Klassengegensätze verschleiernde Kontrolle und Reglementierung der Gesellschaft, das Führerprinzip und die Massenmobilisierung. Wenn Stan Taylor gerade diese Strukturkomponenten im ideologischen Paket der NF vermißt, läßt er sich von ihren taktischen Bekenntnissen zu Demokratie und Parlamentarismus täuschen, übersieht nicht nur Tyndalls früheres Plädoyer für den autoritären Führerstaat, sondern auch neuere Elaborate mit unmißverständlichen Zielangaben Unter der Über-schrift „Away from Liberalism — towards leadership" unterstellte er in seiner eigenen Hof-postille Spearhead dem Liberalismus, die Staatsautorität zu untergraben, in der Ökonomie pure Anarchie und in der Gesellschaft den Kampf aller gegen alle zu fördern sowie in der Außenpolitik die nationale und rassische Selbsterhaltung zu gefährden. Sein Credo, das fast alle Feigenblätter fallen läßt, lautet: „... we have to throw into reverse everything that liberal thought and institutions have done to a once mighty and proud nation and we have to do it soon ... We must undertake a revolution of ideas within the British people which will lead to the abandonment of liberal softness and to the recapture of NationalPride, Willpo-
wer, sense of Destiny and awareness of Race.
We must undertake a revolution, albeit a peaceful and constitutional one, in the British political System which restores responsible Au-
thority and true Leadership" Eine Inhalts-analyse von Spearhead rundet diesen Antiliberalismus mit allen bekannten Ingredienzen faschistischer Ideologie ab, wenn auch gelegentlich durch taktische Rücksichtnahmen verschleiert
Die Kombination von Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus, Korporatismus und Antiliberalismus, verknüpft durch Verschwörungs-Halluzinationen, ergibt ein ideologisches Gemisch, das auch nach vorurteilsfreien Kriterien als faschistisch bestimmt werden kann. Wenn Reinhard Kühnl oder Lutz Niethammer keine theoretisch-begriffli-chen Probleme haben,. Ideologie und Verhalten der NPD entweder auf den Begriff des Neofaschismus oder des „angepaßten Faschismus" zu bringen, kann die eher aggressivere und weniger angepaßte Ideologie und Agitation der NF kaum mit schonenderen Etiketten versehen werden.
2. Organisations-und Sozialstruktur der NF
Führungsorgan der NF ist das 20köpfige Direktorat, das jährlich den Vorsitzenden, Stellvertreter und den dreiköpfigen Executive Council wählt und selbst jährlich zu einem Drittel durch Wahl der Mitglieder erneuert wird. In diesem Führungsorgan spielen sich vor allem die Fraktionskämpfe ab-, in ihm sitzt der kleine, aus den Anführern der verschiedenen Gründungsorganisationen gebildete Caucus, der nach den Worten des resignierenden Vorsitzenden O'Brien besessen ist von „the trappings and ideologies of foreign nationalisms from the past", und nach seinem Vorgänger Chesterton „really evil men" vereinigt Die Vorsitzenden mit „Führer" -Ambitionen versuchten immer wieder, sich mehr Handlungsspielraum gegenüber dem Direktorat und Executive Council zu verschaffen; Tyndall wollte eine Statutenänderung durchsetzen, um durch die direkte Wahl des Vorsitzenden durch die Mitglieder, bei denen er mehr Sympathie für seinen nationalsozialistisch eingefärbten Radikalismus vermutete, das plebiszitäre Charisma des „Führers" zu stärken.
Die NF muß sich offensichtlich weitgehend aus Beiträgen und Spenden der Mitglieder finanzieren. Auch der geradezu kriminalistischen Kleinarbeit von Martin Walker (einem Musterbeispiel des angelsächsischen investi-gatingjournalism) \st es nicht gelungen, Querverbindungen zu kapitalkräftigen Kreisen nachzuweisen. Die Behauptung von Search-light (dem von antirassistischen Gruppen besorgten Informationsdienst), daß Industriekreise ihren Verzicht auf Kandidaturen in den für die Konservative Partei gefährdeten Wahlkreisen finanziell honorieren wollten konnte nicht belegt werden.
