Als Helmut Kohl im Herbst 1978 das einprägsame (wenn auch mißverständliche) Wort von den „geschichtslosen Gesellen“ wie einen „Bannstrahl" gegen die Arbeiterbewegung „schleuderte“ hatte Helmut Schmidt gerade seinen Vortrag über . Auftrag und Verpflichtung der Geschichte“ vor dem 32. Deutschen Historikertag in Hamburg gehalten. Auch er beklagte Defizite historischen Bewußtseins in Deutschland. Freilich wies seine Kritik in eine andere Richtung: „Es war eine bedenkliche und übrigens politisch folgenschwere Fehlentwicklung, daß die deutsche Geschichtswissenschaft, wie mir scheint, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sich in zunehmenden Maße nicht-angepaßten Minderheiten verschlossen, andersdenkende Köpfe, wenn möglich, von den Lehrstühlen ferngehalten hat Und Sie werden es einem sozialdemokratischen Bundeskanzler nicht verübeln, wenn er an die Eingeschränktheit der Laufbahnchancen erinnert, welche etwa die Gegner des Bismarckschen Staates, wie Sozialdemokraten, Linksliberale, aber auch Zentrumskatholiken, in Deutschland über lange Strecken zu erleiden hatten.“
Die Frage der Geschichtslosigkeit und das Bedürfnis der Gewerkschaften Die Geschichtslosigkeit ungebildeter Proletariermassen und die sozialhistorische Ignoranz der lange vorherrschenden Geschichtswissenschaft in Deutschland sind zwei Seiten desselben, von Klassenschranken geprägten Phänomens. Stärker noch als die Arbeiterpartei war davon die Gewerkschaftsbewegung betroffen, freilich nicht in dem Sinne, daß die „vaterlandslosen Gesellen" der ersten Arbeiterassoziationen kein Geschichtsbewußtsein besessen hätten, sondern dergestalt, daß ihre Rolle im historischen Prozeß nicht als geschichtswürdig im Sinne jener „erhabenen" historischen Subjekte anerkannt und bearbeitet wurde.
Erst unter dem Vorsitz Heinz Oskar Vetters ist es seit 1974 zu einem von Jahr zu Jahr intensiver werdenden historischen Dialog zwischen Gewerkschaften und Geschichtswissenschaftlern gekommen. Am Anfang stand die Erarbeitung der Böckler-Festschrift durch Gerhard Ritter, Klaus Tenfelde, Hans-Josef Steinberg, Henryk Skrzypczak, Gerald D. Feld-man, Hans Mommsen, Lutz Niethammer u. a. wobei Absolventen der Universität Bochum eine wichtige Mittlerrolle zukam Die jahrelangen, unermüdlichen Anstrengungen von Ulrich Borsdorf und Hans O. Hemmer sind hier an erster Stelle zu nennen.
Die neue Tendenz war nicht zuletzt Ausdruck der Hochschulreform und der von den Gewerkschaften an sie geknüpften Erwartungen. Im Juni 1977 sagte der DGB-Vorsitzende zur 450-Jahrfeier der Universität Marburg: „Die Arbeitnehmer, auf deren Arbeit der Reichtum dieser Gesellschaft beruht und die damit auch die Hochschuletats mitfinanzieren, haben ein Recht darauf, daß ihre Probleme, ihre Interessen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten Eingang in Forschung, Ausbildung und Weiterbildung finden. Dieser Anspruch muß Geschichte machen, d. h. er muß in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen unserer Tage durchgesetzt werden, und deshalb wird er hier angemeldet." Deutlicher konnte die Subjekt-Rolle der Gewerkschaften in diesem Prozeß kaum ausgesprochen werden.
Als Vetter fast ein Jahr darauf in Hamburg vor dem DGB-Bundeskongreß sprach, erwähnte er zur Überraschung mancher Delegierter die Mitarbeit von „namhaften Historikern" im Hans-Böckler-Kreis, die „einen Kongreß über die Geschichte der Gewerkschaften" vorbereiteten, und zwar „als Antwort auf die geschichtsverfälschenden und jugendverderbenden Tendenzen in unserer Gesellschaft“ Inzwischen hat der DGB-Vorsitzende das Verhältnis von „Geschichte und Gewerkschaften" vor der Historischen Kommission zu Berlin weiter ausgeführt: „Es liegt mir fern, hier eine Defizitliste aufzumachen oder versäumte wissenschaftliche Forschung und Darstellung einzuklagen. Aber ich würde es sehr begrüßen, wenn sich die Geschichtswissenschaft noch stärker als bisher den Gewerkschaften zuwenden würde. Dabei kommt es mir nicht — und hier stimme ich dem, was der Bundeskanzler beim 32. Deutschen Historikertag in Hamburg gesagt hat, ausdrücklich zu — auf ein . verbindliches Geschichtsbild'an. Es mag eine schöne Vorstellung für alle diejenigen sein, denen Geschichte nur zur Indoktrination oder Legitimation taugt. Wir aber wollen — so wie es schon. Bringmann formulierte — lernen: aus Fehlern, Fehleinschätzungen, falschen Entscheidungen ebenso wie aus Siegen und Erfolgen; aber auch aus unterschiedlichen Ergebnissen verschiedener Forschungsansätze."
Diese pragmatische, auf anwendbare Lehren aus der Geschichte gerichtete Einstellung zur Geschichtswissenschaft kommt auch in dem Generalthema der für Oktober 1979 in München anberaumten Geschichtskonferenz zum Ausdruck: „Aus der Geschichte lernen — die Zukunft gestalten". Welch hoher Rang dabei der Geschichtswissenschaft zugemessen wird, erhellt aus der Tatsache, daß die zum 30. Jahrestag der Gründung des DGB fällige Jubi-. läumsveranstaltung durch eine wissenschaftliche Konferenz bestritten wird, bei der nicht die Festreden, sondern der Vortrag führender Geschichtswissenschaftler und Politologen, also der kritische Dialog, im Mittelpunkt steht Nicht zufällig trifft diese Bestandsaufnahme und historische Bilanz mit der Diskussion über das neue Grundsatzprogramm des DGB zusammen, dient also auch seiner wissenschaftlichen Fundierung.
