Auf dem lauten Markt der Parolen, Appelle und Kampagnen, die nach Abrüstung rufen, war die Stimme der DDR nie eine der leisen. Daran gäbe es nichts auszusetzen, teilte die ostdeutsche Behandlung dieses Dauerthemas nicht besonders auffällig die beiden Haupt-mängel, die für den Abrüstungsverbalismus von Regierungen schon immer kennzeichnend waren: unter Abrüstung wird das verstanden, was die anderen tun sollen — und die nachdrücklichste Fürsprache genießen diejenigen Vorschläge, die sich vordergründig plausibel ausnehmen, aber wegen ungleicher Vorteils-verteilung die geringsten Aussichten haben, verwirklicht zu werden. Vorzuwerfen ist einer solchen Handhabe der Abrüstungsfrage nicht, daß sie auf Breitenwirkung zielt, sondern daß sie im Kontext grobschnittiger Systempropaganda die so dringliche Entwicklung von Problembewußtsein mehr behindert als fördert.
Andererseits gibt es keinen Grund, das Interesse der DDR an Abrüstung zu bezweifeln. Im geographischen und politischen Zentrum der europäischen Konfliktregion, von deren dauernder Befriedung trotz aller entspannungsdiplomatischer Beruhigung noch kaum die Rede sein kann, wird das Bedürfnis nach materiellen Garantien des Entspannungsfortschritts deutlicher empfunden als in weniger virulenten Randlagen. Auch ökonomisch dürfte der ressourcenarmen und vollbeschäftigten DDR-Wirtschaft an der Entlastungswirkung eines verminderten Rüstungsaufwandes gelegen sein. Und schließlich würden konkrete Abrüstungsschritte der Erwartungshaltung der Bevölkerung entgegenkommen, der in der DDR wie in anderen osteuropäischen und westeuropäischen Paktländern zunehmend schwieriger zu erklären ist, warum der spürbare Abbau politischer Konfrontation die unveränderte Erhaltung oder gar den Ausbau des militärischen Konfliktpotentials erfordert Nenn es die Gefahr gewaltsamer Austragung von Interessengegensätzen zwischen Staaten oder Staatengruppen ist, die zu militärischen icherheitsvorkehrungen im nationalen und 'm Bündnisrahmen nötigt, müßte die Praxis
I. Problemaufriß und Methode
vertragsförmiger Entschärfung außenpolitischer Gegensätze, wie sie seit einem Jahrzehnt in Europa vonstatten geht, eine Einschränkung auch des konfrontativen Konfliktinstrumentariums nach sich ziehen. Doch das Gegenteil ist der Fall.
Die Resistenz der großen Rüstungsapparate im Westen und im Osten gegen den Durch-
INHALT I. Problemaufriß und Methode Konkurrierende Rüstungstheoreme 2. Grenzen der Textanalyse 3. Abrüstungsliteratur in der DDR II. Sozialistische Militärtheorie 1. Außenpolitik als Klassenkampf 2. Aggressivität des Klassengegners 3. Legitimierung kollektiver Gewalt 4. Sozialistische Landesverteidigung III. Rüstung im Entspannungsprozeß 1. Ursachen des Wettrüstens 2. Zwei-Pfeiler-Doktrin West 3. Zwei-Pfeiler-Doktrin Ost 4. Die erzwingbare Abrüstung IV. Ergebnis und Folgerungen 1. „Ernstfall ist der Krieg"
2. Militärdoktrin und Abrüstung bruch zu politischen Verhandlungslösungen markiert das augenfälligste Leistungsdefizit europäischer Entspannungsbilanz der siebziger Jahre 1). Keine der wichtigen Militär-mächte ist davon auszunehmen — ein Sachverhalt, der nach Erklärung verlangt. 1. Konkurrierende Rüstungstheoreme Die Standardformel, die Regierungszentralen dazu feilbieten, verbindet die Beteuerung ernsthafter eigener Abrüstungsbereitschaft mit der Behauptung des Fehlens entsprechender Bereitschaft im Gegenlager. Abrüstung wird dieser Optik zufolge dadurch verhindert, daß eigenes Entgegenkommen keine bzw. unzureichende Erwiderung findet. Der machtstatistische Vorteil, den sich die Gegenpartei auf diese Weise zu verschaffen suche, sei untragbar für die Wahrung der nationalen Sicherheit. Die Formel ist universell einsetzbar und wird in Europa tatsächlich wechselseitig und nahezu spiegelbildlich gebraucht. Um so zweifelhafter erscheint ihr wissenschaftlicher Aussagewert, denn allenfalls eine der beiden Richtungsversionen könnte überhaupt zutreffen, die zweite wäre in jedem Fall falsch. Als politische Alibiformel hingegen eignet sie sich gerade wegen ihrr Mischung aus Rechtfertigung und Bezichtigung. Die propagandistische Wirkung läßt sich noch steigern, wenn der behaupteten Unwilligkeit, abzurüsten, politische Motivandeutungen unterlegt werden, wie vage diese auch sein mögen. Besonders verbreitet sind Spekulationen über die Absichten, denen gegnerische Rüstung dienen soll. Der Meinungsstreit über den offensiven oder defensiven Charakter der sowjetischen Militärmacht z. B., der im letzten Frühjahr die westdeutsche Öffentlichkeit beschäftigte, hat illustriert, wie eine solche Debatte über Wochen publikumswirksam aus ungefähren Einsichten in ungefähre Zusammenhänge, aber auf dünnstem Informationsgrund und mit einem Minimum an präziser Argumentation bestritten werden kann.
Erweisen sich also die einseitigen Schuldzuschreibungen des politischen Tagesgeschäfts als wenig überzeugende Antworten auf die Frage nach den Gründen für die offensichtliche Entspannungsempfindlichkeit der Militärrüstungen in Europa, so verbleiben nur zwei grundsätzlich unterscheidbare Hypothesen. Entweder gravierende Abrüstungshindernisse sind in die Struktur der internationalen bzw. intersystemaren Beziehungen eingelagert — sei es, daß der erreichte Grad an Spannungsminderung zum Kern politischer und gesellschaftlicher Selbstbehauptungsinteressen, die kollektive Gewaltmittel schützen sollen, noch gar nicht vorgestoßen ist, sei es, daß es an kommunikativem, strategischem und technischem Wissen fehlt, schrittweisen gegenseitigen Rüstungsverzicht so zu bewerkstelligen, daß die Gewährleistung existentieller Sicherheitsbelange aller Beteiligten zu keinem Zeitpunkt gefährdet wird. Abrüstung wäre dann eine prinzipiell lösbare, wenngleich noch nicht lösungsreife Aufgabe zwischen Regierungen, die weiterhin intellektuelle und politische Anstrengung erfordert. Oder die Widerstände gegen Abrüstung resultieren unabhängig von internationalen Gegebenheiten aus spezifischen Systembedingungen der gesellschaftlichen Ordnungen, die sich staatlich organisiert und zu Bündnissen formiert gegenüberstehen. In diesem Fall handelte es sich um Widerstände, die auf Veränderungen der internationalen Konstellation gar nicht ansprechen können, sondern nur durch Eingriffe in die soziopolitischen Ordnungen selbst aufzuheben sind.
In der Bundesrepublik haben die Friedens-und Konfliktforschung und andere mit der Untersuchung der Ursachen und möglicher Über-windung von Rüstungsdynamik befaßte Sozialwissenschaften, die eine wie die andere Hypothese zum Ausgangspunkt der Forschung gemacht. Doch nimmt die Mehrzahl der Arbeiten über Arms-Control-Konzepte und zum Autismus-, MIK und MBK Theorem kaum oder nur unter polemischen Vorzeichen aufeinander Bezug. Jede der beiden Forschungsrichtungen hatte ihre spezielle Konjunktur, wobei nach letztem Stand Rüstung und Abrüstung in Europa wieder stärker in die Untersuchungsperspektiven der internationalen Politik gerückt werden Daß die Komplexität des Abrüstungsproblems möglicherweise nach größerer Komplexität auch des analytischen Zugangs verlangt, ist eine Erwägung, die es lohnend erscheinen ließe, die Reichweite der separierten Ansätze zu überdenken und die Exklusivität bisher propagierter Lösungswege in Frage zu stellen. 2. Grenzen der Textanalyse Um nichts geht es in diesem Beitrag weniger, als den Streit um die Innen-oder Außenleitung von Rüstung ein weiteres Mal zu „entscheiden", obgleich ausschließlich ein Binnen-aspekt des politischen Systems zur Erörterung steht. Was zu klären versucht wird, ist das DDR-offizielle Verständnis von Abrüstung, die Begründung ihrer Bedeutung als vordringliche außenpolitische Zielsetzung und die Einschätzung ihrer Durchsetzungsbedingungen im gegenwärtigen internationalen System. In die Untersuchungsfrage eingeschlossen ist die herrschende Auffassung über das Verhältnis von Abrüstungspolitik und Militärpolitik, d. h. über die Funktion militärischer Streitkräfte und Rüstungen, der eigenen wie der fremden, im Zusammenhang mit der Forderung nach Rüstungsbegrenzung.
Was ist von einer solchen Fragestellung zu erwarten? Nicht zu erwarten ist eine gegenständliche Analyse der Abrüstungspolitik der DDR, weil es, um den Inhalt eines Gefäßes zu ermitteln, nicht genügen würde, die Beschriftung des Etiketts zu studieren. Ebensowenig zu erwarten ist ein Aufriß rüstungstreibender und rüstungshemmender Faktoren des soziopolitischen Systems nach dem Baumuster „Kann der Staat X abrüsten?". Die Systemideologie stellt nur einen dieser Faktoren dar, deren allgemeiner Wirkungszusammenhang überdies ungeklärt ist. Erwarten läßt sich ein systematisches Erfassen der Perzeption des Abrüstungsproblems in der DDR in ihren theoretisch-ideologischen Voraussetzungen und praktisch-propagandistischen Folgerungen, womit allerdings sogleich die Frage nach dem realanalytischen Nutzen aufgeworfen ist: Wie verhalten sich Wahrnehmung und politische Wirklichkeit, Absichtsbekundung und Anwendungsfähigkeit zueinander?
