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Die neue Ostpolitik | APuZ 43/1979 | bpb.de

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APuZ 43/1979 Die neue Ostpolitik Die Bündnisverträge zwischen der DDR und der Sowjetunion „Sozialistische Landesverteidigung" und Abrüstung. Fragen zur Militärdoktrin der DDR

Die neue Ostpolitik

Karl Kaiser

/ 20 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Die Bundesrepublik Deutschland wächst zunehmend in die Rolle einer europäischen Großmacht Die daraus entstehende Verantwortung und die Veränderungen der internationalen Situation in Europa, in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen sowie im weltweiten Kräfteverhältnis werfen neue Probleme für die deutsche Ostpolitik auf. Nach Meinung des Autors ist die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt in ein neues Stadium getreten. Der Autor zeichnet die Faktoren der Kontinuität und des Wandels in der deutschen Ostpolitik unter den Kanzlerschaften von Adenauer, Brandt und Schmidt auf. Die tragenden Säulen dieser Politik sind die unwiderrufliche Westintegration der Bundesrepublik und die Koordination ihrer Ostpolitik mit den westlichen Partnern. Auf dieser Grundlage kann eine aktive Ostpolitik betrieben und die Gefahr einer Isolierung gegenüber dem Westen vermieden werden. Unter diesen Rahmenbedingungen ist die Bundesrepublik heute erstmals in der Lage, ihr Potential in der Außen-und Sicherheitspolitik in vollem Umfang zu nutzen. Der Autor weist darauf hin, daß wesentliche Elemente der neuen Ostpolitik einen überparteilichen Ursprung haben. Die neue Debatte im In-und Ausland über das Deutschland-Problem weist aber auch auf die Dilemmata westdeutscher Politik, insbesondere der Deutschland-Politik, hin, die sich aus der heutigen Kräftekonstellation ergeben.

Die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland ist während der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt in ein neues Stadium getreten. Der aus dem Kanzlerwechsel resultierende auffällige Übergang zu einem pragmatische-ren Stil in der Innen-und Außenpolitik hatte von wichtigen Veränderungen in der Ostpolitik abgelenkt. Die sich im Bereich der Ostpolitik vollziehenden wichtigen Veränderungen gewinnen schärfere Konturen, wenn man sie in die achtziger Jahre projiziert. Die innerhalb und außerhalb Deutschlands neu belebte Debatte über das Deutschlandproblem und über die internationale Rolle der Bundesrepublik (und der DDR) sind Symptome für Entwicklungen, durch die sich teilweise alte Probleme in einem neuen Zusammenhang stellen.

In zunehmenden Maße spiegeln sich in der deutschen Ostpolitik die wachsende Verantwortung und die sich vergrößernden Probleme wider, die aus der Westdeutschland wieder zuwachsenden Rolle einer europäischen Großmacht entstehen. Weitere Veränderungen ergeben sich aus den Auswirkungen der von Konrad Adenauer bis zu Willy Brandt hinsichtlich Europas und der deutschen Optionen verfolgten Politik. Schließlich hat sich die in-Ein Vergleich der Ostpolitik Adenauers mit der von der Großen Koalition aus CDU und SPD eingeleiteten und dann unter den Kanzlern Brandt und Schmidt realisierten neuen Ostpolitik ist nicht nur für den Historiker und Sozialwissenschaftler von Interesse. Ein derartiger Vergleich läßt die Probleme und Dilemmata zeitgenössischer Politik überhaupt deutlicher erkennen. Im Rahmen der politischen Diskussion in der Öffentlichkeit ist ein solcher Vergleich (wie dies für viele Erörterungen wichtiger historischer Fragen gelten dürfte)

Der vorliegende Beitrag ist ein Vorabdruck aus dem Band „Im Spannungsfeld der Weltpolitik. 30 phre deutsche Außenpolitik (1949— 1979)“, in der ei" e «Studien zur Politik“, herausgegeben im Auf-der Konrad-Adenauer-Stiftung von Wolfram anrieder und Hans Rühle, der Ende 1979 im edag „Bonn aktuell“, Stuttgart, erscheinen wird. ternationale Situation in Europa, in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen und im weltweiten Kräfteverhältnis geändert — all dies wirft neue Probleme für die deutsche Ost-politik auf.

Diese Probleme und Veränderungen sind nicht so sehr das Ergebnis der Tagespolitik der SPD-FDP-Regierung unter Führung von Helmut Schmidt, wenn auch diese Regierung zweifellos den Stil, die Optionen und den Inhalt der Politik immer stärker bestimmt, je länger sie im Amt bleibt. Man hat es vielmehr mit internationalen Bedingungen und Problemen der deutschen Ostpolitik zu tun, die einen langfristigeren Charakter haben. Einmal an der Macht, stünde eine CDU-Regierung diesen Problemen ebenfalls gegenüber. Aus eben diesen Gründen, aber auch wegen der internationalen Konsequenzen der Ostpolitik ist ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit zwischen den beiden großen Parteien in diesem Bereich weiterhin von überragender Bedeutung. In der folgenden Darstellung wird versucht, die in den Rahmenbedingungen und im Inhalt aufgetretenen Veränderungen der Ostpolitik zu analysieren und deren innenpolitische und internationale Konsequenzen zu prüfen.