Wer die jüngste Hinwendung des Gewerkschaftsbundes zur Geschichte betrachtet, der mag darin eine späte Anwendung der Marx-sehen Erkenntnis sehen: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte.“ Wer freilich die Hintergründe sieht, wird hier mitnichten eine neomarxistische Wendung entdecken. Die autonome Beschäftigung der Gewerkschaften mit ihrer eigenen Geschichte ist älter und vielschichtiger als häufig vermutet wird.
Pragmatisches Geschichtsverständnis Das gewerkschaftseigene Geschichtsbild — sofern es sich überhaupt definieren läßt — erscheint immer wieder durch Jubiläumsdaten und Jahresfeiern aus Anlaß der kalendarischen Wiederkehr herausragender Ereignisse gekennzeichnet. Gleichwohl erschöpft sich dieses Geschichtsbild nicht im Begängnis solch feierlicher Anlässe. Im Gegenteil: Das Jubiläum setzt ein Datum, um über die regel-mäßigen Geschäftsberichte hinaus historische Rechenschaft abzulegen. Geschichte wird dabei im Sinne Johan Huizingas als „Rechenschaft einer Kultur über ihre Vergangenheit" verstanden 11). Die einschlägigen Daten der 10-, 25-, 50-, 75-und 100jährigen Wiederkehr von Gründungsdaten sind legitimer Anlaß, um allgemeine Bilanz zu ziehen: Was wurde erstrebt? Was haben wir erreicht? Was wurde versäumt? Was bleibt zu tun? Welche neuen Ziele sollen angesteuert werden?
Im Widerspruch zu anderen Historikern sei hier nach vielfältigen Erfahrungen bei Schulungen, Diskussionen und Kongressen betont, daß in den Gewerkschaften wenig antiquarisches Interesse an Geschichte vorhanden ist — jedenfalls solange „antiquarisch" im Sinne Friedrich Nietzsches als Neigung zum „Gewohnten und Altverehrten“ definiert wird 12). Hier mag u. a. die Ursache für jene vermeintliche „Geschichtslosigkeit" zu suchen sein 13). Das historische Interesse von Gewerkschaftern zeigt hingegen immer wieder futuristische Züge: Schon Wilhelm Liebknecht, der Mitbegründer der freien Gewerkschaftsbewegung, rief seinen Mitstreitern zu: „Die Zukunft gehört uns!“ 14) In der Stunde „Null" des Jahres 1945 schrieben emigrierte Gewerkschafter aus der Schweiz ihren überlebenden Kollegen in Deutschland: „Die alte Welt ist tot; Die Zukunft ist mit denen, die dieser alten Welt resolut den Rücken kehren, die mit Mut und schöpferischer Phantasie, mit Verständnis und festem Willen die neue Welt bauen.“ 15) Im Übergang zu den siebziger Jahren meinte Heinz Oskar Vetter: „Die Zukunft bringt neue Aufgaben. Wirtschaftlicher und technischer Wandel werden das Gesicht unserer Gesellschaft verändern. Zwänge und Abhängigkei-ten werden nicht abnehmen — im Gegenteil. Rolle und Bedeutung der Gewerkschaften werden wachsen. Darauf müssen wir uns vorbereiten."
Die historischen Bedürfnisse der Gewerkschaften richten sich keineswegs aus irgendeiner sozialromantischen Einstellung heraus auf die . gute alte Zeit’, sondern verlangen die geschichtsbewußte Gestaltung zukünftiger Verhältnisse. Insofern sind sie tatsächlich pragmatisch im Sinne Gustav Droysens zu nennen, und zwar bis in didaktische Konsequenzen hinein, bis hin zu dem erhabenen Gedanken der „Erziehung des Menschengeschlechts" Dahinter steht die historisch begründete Vermutung, daß die eigentliche Gestaltungsaufgabe der Gewerkschaften nicht in der Vergangenheit lag, sondern erst heute zum Tragen kommt und in der Zukunft ihr größeres Potential entfalten wird. In der tagespolitischen Verkürzung folgt daraus das Bedürfnis nach handfesten „Lehren", die sich aus der Geschichte ableiten und direkt auf die „Entscheidungen für morgen" anwenden lassen.
Der problembewußte Fachhistoriker mag dieses bisweilen naiv vorgetragene Bedürfnis tadeln und unter Berufung auf die Geschichtsphilosophie antworten, die einzige Lehre aus der Geschichte sei, daß aus ihr keine direkten Lehren abzuleiten wären. Hans Mommsen hat dazu differenzierter gemeint: „Es wäre ein müßiges Beginnen, wenn sich Regierungen, Parlamente, politische Parteien, Arbeitgeberverbände oder Gewerkschaften historische Experten halten wollten, deren ufgabe darin bestünde, das Vergangene zu registrieren und zu analysieren und gleichsam nach Art des Kanzleibeamten Aktenvorgänge zur Vorbereitung aktueller Entscheidungsprozesse aufzuarbeiten. Lehren aus der Geschichte sind nicht abrufbar; sie können nicht im Computer ge-speichert werden. Voraussetzung dafür, daß die geschichtliche Erfahrung im weitesten Sinne in den politischen Entscheidungsprozeß korrigierend einfließt und nicht indirekt auf dem Wege historisch-politischer Vorurteile irrationalem Handeln Vorschub leistet, ist die Pflege und die Erhaltung des Bewußtseins der historischen Identität, ob es sich dabei um Individuen, soziale Gruppen oder Völker handelt Denn erst auf diesem Hintergrund können historische Einsichten Legitimität beanspruchen und werden sie umgekehrt erst rational überprüfbar.“ Was Mommsen dabei nicht anspricht, was aber in dem weiter unten zu entwickelnden Zusammenhang relevant wird, ist die Frage, ob eine Geschichtsschreibung, die offensichtlich auf die Zerstörung oder Umfunktionierung des Bewußtseins historischer Identität hinausläuft, in diesem Sinne zu verwerfen wäre.