Die Begrenztheit des methodischen Mittels der Textanalyse legt eine eher zurückhaltende Antwort nahe. Erhebbar ist selbstverständlich nur offenes Material, und es steht nur in beschränktem Umfang zur Verfügung. Einblick in die Entstehung und Entwicklung von Positionen, in die Vermittlungsprozesse, die zugrunde liegenden Überlegungen, ihre Träger und Opponenten gewährt es nicht, da eine öffentliche Auseinandersetzung über Grundfragen der Außenpolitik in der DDR nicht stattfindet. Ebenso fehlt das kritische Korrektiv einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Unterschiede zwischen einer Partei-oder Regierungsdeklaration über Abrüstung und einem Aufsatz in einer wissenschaftlichen Zeitschrift bestehen nur formal; dem Inhalt nach verbreiten beide die gleiche, konforme, amtlich autorisierte Problemsicht. Die spröde Uniformität politischer Literatur sozialistischer Gesellschaften ist es, die sie für den Leser, der an unbeschränkte und kontroverse Diskussion gewöhnt ist, zu einer so wenig fesselnden Lektüre macht. Vermutlich liegt hier einer der Gründe dafür, sie nur oberflächlich zur Kenntnis zu nehmen und ihre Eignung als Verständnishilfe politischer Realität zu unterschätzen
Jedes Regierungshandeln beruft sich auf Interessen und Prinzipien, proklamiert Ziele, erhebt Forderungen, bedarf der Interpretation und Legitimation, veranlaßt Werbung, Mobilisierung, Beschwichtigung. Während diesem breiten Aufgabenfächer in westlichen Ländern ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Mechanismen öffentlicher Artikulation nachkommt, leistet in sozialistischen Systemen die Funktion, Politik zu verbalisieren, eine geschlossene Sphäre kontrollierter Publizistik, der noch zusätzlich obliegt, die praktizierte Politik als im Einklang befindlich mit marxistisch-leninistischer Theorie zu erweisen. Der Preis der Überfrachtung sind die mangelnde Konkretheit und formelhafte Starre politischer Publizistik.
Auch die Behandlung des Abrüstungsthemas in der DDR bedient sich der unablässigen Wiederholung weniger argumentativer Grundfiguren. Es scheint keine Mühe zu bereiten, mit vorformulierten Versatzstücken halbe Artikel zu füllen, deren andere Hälfte nur noch die Ausrichtung auf die vorgegebene Themenfrage zu besorgen hat. Dennoch erlauben die Dürre des Stils und der Argumentation der politischen Sprache nicht, Politik und Propaganda als voneinander getrennte Wirkungszusammenhänge aufzufassen. Das Verbindungsglied zwischen ihnen bildet die Ideologie, die Summe der Anschauungen und Wertungen, die als leitende Maximen gesellschaftlichen Handelns gelten. Selbst wenn abstrakt nicht zu entscheiden ist, in welchem Ausmaß Ideologie als Politikverklärung und Politik als Ideologievollzug auftreten, genügt bereits die Existenz einer solchen Wechselbeziehung zur Begründung der Notwendigkeit, den ideologischen Faktor in die Politikanalyse einzuschließen.
Die Vorstellung erscheint abwegig, daß eine Staatsführung, die ihrer Systemideologie Verbindlichkeit in der Regelung aller Sozialverhältnisse zumißt und ihre Bürger für die daraus abgeleiteten gesellschaftlichen Zwecke unablässig in die Pflicht nimmt, selbst von* ideologischen Bindungen frei agieren könnte. Ideologische Bindungen mögen subjektiv bestehen in der Motivation der Handelnden, sie bestehen unabhängig davon objektiv als Handlungsschranke legitimationsbedürftiger politischer Praxis Das ist der Gesichtspunkt, der dem abrüstungspolitischen Selbstbild der DDR, um dessen Klärung es hier geht, auch realanalytisches Gewicht verleiht. Zu fragen ist, inwieweit das nachdrückliche Insistieren der DDR auf Abrüstung durch die Ideologie gedeckt wird. Dazu ist die Textanalyse ein zulängliches methodisches Mittel.
3. Abrüstungsliteratur in der DDR
Abrüstungsthemen nehmen in der DDR-Literatur einen im Verhältnis zu anderen Gegenständen breiteren Raum ein als in der Bundesrepublik. Das rührt daher, daß die wenigen mit internationaler Politik befaßten Zeitschriften, voran die „Deutsche Außenpolitik", in gewisser Regelmäßigkeit abrüstungspolitische Beiträge veröffentlichen. Sporadisch greifen auch andere politologisch relevante Periodika wie die „Einheit" und die „IPW Berichte“ Fragen der Rüstungsbegrenzung auf, während das Thema im „Militärwesen", dem Fachorgan für leitende Kader der NVA praktisch nicht vorkommt.
Kennzeichnend für Artikel mit direktem Themenbezug ist die Gleichförmigkeit der Anlage und des Problemzugangs. Eindeutig dominiert ein Darstellungsschema, das sich darin genügt, die Dringlichkeit der Abrüstungsfrage zu beschwören und die Aktivität der UdSSR und ihrer Verbündeten bei deren Lösung hervorzuheben Zum Beleg wird die stattliche Reihe östlicher Abrüstungsvorschläge präsentiert, deren Mehrzahl sich allerdings bislang nicht als international verhandlungsfähig erwiesen hat. Über tatsächliche Abrüstungsverhandlungen dagegen fließen Sachinformationen mehr als spärlich. Die Haltung der DDR und der übrigen sozialistischen Staaten sei „initiativreich" und „konstruktiv", so lautet die Standardwendung zur Charakterisierung der östlichen Verhandlungsführung bei den Wiener Truppenabbaugesprächen, der derzeit wichtig-sten Abrüstungskonferenz, an der die DDR teilnimmt Näheres ist aus den meisten Abhandlungen nicht zu erfahren. Eine Spur detaillierter sind die Presseverlautbarungen Ingo Oesers, des Leiters der DDR-Verhandlungsdelegation in Wien, die das Wochenblatt . Außenpolitische Korrespondenz" von Fall zu Fall abdruckt. Ein annähernd vollständiges Bild des Konferenzverlaufs, der bereits geklärten und der noch strittigen Punkte, des Beratungsstandes und der Positionen beider Verhandlungsseiten vermitteln sie jedoch ebenfalls nicht
Bei den Buchpublikationen ist wegen der ungleich geringeren Zahl an DDR-Titeln ein Vergleich mit der Bundesrepublik kaum möglich. Wiederum fällt auf, daß Abrüstungsfragen so gut wie nicht in militärpolitischen, sondern nur in außenpolitischen Zusammenhängen behandelt werden. Damit fallen sie in die Zuständigkeit der beiden einschlägig arbeitenden DDR-Einrichtungen, dem Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staats-und Rechtswissenschaft der DDR in Potsdam (II B) und dem Institut für Internationale Politik und Wirtschaft in Berlin (I P W. Die Mitarbeiter dieser beiden auf die Ausbildung des diplomatischen Nachwuchses bzw.der Westbeobachtung und Westanalyse spezialisierten Institute haben in der DDR für Fragen der internationalen Politik einschließlich der Abrüstungsaspekte eine Art Veröffentlichungsmonopol inne. Dazu trägt bei, daß ein Lehr-und Forschungszweig Internationale Beziehungen an ostdeutschen Universitäten und Hochschulen nicht existiert.
Von den jüngsten Neuerscheinungen beanspruchen zwei unter der Themenstellung dieses Beitrages besondere Beachtung. Von Peter Klein und Klaus Engelhardt, beide aus dem IPW, liegt jetzt die erste ostdeutsche Monographie über Abrüstung vor Sie soll „dem Leser ein marxistisch-leninistisches Bild der Perspektiven des Ringens um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung vermitteln“ Dazu werden unter den einstimmenden Kapitelti-teln „Sozialismus — Frieden — Abrüstung" und „Kapitalismus — Rüstung — Kriegsgefahr“ östliches und westliches Abrüstungsdenken gegeneinandergestellt und alsdann die restriktiven Bedingungen wie auch prospektive Segnungen verminderter Rüstungstätigkeit in kapitalistischen Gesellschaften dargelegt. Aufmerksamkeit verdient das Buch aber wegen einiger neuer Akzente in der Interpretation der Prinzipien sozialistischer Abrüstungspolitik. Es kann als Textbuch zu der im Vorjahr erschienenen Abrüstungsdokumentation gelten, die gleichfalls Peter Klein bearbeitet hat
Die zweite Neuerscheinung — im thematischen Kontrast zur ersten — kommt aus dem Ministerium für Nationale Verteidigung. Nach drei Vorläufern aus den Jahren 1970 und 1974 hat der Ost-Berliner Militärverlag einen neuen Band Reden und Aufsätze Heinz Hoffmanns, des Verteidigungsministers der DDR, herausgebracht Der Entstehungszeitraum der Beiträge umfaßt die Jahre 1974— 1978, also den mit dem Abschluß der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit erreichten Höhepunkt und die anschließende Stagnationsphase der Entspannung in Europa bei gleichzeitiger Ausbildung neuer Konfliktherde und wachsendem Engagement auch der DDR außerhalb Europas. Von den in der Bibliographie verzeichneten 116 Reden und Schriften Hoffmanns enthält der Band 65, mehr als die Hälfte davon als Erstveröffentlichung bzw. Langfassung früherer auszugsweiser Publikationen. Das Werk reicht in seiner Bedeutung über eine gewöhnliche Sammlung von Ansprachen eines Spitzenfunktionärs hinaus und erfüllt nunmehr im zehnten Jahr die Aufgabe einer periodisch aktualisierten offiziösen Darstellung und Interpretation der Leitprinzipien ostdeutscher Militärpolitik. Die meisten Texte wurden im Verteidigungsministerium kollektiv entworfen und verfaßt. Mit Hoffmann autorisiert sie jedoch ein Mann, der nicht nur die oberste Verantwortung für den militärischen Bereich der Staatspolitik trägt, sondern als Politbüromitglied der SED auch zum inneren Kreis der Machtelite der DDR gehört. Vor Drucklegung werden die Manuskripte nach ihrer Eignung für die militärpolitische Propaganda und die ideologische Arbeit innerhalb der NVA ausgewählt, gekürzt und überarbeitet Folglich wäre es verfehlt, sie nur als subjektive Meinungsäußerungen des nominellen Autors zu werten, die aus dokumentarischen Gründen veröffentlicht werden.
II. Sozialistische Militärtheorie
Das Attribut „sozialistisch" im Titel des Buches von Hoffmann darf nicht als ein schmückendes Beiwort mißverstanden werden. Nach der Militärdoktrin der DDR dienen Streitkräfte und Rüstung nicht einfach der Landesverteidigung, sondern „sozialistischer Landesverteidigung“ Diese Begriffsbildung impliziert eine fundamentale inhaltliche Festlegung, die auf alle Ziel-und Funktionsbestimmungen der militärischen Macht ausstrahlt. Zahlen-und Stärkevergleiche zwischen westlichen und östlichen Armeen oder die Gleichartigkeit der organisatorisch-technischen Fachterminologie lassen leicht übersehen, daß in den Grundkategorien der Militärtheorie und -Strategie Gemeinsamkeiten die Ausnahme sind. Am stärksten unterscheidet sich das Sinnverständnis positiv besetzter Schlüsselbegriffe wie „Frie-den", „Sicherheit", „Verteidigung", „Entspan-nung", „Abrüstung", die zur Charakterisierung des außenpolitischen Selbstbildes im Westen wie im Osten gleichermaßen hoch im Kurs stehen.