I. Alte und neue Ostpolitik

ein nicht wegzudenkender Teil der begrifflichen Auseinandersetzung über zentrale politische Probleme der Gegenwart oder der Zukunft.

Kontinuität und Wandel Ein Vergleich der Ostpolitik unter Adenauer und seinen Nachfolgern führt leicht zu falschen Ergebnissen, wenn man nicht die Veränderungen der jeweiligen internationalen Rahmenbedingungen berücksichtigt. Darüber hinaus hat jeder Kanzler eine neue Ausgangslage für seinen Nachfolger geschaffen. So erschienen bestimmte Optionen hinsichtlich der deutschen Wiedervereinigung, die sich zu Zeiten Adenauers als realistisch und vernünftig darstellten, durch die historische Entwicklung überholt oder illusorisch, als Brandt Kanzler wurde. Andererseits befreite Brandt durch seine Ostpolitik die Bundesrepublik von zahlreichen Zwängen und schuf damit eine der Voraussetzungen, die es Schmidt ermöglichten, im diplomatischen Bereich das westdeutsche Machtpotential verstärkt einzusetzen.

In historischer Perspektive läßt sich die Leistung der Adenauer-Ara für Westdeutschland in dieser Hinsicht dahingehend zusammenfassen, daß sie die Grundlagen der klassischen deutschen Mitteleuropa-Position aufgab, die zu der fatalen Schaukelpolitik Deutschlands zwischen Ost und West geführt hatte. Dies war sicherlich nicht nur Adenauers Werk, er war es jedoch, der die sich aus der Ost-West-Spaltung ergebende Gelegenheit ergriff und in vollem Maße die politischen Möglichkeiten einer Integration in den Westen nutzte. Seine Prioritäten bei dieser Integration waren Sicherheit und Freiheit im westlichen Sinne. Jede Ostpolitik (und dazu gehörte auch die Deutschlandpolitik), die diese Ziele gefährdete, war für ihn und die Mehrheit seiner Wähler unakzeptabel. Abgesehen von der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der Sowjetunion führte keine seiner unkonventionellen Ideen in der Ostpolitik zu ernstlichen Bemühungen, die Ergebnisse zeitigten. Angesichts der internationalen Konstellation in seiner Ära ist es zumindest bis in die frühen sechziger Jahre fraglich, ob dies überhaupt möglich gewesen wäre.

Als die Große Koalition — und dies gilt erst recht für die Regierung Brandt-Scheel — sich um einen neuen außenpolitischen Anlauf bemühte, blieben die Prioritäten " Freiheit“ und „Sicherheit" gleich, jedoch konnte man nunmehr Ostpolitik auf der sicheren Grundlage der vollständigen Integration in den Westen betreiben. Darüber hinaus fand die Politik dieser Regierungen die volle Unterstützung des Westens. Eine aktive Ostpolitik stellte nicht mehr die westliche Grundorientierung der Bundesrepublik in Frage, wie dies Adenauer in seiner Zeit mit einem gewissen Recht befürchtete. In diesem Sinne wäre Brandts Ost-politik unmöglich gewesen ohne die in der Ära Adenauer erfolgte grundlegende Neuorientierung der Bundesrepublik zum Westen hin.

Damit soll kein Urteil darüber abgegeben werden, ob es in der damaligen Ostpolitik noch Alternativen zur Strategie Adenauers gab. Aus dem Blickwinkel der achtziger Jahre ist diese Frage politisch sinnlos, und erfreulicherweise ist der Bundesrepublik eine größere Debatte über „verpaßte Gelegenheiten" erspart geblieben. Ebensowenig bedeutet diese Interpretation eine Zustimmung zu allen Aspekten der Ostpolitik Adenauers, die letzten Endes im Grunde deklamatorisch blieb. Außerdem bleibt fraglich, ob es zu Zeiten Adenauers notwendig war, so lange und so hartnäckig an politischen Dogmen festzuhalten, wenn auch zugegebenermaßen durch die leicht abenteuerliche Berlin-Politik der Regierung Kennedy eine pragmatische Anpassung schwierig wurde.

Die Veränderungen, die die Ostpolitik bis zum Ausscheiden Brandts aus dem Kanzleramt erfuhr, sind wohlbekannt und bedürfen hier keiner ins einzelne gehenden Untersuchung: der Übergang von einem Konzept der Wiedervereinigung durch (im Kern) einen Anschluß des östlichen an den westlichen Teil Deutschlands zu einer nur vage umrissenen Lösung des Deutschlandproblems durch Annäherung der deutschen Staaten als Ergebnis einer Über-windung der Teilung Europas, der Verzicht auf den Alleinvertretungsanspruch, die De-facto-Anerkennung der DDR, die Aufgabe der Hall-stein-Doktrin, die Anerkennung der Grenzen und eine aktive Entspannungspolitik als Beitrag zur Lösung der deutschen Frage (statt der früheren Auffassung von Wiedervereinigung als Voraussetzung der Entspannung). Dieses waren ihrem Wesen nach grundlegende Veränderungen von tiefgreifender Bedeutung für Europa.