Dasselbe gilt für Mommsens Meinung, „daß so-genannte Lehren aus der Geschichte, die sich bloß auf punktuelle Analogien zur Gegenwart stützen, eher zur Verformung der aus der historischen Betrachtung gewonnenen Einsichten beitragen als zu deren Vertiefung". Mommsen bezieht sich insbesondere auf den Fall, daß „der Geschichte konkrete Handlungsanweisungen für die Gegenwart entnommen werden" Auch hier ist zu fragen, was von einer Geschichtsschreibung zu halten sei, die sich dieser Einsicht entzieht und bedenkenlos zur Formulierung von Handlungsanweisungen schreitet.
Gewiß läßt sich konstatieren, daß keine feststehenden Lehrsätze als gültige, handlungsbezogene historische Erkenntnis für alle Zeiten unumstößlich formuliert werden können. Eine solche Auffassung wäre nicht pragmatisch, sondern dogmatisch. Wo aber ein starkes gesellschaftliches Bedürfnis nach Artikulation von Lehren aus der Geschichte an die Geschichtswissenschaft herangetragen wird, darf sie sich der Auseinandersetzung mit diesem Bedürfnis nicht durch die arrogante Verweigerung von Antworten entziehen. Vor allem darf sie sich nicht beklagen, wenn das vorhandene Verlangen von anderer Seite auf dogmatische oder naive Weise befriedigt wird und die Entwicklung historischen Bewußtseins in breiten Kreisen der Bevölkerung an der etablierten Wissenschaft gleichgültig vorbeigeht
Gewerkschaftseigene Historiographie seit 1848
Wie bereits angedeutet, ist die historische Selbstreflexion der Gewerkschaften älter, kompetenter und vielversprechender als allgemein vermutet wird, ja sie reicht weiter zurück als die anerkannten Anfänge der Organisationsgeschichte erwarten lassen. Bereits die ersten gewerkschaftlichen Anfänge der 1848er Bewegung finden sich in einer kleinen Zeitung des Jahrgangs 1852 durch einen der Beteiligten sorgfältig beschrieben und analysiert. Schon damals stand das Motiv einer korrekten Rechenschaftslegung über die eigenen geschichtlichen Bestrebungen im Mittelpunkt der Erörterung des historiographischen Problems. Der unbekannte Verfasser nennt die . Ansichten und Meinungen bei Behörden wie bei Privaten oft sehr schief und vorurteilsbefangen, indem sie teils auf Unkenntnis des Wesens und der Entwicklung der leitenden Ideen, der Zwecke und der angewandten Mittel, teils auf Verdächtigungen und Verleumdungen interessierter Personen beruhen" Seinerzeit war es bereits üblich, die Gewerkschaftsbewegung der „Kommunistenverschwörung“ zuzurechnen, um sie dergestalt vor dem breiteren Publikum zudiskreditieren Der Autor von 1852 meinte, dies sei „ein großer Übelstand, der indessen allmählich immer mehr an Bedeutung verloren hätte, wenn es unserer Assoziation [i. e. Gewerkschaft] verstattet gewesen wäre, sich frei und ungehemmt zu entwickeln und durch volle Ausbildung ihrer Prinzipien, der beabsichtigten und begonnenen Einrichtungen praktisch ihren Wert oder Unwert zu beweisen. Dies haben die Götter und die Behörden nicht gewollt. Vielmehr war die Geschichte unserer Assoziation eine stete Kette von Hemmungen und Hindernissen, von Suspensionen und gerichtlichen Verfolgungen. Es sind daher viele der beabsichtigten und angefangenen Einrichtungen teils ganz unterblieben, teils nur in beschränkter Weise zur Ausführung gekommen. Dies hat wiederum bei Unkundigen und übelunterrichteten dazu beigetragen, das Urteil über unser Streben zu verfälschen.“
Die angeblich Vaterlands-und geschichtslosen Gesellen jener Tage wehrten sich durch das Mittel der Geschichtsschreibung: . Abgesehen davon, daß es nur heilsam sein kann, die allmählich herrschend gewordenen irrtümlichen und befangenen Ansichten unserer Zeitgenossen durch eine klare, unbefangene Darstellung unserer Prinzipien und ihrer geschichtlichen Betätigung, Fortbildung oder Verkümmerung zu berichtigen, da ein falsches Urteil über eine soziale Bestrebung leicht die Ursache werden kann, daß andere derartige Unternehmungen ohne Prüfung verworfen werden; abgesehen davon, daß den bei irgendeinem allgemeinen, auf das Wohl vieler Mitmenschen hinzielenden Unternehmen als Mitwirker aktiv oder passiv beteiligten Personen selbst erwünscht sein muß, ihr Streben und Wirken richtig beurteilt zu sehen, abgesehen von diesen und anderen Verhältnissen legt uns schon die historische Bedeutung unserer Assoziation für die Gegenwart wie für die Nachwelt, die ein Recht hat, von uns Auskunft über unser Streben und seine Gründe, über unser Wirken und seinen Fortgang, über unsere Erfolge und unsere Mißgriffe zu fordern, die Pflicht auf, eine unparteiische und rücksichtslose Geschichte unserer Assoziation zu verfassen." 24)
Sieht man von dem betulichen Stil ab, übersetzt man die altertümliche Wortwahl und den verschnörkelten Satzbau in die moderne Sprache der Organisation, dann wurden bereits am Anfang der Gewerkschaftsbewegung gültige Aussagen über ihre historische Bedeutung und geschichtswissenschaftliche Behandlung gemacht. Rechenschaft über die Vergangenheit undAufbruch in eine neue Zeit— das waren und blieben die zentralen Motive gewerkschaftlichen Geschichtsbewußtseins.
Freilich dauerte es ein halbes Jahrhundert, bis eine breitere historische Literatur entstand. Es handelt sich dabei vor allem um Geschichten einzelner Berufs-und Branchenverbände, die von hervorragenden Gewerkschaftsführern und Journalisten bzw. Schriftstellern der Gewerkschaftspresse verfaßt wurden: Arthur Gasch, Ludwig Rexhäuser, August Bringmann, Willi Krahl, Otto Hu 6 und viele andere wären zu nennen Unsere eigene Geschichte machen wir selber und schreiben wir selber! — So ungefähr lautete die Anwendung kollektiver Selbsthilfe auf die Organisationsgeschichte. Daraus folgte Geschichtsschreibung von Arbeitern für Arbeiter, also „Arbeitergeschichte" in Analogie zur . Arbeiterdichtung". Auf diese Weise hat sich vor dem Ersten Weltkrieg eine umfangreiche historiographische Literatur der Arbeiterschaft entwickelt, die einen Vergleich mit der professionellen bürgerlichen oder halbfeudalen Geschichtsschreibung nicht zu scheuen braucht. Was ihr an Zitiertechnik und philologischer Akribie fehlt, hat sie der preußischen Schule an gesellschaftlichem Bewußtsein voraus!