Die leitenden Prinzipien der Militärtheorie der Warschauer-Pakt-Staaten, d. h. ihre Militärdoktrin gründen auf der sowjetischen Militärdoktrin, und diese wiederum wurzelt in der von Lenin vorgenommenen Übersetzung der Marxschen Klassentheorie in eine staatspolitische Handlungslehre. Auch spätere Modifikationen der Doktrin als Ergebnis innerparteilicher Auseinandersetzungen werden von sowjetischen Autoren auf Lenin zurückgeführt 1. Außenpolitik als Klassenkampf Den Ausgangspunkt aller militärtheoretischen Ableitungen bildet eine definitorische Prämisse, die in der Entstehungsphase der Sowjetmacht eine gewisse Evidenz findet. Durch die militärische Intervention der Westmächte zugunsten der Widersacher des Regimes der Bolschewik! im Bürgerkrieg von 1919/20 sah sich der revolutionäre Sowjetstaat zwei Gegnern gegenüber, der Konterrevolution im Innern und der Intervention von außen. Für die Rote Armee als dem bewaffneten Arm der Arbeiterklasse ergab sich die Optik eines Kampfes an zwei Fronten. Diese Vorstellung von der doppelten Klassenfront wurde in der nachrevolutionären Sowjetunion beibehalten, jedoch mit einem veränderten, dem endgültigen Sieg der Oktoberrevolution Rechnung tragenden Inhalt. Der in der Sowjetgesellschaft überwundene, in den kapitalistischen Staaten aber fortbestehende Antagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie erhielt einen zweiten Austragungsort, die Beziehungen der sozialistischen Sowjetunion zur übrigen Welt — in marxistisch-leninistischer Diktion: die Beziehungen zwischen Sozialismus und Imperialismus. Von nun an gilt als Klassenkampf sowohl die Auseinandersetzung zwischen unterdrückter und herrschender Klasse innerhalb einer Gesellschaft als auch zwischen herrschenden Klassen verschiedener Staaten antagonistischer gesellschaftlicher Ordnung. Fazit: Sowjetische Politik gegenüber kapitalistischen Ländern ist nicht Außenpolitik traditioneller Art, sondern Klassenkampf
Die Übertragung des sozialphilosophischen Deutungsschemas auf die internationalen Beziehungen zeitigt immanente Folgeaussagen als auch nachträgliche Weiterungen. Erstens bezieht die sowjetische Außenpolitik aus dem materialistischen Geschichtsbild ihren programmatischen Messianismus: die Behauptung historischer Entwicklungsgesetzlichkeit, die revolutionäre Siegeszuversicht, den Befreiungs-und Humanismus-Anspruch, die Überzeugung moralischer Höherwertigkeit der sozialistischen Gesellschaftsordnung. Zweitens versehen sich mit demselben Anspruchspathos die übrigen sozialistischen Staaten. Die Ausdehnung des sowjetischen Gesellschaftsmodells auf Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg — freizügig als Sieg der Revolution in weiteren Ländern ausgelegt — wird zur Bildung eines sozialistischen Weltsystems, der Kampf zwischen den beiden Systemen auf dem Feld der internationalen Politik zum globalen Charaktermerkmal der Epoche stilisiert. Soziostrukturelle und konstitutionelle Unterschiede zwischen kapitalistischen Staaten, die Entwicklung des Eurokommunismus, innersozialistische Interessengegensätze bis zu bewaffneten Konfliktformen, Faktoren, welche die Schärfe der Systemgrenzen verwischen, erfaßt das dualistische Erklärungsschema der Weltgesellschaft und der Weltpolitik nicht.
2. Aggressivität des Klassengegners
In die Wahl der Klassenkampfdramaturgie eingeschlossen ist die Verteilung der Rollen und die Klassifizierung der Charaktere. Gegenspieler des „friedliebenden" Sozialismus auf der Bühne der internationalen Politik sind die „aggressiven" imperialistischen Mächte und ihre Militärkoalitionen. Hinter dieser Aussage, der in der DDR-Literatur auf Schritt und Tritt zu begegnen ist, steht nicht nur das geläufige, systemneutral in Rechtfertigungsabsicht gebrauchte Klischee einer defensiven, auf Verteidigung und Gefahrenabwehr angelegten Politikorientierung. . Aggressivität“ meint mehr: „eine aus dem Wesen der Monopolherrschaft sich ergebende, ihr seit Beginn anhaftende, mit ihr untrennbar verbundene Eigenschaft. Sie ist eine Gesetzmäßigkeit des Imperialismus und wird in erster Linie durch das Streben nach Monopolprofit, der primären Existenzbedingung des Monopols, verursacht, das immer stärker über den nationalen Rahmen hinausdrängt" Als „Grundeigenschaft'und „Wesensmerkmal" des Imperialismus wird dessen. Aggressivität für unwandelbar und unüberwindlich erklärt, außer durch Überwindung des Imperialismus selbst. Das außenpolitische Dilemma der so qualifizierten Staaten könnte nicht größer sein. Mögen sie noch so friedliche Ziele verfolgen, noch so friedfertig handeln, aggressiv bleiben sie dennoch. Daraus folgt: „Aggressivität" ist gar keine theoretische, geschweige denn empirische Kategorie, es ist eine definitorische Invektive.
Aus der Fülle möglicher Belege sei die bekannteste imperialismus-theoretische Schrift aus der DDR angeführt Hier findet sich eine verallgemeinernde Gegenüberstellung imperialistischer und sozialistischer außenpolitischer Strategie. Danach ziele die Strategie imperialistischer Mächte auf „die Sicherung und Erweiterung ihrer Einflußsphären, auf die Erringung der Vorherrschaft durch die Ausschaltung ihrer Konkurrenten“ während die sozialistische Staatengemeinschaft dafür kämpfe, „die Positionen der antiimperialistischen und demokratischen Kräfte in der alten Welt des Kapitalismus zu stärken und das Kräfteverhältnis auf friedlichem Wege zugunsten des gesellschaftlichen Fortschritts zu verändern“
Läßt sich zwischen diesen gleichermaßen expansiven, auf Herrschaftsausweitung gerichteten Zielbestimmungen überhaupt ein prinzipieller Unterschied ausmachen, so besteht er darin, daß die zweite, die sozialistische Expansionsstrategie explizit in Stoßrichtung auf das gegnerische Sozialsystem abzielt. Ungeachtet dessen wird ausdrücklich nur die erste als aggressiv deklariert. In der ganz überwiegenden Zahl der Fälle verhängen DDR-Veröffentlichungen über westliche Länder, die NATO oder einzelne Allianzarmeen wie die Bundeswehr den Aggressivitätsvorwurf als reines Etikett, als vollständig verhaltensunabhängiges Signum, das keiner fallweisen Begründung bedarf. Westliche Außenpolitik und deren Institutionen erscheinen als aggressiv an sich; Beweisgrund ihrer Aggressivität ist schon die bloße Existenz
Es versteht sich von selbst, daß eine solche Begriffsverwendung keiner kritischen Diskus-sion standhält. Verbindet doch der Wortsinn die Vorstellung von Aggressionsbereitschaft mit konkreten Handlungen oder Verhaltensweisen, in denen die Disposition zum Ausdruck kommt. Ein Verständnis von Aggressivität, das mit wirklichen Aggressionsakten in keinerlei Zusammenhang steht, wird niemanden überzeugen, der die zugrunde liegenden Annahmen nicht teilt und den beabsichtigten Folgerungen nicht unbesehen zustimmt, überdies gibt es zum Inhalt des Aggressionsbegriffs einen internationalen Minimalkonsens, und es gibt diplomatische Bemühungen um eine völkerrechtliche Kodifizierung, an denen die DDR teilnimmt. So räumt denn das Militär-lexikon der DDR auch ein, daß eine Aggression zwischen Staaten durchaus an objektiven Merkmalen erkennbar ist, daß sie z. B. die Anwendung militärischer Gewalt oder anderer Arten von Zwang bedeute, daß sie im Widerspruch zum Völkerrecht stehe, daß der Erst-einsatz von Kriegswaffen gegen oder das Eindringen von Streitkräften in ein fremdes Territorium darunterfallen, daß die Wahrnehmung des Selbstverteidigungsrechts hingegen keine Aggression sei
Diese Kriterien sind allgemein gefaßt und empirisch verifizierbar. Sie würden einen Aggressor an seinem Handeln, nicht aber schon vorab in seinem „Wesen“ identifizieren. Damit erfüllt die Definition der Aggression jene für eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung unerläßliche Mindeststandards, die der Definition der Aggressivität ersichtlich fehlen, obgleich der sachliche Zusammenhang zwischen beiden Begriffsinhalten enger gar nicht gedacht werden kann.
3. Legitimierung kollektiver Gewalt
Das Nebeneinander verschiedener, wenn nicht unvereinbarer Begriffe von Aggression und Aggressivität spitzt die Frage noch zu, welche davon denn nun maßgebend sind für die Militärdoktrin der DDR, in deren Zentrum ja die verbindliche Bestimmung des politischen Charakters und der politischen Ziele eines möglichen Krieges steht Die Erwartung, eine klare Abweisung jeder Form der Bedrohung oder des Angriffs gegen die DDR in den eindeutig umschreibbaren Merkmalen einer militärischen Aggression anzutreffen, geht fehl. Solche Merkmale spielen als Beurteilungskriterien militärischen Gewalteinsatzes fürdie Militärdoktrin in der DDR erklärtermaßen keine Rolle. Statt dessen heißt es in der Tradition der Leninschen Kriegstypenlehre: „Seitdem die Arbeiterklasse als selbständige politische und sozialhistorische Kraft existiert, muß insbesondere danach gefragt werden, wie sich ein Krieg zur historischen Mission und zu den Interessen der revolutionären Arbeiterklasse verhält, deren Kampf um den Sozialismus zugleich auch den Kampf um Demokratie und Frieden in sich einschließt; denn hierin besteht das entscheidende Kriterium, anhand dessen ein Krieg als gerechter oder ungerechter Krieg zu bewerten ist." Und lapidar wird festgesetzt: „Gerechte Kriege sind solche, die ihrem objektiven politischen Inhalt nach mit den Interessen der revolutionären Arbeiterklasse übereinstimmen."
Auf die völkerrechtsübliche Unterscheidung zwischen Angriffs-und Verteidigungskrieg, zwischen Initiierung und Abwehr einer bewaffneten Aggression kommt es also der Militärdoktrin der DDR zufolge nicht an, wenn zu entscheiden ist, ob eine Konfliktsituation die Anwendung militärischer Gewalt rechtfertigt. Zwar ist es der „Krieg zur Verteidigung des sozialistischen Vaterlandes“, der nach der zugrunde liegenden Typologie die Reihe gerechter Kriege anführt, aber auf gleicher Stufe mit ihm stehen der „nationale Befreiungs-und Verteidigungskrieg" und der „revolutionäre Bürgerkrieg", wobei sich vermuten läßt, daß in Befreiungskriegen und Revolutionskriegen die Seite, die einen gerechten Krieg führt, in der Regel auch diejenige ist, von der die Gewaltanwendung ausging.