In der derzeitigen parteipolitischen Auseinandersetzung über das Für und Wider der alten und der neuen Ostpolitik tauchen stets drei Vorwürfe auf, die die neue Ostpolitik im Vergleich zu ihrem Vorgänger in einem ungünstigen Lichte erscheinen lassen: die einseitige Ausrichtung und das Fehlen einer multilateralen Abstimmung im Westen, die selbstauferlegte Eile sowie unnötige und einseitige Zugeständnisse im Rahmen dieser Politik. Diese Argumente bedürfen wegen ihrer aktuellen und anhaltenden politischen Bedeutung einer kurzen Untersuchung.

Unilaterale oder multilaterale Ostpolitik?

Die Frage, ob die deutsche Ostpolitik genügend mit den Westmächten abgestimmt sei, ist heute genauso wichtig wie zu Zeiten Adenauers. Nicht nur der juristische Aspekt fortbestehender Rechte der Alliierten, sondern auch einfach politischer Realismus machen ein konzertiertes Vorgehen in allen wichtigen Fragen des diplomatischen Umganges mit dem Osten erforderlich. Bisher gibt es jedoch keine nen-nenswerten Belege für die These, daß die Ost-politik Brandts nicht genügend mit dem Westen abgestimmt war.

Trotz gewisser anfänglicher Vorbehalte der amerikanischen Regierung bei bestimmten Teilen der neuen Bonner Initiativen wurden alle wichtigen Schritte in enger Konsultation innerhalb der Vierergruppe abgesprochen. Die bilaterale Phase der westdeutschen Ostpolitik war notwendige Voraussetzung für die Einleitung der multilateralen Phase, da nur die Bundesrepublik selbst so heikle Probleme wie die territoriale Frage oder das Verhältnis zu Ostdeutschland regeln konnte, wenn auch jeweils in enger Zusammenarbeit mit dem Westen.

Zweitens bezieht sich die Koordinierung der Ostpolitik auf westlicher Seite zu Zeiten Brandts und Schmidts auf einen ganz anderen Vorgang als gegen Ende der Ära Adenauer, wenn auch die Unterschiede im Vergleich zur Amtszeit Erhards geringer sind. Anfang der sechziger Jahre hatte sich die Bundesrepublik zunehmend von der Hauptbewegungsrichtung der westlichen Ostpolitik wegmanövriert, die schon in die Phase der Entspannung eingetreten war und damit zu bestimmten Elementen der westdeutschen Politik zusehends in Widerspruch stand. Die Bonner Regierung bediente sich damals verstärkt der multilateralen Koordinierung als Mittel zur Blockierung oder Veränderung alliierter Maßnahmen, die man als für die deutsche Position schädlich ansah, und dies führte zwangsläufig zu einer wachsenden Belastung des Verhältnisses.

Tatsächlich hat Adenauer selbst die Voraussetzungen für eine seiner Auffassung nach besonders große Bedrohung Westdeutschlands geschaffen: Die Gefahr einer Isolierung gegenüber dem Westen. Damit fiel der SPD-FDP-Re-

gierung, wie Brandt selbst bemerkte die Aufgabe zu, ein Axiom der frühen Politik Adenauers gegen seine politischen Erben zu verteidigen, die sich hartnäckig der neuen Ostpolitik entgegenstellten. Selbst nach dem Über-gang zur Regierung Schmidt blieb dieses Problem bestehen, wie sich in der Reaktion auf die Schlußakte von Helsinki zeigt, die von der deutschen Opposition als einziger demokratischer Partei des Westens abgelehnt wurde.

Die neue Ostpolitik führte die Bundesrepublik zurück in den Hauptstrom der Politik des Westens. Schließlich führten verschiedene bilaterale deutsch-östliche und multilaterale Maßnahmen, die untereinander durch ein Junktim verknüpft waren, zu den Ostverträgen, dem Berlin-Abkommen, der innerdeutschen Transitregelung, der Eröffnung der KSZE und zu Verhandlungen über beiderseitige Truppenverringerungen. Die Anerkennung der DDR durch die Westmächte wurde solange verschoben, bis die beiden deutschen Regierungen ihren Grundlagenvertrag ausgehandelt hatten. Die mehr oder weniger planmäßige Einhaltung dieses Entspannungskalenders trotz der außerordentlichen Komplexität und Strittigkeit einzelner Fragen sowie der großen Anzahl der Beteiligten dürfte das beste Beispiel einer koordinierten Politik des Westens sein, so daß auch das Verdienst hieran mit den Alliierten geteilt werden muß.

Eine übereilte Politik?