Einen Höhepunkt dieser breiten Welle gewerkschaftseigener Geschichtsschreibung bildet Hermann Müllers Arbeit über die Organisation der Lithographen, Steindrucker und verwandten Berufe, die 1917 erschien und heute aus guten Gründen einen Nachdruck erfährt Die Erfolge der Arbeitergeschichte förderten eine Tendenz zur Beschränkung auf Autoren aus den eigenen Reihen. Der Stein-setzer Alexander Knoll, selbst Vorsitzender und Autor einer voluminösen Sozial-und Organisationsgeschichte machte Anfang der zwanziger Jahre zur Norm, was sich seit Ende des 19. Jahrhunderts herausgebildet hatte: „daß Gewerkschaftsgeschichte nur von Gewerkschaftern geschrieben werden sollte" Die Ignoranz der herrschenden Geschichtswissenschaft gegenüber den Gewerkschaften wurde so mit einer negativen Exklusivität beantwortet.
Geschichtsverlust durch Identitätskrise und Repression
In dieser Entwicklung spiegelt sich die allgemeine Schwierigkeit der deutschen Arbeiterbewegung, aus den veränderten Verhältnissen nach der Revolution von 1918/19 positive Im-pulse für die eigene Geschichte im Doppelsinne des Wortes zu empfangen. Das neue Verhältnis von Gewerkschaften und Staat, wie es im zweiten Teil der Weimarer Reichsverfassung formuliert wurde, verlangte ein verwandeltes Verständnis der Organisationsgeschichte bis hin zur Reflexion des Funktionswandels der Gewerkschaften in Staat, Gesellschaft und Wissenschaft. Jene Ansprüche, die Heinz Oskar Vetter erst 1977 in Marburg anmeldete, hätten bereits in der Weimarer Republik zur Geltung kommen müssen.
Die Öffnung staatlicher und kommunaler Archive nach der Novemberrevolution brachte neue methodische Anforderungen und bis dahin ungenutzte quellenkundliche Möglichkeiten, die nur zögernd wahrgenommen wurden. Die Eigenbrötlerei der Arbeiterhistoriker und die Abneigung der rückwärtsgewandten „bürgerlichen" Wissenschaft bildeten auf diese Weise eine doppelte Barriere. Der große Wurf einer Gesamtgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, zu dem Siegfried Nestriepke im Jahre 1919 ausholte, mußte geradezu zwangsläufig scheitern, auch wenn drei Bände erscheinen konnten Es fehlte an produktiver Kooperation zwischen Archiven, Universitäten und Gewerkschaften.
Immerhin wurden bis zum Jahre 1930 allein im Bereich des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) sechzig zentrale Organisationsgeschichten herausgegeben, die sich mit der Entwicklung von 37 verschiedenen reichsweiten Organisationen befaßten. Das ist nur die Spitze eines Eisbergs. Darunter sind tausende regionaler und lokaler Geschichtswerke zu finden, die in keiner Bibliographie verzeichnet werden Gegen Ende der Republik kündigte sich eine zweite Welle gewerkschaftlicher Selbstdarstellungen an, deren Ausbreitung und Rezeption durch den Nationalsozialismus brutal unterbrochen wurde. Das gilt auch für zwei hervorragende Handbücher, die Anfang der dreißiger Jahre erschienen: Ludwig Heydes Internationales Handwörterbuch, das noch vollständig erscheinen konnte und: Maurycy Bergmann, Fritz Schieiter, Helmut Wickel, Handbuch der Arbeit, von dem nur ein dritterBandüber die Koalitionen existiert
Trotz der Bücherverbrennungen wurde von einzelnen Autoren im Widerstand heimlich weitergeschrieben 33). Aber die Produktionsbedingungen drückten erneut auf die Qualität. Die Kontinuität gewerkschaftlicher Geschichtsschreibung wurde in den dreißiger Jahren gebrochen, und zwar vorrangig durch äußere Repression, aber auch durch ein tief-greifendes Identitätsproblem: durch innere Ablösung von berufsgewerkschaftlichen Traditionen im Übergang von Berufs-und Richtungsgewerkschaften zur Industrie-und Einheitsgewerkschaft. In diesem Zusammenhang sind jene Worte zu verstehen, die Theodor Leipart in seinem richtungsweisenden Aufsatz zur gewerkschaftlichen Einheit aus der „Metallarbeiter-Zeitung" übernommen hat: „Ein Gewerkschafter, der seinen Namen verdienen will, muß sein Gesicht auf Gegenwart und Zukunft richten, nicht in die Vergangenheit. Er wird beweisen, daß ihm das Vergessen nicht schwerer fällt, als das Lernen."
Der Bruch von 1933 wurde 1945 keineswegs aufgehoben, sondern durch die Spaltung in Ost und West nochmals verstärkt. Das Resultat war eine weitverbreitete Geschichtslosigkeit, die mit dem Ausscheiden der älteren Generation in den fünfziger Jahren noch weiter zunahm. Arbeiten wie die Veröffentlichungen von Jack Schiefer, Richard Seidel und Franz Josef Furtwängler sind als Ausnahmeerscheinungen in diesem Zusammenhang zu werten.
Zwar hat der Bundesvorstand des DGB Mitte der fünfziger Jahre eine Kommission eingesetzt, die den Auftrag erhielt, das wachsende historische Vakuum wieder aufzufüllen. Ru-dölf Wissell, Theodor Thomas, Franz Spliedt und August Enderle lauteten die berufenen Namen Das Ergebnis liegt seit 1959 in vier hektographierten Bänden vor Es trägt den Vermerk: „Für jeden Abdruck gesperrt". Die Gründe lassen sich nur mutmaßlich nennen. Sie liegen wohl bei den Schwierigkeiten einer Darstellung des Übergangs zur Einheitsgewerkschaft, die den Bedürfnissen aller im DGB organisierten Richtungen gerecht wird.