Nicht nur die Aktivitäten, sondern auch die Organisation der NF sind auf vier Regionen mit überdurchschnittlich hohen Anteilen farbiger Bevölkerung konzentriert: Großlondon, Midlands, Leicestershire und Lancashire. 1974 lagen elf der insgesamt 30 Ortsverbände in London, fünf im übrigen Südosten, fünf in den Midlands und sieben im Nordwesten, während in Schottland, Wales und Nordirland nur vereinzelte Gruppen operierten Die NF, anfänglich weitgehend auf Großlondon beschränkt, konnte ihre Organisationsbasis also in wenigen Jahren wesentlich verbreitern. Nach eigenen Angaben hatte sie 1977 etwa 13 000 Mitglieder. Die Schätzungen von Beobachtern, die vom Zeitpunkt und vom Begriff des Mitglieds abhängen, schwanken dagegen zwischen 2OOO 4 500— 6000 und 12 500 Auffallend ist die hohe Fluktuation: „The membership of the NF is rather like a bath with both taps running and the plughole empty. Members pour in and pour out." Der breite Protest gegen die Aufnahme der Uganda-Asiaten im Jahre 1972 löste einen Zulauf aus, der sich jedoch ebenso schnell wieder verlief.
Es gibt inzwischen mehrere Untersuchungen über das Innenleben der NF, deren Wahlerfolge auch Soziologen und Politologen aktivierten. Die Studien über das Sozialprofil der Parteimitglieder weisen ziemlich übereinstimmend auf einen hohen Anteil von Arbeitern und Angehörigen der unteren Mittelklasse (kleinere Angestellte, Händler) hin, allerdings mit lokalen und regionalen Unterschieden. In den Londoner Stadtteilen Camden und Brent sowie in Worthing an der Südküste wurde eine Mehrheit von Selbständigen, in Lancashire (dessen veraltete Textilindustrie mit den Billigimporten aus asiatischen Commonwealth-Ländern nicht mehr konkurrieren kann und sich durch Einsatz billiger farbiger Arbeitskräfte zu retten versucht) dagegen eine Mehrheit von Arbeitern festgestellt, die etwa zur Hälfte Gewerkschaftsmitglieder waren und früher die Labour Party wählten In mehreren Berichten wird auf den hohen Anteil von früheren Labour-Anhängern (von etwa 60 Prozent) unter den NF-Mitgliedern verwiesen
Eine Untersuchung des Sozialprofils der NF-Kandidaten in den County Council-Wahlen in den West Midlands von 1976 fand heraus, daß die Mehrheit dieser lokalen Parteielite der unteren Mittelschicht entstammte, aber immerhin ein Drittel Arbeiter und ein Viertel Ge-Werkschaftsmitglieder waren, so daß die NF mehr Arbeiter als Kandidaten aufstellte als die Kommunistische Partei In dieser sozialen Rekrutierung der Kandidaten, die sich deutlich vom intellektuellen Profil der anderen Parteien abhob und sicherlich das prätendierte Image der NF als anti-intellektueller und anti-elitärer Partei das „kleinen Mannes" fördert, zeigt sich auch ein bemerkenswerter Unterschied zur NPD: Während sich die NF etwa zur Hälfte aus Arbeitern rekrutiert, konnte die NPD kaum Arbeiter als Mitglieder oder gar als Kandidaten für Wahlen gewinnen Studien über die NF-Kandidatenauslese zu den beiden Parlamentswahlen von 1974 entdeckten ein 50/50-bzw. 40/60-Verhältnis zwischen Handarbeitern und anderen Berufen, außerdem einen hohen Anteil von relativ jungen Kandidaten (26 Prozent unter 30 bzw. 60 Prozent unter 4Ö Jahren) mit einem vergleichsweise niedrigen Bildungsniveau Alle Beobachter heben das junge Alter der Mehrheit der NF-Aktivisten hervor, so daß das Klischee von den „Ewiggestrigen", die — wie vielleicht die Veteranen aus der LEL — einer imperialen Vergangenheit nachtrauern, irreführt. Vielen „Frontliners" scheint es allerdings mehr um die Befriedigung eines ungestillten Tatendrangs durch Demonstrationen und Aktionen denn um Politik im Sinne der Parteiführung zu gehen Diese versucht geschickt, diesem Bedürfnis entgegenzukommen und der diffusen Frustration über Langeweile, Vermassung und Vereinsamung das Angebot einer verschworenen Gemeinschaft entgegenzustellen: „You're never alone with the Front" sie begann, unter jugendlichen Fußballfans Mitglieder für die Young National Front zu werben, weil ihr Agitationsziel, sich in die Schlagzeilen der Massenmedien zu „kikken", auch der Kraftmeierei und dem aggressiven Aktionismus von unpolitischen Hooligans entgegenkommt. Gleichzeitig achten die NF-Organisatoren zur öffentlichen Demonstration ihrer law and order-Tugendlehre auf Ordnung und Disziplin.