Das Denken in Kriterien ideologischer Rechtfertigung militärischen Machtgebrauchs kann die Unterscheidung, wer Gewalt auslöst und wer ihr ausgesetzt ist, so stark dominieren, daß die am Klassenstandpunkt gerechtfertigte Intervention zugunsten Dritter schließlich selbst als Verteidigungshandlung erscheint: „Nachdem die Arbeiterklasse gesiegt und ihren eigenen Staat errichtet hat, dient die militäri-'sehe Macht ausschließlich der Verteidigung gegenüber allen Anschlägen der imperialistischen Bourgeoisie ... In die Verteidigungsfunktion der Militärmacht des Sozialismus ordnet sich die Hilfe gegenüber den unabhängigen, fortschrittlichen Nationalstaaten ein, die sich imperialistischer Aggressoren erwehren müssen.“
Die DDR wäre in eine ununterbrochene Folge militärischer Konflikte verstrickt, würde sie ihr Kriegspotential überall einsetzen, wo ihre Militärdoktrin Gewaltanwendung erlaubt. Ob die Vorstellung schlechthin abwegig ist, mag nach dem kubanischen Beispiel bezweifelt werden, für die DDR jedenfalls trifft sie nicht zu. Wie ernst ist dann aber die Fortgeltung der Lehre von den gerechten und den ungerechten Kriegen noch zu nehmen? In ihrer ostdeutschen Version wäre die kommunistische Kriegstypenlehre als Klassifizierungs-und Bewertungsschema von nur akademischem Belang ebenso unterschätzt wie als direkte Handlungsanleitung überschätzt. Einerseits sollen Kriegshandlungen, die der Befreiung unterdrückter Völker dienen und dem gesellschaftlichen Fortschritt zum Durchbruch verhelfen, nicht nur als gerecht angesehen, sondern auch „entschieden unterstützt“ und mit „vielseitiger Hilfe“ gefördert werden Andererseits wird der Befreiungs-und Revolutionskrieg für eine historisch notwendige und berechtigte, jedoch „nicht für die einzig mögliche, unter allen Umständen unumgängliche Form das Klassenkampfs" gehalten, der gegenüber friedlichen Mitteln grundsätzlich der Vorzug gebührt
Die Formulierungen sind elastisch genug, um zu aktuellen militärischen Konflikten je nach Situations-und Interessenbeurteilung eine passive oder eine einwirkende Haltung zu decken. Was jedoch zum Nachdenken Anlaß gibt, ist gar nicht der aktuelle Praxisbezug der Lehre vom gerechten Krieg. Daß hier weiterhin ein Denkrelikt aus dem Geist der Glaubenskriege gleichsam auf Vorrat gehalten wird, das militärische Gewaltlegitimation am absolut gesetzten Maß der eigenen Gesellschaftsordnung vollzieht, schafft im Zeitalter der Massentötungsmittel den Anachronismus. 4. Sozialistische Landesverteidigung Es sind also drei grundlegende Aussagen, die das Spezifikum der „sozialistischen" Militär-doktrin ausmachen, sämtlich von Lenin inspiriert, sämtlich zu historischen Gesetzmäßigkeiten bzw. allgemeingültigen Gesetzen erhoben: 1. Internationale Politik ist Klassenkampf; der sozialistische Staat, Teil des sozialistischen Weltsystems, steht auf der Seite der weltgeschichtlich zum Sieg bestimmten Klasse. 2. Der innenpolitische Weltgegner des Sozialismus ist seinem Wesen nach aggressiv, was immer er unternimmt. 3. Prosozialistische Kriege, sei es zur Verteidigung, sei es zur Ausbreitung der sozialistischen Ordnung, sind gerecht.
Für sich genommen bergen die Basissätze eine immense gewaltpolitische Dynamik, die, wäre sie freigesetzt, jedem Gedanken an militärische Entspannung und ausgehandelte Rüstungsbeschränkung von vornherein den Boden entzöge. Sie wird gebändigt auf politischer Ebene durch risikobewußt operierende Staats-führungen in den sozialistischen Ländern, auf ideologischer Ebene durch das Korrektiv eines vierten Grundprinzips, gleichfalls im Rang einer „gesetzmäßigen Tendenz" in den Beziehungen zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten dem Prinzip der friedlichen Koexistenz. Es besagt in seinem Kern, daß der gewaltlose Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus im Weltmaßstab möglich und wahrscheinlich sei, und gebietet die unverminderte Fortführung der politischen Auseinandersetzung, des ökonomischen Wettstreits und des ideologischen Kampfes zwischen den Systemen bei Vermeidung eines militärischen Zusammenstoßes.
Von hier aus läßt sich nun genauer fassen, was . sozialistische Landesverteidigung“ bedeutet.
Die gemeinhin unter " Landesverteidigung" verstandenen Aufgaben des bewaffneten Schutzes des Staates, seiner Bürger und seines Territoriums gegen äußere Bedrohung subsumiert auch die in der DDR übliche Begriffsverwendung. „Sozialistische Landesverteidigung" aber geht weiter, und zwar in dreifacher Hinsicht. Erstens ist die bestehende gesellschaftliche Ordnung, ist der Sozialismus selbst Teil des zu schützenden Gutes, so der Text der Verfassung der DDR und der Wortlaut des Fahneneides der NVA Zweitens obliegt unter Berufung auf die Übereinstimmung der Klasseninteressen der sozialistischen Staaten die sozialistische Landesverteidigung der gemeinsamen Zuständigkeit der „um die Sowjetunion gescharten sozialistischen Staatengemeinschaft" Und schließlich fließen über das Attribut „sozialistisch" die Inhalte der sozialistischen Militärdoktrin in den Verteidigungsbegriff ein, was u. a. die Forderung ausdrückt, die Landesverteidigung „im Einklang mit den Bedingungen und Erfordernissen des Klassenkampfes zwischen Sozialismus und Imperialismus" zu organisieren Was sich vordergründig in der Qualifizierung der „Landesverteidigung" zur „sozialistischen Landesverteidigung" als spezifizierende Eingrenzung ausnimmt, ist in Wirklichkeit das Gegenteil, die Erweiterung des traditionell außen-und militärpolitisch gefüllten Begriffs um eine innenpolitische, eine blockpolitische und nicht zuletzt eine system-offensive Komponente. Zu „verteidigen" gilt nicht nur, was schon besteht, sondern auch, was noch zu erringen ist.
III. Rüstung im Entspannungsprozeß
Die Gefahren des Wettrüstens für die Menschheit nehmen zu. Das Anwachsen der Kriegsmittel, die Wirkungssteigerung der Waffen, ihr Vordringen in entlegenste Weltregionen, der jährlich größere Finanzaufwand — das alles bedroht die Weltbevölkerung direkt und existentiell, weil es das Vernichtungsrisiko erhöht und immer mehr Mittel zur Erfüllung elementarer Lebensbedürfnisse bindet. Die Erkenntnis ist so einleuchtend wie verbreitet. Die Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten finden sich im Einklang mit Stim-
men aller Richtungen der politischen und wis-
senschaftlichen Weltöffentlichkeit, wenn sie en Rüstungswettlauf als schädlich und unproduktiv verurteilen, wie in ihrer „Moskauer
Deklaration", dem Dokument, das die zur Zeit wichtigste Zitierquelle östlicher Abrüstungsforderungen abgibt Zwischen Rüstungskritik und Abrüstungsappell aber liegt ein un-trügliches Glaubwürdigkeitskriterium: der Ernst der Auseinandersetzung mit Ursachen und Bedingungen des Wettrüstens. Nicht zufällig konzentriert sich kompetente Abrüstungsforschung auf die Analyse von Rüstungsdynamik. Das Problem der Abrüstungsrhetorik im „realen Sozialismus" hingegen besteht gerade darin, dieses Schlüsselproblem als Problem zu ignorieren. 1. Ursachen des Wettrüstens Kennzeichnend für die DDR-offizielle Deutung der weltweiten Aufrüstungsspirale ist ein unauffälliger, aber aufschlußreicher Beleg in dem neuen Sammelwerk von Hoffmann. Während noch die letzte, vor fünf Jahren erschienene Folge unter dem Registerstichwort „Wettrüsten" einzelne Fundstellen aufführt begnügt sich der neue Band mit einem Pauschalverweis: „siehe Strategie, imperialistische: Imperialismus, Aggressivität; NATO; USA" Damit ist schon nahezu alles gesagt, was zum Rüstungswettlauf zu sagen ist. Das sozialistische Lager sieht sich schuldlos und unbeteiligt. Wettrüsten erscheint als innerimperialistische Angelegenheit, als eine Art Wettkampf des Imperialismus mit sich selbst, angetrieben durch die Aussicht auf Rüstungsgewinn. Repräsentativ sind Formulierungen wie „Rüstungsprofite erzeugen stets von neuem die Tendenz, das Wettrüsten in den imperialistischen Staaten anzuheizen" Sie stehen für eine Sprachpraxis, die den Begriff des Wettrüstens den westlichen Nationen vorbehält, zumeist hervorgehoben durch die Wort-verbindung „imperialistisches Wettrüsten".
Die sachliche Begründung der Zuschreibung geschieht wiederum im Rückgriff auf vermeintliche Wesenseigenheiten der antagonistischen Sozialsysteme. In kapitalistischen Ländern werde gerüstet, weil Kriegsgüterproduktion einträglich sei und private Gewinnaneignung ermögliche und weil der imperialistische Staat zur Entfaltung seiner wesenseigenen Aggressivität Militär und Rüstung benötige. Der sozialistischen Gesellschaft dagegen, die weder das privatwirtschaftliche Profit-interesse noch den daraus gespeisten Aggressionsdrang kenne, sei Rüstung nicht nur fremd, sondern auch hinderlich: „Um im Welt-maßstab zu siegen, braucht die neue Ordnun, den Frieden und die Abrüstung, aber nich Aufrüstung und Krieg." Der gesetzmäßi wachsenden Einwirkung des Sozialismus au den Imperialismus entgegen nutze das im perialistische System die Fortsetzung dei Wettrüstens als ein noch verbliebenes Mittel die sozialistische Ordnung seinerseits zu be einflussen, indem es ihr Verteidigungslaster auferlege, die der Bürger durch Einbußen ar möglicher Befriedung materieller Bedürfnisse zu tragen habe Jürgen Kuczynski sieht gai das Endziel gesellschaftlicher Entwicklung den Kommunismus, in weite Ferne rücken weil das „imperialistische Wettrüsten" aufhalte, was an sozialem Fortschritt bereits erreicht sein könnte: die Vier-Tage-Woche und der kostenlose Nahverkehr, die Gratisversorgung der Haushalte mit Energie und das mietfreie Wohnen So entsteht nicht ohne idyllischen Beiklang die reinliche Scheidung von Schwarz und Weiß: „Während die imperialistischen Staaten das Wettrüsten verursachten und wei ter forcieren, unternehmen die sozialistischen Staaten alles, um Abrüstungsmaßnahmen zu erreichen."