Im Übergang zur Einheitsgewerkschaft, der tragischerweise mit Gleichschaltung, Zerschlagung und Funktionswandel der demokratischen Verbände zusammenfällt, klafft eine historische Bewußtseinslücke, die in dem halben Jahrhundert seither niemals zufrieden-stellend aufgearbeitet werden konnte. Hier zeigt sich die real-und bewußtseinsgeschichtliche Seite des dichotomischen Gesellschaftsbildes der Gewerkschaften, ihrer Mitglieder und Funktionäre, mit anderen Worten: des Problems der kollektiven Identität, der Nicht-Identität und Identitätsdiffusion. Die Geschichte der deutschen Gewerkschaften ist mit vielen Spaltungen belastet — von der Klassenspaltung über weltanschauliche Differenzen und ständisches Denken bis hin zur nationalen Spaltung in Ost und West. Wer mit Hans Mommsen „die Pflege und die Erhaltung des Bewußtseins der historischen Identität" als Ausweis geschichtswissenschaftlicher Legitimation betrachtet, kommt in Schwierigkeiten, wenn er deutsche Geschichte, insbesondere Arbeitergeschichte und speziell Gewerkschaftsgeschichte schreiben will. Die Chance zur Lösung dieses Problems liegt in dem aufkommenden Dialog zwischen Wissenschaft und Gewerkschaft.
Die Wiederentdeckung der Gewerkschaftsgeschichte seit 1963
Als erstes Datum für die Wiederentdeckung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewe-gung darf das Jahr 1963 angesehen werden. In Westdeutschland war es durch den hundertsten Gründungstag des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) charakterisiert Es handelte sich um ein Lassalle-Jubiläum mit ausgesprochen sozialdemokratischen Tendenzen Demgegenüber nutzte Walter Ulbricht die historische Stunde, um seinen „Grundriß“ der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung durchzusetzen, auf dem die achtbändige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung beruht Obwohl dieses Geschichtswerk in der DDR heute nicht mehr voll anerkannt wird, ist es doch als Standardwerk des vorherrschenden, stalinistisch geprägten Geschichtsbildes im sogenannten „real existierenden Sozialismus“ zu werten. Der DKP-Historiographie, ihren Marburger Freunden und den entsprechenden Verlagen dient diese „GdA“ offenbar noch immer als Richtschnur für ihre diversen historischen Publikationen
Obwohl die Gewerkschafts^schichte noch nicht im Mittelpunkt der Ereignisse von 1963 stand, sind auch hier wichtige Weichenstellungen erfolgt Bereits im Januar 1963 erschien die vielbeachtete Hundertjahresausgabe der westdeutschen Gewerkschaftszeitung „Druck und Papier" bzw. „Correspondent“. Ulbricht hat daraus vor dem ZK der SED ausführlich zitiert und gleichzeitig Anstöße für die Geschichtsschreibung seines Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) gegeben. Historiker an der Hochschule der Gewerkschaften in Bernau bei Berlin waren dadurch besonders angesprochen. Im gleichen Jahr wurden im FDGB und seinen Gliederungen Resolutionen verabschiedet, die auf eine Aktivierung historischer Anstrengungen zielten. Die „schrittweise Ausarbeitung einer Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung" rückte in den „Forschungsplan des FDGB-Bundesvorstandes" Erkennbar war dabei immer wieder die politische Absicht, auf dem Umweg über die Geschichte den abgerissenen Kontakt mit den westdeutschen Gewerkschaften wieder anzuknüpfen und so Einfluß auf den DGB zu gewinnen. Diese Bemühungen dauern seit 1963 an und zeigen seit Mitte der siebziger Jahre sichtbare Erfolge. Dabei scheint die Initiative von Ost-Berlin und Bernau auf die Zentren der DKP-Arbeit in Westdeutschland übergegangen zu sein, ohne daß von einer unabhängigen Entwicklung gesprochen werden kann.
Zur Situation der freien Historiographie in Westdeutschland ist demgegenüber festzustellen: Anders als in der DDR, wo eindeutige Aufträge vergeben und arbeitsteilig durchgeführt werden, leiden wir an Organisationsund Legitimationsproblemen. Noch immer gibt es eine gewisse Scheu der Gewerkschaften, wissenschaftliche Einrichtungen und ausgewiesene Forscher mit der Geschichtsschreibung zu beauftragen. Zwar hat das Mißtrauen gegenüber der Wissenschaft im allgemeinen abgenommen, doch hat sich spezielle Skepsis gegenüber neulinker Arroganz auf Lehrstühlen ausgebreitet. Zugleich verhält die etablierte Geschichtswissenschaft sich immer noch skrupulös, wenn sie Gelegenheit erhält, den Gewerkschaften bei ihren Bemühungen um historische Rechenschaftslegung methodisch behilflich zu sein. Allein wo die unabhängige Wissenschaftsförderung einsetzt, scheinen diese Schwierigkeiten überwindbar zu werden.
Ein kurzer Lehrgang'
Das größte publizistische Defizit klafft gegenwärtig im Bereich einer kurzgefaßten und gleichwohl kritisch-wissenschaftlichen Gesamtgeschichte der deutschen Gewerkschaften als Unterlage für das sozialwissenschaftliche Studium, den sozialkundlichen Unterricht und die gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Diese Lücke wurde von der Marburger Gruppe um Frank Deppe und Georg Fülberth (DKP) mit der Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung aus dem Pahl-Rugenstein-Verlag scheinbar geschickt geschlossen Jedenfalls spricht der Erfolg der ersten und zweiten Auflage dafür. Hilfreich bei der Durchsetzung dieses Buches als Standardlektüre für gewerkschaftliche Bildungsarbeit waren Referententeams und befreundete Gruppen, die für größere Sammelbestellungen sorgten.