Die Frage, ob die Ostpolitik in der Periode bis 1972 übereilt war und ob alle Verhandlungsmöglichkeiten auch wirklich ausgeschöpft wurden, ist zweifellos legitim. Doch hält dieser Vorwurf den Tatsachen stand? Zunächst sei daran erinnert, daß die meisten wichtigen Fragen schon lange vor den Beschlüssen über die neue Ostpolitik im Auswärtigen Amt gründlich geprüft worden waren, und zwar seit der Amtszeit von Außenminister Schröder, d. h. sogar schon vor der Großen Koalition. Die schwierigen Fragen im Zusammenhang mit dem gegenseitigen Gewaltverzicht, die im Mittelpunkt des Moskauer Vertrages standen, waren schon seit der Abfassung der ersten Entwürfe der „Friedensnote“ von 1966 geprüft worden. Ähnliches galt im Hinblick auf Polen, denn der Leiter der von Schröder in Warschau errichteten Handelsmission hatte zahlreiche vertrauliche Gespräche über diese Fragen geführt. Zweitens bestand ein objektiver und nicht selbstauferlegter Zeitdruck, da zentrale Bestandteile der deutschen Position im Ausland, insbesondere in den Ländern des Westens, zusehends auf Widerspruch stießen. Es bestand die reale Gefahr eines einseitigen Vorgehens der Westmächte, was zu einer unwiderruflichen Zerstörung von Verhandlungspositionen geführt hätte, die zur Sicherung grundlegender Interessen Bonns erforderlich waren. In einigen Ländern, vor allem in Großbritannien, den Niederlanden und Schweden, nahmen die Forderungen nach Anerkennung der DDR in der Öffentlichkeit deutlich zu. Der letzte Vorwurf, die neue Ostpolitik habe einseitige Zugeständnisse gemacht, muß im größeren Zusammenhang der Gemeinsamkeit der beiden großen Parteien gesehen werden, d. h. mit dem, was im angelsächsischen Bereich „Bipartisanship" genannt wird. Darauf wird im folgenden etwas ausführlicher eingegangen:

Die überparteiliche Grundlage der neuen Ostpolitik Die großen innenpolitischen Auseinandersetzungen der frühen siebziger Jahre über die Ostpolitik sind vorüber, und seitdem haben sich Elemente eines überparteilichen Konsensus in diesem Bereich gezeigt, die über ein bloßes „pacta sunt servanda“ hinausgehen. Doch Meinungsverschiedenheiten und Polemik bestehen fort, wobei bei allen derzeitigen Auseinandersetzungen über die Vergangenheit der Vorwurf der Verzichtpolitik und der einseitigen und unnötigen Zugeständnisse wohl der brisanteste ist, da er sich mißbrauchen und zu einer Legende ausweiten läßt, um einen stabilitätsgefährdenden Revisionismus in der deutschen und europäischen Politik zu nähren.

Für diejenigen, die das gesamte Verdienst an der neuen Ostpolitik für die SPD und FDP beanspruchen möchten, aber auch für diejenigen, die der SPD/FDP-Koalition die Schuld an allen angeblichen Gefahren dieser Politik anlasten möchten, mag es nützlich sein, sich daran zu erinnern, daß wesentliche Elemente der neuen Ostpolitik einen überparteilichen Ursprung haben. Wie schon eingangs erwähnt, hatte Gerhard Schröder, Außenminister unter Kanzler Erhard, wichtige vorbereitende Schritte unternommen. Vor allem die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD hatte unwiderruflich entscheidende Teile der ehemaligen Adenauersehen Ostpolitik geändert: Die Große Koalition unternahm die ersten Schritte in Richtung auf die „Zweistaatentheorie", indem sie Verbindung zur DDR aufnahm, deren Einbeziehung in ein europäisches System des gegenseitigen Gewaltverzichtes vorschlug und sie als tatsächliche, wenn auch nicht legitime Inhaberin der Staatsgewalt über die ostdeutsche Bevölkerung anerkannte. Wiederum war es die Große Koalition, die gegenüber Rumänien, Jugoslawien und Kambodscha die Hall-stein-Doktrin aufgab.

Schließlich standen die Politiker von SPD und FDP mit ihrer Erklärung, die Oder-Neiße-Frage lasse sich nicht durch neues Unrecht gegenüber denjenigen lösen, die die heute polnischen Gebiete besiedelt hätten, nicht allein, sondern fanden die Unterstützung von CDU-Politikern. Nicht nur in der SPD und der FDP hatte man festgestellt, daß die Anerkennung der Grenze durch die Bundesrepublik nur von begrenztem Verhandlungswert war, nachdem die Vier Mächte sich in dieser Frage in Potsdam festgelegt hatten und in der öffentlichen Meinung dieser Länder kaum noch etwas anderes als der territoriale Status quo zur Debatte stand.

Die aufgeworfenen Fragen bleiben natürlich von aktueller Bedeutung. Der Hinweis auf ein künftiges, nicht an die territoriale Regelung gebundenes gesamtdeutsches Staatsgebilde, mit dem versucht wurde, während der Ratifizierungsdebatte Unterstützung für die Opposition zu gewinnen, wurde zur Quelle erneuter Zweifel über die Ambivalenz der deutschen Gebietsfestlegung, die, wie noch zu erläutern ist, beträchtliche Auswirkungen auf Ansätze zur Lösung der deutschen Frage hat.

II. Die Ostpolitik einer europäischen Großmacht

Ostpolitik auf westlicher Grundlage Die Ostpolitik der Regierung Schmidt-Genscher baut auf dem Erbe ihrer Vorgänger auf; in. ihr spiegelt sich die veränderte Rolle Westdeutschlands in einem sich verändernden internationalen Rahmen.