Die Verwendung der Begriffe des Wettrüstens und des Rüstungswettlaufs in DDR-Veröffentlichungen, die an Häufigkeit den Gebrauch in der westlichen, zumindest der wissenschaftlichen Literatur weit übersteigt, und ihre Reservierung zur Kennzeichung westlicher Militär-und Rüstungspolitik sind nur schwer miteinander vereinbar. Der natürliche Wortsinn steht dagegen. Es ist nun einmal nicht sonderlich plausibel, zu suggerieren, jemand veranstalte einen Wettlauf gegen sich selbst. So finden sich gelegentlich Wendungen, die an die vorgegebene Wortbedeutung anknüpfend die Wechselbeziehung des Wettrüstens einräumen, aber gleichzeitig den Eindruck zu vermeiden suchen, es handele sich um einen Prozeß, in dem mit gleichartigen Mitteln um gleichartige Ziele konkurriert werde. Schon die bloße Nennung beider Militärblöcke in einem Atemzug mit dem Rüstungswettlauf ist ein Tabu, eine Aussage über „das Wettrüsten zwischen NATO und Warschauer Pakt in Europa" wäre ganz undenkbar. Statt dessen haben DDR-Autoren eine Umschreibungstechnik entwickelt, bei der die Rolle der östlichen Militärmacht als nur betroffener oder auch beteiligter Faktor am Waffenwettlauf beständig in der Schwebe bleibt: „Dabei zeigen die Fakten offensichtlich, daß der Rüstungswettlauf in Wirklichkeit ein einseitig von imperialistischer Seite inspirierter Prozeß ist, ein Rennen, in dem die sozialistischen Länder verhindern müssen, daß die imperialistischen Mächte einen gefährlichen Vorsprung erhalten." Rüstung im Sozialismus „ergibt sich aus der Notwendigkeit, dem imperialistischen Wettrüsten adäquate Abwehrmaßnahmen entgegen-zusetzen und dafür zu sorgen, daß imperialistische Kriegs-und Aggressionspläne wirksam vereitelt werden" Und die „Betroffenheit" des Warschauer Paktes auch vom qualitativen Wettrüsten läßt sich dadurch erklären, daß das militärische Kräfteverhältnis „nicht statischer, sondern dynamischer Art ist, und deshalb ständig durch entsprechende Waffenentwicklungen der sozialistischen Staatengemeinschaft, insbesondere der UdSSR, abgesichert werden muß. ”
Was die Beispiele immerhin zu demonstrieren vermögen, ist der Gehalt des in der DDR verbindlichen Erklärungsschemas der Ursachen von Rüstungsdynamik im Ost-West-Konflikt.
Nicht nur das vom Stand der Forschung hinlänglich in Zweifel gezogene reine Aktions-Reaktions-Modell gilt uneingeschränkt fort, auch die Zuordnung der agierenden und der reagierenden Rollenträger liegt vorempirisch und definitiv fest. Diejenigen, die das Erklärungsmodell vortragen, sind keine wissenschaftlichen Außenseiter, sondern die führenden Vertreter ihres Faches in der DDR. Die Möglichkeit einer fallweisen Überprüfung an Hand von Materialien ostdeutscher Herkunft eröffnet sich nicht. Ob ein einziges Rüstungssystem existiert, das erkennbar in Reaktion auf einen westlichen Rüstungsvorgang entstanden ist, läßt sich nicht ermitteln, über die Darlegung der theoretischen Zusammenhänge und die unvermittelte Umsetzung in Tagespolitik hinaus ist sozialistische Rüstungs-
wirklichkeit kein öffentliches Thema. 2. Zwei-Pfeiler-Doktrin West ie Funktion militärischer Rüstung erfuhr in er sicherheitspolitischen Selbstdarstellung er Bundesrepublik mit dem Einsetzen der Entspannungspolitik eine deutliche Relativierung. Bis dahin hatten als Sicherheitsgaranten allein das eigene Militärpotential und der Bündnisschutz der NATO gegolten. Nachdem die Bundesrepublik an die politische Veränderung des Ost-West-Verhältnisses in Europa Anschluß gefunden hatte, trat die Entspannung als zweites Sicherheitselement hinzu. Die Zäsur ist mit der Bildung der sozialliberalen Koalition exakt zu datieren. Die erste Regierungserklärung und das erste Sicherheits-Weißbuch verkündeten die neue Konzeption, die später als „Zwei-Pfeiler-Doktrin" bekannt wurde Worin besteht sie?
Für die westdeutsche Außenpolitik nutzbar gemacht wurde die bis dahin vernachlässigte Einsicht, daß gegen eine Gefahr schützt, sich zu wappnen, aber auch, die Gefahr abzuwenden. Das aus dem Konflikt der Machtblöcke in Europa resultierende Sicherheitsrisiko, so der Grundgedanke, sollte weiterhin militärisch eingedämmt bleiben und zugleich politisch gemindert werden. An diesem „Zugleich“ entzündete sich die Kritik. Sind denn Militär und Diplomatie vereinbar? Läßt sich gleichzeitig Mißtrauen bekundend rüsten und auf Vertrauen setzend verhandeln? Da nie authentisch präzisiert wurde, an welche Entwicklung und welches künftige Verhältnis der beiden Sicherheitskomponenten gedacht war, blieben vielerlei Interpretationen möglich Aber daß zunehmende Tragfähigkeit des politischen Pfeilers, also Sicherheitsgewinn durch Spannungsabbau, die Entlastung des militärischen Pfeilers, d. h. Rüstungsverminderung, nicht nur erlaubt, sondern geradezu bedingt, liegt in der Logik des Konzepts. Es war die neue Bundesregierung 1969, die am stärksten auf Verhandlungen über Rüstungsreduzierung in Mitteleuropa drängte und maßgeblich dazu beitrug, daß sie schließlich in Gang kamen. Heute, zehn Jahre später, ist es unvermeidlich, den Abrüstungsansatz als vorerst gescheitert zu betrachten. Europa steht statt einer Ausdünnung der Waffenlager eine neue Aufrüstungsrunde bevor; die Bundeswehr ist nicht geschrumpft, sondern größer und stärker denn je. Hat die Zwei-Pfeiler-Doktrin also versagt? Aufrüstungsentscheidungen können Regierungen und Militärallianzen in eigener Zuständigkeit fällen, Abrüstungsverhandlungen sind erfolgsabhängig vom mehrseitigen Kompromiß. Darin bestand gerade das einschneidend Neue der rüstungspolitischen Doppelstrategie, daß sie nationale Sicherheit aus dem Dispositionsmonopol der eigenen Konflikt-seite löste und in das internationale und intersystemare Kommunikationsgeflecht einordnete. Ohne einem einzelnen Beteiligten am europäischen Rüstungswettlauf ungeprüft Verantwortlichkeit für dessen Fortsetzung zu-oder abzusprechen, ist doch deutlich, daß gegen das Zwei-Pfeiler-Konzept operative, nicht prinzipielle Einwände sprechen
Die Neufassung der Sicherheitsdoktrin in der Bundesrepublik schuf Voraussetzungen für eine militärische Entspannung, die vorher nicht bestanden. Sie band den Sicherheitsbegriff an einen strikt defensiven Zielkatalog, an das überleben der Bundesrepublik und ihrer Bürger, an Freiheit, Unabhängigkeit und Unversehrtheit des westdeutschen Staates Ausdrücklich nicht eingeschlossen wurde die bestehende politische und gesellschaftliche Ordnung. Ebenso verschwanden mißverständliche Bezugnahmen auf das politische Ziel der deutschen Einheit Sie vermied, der Gegenseite aggressive Absichten zu unterstellen und setzte Stärke und Befähigung der konfrontierten Militärmacht als Richtmaß des eigenen Rüstungspotentials Und sie wählte mit dem Prinzip des militärischen Gleichgewichts eine Orientierungsgröße, die es erlaubt, Rüstungsvorhaben nach Kriterien der Angemessenheit und der Hinlänglichkeit zu beurteilen
Natürlich sind Programmaussagen und politische Wirklichkeit zwei Dinge. Eine Politikanalyse, die sich mit amtlichen Erklärungen beschiede, bewiese nur ihre Einfalt. Auch von den Zielbestimmungen, die seit 1969 das sicherheitspolitische Selbstbild der Bundesrepublik zeichnen, ist jede einzelne auslegbar und mithin manipulativen Zwecken zugänglich. Deshalb bleiben sie doch als autorisierte Willensbekundungen staatlicher Machtträger Teil der politischen Realität und können unter zwei Gesichtspunkten geprüft werden: Sind sie so provokativ gefaßt, daß sie aus sich bereits konflikttreibend und spannungsverschärfend wirken oder weisen sie jene Selbstbeschränkung und Mäßigung auf, die sie mit entspannungspolitischen Grundsätzen verträglich macht? Und: Sind sie eindeutig genug formuliert, um der Beliebigkeit von Interpretationen Schranken zu setzen und die politische Praxis öffentlicher Kritik und Kontrolle zu unterwerfen? Wenn das militärische Kräftegleichgewicht z. B. bislang noch als „scheinobjektiver" Maßstab angesehen werden kann so ist dies ein Mangel, der durch Verfeinerung des methodischen Instrumentariums militärischer Kräfte-analyse als grundsätzlich behebbar erscheint — und zu beheben versucht wird Die Alternative wäre der Rückfall in willkürliches Mutmaßen und Spekulieren über militärische Intentionen politischer Akteure. Was die gegenwärtig offizielle sicherheitspolitische Konzeption der Bundesrepublik auszeichnet, ist die relativ größere Offenheit für Erfordernisse militärischer Entspannung gegenüber konkurrierenden Programmen im innenpolitischen und im internationalen Vergleich. 3. Zwei-Pfeiler-Doktrin Ost Schärfer fällt die mit gänzlich andersartigen Einwänden begründete Kritik aus der DDR am westdeutschen Sicherheitskonzept aus. In der Sicht der Systemideologie ist die Bundesrepublik ein Klassenstaat, in dem die Monopolbourgeoisie die Herrschaft innehat und die Arbeiterklasse ausbeutet und unterdrückt. Zwischen der Bundesrepublik als Teil des imperialistischen und der DDR als Teil des sozialistischen Weltsystems besteht das unversöhnliche Verhältnis von Antagonisten des internationalen Klassenkampfes. Mit der Arbeiterklasse kapitalistischer Länder hingegen, einem der drei „Ströme der revolutionären Weltbewegung", verbindet den sozialistischen Staat die objektive Interessenidentität im Prozeß des weltweiten Überganges vom Kapitalismus zum Sozialismus. So stellt sich der DDR die zwiespältige Lage, ihrer außenpolitischen Leitlinie gemäß mit einem Staat friedlich koexistieren zu wollen, dem sie das historische Lebensrecht abspricht, dessen Bevölkerungsmehrheit sie jedoch klassenkämpferische Solidarität bezeugt.