Das Werk macht auf den ersten Blick gar keinen schlechten Eindruck. Die zurückhaltende Diktion, zahlreiche Fußnoten und ein Literaturverzeichnis erwecken den Anschein einer zuverlässigen wissenschaftlichen Arbeit. Laut Vorwort handelt es sich um eine „Geschichte fürdie Arbeiterbewegung in der BRD" Wer nicht weiß, wo die Autoren politisch stehen, wird nicht gleich merken, daß es sich hier um Parteilichkeit im Sinne der Deutschen Kommunistischen Partei handelt. Die Machart des Buches zielt auf den gutwilligen Leser, der bereit ist, sich durch wissenschaftliche Autoritäten in die Lehren der Gewerkschaftsgeschichte einweihen zu lassen. Hier wird der psychologisch kürzeste Weg von der Naivität zum politischen Dogmatismus gewiesen.
Tatsächlich ist die Tendenz des Buches nur schwer auszumachen. Wer sich freilich die Mühe gibt, jene Stellen anzustreichen, an denen sozialdemokratische oder kommunistische Gewerkschaftspolitik bewertet wird, dem bietet sich folgendes Bild: Auf 26 Seiten werden Sozialdemokraten negativ bewertet, auf 3 Seiten kommt es zu negativen Urteilen über Kommunisten. Dagegen finden Kommunisten auf 20 Seiten eine positive Kritik, während sozialdemokratische, christliche oder liberale (Hirsch-Dunckersche) Gewerkschafter fast nirgends gut davonkommen oder gänzlich übergangen werden, wo ihre Leistungen zu würdigen wären. Vollends eindeutig ist die negative Bewertung jeglichen Antikommunismus. Gegen ihn wird auf 35 Seiten zu Felde gezogen. Eine Untersuchung der Fußnoten und des Literaturverzeichnisses bestätigt diese eindeutige Tendenz. Ohne sich offen als Vertreter einer kommunistischen Gewerkschaftspolitik zu bekennen, streiten die Autoren ve-hement gegen jeglichen Antikommunismus, so daß aus der doppelten Negation schließlich nichts anderes als eine prokommunistische Haltung herauskommen kann.
Dieser zunächst schwer greifbaren Strategie von scheinbarer Neutralität über differenzierende Urteile bis zu kompakter Parteilichkeit folgt auch der inhaltliche Aufbau des Buches, das in drei große Abschnitte gegliedert ist: Am Anfang steht die Entwicklung von 1848 bis 1914, die auf nur 80 Seiten recht flüchtig abgehandelt wird. Die Informationen gehen hier kaum über die bekannte Broschürenliteratur hinaus. Helga Grebing meint dazu: „Die insgesamt vier Beiträge zu diesem Zeitraum bestehen in weiten Teilen aus einer unkritischen Kompilation bekannter Standardwerke der DDR-Historiographie; ergänzt durch ältere und neuere Darstellungen zu bestimmten Ereignissen oder Zusammenhängen, wie sie sowohl von der DDR-Historiographie wie von der Forschung in der Bundesrepublik vorgelegt wurden." Darin steht wenig Aufregendes, auch wenn hier und da die politische Ausrichtung deutlich wird, wo etwa die Führungsrolle der Partei zur Geltung kommt. Das alles wirkt gemäßigt durch Schlamperei: Marx wird falsch nachgewiesen (S.7. Eine Unternehmerorganisation findet sich mit einer Gewerkschaft vertauscht (S. 19). Wer sich durch diesen quälend langweiligen ersten Teil hindurchgearbeitet hat, der wird dazu neigen, dieses Buch für harmlos zu halten.
Es folgt ein zweiter Teil, der vom August 1914 bis zum Mai 1945 reicht. Hier ist das Bestreben der Autoren deutlich darauf gerichtet, das dreifache Versagen der „revisionistischen" Gewerkschaftsführung herauszustellen, und zwar sowohl bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges als auch in der Revolution von 1918, während der Machtergreifung des Nationalsozialismus und im folgenden Widerstand gegen die faschistische Diktatur. Demgegenüber wird die Rolle der Kommunistischen Partei vom Spartakusbund über die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) bis zur Volksfrontpolitik immer wieder besonders liebevoll behandelt und wo irgend möglich beschönigt, wenn nicht alles verschwiegen werden kann, was an gewerkschaftsfeindlichen Aktivitäten aus dem kommunistischen Lager kam. Diese parteiliche Darstellung gipfelt in der diskreditierenden Behandlung von Gewerkschaftsführern wie Carl Legien und Wilhelm Leuschner auf der einen Seite und der Rechtfertigung des BVG-Streiks (S. 207, Anm. 234) und des Hitler-Stalin-Paktes (S. 250, Anm. 168) auf der anderen. Geschickt nutzen die Autoren den unbezweifelbaren Heroismus kommunistischer Widerstandsgruppen, um Sympathien auf ihre Seite zu bringen. Daß dieser Widerstand im Widerspruch zum Hitler-Stalin-Pakt zu sehen ist, wird nicht thematisiert. Wer das ohne gründliche Vorkenntnisse gelesen hat, der wird zu dem Schluß verleitet: Im Gegensatz zu den Sozis haben die Kommunisten fast immer recht gehabt. Sie machten die richtigere Politik und verfügten über die besseren Leute.
Der dritte, umfangreichste und am sorgfältigsten ausgearbeitete Teil bezieht sich auf die Entwicklung seit 1945. Mit Anne Weiß-Hart-mann und Frank Deppe sind hier die fähigsten Mitarbeiter des Autorenteams am Wirken. Ihre Strategie zielt darauf, die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone als vorbildlich hinzustellen, die Probleme der Entwicklung in Westdeutschland in den schwärzeren Farben zu malen und das Scheitern sozialdemokratischer Reformpolitik projektiv deutlich zu machen. Die übertriebene Bewertung von wirtschaftlichen Krisenerscheinungen im Westen bei gleichzeitiger Ausblendung ökonomischer Schwierigkeiten im „realen Sozialismus" dient als wichtigstes Mittel zum Zweck. Wer sich im Westen verunsichert sieht, wer von Zukunftsängsten geplagt wird, der soll sich dem anderen Lager zuwenden. Der dritte und letzte Teil der „Geschichte" zielt also auf neue Identifikationen.