Die Ostpolitik Adenauers zielte, wie oben erläutert, auf eine breitangelegte Revision der mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstandenen Situation ab und hatte damit keinen Erfolg, hielt aber gewisse Optionen in formaler Hinsicht offen. Andererseits wurde während der Ära Adenauer die Bundesrepublik unwiderruflich in das westliche Europa, das Atlantische Bündnis und das westliche Wirtschaftssystem integriert.

Die Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel, der die erfolgreichen Bemühungen der Großen Koalition um eine politische Öffnung vorausgegangen waren, profitierte einerseits von der neuen Möglichkeit einer aktiven Ostpolitik auf der sicheren Grundlage der Integration der Bundesrepublik in den Westen und dessen voller Unterstützung. Andererseits unternahm sie eine schon überfällige Revision der früheren Ostpolitik, durch die eine Isolierung der Bundesrepublik und eine Gefährdung der deutschen Interessen drohte.

Als Brandt und Scheel aus dem Amt schieden, hinterließen sie ihren Nachfolgern eine grundlegend veränderte Konstellation:

— die Beilegung bisher offener territorialer Streitfragen und die Beseitigung wichtiger Ursachen für Mißtrauen und Spannung;

— ein Modus vivendi und ein anhaltender Dialog mit der DDR, der Sowjetunion, Polen und anderen osteuropäischen Ländern;

— ein neuer Begriff von Sicherheit, der sowohl Verteidigung als auch Entspannung umfaßte; — eine aktive deutsche Entspannungspolitik auf zahlreichen Gebieten und ein neues Image der Bundesrepublik in Osteuropa, die nun nicht mehr ein leichtes Ziel für die kommunistische Propaganda darstellt;

— ein Vier-Mächte-Abkommen über Berlin; — die Billigung der Sowjetunion für ein ständiges Engagement der Vereinigten Staaten (und Kanadas) in Fragen der europäischen Sicherheit; — die multilateralen Prozesse bei KSZE und MBFR;

— Bonns Anlehnung an die westliche Entspannungspolitik (insbesondere in der territorialen Frage) und damit die Voraussetzung und Einleitung einer Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ), d. h.der Anfänge einer gemeinsamen Außenpolitik der Europäischen Gemeinschaft; — eine Befreiung der Außenpolitik der Bundesrepublik von den starken Beschränkungen der früheren Politik.

Damit war der Rahmen geschaffen für die Ost-politik der Regierung Schmidt/Genscher. Unter Nutzung der Hinterlassenschaft vorausgegangener deutscher Regierungen konnte sie erstmals in der Außen-und Sicherheitspolitik sowie in den außenwirtschaftlichen Beziehungen das Potential Westdeutschlands in vollem Umfange einsetzen. Damit erfüllt sie mehrere Rollen, die ihr im internationalen System zugewachsen sind, und versucht, diese ständig miteinander in Einklang zu halten: als einer der Hauptakteure im Wirtschaftssystem des Westens und der Welt; — als Grenzstaat bei der Verteidigung Westeuropas, als wichtiger Akteur im NATO-Bündnis und als Hauptpartner der Vereinigten Staaten bei der konventionellen Verteidigung Europas;

— als gewichtigste Volkswirtschaft und eine der Führungsmächte der Europäischen Gemeinschaft; — als das Land, welches aufgrund seiner geostrategischen Lage, der exponierten Stellung Berlins und seiner Verbindungen zu den Ostdeutschen verpflichtet ist, als Brücke und Vermittler gegenüber Osteuropa zu wirken. Zum ersten Mal nutzt die Bundesrepublik nun in vollem Umfange die Potentiale einer führenden Position, die sie aufgrund ihrer vollständigen Integration in den Westen und in jenes weltweite System genießt, das unter der im wesentlichen wohlwollenden Hegemonialführung Amerikas aufgebaut wurde. Damit stehen sogar Westdeutschland unter den Bedingungen des Friedens „viele der Ziele der traditionellen kontinentalen Option" offen. Anhand der drei auf den Westen ausgerichteten Rollen innerhalb des internationalen Systems zeigt sich, wie weitgehend die Bundesrepublik nunmehr in den Westen eingebettet ist. Ihr politisches, kulturelles und wirtschaftliches System ist vorwiegend auf den Westen ausgerichtet und von diesem abhängig. Dies bedeutet nicht weniger, als daß die Voraussetzungen eines neuen Rapallo durch die Geschichte beseitigt sind. Zu einem so weitgehenden Zusammenspiel mit dem Osten konnte es damals nur kommen, weil es für Deutschland keinen angemessenen Platz im Westen gab, und das ist nun nicht mehr der Fall. Zudem hat weder die Sowjetunion ein derartiges Zusammengehen rechtfertigendes Angebot zu machen, noch gibt es in Bonn politische Kräfte, die daran interessiert wären. Indem sie ihre Rolle als Brückenbauer zum Osten auf der Grundlage ihrer sicheren Bindung zum Westen spielt, erfüllt die Bundesrepublik die ihr aus ihrer geostrategischen Lage und ihrer politischen Vergangenheit erwachsenen Verpflichtungen. Während für die übrigen Staaten des Westens deren Ostpolitik nur ein wichtiger Bestandteil in einem größeren Spektrum außenpolitischer Bereiche ist, stellt sie für die Bundesrepublik wesentlich mehr dar, denn ihre Ostpolitik steht in unmittelbar erfahrbaren und zentralen Fragen der natio-nalen Politik in Bezug: die Furcht vor einem europäischen Konflikt, dessen wahrscheinlicher Schauplatz Deutschland wäre (was zu einer hohen Priorität der Sicherheit, d. h.der Verteidigungs-und Entspannungspolitik führt); die Sorge um Westberlin; die Solidarität mit den Ostdeutschen; die historischen Bande zu den kleineren Ländern Osteuropas und schließlich die umfangreichen Wirtschaftsbeziehungen zu Osteuropa.