Die Frage, ob diesem Staat denn überhaupt ein legitimes Sicherheitsinteresse zukomme, wird in der Militärliteratur der DDR grundsätzlich verneint, wenngleich selten in so direkter Form wie in dieser Replik auf die Weißbuch-Definition des „überlebens der Bundesrepublik und ihrer Bürger" als oberstem Sicherheitsziel: „überleben in diesem Sinne", so der ostdeutsche Kommentar, „heißt nichts anderes, als die bestehende Ordnung des Imperialismus gegen die Interessen der Arbeiterklasse und aller progressiven Kräfte, die dieses System in Frage stellen, zu erhalten“ 58).
Gebräuchlicher sind verschlüsselte Argumentationen, wie sie jüngst der Völkerrechtler Herbert Kröger in einer eigenwilligen Auslegung der Prinzipien des Gewaltverbots und des Selbstverteidigungsrechts nach Artikel 2 und 51 der UN-Satzung vortrug Solange die Existenz aggressiver Kräfte und damit die Gefahr der Verletzung des Gewaltverbots fortbestehe, sei es das unabdingbare Recht und sogar die Pflicht der friedliebenden Staaten, Gewaltmittel bereitzuhalten und notfalls anzuwenden, um das Gewaltverbot durchzusetzen
Die friedliebenden Staaten sind die sozialistischen Staaten. Für sie gilt das Selbstverteidigungsrecht, für den Rest das Gewaltverbot.
Das westdeutsche Konzept gleichzeitiger Verteidigungsfähigkeit und Entspannungsbereitschaft wertet die DDR-Publizistik als „Konzept der Entspannung zu imperialistischen Bedingungen" geboren aus einem doppelten Anpassungszwang. Zum einen habe der veränderten internationalen Konstellation begegnet zum anderen den Erwartungen konservativer wie progressiver Gruppen in der Bundesrepublik entsprochen werden sollen Während die Erklärung der Doppelstrategie mit außen-und innenpolitischen Bedingungsfaktoren sich auch aus westlicher Sicht plausibel ausnimmt, gilt das kaum für die damit verbundene Beurteilung des Prinzips militärischer Kräftegleichheit. „Diese Gleichgewichts-theorie“, so wird behauptet, „dient der Verleumdung des Sozialismus“ weil sie „die beiden Großmächte und Militärblöcke auf eine Stufe" stelle, wo doch erwiesen sei, daß Aggressionsdrang zum Imperialismus gehöre wie Friedenswahrung zum Sozialismus
Ein zweiter Standardeinwand gegen das Gleichgewichtspostulat klingt nicht weniger plump, gibt aber einige Rätsel auf über Zweck und Absicht der Kritik. In den Worten Erich Honeckers: „Wenn imperialistische Ideologen weismachen wollen, daß ein sogenanntes militärisches Gleichgewicht existiere und friedenserhaltend wirke, so antworten wir darauf mit aller Eindeutigkeit: Auch solche Thesen sind nichts anderes als ein Versuch des Klassengegners, sich den Veränderungen des Kräfteverhältnisses anzupassen. Der Imperialismus hat seine dominierende Rolle als Militärmacht in der Welt ein für allemal verloren. Mehr noch, der Weltsozialismus verfügt über Streitkräfte, die den imperialistischen Armeen überlegen sind ... Die sowjetischen Streitkräfte sind die stärkste Militärmacht der Welt."
Ihm sekundiert Heinz Hoffmann: „Eine zweite, ebenso verlogene Prämisse der imperialistischen Theorie vom angeblichen . Gleichgewicht der Kräfte'negiert die'tatsächliche und eindeutige Überlegenheit der Sowjetunion auf dem Gebiet strategischer Raketenkernwaffen und deutet sie in ein . atomares Patt'um...
Hinzu kommt, daß auch alle anderen Teilstreitkräfte der Sowjetarmee und der verbündeten Armeen denen der USA und der NATO qualitativ überlegen sind ... überall zeigt sich ihre Überlegenheit nicht nur im atomaren, sondern auch im konventionellen Bereich."
Warum dieses kraftmeiernde Muskelspiel, die Pose kriegerischer Übermacht, und warum ausgerechnet Entrüstung über das Konzept des militärischen Kräftegleichgewichts?
Wenn das'Gleichgewichtstheorem, wie an anderer Stelle beklagt wird, der „imperialistischen Superrüstung" dient, den internationalen Frieden gefährdet und militärische Konflikte geradezu heraufbeschwört welchen Sinn macht es dann, dem Gegner, der all dies zu verantworten hat, die Rechtfertigung für sein provozierendes Verhalten so augenfällig zu bescheinigen? Und welche Qualifizierung verdient ein Rüstungspotential, das diese „Superrüstung" an Umfang und Stärke noch eindrucksvoll übertrifft?
In militärpolitischen Veröffentlichungen der DDR hat sich nach und nach parallel zur westlichen Zwei-Pfeiler-Doktrin eine strukturgleiche Argumentationsfigur herausgebildet, die zur Friedenserhaltung ebenfalls eine Mischstrategie aus militärischen Abwehrvorkehrungen und politischen Entspannungsbemühungen propagiert. Militärische und politische Friedenssicherung stehen gleichrangig nebeneinander: „Das sozialistische Verteidigungspotential und die auf Sicherung des Friedens, auf militärische Entspannung, auf Rüstungsbegrenzung und Abrüstung gerichteten politisch-diplomatischen Aktivitäten der sozialistischen Staaten bilden eine Einheit; sie stellen lediglich zwei Seiten, zwei verschiedene Aspekte der Friedensbestrebungen des realen Sozialismus dar." Terminologisch bereinigt, fände das Zitat in jeder sicherheitspolitischen Verlautbarung der Bundesregierung oder der NATO eine heimische Umgebung. Als sollte die innerwestliche Kritik am Zwei-Pfeiler-Konzept von vornherein unterlaufen werden, 'versäumt keine Erwähnung der östlichen Version, die Einheit — und das heißt auch: die Vereinbarkeit — beider Strategieelemente besonders hervorzuheben
Unerwähnt hingegen bleibt, was die westliche und die östliche Variante der Konzeption voneinander unterscheidet. Es ist ihre Entstehung in Verbindung mit gegensätzlichen Rüstungspostulaten, dem des militärischen Kräftegleichgewichts im Westen und dem der militärischen Überlegenheit im Osten. Das wirft Folgefragen auf. Die entspannungspolitisch wichtigste ist: Können die Konzeptionen eine Abrüstungsübereinkunft überleben? Oder umgekehrt: Begünstigen oder erschweren sie Fortschritte zu einer Abrüstungsvereinbarung?
4. Die erzwingbare Abrüstung
Wie läßt sich das Zustandekommen von Abrüstung überhaupt vorstellen? Nach westlicher Auffassung durch Senkung des Rüstungsniveaus bei Erhaltung des Gleichgewichts, bzw. dort, wo ein Gleichgewicht nicht besteht, durch Rüstungsminderung bis zur Herstellung des Gleichgewichts. Die östliche Vorstellung ist in vergleichbarer Form nicht zu fassen, weil es grundsätzliche Aussagen dazu nicht gibt. Wohl aber existieren feste Argumentationsmuster im abrüstungspolitischen Umfeld, mit deren Hilfe sich die Frage einkreisen läßt. Sie sind an drei Schlüsselbegriffe geknüpft und durchziehen gleichförmig die außen-und militärpolitische Literatur aus der DDR
1. Die Entspannung. Sie stellt den Prozeß dar, in dem der prinzipielle und unüberbrückbare Interessengegensatz zwischen den sozialistischen und den imperialistischen Staaten zunehmend in Formen und mit Mitteln der friedlichen Koexistenz ausgetragen wird, d. h. als politische, ökonomische und ideologische Auseinandersetzung, aber ohne Anwendung militärischer Gewalt.
2. Der jeweilige Stand der Auseinandersetzung bestimmt das Kräfteverhältnis zwischen Sozialismus und Imperialismus. Von ihm hängen Grad und Richtung der Einwirkung jedes der beiden Weltsysteme auf die internationalen Beziehungen ab. 3. Das Kräfteverhältnis entwickelt sich gesetzmäßig zugunsten des Sozialismus und ist schon gegenwärtig'gekennzeichnet durch die Überlegenheit des Sozialismus. Sie bewirkt, dem Imperialismus das Erreichen seines Hauptzieles, die Vernichtung des Sozialismus, zu verwehren und der Entfaltung seines aggressiven Wesens immer engere Grenzen zu ziehen. Die militärische Macht der sozialistischen Staatengemeinschaft ist nicht die einzige, aber eine wichtige Quelle der Überlegenheit des Sozialismus. Ihre weitere Stärkung verbessert die Entwicklungsbedingungen der friedlichen Koexistenz und festigt die Entspannung.
Der zirkelschlüssige Argumentationsbogen geht von der Entspannung aus und langt dort wieder an. Alle positiven Entwicklungen im Nachkriegseuropa, von der erfolgreichen Kriegsverhinderung über die bilateralen Ost-West-Verträge bis zur Helsinki-Akte, lassen sich damit einer einzigen „objektiven" Ursache zuschreiben, der wachsenden Stärke des sozialistischen Lagers, und von ihr wird folgerichtig auch die noch ausstehende militärische Entspannung erwartet. Je mehr Macht des Sozialismus, desto unwahrscheinlicher ein Krieg und um so friedlicher die friedliche Koexistenz — das klingt wie die Karrikatur einer Entspannungstheorie, sind aber ernsthaft vertretene Kausalitätsthesen
Und Abrüstung selbst? Die wenigen Hinweise, die Lösungswege andeuten, fügen sich diesem Schema einer Politik der Stärke. Nur wenn der Sozialismus ausreichend rüste, so die Annahme, sei der Imperialismus zum Abrüsten zu bewegen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, „deren sozialökonomischem Wesen"
Rüstungsbegrenzung „zutiefst fremd und ihm entgegengesetzt" sei, müsse Abrüstung „abgerungen“
werden in der Abrüstungsfrage »bleibt die Verteidigungsmacht der im War-schauer Vertrag zusammengeschlossenen Bruderländer eine entscheidende Voraussetzung, um die imperialistische Staatenwelt zu einem Eingehen auf die friedliche Koexistenz tu zwingen" Also Abrüstung durch Zwang?
Die Geschichte kennt solche Beispiele nur nach verlorenen Kriegen. Was ist davon zu halten, wenn die Politiker, die für die Militär-macht der sozialistischen DDR die oberste Verantwortung tragen, öffentlich erklären, Frieden und militärische Entspannung gebe es dann, wenn den Imperialisten und Feinden des Sozialismus die Waffen aus der Hand geschlagen seien?