Vordergründig könnte aus der punktuell erschlossenen Sozialstruktur der NF-Mitglieder ein Beleg sowohl für die „autoritäre Arbeiter-persönlichkeit" wie für den „Extremismus der Mitte" abgelesen werden. Billig hat in seinen Tiefeninterviews typische Persönlichkeitsmerkmale der NF-Mitglieder herausgefunden: sie sind autoritär und gewalttätig Er selbst hütet sich jedoch davor, diese Typen als repräsentativ für die Mitgliedschaft zu verallgemeinern; abwegig wäre es, sie für die Wähler zu verallgemeinern.
3. Wahlsoziologie und Wahlpsychologie
Im Vergleich zum sozialempirischen Erkenntnisstand über das Potential der NPD ist das Wählerreservoir der NF noch wenig erforscht. Die vorliegenden Erkenntnisse lassen — überraschenderweise — keine eindeutige Korrelation zwischen dem Anteil der farbigen Bevölkerung in Wahlbezirken und dem Stimmenanteil der NF erkennen Die Wahl-und Bevölkerungsstatistik zeigt, daß sie zwar in der Regel ihre besten Ergebnisse in den Wahlbezirken mit den höchsten Anteilen von „Immigranten" erzielte andererseits kandidierte sie z. B. im Oktober 1974 in fünf der zehn Wahlkreise mit den höchsten Anteilen gar nicht und konnte nur in einem der übrigen fünf mehr als 4 Prozent der Stimmen gewinnen. Bei den Kommunalwahlen von 1977 zum Greater London Council (GLC) gewann sie in Wahlkreisen mit einem 0— 10 Prozent-Anteil farbiger Bevölkerung durchschnittlich 5 Prozent der Stimmen, bei einem 10— 15 ProzentAnteil immerhin 7 Prozent, bei einem Anteil über 15 Prozent aber nur 6 Prozent Aufschlußreich ist die klassenspezifische Aufschlüsselung dieser Relationen: Während die Mittelklasse (nach der angelsächsischen Klassentypologie) in Wahlkreisen mit mehr als 10 Prozent farbiger Bevölkerung nur mit 5 Prozent für die NF votierte (mit 4 Prozent in Wahlkreisen mit weniger als 10 Prozent Farbigen), stieg die NF-Präferenz unter Arbeitern von 6 auf 14 Prozent. Die Präsenz von farbigen Sündenböcken scheint also zwar eine Voraussetzung für das Agieren der NF zu sein, ist aber nicht die einzige Determinante ihrer Wahlchancen. Offensichtlich ist auch, daß sich die in den städtischen Peripherien lebenden weißen Arbeiter mehr von der Konkurrenz auf dem Wohnungs-und Arbeitsmarkt bedroht fühlen als die Mittelklasse.