Trotz ihrer Westorientierung behält daher die Entspannungspolitik für die Westdeutschen eine direktere Bedeutung als für andere Westmächte. Darüber hinaus hat für die Bundesrepublik die Entspannungspolitik einen zusätzlichen, konkreteren Inhalt im Hinblick auf menschliche Erleichterungen, Freizügigkeit, Handel, Verkehr usw. als für andere Länder des Westens, die im allgemeinen ihre Ostpolitik eher im Rahmen genereller Prinzipien und strategischer Überlegungen ausführen. Dies bedingt Unterschiede in der Prioritätensetzung und der Sichtweise, wie sich dies beispielsweise in der deutschen Reaktion auf die Menschenrechtspolitik Präsident Carters zeigte.

Ebenso wie bei ihren Rollen im Westen nutzt die Bundesrepublik in ihrer Ostpolitik zunehmend ihre wirtschaftlichen Möglichkeiten, so wie sich dies bei den verschiedenen Vereinbarungen mit Ostdeutschland gezeigt hat, bei denen alle Dienstleistungen, die zu einer Milderung der negativen Folgen der deutschen Teilung beitragen, mit westlichen Devisen entgolten werden. Ähnliches gilt für das Verhältnis zu Polen, überhaupt hat eine ernsthafte Debatte über die wirtschaftlichen Kosten der deutschen Außenpolitik erstmals im Zusammenhang mit der Ostpolitik (und später dann der Politik innerhalb der Europäischen Gemeinschaft) unter der Regierung Schmidt eingesetzt. Der Einsatz Schmidts für westliche Werte und die entsprechenden Ziele der deutschen Politik unterscheidet sich nicht wesentlich von demjenigen seiner Vorgänger und wird selbst von seinen politischen Gegnern nicht in Frage gestellt. Dennoch wird sein Engagement für eine aktive Entspannungspolitik gegenüber den Nachbarstaaten in Osteuropa gelegentlich unterschätzt. Schmidt spielte eine ausschlaggebende Rolle bei der Umorientierung der SPD auf eine neue Linie der Ostpolitik, insbesondere auf dem Dortmunder Parteitag von 1966. Als Fraktionsführer leitete er seine Fraktion in den schwierigen Jahren der Großen Koalition, als die Sozialdemokraten aktive Partner bei der Entwicklung und Durchführung neuer Ansätze in der Ostpolitik waren. Schmidt setzte sich für eine Änderung der westdeutschen Außenpolitik in der Frage der Oder-Neiße-Linie ein, als dies selbst innerhalb der SPD noch unpopulär war. Tatsächlich hat Polen stets einen besonderen Platz auf seiner Prioritätenliste eingenommen. Die Ergänzung zur Aussöhnung mit Frankreich im Westen, wo er sich in direkter Nachfolge der von Adenauer begründeten Tradition sieht, durch einen ähnlichen Prozeß mit Polen im Osten ist nach wie vor eines seiner wichtigsten Ziele. Im Umgang mit dem Polen Edward Giereks brachte er diese Priorität zum Ausdruck, der sein Außenminister und Koalitionspartner Genscher die gleiche Bedeutung beimißt.

Dilemmata wachsender Macht und anhaltender Abhängigkeit

Eine neue Debatte über das Deutschlandproblem, bei der die Frage der deutschen Einheit im Mittelpunkt steht, hat in Europa, insbesondere in Frankreich, eingesetzt. Alte Fragen wie die der Gefahr eines zu mächtigen Deutschlands, das das Kräftegleichgewicht in Europa stört oder bestehende Allianzbindungen verändert, sind aufgetaucht. Es lohnt sich, die Faktoren, die diese Debatte ausgelöst haben, zu untersuchen, da sie das Augenmerk auf gewisse, für die Ostpolitik wichtige Entwicklungen lenken.