Die Bindung an die Überlegenheitsthese macht das Zwei-Pfeiler-Konzept der DDR zum Musterbeispiel eines Sicherheitskonzepts, das den Abrüstungsgedanken schon im Ansatz blockiert. Wenn das aus der Veränderung des Kräfteverhältnisses zugunsten des sozialistischen Lagers resultierende militärische Über-gewicht den Wandel der Staatenbeziehungen zur Entspannung in Europa bedingt hat und gegenwärtig wie künftig die Erhaltung des Friedens garantiert, so können Abstriche daran nicht geduldet werden, soll die Entspannungstendenz nicht stagnieren oder sich in ihr Gegenteil verkehren. Daraus folgt: Weitere Entspannungserfolge erfordern die Erhaltung, besser die Stärkung der militärischen Überlegenheit der sozialistischen Staaten, erfordern Aufrüstung des Warschauer Paktes, und zwar in größerem Ausmaß als die NATO rüstet. Abrüstung wäre für dieses Ziel die konterproduktive Methode, es sei denn, sie ließe sich den westlichen Ländern in stärkerem Umfang auferlegen als den sozialistischen Staaten, so daß sich auf diese Weise die entspannungsfördernde Wirkung einer Kräfteverschiebung zugunsten des Sozialismus fortsetzte. Das Gleichgewichtstheorem baut auf den Stabilitätseffekt eines annähernden Kräftegleichstandes.
Darüber hinaus zu rüsten, wird nicht nur als überflüssig, sondern als schädlich gewertet.
Das Überlegenheitstheorem folgt der Devise: „Je mehr desto besser". Es kennt keine theoretische Grenze für Aufrüstung.
In den letzten Jahren ist in der DDR ein Wandel der Auffassung dessen, was militärische Überlegenheit ausmacht, zu verzeichnen. Bei grundsätzlichem Festhalten am Begriff ändern sich Bewertung und Kombination der Begriffs-elemente.
Das demonstrative Aufzählen von Faktoren, die eine Übermacht des sozialistischen Lagers an Steitkräften und Kriegsmitteln belegen sollen — übrigens durchgängig gestützt auf westliche Quellen —, geht zurück, an ihre Stelle treten Kriterien qualitativer militärischer Überlegenheit. Eine Publikation wie das Buch Hoffmanns, das die Stellungnahme zu einem begrenzten Kreis gleichbleibender Themen in zeitlicher Entwicklung beobachten läßt, zeigt dies besonders deutlich. Zu- nehmend werden nun solche Merkmale hervorgehoben, die von der Größe und Bewaffnung sozialistischer Armeen unabhängig sind, aber ihren Kampfwert mitbestimmen: die Standardisierung der Ausrüstung, die einheitliche Führung und Ausbildung nach den Erkenntnissen der sowjetischen Militärwissenschaft, der militärische Ausbildungsstand, Wehrwille, Moral und Disziplin der Truppen
Den vorläufigen Höhepunkt der Begriffserosion bildet diese bemerkenswerte Feststellung in der abrüstungspolitischen Schrift von Klein und Engelhardt: „Es gibt in den sozialistischen Ländern keinerlei Doktrin einer materiellen Überlegenheit des sozialistischen Militärpotentials als notwendige Voraussetzung der Friedenserhaltung.'' Das ist eine neue, aus der DDR bislang nicht zu vernehmende Aussage. Sollte sie rückwirkend gemeint sein, ist sie falsch und trifft nicht einmal für die beiden Autoren selbst zu, die in früheren Veröffentlichungen von deutlich anderen Positionen ausgegangen sind Gilt sie nun und zukünftig, so setzt sie ein auffallendes und zu beachtendes Signal. Die DDR hätte dann im Zeitverzug eines vollen Jahrzehnts nachvollzogen, was die Sowjetunion bereits zu Beginn der Verhandlungsphase europäischer Entspannungspolitik einleitete: die Abkehr von der Überlegenheitsbehauptung der sozialistischen Rüstungsmacht -
Neueinschätzungen dieser Art pflegen in östlichen Veröffentlichungen nicht begründet, auch nicht als neue Standpunkte kenntlich gemacht zu werden. Die ausschlaggebenden Motive lassen sich deshalb nur folgern. Einen Hinweis geben vermutlich die anläßlich des Bonner Breschnew-Besuchs im Mai 1978 unterzeichnete Deklaration mit ihrer erstmals in ein Ost-West-Dokument aufgenommenen Absage an das Überlegenheitsprinzip und die Erklärung dieser Haltung zur verbindlichen Linie des Warschauer Vertrages durch die Moskauer Deklaration vom November 1978, die das von der DDR abgelehnte Gleichge-wichtsprinzip zum Richtmaß künftiger Abrü stungsregelungen erhebt Den weiteren Er klärungsrahmen scheinen die Wiener Trup penabbauverhandlungen zu bilden. Hier is die westlicherseits behauptete numerisch; Überlegenheit der Steitkräfte des Warschaus Paktes seit Jahren der Hauptstreitpunkt. De DDR-Vertreter wird nun der mißlichen Lag; enthoben, sich unentwegt für das militärisch« Kräftegleichgewicht als einem Verhandlung? grundsatz zu verwenden den die ostdeut sehe Militärpublizistik hartnäckig bekämpft Neue Formeln, veränderte Akzente tauchet hier und da auf. Daß eine weitere in diesen Jahr erschienene DDR-offiziöse Schrift die Rüstungspolitik des sozialistischen Lagers nicht mehr an das obligate Überlegenheitsziel sondern in durchaus ungewohnter Formulierung an „die Fähigkeit zu einer der militärischen Bedrohung durch den Imperialismus adäquaten Verteidigung“ koppelt deutet aul die behutsame Annäherung an ein wenige! maßloses Sicherheitsdenken hin. Mit der Aufgabe des militärischen Überlegenheitsanspruchs hätte die DDR, erweist sich die Wende als dauerhaft, ein selbstgesetztes ideologisches Abrüstungshemmnis aus dem Weg geräumt.
Ob daraus abrüstungspolitische Konsequenzen folgen oder nur eine in Verhandlungen zunehmend hinderliche Position verbal verlassen wurde, muß sich zeigen. Irritierend wirkt allemal, wie behend die propagandistische Umdekoration vonstatten geht. Schon erscheinen unbekümmert um alles, was vorher galt, die sozialistischen Staaten als Protagonisten des Gleichgewichtsprinzips, der „unabdingbaren Voraussetzung für den einzig möglichen Weg zur Friedenssicherung ... und Abrüstung“. Die Rolle dessen, der sie militärischer Überlegenheit bezichtigt und gleichzeitig selbst danach strebt, spielt nun der aggressive Imperialismus In der politischen Öffentlichkeit der DDR sind Militärwesen, Landesverteidigung, Wehrerziehung ein geschlossener Themenkreis, das Wettrüsten, Rüstungsbegrenzung, Abrüstung ein anderer. Forderungen des ersten richten sich an die eigene Gesellschaft, Forderungen des zweiten an das politische Gegensystem. Zwischen beiden Politikbereichen besteht ein reflektierter, ausgewiesener, konzeptioneller Zusammenhang nicht, aber eine künstliche Argumentationsbrücke. Sie ruht zum einen auf der beanspruchten Einheit von Verteidigungsplanung und Abrüstungsprogramm, zum anderen auf der Suggestion eines Ziel-Mittel-Verhältnisses: „Die militärische Macht des Sozialismus ist jenes Argument (!) der Friedens-kräfte, das selbst die wütendsten Antikommunisten begreifen — so die Tonlage der Vorstellung von erzwingbarer Abrüstung 1 . „Ernstfall ist der Krieg"
In der Bundesrepublik hat am Vorabend der sozialliberalen Koalition ein Ausspruch Gustav Heinemanns das Nachdenken über die Ratio zwischenstaatlicher Gewaltpolitik belebt: „Der Frieden ist der Ernstfall, in dem wir alle uns zu bewähren haben. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr." Einige Wochen nach Unterzeichnung der Schlußakte von Helsinki äußerte Heinz Hoffmann über einen nuklearen Weltkrieg: „Bei allem Leid, das in diesem letzten und entscheidenden Konflikt zwischen Fortschritt und Reaktion über die Völker käme, besonders in den kapitalistischen Ländern — das wäre von unserer Seite ein gerechter Krieg. Wir teilen die Auffassung also nicht, die selbst fortschrittliche Menschen vertreten, im Atomzeitalter sei ein gerechter Krieg nicht mehr möglich, der Raketen-Kern-
waffen-Krieg auch keine Fortsetzung der Poli-tik der kämpfenden Klassen mehr, sondern nur noch atomares Inferno, Weltuntergang."
Wieder ist zu unterstreichen: Zitate beweisen nichts, nichts über die tatsächliche Politik von
IV. Ergebnis und Folgerungen
Staaten, auch nichts über das „Wesen“ der Gesellschaften, denen sie entstammen. Aber sie illustrieren intellektuelle Milieus, in diesem Fall jene, die Konzepte des Friedens und der Friedenssicherung hervorbringen. Jeder, der die konfliktpolitische Diskussion beiderseits der Systemgrenze auch nur in Umrissen kennt, weiß, daß die Schlußfolgerung Heinemanns in der DDR so undenkbar wäre wie die Hoffmanns in der Bundesrepublik. Wie kommt das?
Friedenserhaltung als Daseinszweck der Armee, das ist ein Anspruch, der immer Skepsis hervorrufen wird, weil er den intakten Militär-apparat als Funktionsbedingung voraussetzt. Wie stark muß er sein, um sicherzustellen, daß er nicht gebraucht wird? Wie viele Soldaten, was für Waffen, welche Rüstung reichen aus, damit im Falle des Mißlingens der Kriegsverhinderung auch zu verteidigen ist, was geschützt werden soll? Das sind die Fragen, um die jede militärpolitische Debatte in der Bundesrepublik kreist. Auch wenn immer wieder Kritiker auftreten, die sich um die handwerkliche Tauglichkeit der Bundeswehr mehr zu sorgen scheinen als um die politische steht der Grundsachverhalt außer Zweifel: die Priorität des Ziels der Friedenserhaltung ist unumstritten. Weil der Bundesrepublik die Wiederentdeckung des Krieges als Mittel der Politik, weil ihr Fortschritts-und Endkampfparolen als zynische Kriegsrechtfertigungen bislang erspart geblieben sind, trifft das Wort vom Frieden als Ernstfall, nämlich als Bewährungsfall der geltenden sicherheitspolitischen Konzeption, ein Stück Wirklichkeit.
In der DDR werden die Relationen anders gesehen. Den Krieg zu verhüten ist Aufgabe des Staates, nicht der Armee. Sie soll ihn führen, wenn er ausbricht, und zwar, wie die stehende Wendung lautet, „auf dem Territorium des Gegners“. Daß militärische Balance zu konfliktpolitischer Stabilität führt und diese die Wahrscheinlichkeit des Nichtkrieges optimiert, ist ein fremder und verpönter Gedanke. Denn von wem Kriege ausgehen — was nicht notwendig heißt: wer sie anfängt —, das steht ja fest, das hat die Theorie längst entschieden. Die sozialistische Militärdoktrin beschränkt die Armee auf ihre instrumentelle Funktion, ihr Ernstfall ist der Krieg. 91 Aus dieser Sichtweite folgt zwingend, was unter allen in der DDR üblichen Sprachpraktiken die demagogischste ist: Jegliche Militär-und Rüstungspolitik, sofern sie nur westlich der eigenen Landesgrenze stattfindet, wird gewohnheitsmäßig als „materielle Kriegsvorbereitung" oder als „Vorbereitung des Dritten Weltkrieges" bezeichnet Ein Manöver der Bundeswehr ist also Kriegsvorbereitung, ein Manöver der Nationalen Volksarmee das Gegenteil, nämlich Vorbereitung auf den Krieg. Auf den Unterschied kommt es an; ihn diktiert die Militärideologie.