Der Grundbegriff der Autonomie
Der Grundbegriff der gewerkschaftlichen Autonomie spielt hierbei wiederum in einem psychologisch geschickt angelegten Dreischritt eine besondere Rolle. Durch Betonung der Autonomie, die — wo sie ernst genommen wird — sehr wohl im Widerspruch zur sowjetmarxistischen Gewerkschaftstheorie steht, wird der Versuch gemacht, die Gewerkschaften aus ihrer; historisch gewachsenen Nähe zum freiheitlichen Sozialismus zu lösen und in eine neue Bindung an die vorgeblich einzige Partei für die Arbeiterklasse (die DKP) zu manövrieren (S. 403, Anm. 244). Das alles geschieht unauffällig und teilweise verschlüsselt, wirkt suggestiv, bleibt aber für den kritischen Analytiker eindeutig feststellbar. Der verwendete Autonomiebegriff, der scheinbar einen ideologischen Wandel andeutet, wird so eingesetzt, daß er keine Entscheidungsfreiheit im Sinne des Aktions-und des Grundsatzprogrammes der Gewerkschaften bedeutet, daß er auch keine Optionen für sozial-liberale, freiheitlich-oder christlich-sozialistische Politik zuläßt. Vielmehr ist aus den Äußerungen Deppes abzulesen, daß Autonomie im Zusammenhang seiner Gewerkschaftstheorie immer nur Gegen-Autonomie meint, also die Freiheit, „Nein" zu sagen, solange die Verhältnisse nicht in seinem Sinne geordnet sind (S. 461). Bestenfalls meint er Klassen-Autonomie im Gegensatz zur Politik gewerkschaftlicher Integration Aber seine Konzeption läuft auf eine Version von Klassen-Autonomie hinaus, wie sie in der Selbstherrlichkeit des Leninistischen Partei-Verständnisses verwirklicht wird, also auf jene sowjetische Fehlentwicklung, bei der Autonomie schließlich in die alte Autokratie einmündet und dem Volk die Selbstbestimmung verweigert
Wie fremd Deppe der freiheitliche Begriff gewerkschaftlicher Autonomie tatsächlich ist, erhellt aus einem unveröffentlichten Papier, das er 1976 zur InternationalenTagung der Historiker der Arbeiterbewegung (ITH) in Linz vorgelegt hat, wo er sagt: „Die Gewerkschaftsbewegung freilich — theoretisch und historisch — auf einen Emanzipations-und Autonomiebegriff zu reduzieren... heißt in letzter Konsequenz, alle gesellschaftstheoretischen Erkenntnisse und historischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung insofern aufzugeben, als diese wieder auf das Niveau der bürgerlichen Aufklärungsphilosophie und die Praxis der bürgerlichen Arbeiterbildungsvereine zurückgeführt wird.“
Wenn Deppe heute den Begriff der Autonomie trotz ursprünglicher Abweisung in inhaltlich revidierter Weise übernimmt, dann ordnet er diesen Grundsatz freiheitlicher Gewerkschaftsarbeit der in der Präambel zum neuen Grundsatzprogramm des DGB festgeschrieben werden soll, von vornherein fremden Zwecken unter. Zwar sind die Meinungen darüber geteilt. So heißt es in einer Rezension: „Deppe bricht explizit mit einem fest verwurzelten Dogma der kommunistischen Bewegung ... überzeugender wirkt aber die Analyse Fritz Vilmars, derzufolge die neuerliche Betonung der gewerkschaftlichen Autonomie im Rahmen kommunistischer Gewerkschaftsarbeit nur eine weitere Variante in dem traditionellen Bestreben darstellt, die Führung der Gewerkschaften zu übernehmen. Demnach soll sich der angestrebte Führungswechsel in drei Schritten vollziehen: „Erstens: Sich-Anschmeißen: Aktionseinheit; zweitens: Gewerkschaften von der SPD abspalten (parteipolitische Unabhängigkeit); drittens: im DGB Macht gewinnen" Indem Vilmar aus dem DKP-Programm zitiert, erläutert er diese drei Schritte:
„Schritt eins: Der beste Weg für die Entwicklung der Aktionseinheit ist das Zusammenwirken von Kommunisten und Sozialdemokraten am Arbeitsplatz, im Betrieb und in den Gewerkschaften ... In der praktischen Arbeit... nimmt die Übereinstimmung in Grundfragen des Klassenkampfes zu'.
Schritt zwei: Da nun aber die DKP die starken Bindungen vieler Gewerkschaftler an die Sozialdemokratie kennt, kann sie nicht einfach die Parole aufstellen: Geht weg von der SPD und kommt zu uns. Vielmehr wählt sie einen Umweg. Sie mißbraucht, einmal in den Gewerkschaften . präsent', das gewerkschaftliche Autonomieprinzip zu einer Strategie der Ablösung der Gewerkschaften von der SPD: Die DKP ... achtet ... strikt die parteipolitische Unabhängigkeit der Gewerkschaften und wendet sich gegen die Verletzung dieses Prin-zips durch christdemokratische und rechtssozialdemokratische Politiker'.
Dritter Schritt: Nachdem die DKP mit der Autonomie-Parole viele Gewerkschaftler erst einmal von dem verhängnisvollen SPD-Einfluß freigemacht hat, empfiehlt sie selbst sich nunmehr, anstelle der SPD, als der wahre Führer der Arbeiterklasse': Das Erstarken der DKP... und ihre immer festere Verwurzelung in der Arbeiterklasse ist eine Grundvoraussetzung für die Veränderung des politischen Kräfteverhältnisses zugunsten des arbeitenden Volkes. Die Entwicklung der DKP zu einer Massenpartei ist unerläßlich..