Drei Faktoren scheinen die Debatte in Gang gebracht zu haben: Der erste liegt in der Kombination von Westdeutschlands neuem Wirtschaftspotential mit einer Regierung, die frei von gewissen früheren Beschränkungen dessen Möglichkeiten in stärkerem Maße für die deutschen Interessen einsetzt. Der Unterschied im Wirtschaftspotential im Vergleich mit anderen europäischen Staaten ist natürlich nichts Neues; auch bleibt in der Politik der westdeutschen Regierung die Orientierung auf Westeuropa und das Atlantische Bündnis eindeutig prioritär; zudem befindet sich das Ziel der deutschen Einheit keineswegs in realistischer Reichweite. Dennoch hat die neue Realität, daß eine deutsche Regierung tatsächlich wirtschaftliche Macht zu politischen Zwecken einsetzt — so wie Europas Großmächte dies in der Nachkriegsperiode stets getan haben —, genügt, um neue Fragen aufzuwerfen und einige alte Gespenster zu neuem Leben zu erwecken. „Que faire de l’Allemagne?" betitelte Le Monde eine Flut von Sorgen über Deutschland Wird die Bundesrepublik nicht ihre Macht nutzen, um die Einheit zu erreichen oder um zu diesem Zweck gemeinsame Sache mit dem Osten zu machen? Schließlich ist die deutsche Einheit ein in der westdeutschen Verfassung festgelegtes Ziel, das von allen politischen Parteien geteilt wird, und einige französische Autoren unterstützen in dieser Debatte auch den Gedanken der Wiedervereinigung

Die neue Kräftekonstellation in Europa hat die Abneigung verringert, eine stillschweigende Annahme offen zu äußern, die von allen Nachbarn Deutschlands in Ost und West seit vielen Jahren geteilt wird: Angesichts des deutschen Machtpotentials gilt die deutsche Teilung als Voraussetzung für Stabilität und Frieden in Europa „Während Westdeutschland sich gut in Westeuropa einfügt, würde ein vereintes Deutschland dies nicht tun ... Niemand außerhalb Deutschlands hat ein Interesse an einer deutschen Wiedervereinigung." Tatsächlich würde durch einen Zusammenschluß der beiden deutschen Staaten ein Industriegigant mit achtzig Millionen Einwohnern und einem Bruttosozialprodukt geschaffen, das anderthalbmal so groß wie dasjenige Frankreichs, doppelt so groß wie dasjenige Großbritanniens und etwa drerviertel so groß wie dasjenige der Sowjetunion wäre.

Es gibt noch einen zweiten Grund für die neue Debatte über das Deutschlandproblem: Während ein geeintes Deutschland auf längere Zeit lediglich ein theoretisches Problem darstellt, ist das Machtpotential der Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft für viele ein reales Problem. Wird Deutschland zur „dominanten Wirtschaft" Westeuropas?

Es ist kein Zufall, daß diese Debatte ausgerechnet zu dem Zeitpunkt eskaliert, da durch die Direktwahlen zum Europäischen Parlament die Aussicht auf einen echten Schritt in Richtung stärkerer politischer Integration entsteht. Bleibt nicht die Bundesrepublik die dominierende Macht der Europäischen Gemeinschaft, nachdem sich Großbritannien durch seine fortgesetzt antieuropäische Haltung der Möglichkeit beraubt hat, ein ernst zu nehmendes Gegengewicht zu Deutschland darzustellen? Und welche Konsequenzen wären hieraus für das Verhältnis zum Osten zu ziehen? Derartige Fragen werden am offensten in Frankreich aufgeworfen, doch viele andere Europäer stellen sie auch.

Drittens wird in begrenztem Rahmen eine auf Polen beschränkte Debatte über das Deutschlandproblem geführt (die wahrscheinlich ein Echo in Moskau findet). Diese rührt einmal aus jenen Tendenzen in der Innenpolitik der Bundesrepublik, die aus dem Friedensvertragsvorbehalt hinsichtlich der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze im Warschauer Vertrag eine Infragestellung dieser Grenze als der heutigen Staatsgrenze Polens ableiten. Zum anderen hat die offene Infragestellung des territorialen Status quo in Europa durch China in Polen besonders gewirkt. Von dieser Debatte sind der Öffentlichkeit nur Bruchstücke bekannt geworden.'Vordergründig befaßt sich diese Diskussion mit bestimmten Punkten der französischen Deutschlanddiskussion, in Wirklichkeit kommt in ihnen jedoch der starke polnische Widerstand gegen jeden Schritt in der deutschen Frage zum Ausdruck, durch den der territoriale Status quo in Frage gestellt werden könnte

Bei dieser in Europa ausgebrochenen Debatte über die Deutschlandfrage werden die Realitäten des engmaschigen Netzes von Abhängigkeiten gegenüber der Außenwelt unterschätzt, die den Spielraum der Bundesrepublik eng begrenzen: Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zur Gewährleistung der Sicherheit, Abhängigkeit von der Europäischen Gemeinschaft und der Weltwirtschaft'zur Sicherung des Wohlstands, Abhängigkeit von anhaltender Entspannung mit der Sowjetunion zur Verbesserung der Lage Berlins und des Verhältnisses zu Ost-deutschland sowie anderen Nachbarn im Osten.

In diesen Umständen liegen mächtige Beweggründe für ein vorsichtiges Auftreten der Deutschen.