Der direkte Zusammenhang zwischen dem Anteil farbiger Bevölkerung und dem Stimmenanteil der NF wurde auch durch die „Droh" -Hypothese modifiziert, die von der plausiblen Annahme ausgeht, daß weiße Wähler in Wohnbezirken, die sich von der Zuwanderung von farbigen „Immigranten" und ihren tatsächlichen oder nur befürchteten Folgeerscheinungen (vom Wertverlust der Häuser bis „mugging") bedroht fühlen, als aggressive Abwehrreaktion noch stärker NF wählen als Nachbarn in schon gemischten Wohnvierteln Für diese Hypothese konnte nicht nur in den Bezirken, die 1972 und 1976 für die Ansiedlung der aus Afrika ausgewiesenen Asiaten vorgesehen wurden, eine wahlempirische Absicherung gefunden werden. Dennoch läßt die spärliche Empirie (und die Grenzänderung vieler Wahlbezirke) noch nicht den Schluß zu, daß das längere Neben-oder Miteinander der Rassen schon Vorurteile und damit die Neigung, NF zu wählen, abbaut
Auch die genaue Analyse der Ergebnisse von Parlaments-und Kommunalwahlen gebietet Vorsicht, die Stimmabgabe für die NF einseitig und ausschließlich auf rassistische Reaktionen oder gar faschistische Optionen zurückzuführen. Ein Vergleich der Ergebnisse der beiden Wahlen von 1974 zeigt, daß ihr Stimmen-anteil in den sieben Wahlkreisen, in denen die Liberale Partei zwar im Oktober, aber nicht im Februar kandidierte, durchschnittlich um 34 Prozent abfiel, während er in den übrigen 40 Wahlkreisen, in denen liberale und NF-Kandidaten beide Male konkurrierten, nur um 3 Prozent sank In den Wahlen zum Greater London Council von 1977 konnte die NF in den Bezirken, in denen die Liberalen nicht kandidierten, 11, 3 Prozent der Stimmen, in den anderen mit liberaler Konkurrenz aber nur 5, 2 Prozent gewinnen
Aus diesen Daten kann gefolgert werden, daß sich die beiden „Drittparteien” das Protestpotential gegen die beiden Großparteien, beson-ders gegen die jeweilige Regierungspartei, streitig machten; freilich wiederum mit einem klassenspezifischen Unterschied: unzufriedene Angehörige der Mittelklasse wählten eher die Liberalen, unzufriedene Arbeiter eher die NF Die überdurchschnittlichen Stimmengewinne der NF in den sozialen Problemgebieten des Londoner Ostens und Nordostens mit übergroßen Labour-Mehrheiten bedeuten also nicht zwangsläufig Zustimmung zu ihrer Programmatik, sondern können zumindest teilweise als Protest gegen die Labour-Regierung, die ihre Politik des „Sozialkontrakts" vor allem den Lohn-und Renten-empfängern aufbürdete, gedeutet werden. Die spektakulären Ergebnisse der drei parlamentarischen Nachwahlen von 1977, in denen die durch den „Lib-Lab-Pakt" mit der Labour-Minderheitsregierung paktierenden Liberalen (die in der Immigrationsfrage eine unpopuläre liberale Position vertreten) hinter die NF zurückfielen, fügen sich in diese Interpretation ein, zumal britische Nachwahlen in der Regel eine besondere Funktion als Protestwahlen haben. Die NF, die zusätzlich von der üblichen niedrigen Wahlbeteiligung profitieren konnte, erhielt in allen Nachwahlen mehr Stimmen als in den vorangegangenen oder folgenden allgemeinen Wahlen, in denen es um die Wahl einer Regierung ging
Aus diesen BeoBachtungen läßt sich folgendes • Fazit ziehen: „The Front was a vehicle for at least two distinct types of discontent — Immigrant backlash and social an economic malaise." In ihren bisher erfolgreichsten Jahren 1976/77 verbanden sich diese beiden Motive:
zur schwersten Wirtschaftsmisere seit der Weltwirtschaftskrise gesellte sich die Hysterie über die Aufnahme der aus Malawi ausgewiesenen Asiaten.