Es ist eine Ideologie, die das Feindbild braucht wie die Luft zum Atmen. Daß der Imperialismus seinem Wesen nach aggressiv ist, genügt nicht, er muß es auch zeigen. Zeigt er es nicht, tut es die „militärwissenschaftliche und militärpolitische Propaganda" In der Bundesrepublik wurde das Feindbild der fünfziger und sechziger Jahre in dem Augenblick entbehrlich, als die offizielle Politik sich auf ein funktionalistisches Militärkonzept, entwickelt aus der Gleichgewichtstheorie, zurückzog In der DDR verstärkte genau dieser Vorgang die Unentbehrlichkeit des Feindbildes. Die einst sinnfällige Anschaulichkeit des Konfliktcharakters der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR verblaßte im Prozeß der politischen Normalisierung. Zwei Staaten, die ihre Streitfragen schrittweise vertraglich zu regeln suchen, stehen offenbar nicht im Begriff, militärisch übereinander herzufallen. Soll das Bewußtsein unmittelbarer, aktueller Kriegsgefahr dennoch wachgehalten werden, bedarf es manipulativer Wahrnehmungskorrekturen. Daraus ergibt sich der scheinbare Widersinn, daß mit vermehrtem Wirtschaftsverkehr und fortschreitendem Ausbau der zwischenstaatlichen Beziehungen die forcierte Schürung von Kriegsfurcht einhergeht. Der hohe Rüstungsstand der Bundesrepublik allein hat die DDR-Propaganda nie sonderlich erregt, sondern wurde als bedrohlich stets in Verbindung mit vorgeblich aggressiven und expansiven Zügen der westdeutschen Politik dargestellt. Hinzu tritt in den letzten Jahren als ein weiterer und ernsterer Bedrohungsfaktor die Behauptung offener Angriffsabsicht. Die Sammlungen der Erklärungen Hoffmanns demonstrieren, wie sich zu dieser Kernfrage akuter Bedrohungseinschätzung die Argu-mentation in zeitlicher Perspektive verändert und verschärft. Der 1974 erschienene Band be schränkt die Beschuldigung, die DDR und ihre Verbündeten militärisch überfallen zu wollen noch auf einzelne „Kräfte" und „Kreise" des Imperialismus Im Band von 1979 sind es die politischen und militärischen Führungen dei westlichen Länder selbst, denen offensive Angriffsplanung und Angriffsabsicht unterstellt werden — Die umstrittene Studie eines belgischen Generals, die der Militärmacht des Warschauer Pakts die Fähigkeit, nicht die Absicht, nachsagt, Westeuropa binnen zweier Tage einzunehmen und zu besetzen qualifiziert die ostdeutsche Kritik als „Kriegshetze 1 und „Kriegstreiberei" Welches Urteil ist dann angemessen für die fortgesetzte beweis-und begründungslose Behauptung des Vorsatzes zum militärischen Überfall auf die DDR aus dem Munde eines amtierenden Verteidigungsministers?
2. Mllitärdoktrin und Abrüstung
Weder die allgemeinen Grundsätze der Militärdoktrin der DDR noch deren politische Konkretisierung, soweit sie öffentlich dargelegt werden, sind dazu angetan, der militärischen Entspannung in Europa Auftrieb zu geben. Die einander ablösenden Abrüstungskampagnen restaurieren in stupider Ausdauer nach Inhalt und Form die einsturzgefährdeten Festungen des Kalten Krieges. Sie zielen auf ein diffuses Druckpotential in den westlichen Ländern, umkleiden es mit dem Schein einer überparteilichen „Friedensbewegung" und degradieren es gleichzeitig zum Auswuchs der „politischen und militärischen Macht des Sozialismus" Zur Fundierung abrüstungspolitischen Problembewußtseins in beiden Gesellschaftsordnungen tragen sie nichts bei, sondern schaffen der kritischen und engagierten Suche nach Ansätzen zur Überwindung des weltweiten Rüstungswahns dort, wo sie möglich ist, eine zusätzliche Belastung. Das westliche Konzept der Rüstungskontrolle wird in der DDR weder rezipiert noch einer sachkompetenten Kritik unterzogen die Berichter-stattung über Einzelheiten, Wirkungsweise und Problematik eines Vorganges von der Tragweite des zweiten SALT-Abkommens findet nicht statt
In der Begründung des eigenen und der Bewertung des gegnerischen Rüstungspotentials hat sich die ostdeutsche Militärpublizistik noch keinen Deut aus den Gewohnheiten der Zeit härtester politischer Konfrontation im Ost-West-Konflikt zu lösen vermocht. Eher nimmt sie in ihrer sich steigernden Militanz eine der Entspannung gegenläufige Entwicklung. Wäre der DDR Unzumutbares abverlangt, wenn sie auf Diffamierung und Demagogie als methodisch gebrauchte Stilmittel verzichtete? Das Gegenteil eines Feindbildes ist nicht das Freundbild, sondern die genaue, differenzierte und kritische Wahrnehmung der Wirklichkeit und ein angemessenes reaktives Verhalten. Ein Regime, das permanent darauf pocht, Regierungen für alle Äußerungen gesellschaftlicher und politischer Institutionen, die ihrer rechtlichen Zuständigkeit unterstehen, auch politisch in die Verantwortung zu nehmen und das selbst ein Kontrollmonopol über alle Informations-und Meinungsbildungsprozesse in seinem Herrschaftsbereich unterhält, kann aus der Haftung für seine eigene Propaganda-und Agitationspraxis nicht entlassen werden. Verleumdung ist auf Dauer kein entspannungspolitisches Kavaliersdelikt.
Eine zulängliche Beurteilung der Entspannungsresistenz des militärischen Bereichs erschwert, daß über Motive und Interessen der DDR-Führung letztlich wenig Klarheit besteht. Die einfühlsame Analyse von Tiedtke über das Verhältnis von Militär-und Entspannungspolitik in Osteuropa konnte auf die Frage nach den Beweggründen für das Festhalten der DDR an der militärischen Überlegenheitsthese keine einleuchtende Erklärung finden Wie sich zeigte, hat ein Federstrich genügt, die Position zu revidieren. Zweifel äußern westliche Beobachter auch an der Effizienz der Indoktrinations-und Haßerziehung in der NVA Daß die krasse Feindorientierung der ostdeutschen Militärideologie hingegen nicht gerade dazu beiträgt, die Bewußtseinsgrundlage des Wettrüstens in der DDR und in der Bundesrepublik abzutragen, läßt sich vermuten. Zwar zählt die DDR nicht zu den stärksten europäischen Militärmächten, aber sie ist mit der stärksten Militärmacht des Kontinents verbündet — für alle Zeiten, wie ihre Verfassung sagt Die NVA hat als Teil der sozialistischen Interventionsstreitmacht von 1968 ihren praktischen Bewährungsfall schon hinter sich, und das war alles andere als ein Verteidigungseinsatz. Und schließlich ist durch die Militärdoktrin der DDR ein bewaffneter Konflikt mit der Bundesrepublik im voraus als nationaler Befreiungskrieg legitimiert
Das Dilemma der Doppelstrategie aus Entspannung und Entspannungsverweigerung liegt auf der Hand. Wären alle extrem aggressiven, vom reinen Feinddenken bestimmten Bekundungen aus der DDR für bare Münze zu nehmen, verführe die westliche Politik nur folgerichtig, statt auf weiteren Entspannungsfortschritt zu setzen, die Anstrengungen auf die Mobilisierung der eigenen Abwehrenergien zu konzentrieren. Rüstungskontrolle hätte aus dem Katalog intersystemarer Entspannungsthemen auszuscheiden, Rüstungsplanung und Miltärpolitik wieder in die Alleinzuständigkeit nationaler und Bündnisentscheidungen überzugehen. Daß dies nicht geschieht, rührt aus der stillschweigenden Annahme, Wort und Tat des ostdeutschen Entspannungskonzepts stimmen nicht überein. Stützende Hinweise für diese Vermutung, die auf Interesse der DDR an der Fortsetzung des Entspannungsprozesses schließen lassen, gibt es genug.
Damit wird aber der schwerwiegende Strukturmangel der Entspannung in Europa nicht ausgeräumt. Sie beruht in ihrem kritischen Zentrum auf einer Unglaubwürdigkeitshypothese. Will die Bundesrepublik ihre entspannungspolitische Orientierung beibehalten — und das heißt auch, fortfahren, die Vorteile wahrzunehmen, die sie daraus zieht —, so bleibt ihr keine andere Wahl, als zugleich an der Überzeugung festzuhalten, die politische Führung der DDR meine nicht, was ihre Propaganda sagt. Das ist für den Erfolg eines Konzepts, zu dessen Geschäftsgrundlage ein Minimum an Vertrauen und wechselseitiger Integrität gehört, eine denkbar schlechte Voraussetzung. Sie zu ändern steht nicht in der Macht der westlichen Seite.
Oder doch? Vorstellen ließe sich schon der Versuch, die DDR zur Abkehr von ihrer exzessiven Feindpolemik zu bewegen, vielleicht gar die Frage zum Verhandlungsgegenstand zu machen. Dies würde jedoch ein anderes Funktionsprinzip der Entspannung verletzen, die strikte Enthaltung nämlich von jeglicher Einwirkung in die Binnenstruktur des politischen Systems der Gegenseite. Systemwandel durch politischen Außendruck wäre eine offen entspannungswidrige Stragegie, selbst dann, wenn auf diese Weise ein seinerseits zweifelsfrei entspannungswidriger Defekt behoben werden könnte. Die Aussicht auf wachsende
Erkenntnis der offenkundigen Widersprüc lichkeit zentraler Elemente der außen-ur militärpolitischen Systemideologie in dDDR zum proklamierten Entspannungszi bleibt die zwar vage, aber einzige Hoffnun die sich bietet.
Ansätze dazu lassen sich feststellen. Werde sie ausgebaut, büßen die konfliktpsycholog sehen Barrieren, die das Abrüstungsprobiei umstellen, an Wirkung ein. Trügt die Einsic nicht, daß „die Kernsubstanz der Rüstungsdy namik ... aus realen ökonomisch-politische Interessengegensätzen und aus begründete psychologischen wechselseitigen nationale und sozialen Ängsten in der internationale Gesellschaft zu erklären ist" so eröffn« sich hier eine Eingriffschance. „Alle Staate sollten sich solcher Maßnahmen enthalten, di Bemühungen um die Abrüstung negativ be einflussen könnten", fordern Klein und Engel hardt Da gibt es noch Arbeit in der DDR