Die Bundesrepublik steht heute vor schwierigen Dilemmata in den drei Bereichen der Europapolitik, der Politik gegenüber dem Atlantischen Bündnis und der Ostpolitik. Sie ergeben sich gleichermaßen aus dem neuen Machtpotential Westdeutschlands und seinem erweiterten Handlungsspielraum:

Im Bereich der Gemeinschaftspolitik würden eine gemeinschaftsfeindliche Haltung oder der Versuch einer Rückgewinnung national-staatlicher Kompetenzen, wie er für Frankreich von de Gaulle unternommen wurde oder heute von Großbritannien unternommen wird, unverzüglich das Gespenst des deutschen Nationalismus heraufbeschwören und deutscher Politik entgegenwirken. Aber eine betont integrationsfreundliche Politik hat ähnliche Auswirkungen, denn sie nährt den Verdacht, die Bundesrepublik wolle die Gemeinschaft dominieren oder sie als neue Machtbasis nutzen. In der Btindnispolitik sieht sich die Bundesrepublik vor zwei Dilemmata gestellt: Erstens wird durch eine passive Hinnahme der Verschlechterung der Verteidigungsposition der Alliierten auch die deutsche Sicherheit untergraben, während andererseits eine Vergrößerung des deutschen Beitrags zur NATO der Befürchtung Auftrieb gibt, die Bundesrepublik werde militärisch zu mächtig oder der multilaterale Charakter der Allianz werde zunehmend durch eine amerikanisch-deutsche Achse ausgehöhlt.

Zweitens wird die Bundesrepublik aufgrund ihrer geostrategischen Lage mehr als jedes andere Land Westeuropas von der schwierigen Aufgabe in Anspruch genommen, das richtige Gleichgewicht zwischen Entspannung und Verteidigung zu finden. Eine aktive Politik dieser Art und das notwendige Bemühen um Abstimmung mit anderen Mitgliedern der Allianz schaffen unvermeidlicherweise Reibungsflächen und Ansatzpunkte für Verstimmungen. Außerdem kann es vorkommen, wie es derzeit im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten der Fall ist, daß die Bundesrepublik sich für die Wahrung europäischer Interessen gleichzeitig in den Bereichen der Verteidigung und der Entspannung einsetzen muß. Schließlich steht auch im Bereich der Ostpolitik die Bundesrepublik vor einem Dilemma: Eine Rückkehr zu einer Politik des Kalten Krieges würde die Bundesrepublik im Westen isolieren, die Entspannung im Hinblick auf Berlin, die DDR und Osteuropa bedrohen und den deutschen Interessen zuwiderlaufen. Doch auch eine aktive Entspannungspolitik ist nicht ohne Probleme, denn sie nährt im Westen ungeachtet der Beweise für das Gegenteil die Furcht vor einem neuen Rapallo oder einer angeblichen „Selbst-Finnlandisierung" der Bundesrepublik.

Da diese Dilemmata das Ergebnis der neuen Kräftekonstellation in Europa und der gewachsenen Rolle der Bundesrepublik sind, kann sich die Bundesrepublik ihnen nicht entziehen. Jede Bundesregierung, gleich welcher politischen Couleur, muß mit ihnen leben und kann bestenfalls ihre negativen Auswirkungen durch ein vorsichtiges Management der Konfliktfelder minimieren, bei dem auf der Aufrechterhaltung der grundlegenden Elemente einer Ostpolitik auf einer sicheren Grundlage im Westen bestanden wird.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Willy Brandt, Konrad Adenauer — Ein schwieriges Erbe für die deutsche Politik, in: Konrad Adenauer und seine Zeit, Stuttgart 1976, S. 106.

  2. David Calleo, The German Problem Reconsidered, Cambridge 1978, S. 166.

  3. Andre Fontaine, in: Le Monde vom 22. Nov. 1978.

  4. Vgl. Le Monde vom 16. Aug. und 13. Sept. 1978; Le Figaro vom 22. Nov. 1978.

  5. Zu der Ende der sechziger Jahre über diese Fragen geführten Diskussion siehe mein Buch: . German Foreign Policy in Transition", London 1968.

  6. William Pfaff, German Challenge: Problem to Europe, in: The International Herald Tribune vom 'Dez. 1978.

  7. die kritische Analyse des Arguments durch im Hütter, Die Stellung der Bundesrepublik Deutschland in Westeuropa: Hegemonie durch " irtschaftliche Dominanz?, in: Integration, Nr. 3, '978, sowie Michael Kreile, Die Bundesrepublik eutschland - eine „conomie dominante" in WestEuropa?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 26/

  8. Vgl. Fontaine, a. a. O.

  9. Siehe den Artikel des Chefredakteurs der Polityka, Mieczyslaw Rakowski (außerdem Mitglied des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei), in: Polityka vom 21. Okt. 1978.

Weitere Inhalte

Karl Kaiser, Dr. rer. pol., geb. 1934, Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e. V., Bonn; Wissenschaftlicher Rat und Professor für Politische Wissenschaft an der Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: EWG und Freihandelszone, Leyden 1963; German Foreign Policy in Transition, London 1968; Friedensforschung in der Bundesrepublik, Göttingen 1970; Strukturwandlungen der Außenpolitik in Großbritannien und der Bundesrepublik (Hrsg, mit Roger Morgan), München 1970; Die Europäische Herausforderung und die USA München 1973; Kernenergie und Internationale Politik (Hrsg, mit Beate Lindemann), München 1975; Sicherheitspolitikvor neuen Aufgaben (Hrsg, mit Karl Markus Kreis), Frankfurt 1977; Amerika und Westeuropa (Hrsg, mit Hans-Peter Schwarz), Stuttgart und Zürich 1977.