Die These, daß die NF zumindest auch als Vehikel des Protests fungiert, wird durch die Ergebnisse der Parteien-und Verhaltensforschung unterstützt, die auf den Abbau dauerhafter Parteiloyalitäten und die affektive Erosion des Zweiparteiensystems vor allem unter Jungwählern hinweist Die etablierten Parteien bilden für einen wachsenden Teil der Wähler nicht mehr eine angestammte politische Heimat, sondern auswechselbare Vehikel für Interessen und Stimmungen. Auch in dieser Mobilität des Wählerverhaltens manifestiert sich ein Strukturwandel der politischen Kultur.
Die NF zieht zwar Wähler aus allen Schichten und Altersgruppen an, aber mehrheitlich junge (53 Prozent unter 35 Jahren) und überwiegend männliche Arbeiter (72 Prozent) mit schlechter Schulbildung undusbildung: „The ideal-typical National Front supporter... is young, ungiftet and white". Überraschend ist das Untersuchungsergebnis in Großlondon und in den West Midlands: dort wählen mehr Facharbeiter als ungelernte Hilfsarbeiter, die mit der wachsenden Zahl von farbigen Schulabgängern konkurrieren, die NF. In den West Midlands stammen 85 Prozent der NF-Wähler aus der Arbeiterklasse, aber 54 Prozent gehören der Gruppe der Facharbeiter an
Wie bei den Mitgliedern fällt auch bei den Wählern der hohe Anteil von jüngeren Altersgruppen auf. Eine Untersuchung in den beiden Londoner Eastend-Bezirken und Labour-Hochburgen Hackney und Shoreditch zeigte, daß 27 Prozent der 16 bis 20jährigen mit der NF sympathisieren und 15 Prozent sich ihr verpflichtet fühlen, vorwiegend aus Opposition gegen den hohen Anteil von „Immigranten" in diesen beiden pauperisierten Stadtteilen Eine andere Untersuchung in neun Londoner NF-Hochburgen ergab, daß so-gar fast die Hälfte der weißen 18 bis 21jährigen aller Berufsgruppen, aber wiederum stärker unter ungelernten Arbeitern, sowie beträchtliche Teile älterer Jahrgänge mit der NF sympathisierten
Der hohe Anteil von Arbeitern unter den NF-Wählern und der sozialempirische Nachweis, daß der Rassismus bei ungelernten Arbeitern (schon „working-class racism" genannt) am stärksten ausgeprägt ist könnten wieder dazu verführen, aus ihnen einen empirischen Beleg für die „autoritäre Arbeiterpersönlichkeit''abzulesen. Obwohl der Zusammenhang zwischen Bildung und Toleranz oft nachgewiesen wurde und obwohl einleuchtet, daß sich nicht Villenbesitzer mit einem westindischen Hausmädchen, sondern Arbeiter von der Konkurrenz auf dem knappen Arbeits-und Wohnungsmarkt bedroht fühlen können, vermögen die relativ wenigen Stimmen für die NF (sei es aus Gesinnung oder Protest) weder die „deference" -Hypothese zu widerlegen noch die „autoritäre Arbeiterpersönlichkeit''zu belegen. Auch wenn der typische NF-Wähler dem autoritären und gewalttätigen Idealtyp des NF-Mitgliedes gleichen sollte, ist er nicht typisch für die Arbeiter oder kleinbürgerlichen Händler und Handwerker. Dies sind Banalitäten, denen allerdings sozialpsychologische Deutungen des Faschismus ebensowenig entgehen Wie der kollektiven Stigmatisierung von Schichten und Berufsgruppen
4. Potential und Barrieren
In einer Längsschnittanalyse des durch kurzfristige Spitzenwerte dramatisierten Potentials rechtsradikaler Parteien stellte sich heraus, daß ihr Stimmenanteil — wenn man vom überdurchschnittlichen Zuwachs im Nordosten Großlondons absieht — in den vergangenen 20 Jahren relativ konstant blieb Diese Analyse schätzt das Stimmenpotential des Rechtsextremismus in England — weil es nur in diesem Teil des Vereinigten Königreiches eine relevante „Rassenfrage" gibt— auf 3 Prozent in den Städten und 1, 5 Prozent auf dem Land bzw. 4, 5 Prozent bei Nachwahlen. Eine neuere Untersuchung kommt zum Ergebnis, daß 5 Prozent der Wahlberechtigten als potentielle NF-Wähler und weitere 10 Prozent als stille Sympathisanten gelten können Die Anti-Positionen der NF finden breite Unterstützung: 78 Prozent der Gesamtbevölkerung plädieren für härtere Strafverfolgung, 80 Prozent für eine Bändigung der politischen Macht der Gewerkschaften, 53 Prozent für mehr Wirtschaftsnationalismus und 24 Prozent für die Zwangsrepatriierung der „Immigranten"
Die eingangs angeführten strukturellen Gründe, die sich auch in den lokalen Abweichungen der NF-Stimmenanteile vom nationalen Durchschnitt ausdrücken, oder die Mißerfolge in den Kommunalwahlen von 1978 und in der Parlamentswahl von 1979 lassen noch keine politische Entwarnung vor der „Gefahr von rechts" zu. Großbritannien hat nicht nur fast 2 Millionen farbige Mitbürger, deren Präsenz immer von einer rassistischen Partei oder ei-nem Volkstribunen ä Ja Powell ausgebeutet werden kann, sondern ein breites verstecktes Potential für den Rechtsextremismus. Die NF hat es allerdings schwer, dieses Potential für sich zu aktivieren. Nach den widersprüchlichen Ergebnissen von zwei Erhebungen miß-trauen 64 Prozent (bzw. 78 Prozent) der Befragten ihren Nazi-Tendenzen; 56 Prozent (bzw. 76 Prozent) verdächtigen sie, eine Diktatur anzustreben Was die NF nicht schafft, könnte jedoch eine andere Gruppierung mit einer attraktiven Führungsfigur erreichen.
IV. Gegenreaktionen von Gesellschaft und Politik
Die britischen Regierungsparteien haben teils ähnlich, teils unterschiedlich auf diese Erosion ihres eigenen Stimmenpotentials reagiert — also mehr auf die Gefährdung ihrer Chance zur Macht denn ihrer moralischen Prinzipien. Beide versuchten zunächst, durch eine Verschärfung der Einwanderungskontrollen dem vor allem die Party belastenden Vorwurf Labour der NF entgegenzuwirken, daß sie — von Zionisten und „Rassemischern" manipuliert — das Land der „farbigen Invasion" öffnen. Während die innerparteilich vom Powellismus und Monday infizierte und in der „Rassenfrage" Club ziemlich zerstrittene Konservative Partei unter Führung von Mrs. Thatcher begann, die rassistischen Ressentiments wahltaktisch auszubeuten startete die Labour Party 1976 zusammen mit dem Gewerkschaftsverband (TUC) eine großangelegte Gegenkampagne. Sie wird zwar von der großen Mehrheit der „Immigranten" (die in 61 Wahlkreisen immerhin 8 Prozent der Bevölkerung ausmachen) gewählt, verlor aber gerade in ihren städtischen Hochburgen und unter ihrer traditionellen Klientel der Handarbeiter Stimmen an Tories und NF. Viele von ihr dominierte Stadtverwaltungen versagten der NF Versammlungslokale, und Polizeichefs untersagten, gewarnt durch Massenschlägereien anderenorts, öffentliche Demonstrationen.
Der NF kommt allerdings die große Sensibilität von Verwaltung und Justiz gegenüber angestammten Bürgerrechten zugute. Wie sich die Regierung erst 1940 entscheiden konnte, die BUF zu verbieten, so verschaffen heute die Gerichte der NF immer wieder Möglichkeiten, sich öffentlich zu betätigen. Obwohl der Race Relations ActNon 1976 jede Form der Rassenhetze oder Rassendiskriminierung unter Strafandrohung stellt, wurden die offenen Aufforderungen zum „Rassenkrieg" in den rechtsradikalen Kampfblättern nicht verfolgt; Robert Relf, der sich mit Hungerstreiks der richterlichen Anordnung widersetzte, das Schild am Haus zu entfernen, das den Verkauf „nur an Engländer" verkündete, wurde nicht nur in rechtsradikalen Kreisen zum Märtyrer (wie schon vorher K. Read aus ähnlichem Grund).
Beeindruckend ist die von vielen gesellschaftlichen Organisationen mobilisierte Abwehrreaktion.
Die von linken Gruppen aus Gewerkschaften und Labour Party, Studentenorganisationen und Vereinigungen der farbigen Kommunitäten, den verschiedenen kommunistischen Parteien und Organisationen (CP, SWP und ML-Gruppen) und einigen populären Einzelkämpfern (wie dem Coach von Nottingham Forest, Brian Cough) getragene Liberation und Anti-Nazi-League brachten eindrucksvolle Gegendemonstrationen zustande.
Als diese jedoch in Gewalttätigkeiten und Straßenschlachten mit der Polizei ausarteten, schütteten sie Wasser auf die Mühlen der NF-Propaganda.
Der Adressat stellte sich geschickt auf diese Konfrontationen ein: Pressebilder vermittelten den Eindruck, daß die NF-Reihen wohlgeordnet hinter den Polizeilinien dem ungeordneten „Mob" gegenüberstehen.
Die Gegendemonstrationen, die es in dieser Größenordnung in der Bundesrepublik auch in der Blütezeit der NPD nicht gab, haben zwar erreicht, daß die NF ihr Image als Nazi-Partei nicht los wird; gleichzeitig hat aber die Militanz kleinerer Gruppen, die die NF als Agitae tionsvehikel entdeckten, die Fleetstreet-Kampagnen gegen die „linke Gefahr" mit apokalyptischen Darstellungen der „britischen Agonie"
entfacht und das liberale Demonstrationsrecht unter Beschuß gebracht.
Wirksamer als diese Auseinandersetzungen auf der Straße sind die innerorganisatorischen Aufklärungskampagnen der Gewerkschaften.
Die Arbeiterbewegung zeigt Kampfgeist ge-gen die anti-gewerkschaftliche NF, allerdings nur lauwarmes Engagement für die Arbeiter mit anderer Hautfarbe Ihr kommt aber — wie in den dreißiger Jahren — sowohl in der Abwehr faschistischer Krisenbeuterei wie in der Überwindung des „working-class racism eine Schlüsselrolle zu. Ein weniger von zünft-
lerischen Statusinteressen durchlöcherter Klassen-und Solidaritätsbegriff („Kompartementalisierung" in der Soziologensprache) könnte nicht nur das farbige Proletariat, sondern auch das wachsende linke Protestpotential in gemeinsame Interessen einbinden.
Die liberale Bürgerrechtstradition hat zur Folge, daß die Forderungen nach einem Verbot der NF auch bei der Labour Partywenig Befürworter fand. Ein Parteiverbot wäre nicht nur nach der bestehenden Rechtslage unmöglich, weil der in der individualistischen Tradition des Common Law stehende Public Order Act von 1936 nur Sanktionen gegen Personen zuläßt, sondern könnte vor allem das politische Problem nicht lösen. Das rassistisch-faschistische Potential könnte allenfalls und auch nur teilweise durch eine Politik ausgetrocknet werden, die den Zusammenhang zwischen Krise und Rassismus/Faschismus zu durchbrechen vermag und die soziale Misere in den städtischen Problemgebieten nicht mit den notlindernden Mitteln der sozialen Wohlfahrt zu lösen versucht. Da die Labour-Regierungen diese soziale Struktursanierung nur punktuell angingen und die neue konservative Regierung wieder auf die „unsichere Hand" des Marktes setzt, der die städtische Marginalität hervorgebracht hat, werden rechtsradikale Krisengewinnler auch weiterhin, unter welchem Namen oder Vorzeichen auch nur immer, ihre Brutstätten finden. Eine Besonderheit der britischen Entwicklung war zumindest bislang, daß die Kommunistische Partei oder links von ihr agitierende Organisationen wie die SWP aufgrund der Integrationskraft von Labour Party und Gewerkschaften nicht in der Lage waren, sich in der Krise des britischen Kapitalismus eine Massenbasis zu verschaffen. Die Widersprüche des Kapitalismus reproduzieren sich widersprüchlich im Bewußtsein der Krisengeschädigten.