Wie abhängig Deppes Interpretation der Geschichte tatsächlich ist, zeigt sich immer dort, wo regimekritische Volksbewegungen im Einflußbereich der Sowjetunion zu beobachten waren. Was am 17. Juni 1953 in der DDR passierte, wird von Deppe nicht berührt, auch nicht die gewerkschaftliche Komponente des Volksaufstandes. Er meint lediglich: „Die Arbeitslosenreserve wurde in dieser Zeit immer wieder durch Flüchtlingsströme aus der DDR aufgefüllt und wirkte somit als ein zusätzliches Wachstumspotential" (S. 349). Auch die Berliner Mauer erhält in seiner Darstellung allein arbeitsmarkttechnische Funktion. Nach Deppe „hatte der Bau der . Berliner Mauer'im August 1961 die Verfügbarkeit des westdeutschen Kapitals über einen Teil des hochqualifizierten Arbeitskräftepotentials der DDR abrupt unterbrochen“ (S. 375). Das ist Zynismus gegenüber den Betroffenen, auch wenn Deppe nicht von „Friedenswall" und ähnlichen Wort-schöpfungen der SED-Propaganda Gebrauch macht. Das soziale Grundrecht des Arbeiters auf Freizügigkeit und das nationale Grundrecht des Volkes auf Selbstbestimmung in Einheit wird hier negiert.
Zwar vertritt Deppe nicht explizit die These von den zwei Nationen, aber er lehnt den Gedanken der „Volksgewerkschaft" ab: „In der Auseinandersetzung um die gewerkschaftliche Standortbestimmung ging es" — nach Deppe — „letztlich um die Frage, ob sich die klassengewerkschaftliche oder volksgewerkschaftliche Bestimmung des gewerkschaftlichen Handelns durchsetzen konnte" (S. 364). Er übernimmt das Begriffspaar „Volksgewerkschaft—Klassengewerkschaft" vom Verfasser dieses Beitrages aber er verwendet es in polarisierendem Sinne, indem er den Klassenstandpunkt dogmatisiert 534).
Darüber hinaus irrt Deppe historisch. Als marxistisches Denken von den Gründern, insbesondere von August Bebel und Wilhelm Lieb-knecht, in Sozialdemokratie und Gewerkschaften hineingetragen wurde, diente ihnen die Parole vom „Volksstaat“ als Vehikel eines praxisorientierten, in deutscher Tradition entwickelten marxistischen Denkens. Die Richtung Bebel/Liebknecht kam aus der Volkspartei. Sofern es lebendige revolutionäre Traditionen in Deutschland gab, lebten sie vom Zusammenspiel nationaler und sozialer Emanzipationsbewegungen als freiheitlicher Volks-bewegungen Wenn Deppe die Arbeiterbewegung nicht mehr als Volksbewegung versteht, mag es Ausdruck von Erfahrungen der SED, SEW und DKP sein, daß es ihnen an Massenanhang gebricht, um mit Bert Brecht zu sprechen: daß sie eher dazu neigen, das Volk aufzulösen, bevor sie ihre unhaltbar gewordene Position räumen Für eine demokratische, freiheitliche und sozialistische Gewerkschaftsbewegung, die sich nicht auf auswärtige Mächte stützt, scheidet eine solche Möglichkeit aus. Insofern gibt es tatsächlich eine Unvereinbarkeit zwischen Deppes dogmatischer Version des Klassenkampfes und den Möglichkeiten des DGB als einer autonomen, integrierten Klassen-und Volksgewerkschaft.
Historische Wende als politisches Programm
Im Schlußkapitel über aktuelle Probleme der Gewerkschaftsbewegung heute (1966-1976) er-scheint Deppe durch Käthe Gerstung, Witich Roßmann und Gerhard Weiß politisch eingerahmt. Die Verfasser orientieren sich stark an den Veröffentlichungen Jörg Huffschmidts, der auf dem Mannheimer Parteitag der DKP als eine Art „Chefideologe“ auftrat Freilich meiden sie den Anschein der Parteilichkeit, indem sie einen nüchtern wirkenden Über-blick der wichtigsten gewerkschaftlichen Probleme und Fragestellungen seit Regierungsbeteiligung der Sozialdemokratie bieten. Es geht um Lohnpolitik und Reformpolitik, um „Humanisierung der Arbeitswelt“, weiter um Arbeitsund Tarifrecht und schließlich um Organisation und Programm des DGB.
Die politische Botschaft der Marburger Autorengruppe findet sich im letzten Abschnitt versteckt. Dorf orakeln die Verfasser über einen „historischen Wendepunkt“, an dem der DGB dreißig Jahre nach seiner Gründung stehen soll. Das Krisenkarussell wird beschworen. Der DGB soll den „schweren" Weg der „autonomen Widerstandsorganisation" einschlagen (S. 467).
In den Schlußsätzen werden programmatische Gemeinsamkeiten von DKP und DGB suggeriert, die in Wirklichkeit nicht gegeben sind. Als Mittel der Suggestion dient den Verfassern u. a. das Recht auf Arbeit Es findet sich im Grundsatzprogramm des DGB, in der Wahlwerbung der DKP und in den Maiparolen der Gewerkschaften seit 1976. Die notwendige Differenzierung wird nicht vorgenommen. Recht auf Arbeit im Sinne des DGB-Grundsatzprogramms meint etwas ganz anderes als im Zusammenhang einer leninistischen Pro-grammatik. Dort heißt es: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen! Im Rahmen der Sowjet-Verfassung bedeutet Recht auf Arbeit auch Arbeitszwang bis hin zur Zwangsarbeit — ähnlich wie im Nationalsozialismus. Hingegen ist das Recht auf Arbeit im Sinne gewerkschaftlicher und verfassungsgeschichtlicher Traditionen des Westens als soziale Ausgestaltung der Würde des arbeitenden Menschen zu verstehen. Es bedeutet freie Wahl des Arbeitsplatzes und des Berufes; es steht im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben ohne Not und Furcht, ja mit dem Recht auf Freizeit und „Faulheit" Es zielt auf Selbstverwirklichung im Schaffensprozeß, in einer freien, lebensgeschichtlieben Entwicklung, gekoppelt mit dem Recht auf Bildung. Das Recht auf Arbeit, das der DGB in seinem Grundsatzprogramm fordert, ist etwas grundsätzlich anderes als das, was die Wahlplakate der DKP proklamieren und die Staaten ihrer Neigung, des sogenannten „real existierenden Sozialismus", praktizieren. Die aktuelle Schlußpointe muß der Leser dreifach studieren, um herauszufinden, worauf die Autoren eigentlich hinauswollen: Dort heißt es im Anschluß an die Forderung nach „Recht auf Arbeit“ scheinbar unverfänglich: „Dabei kann diese wachsende politische Bedeutung der gewerkschaftlichen Interessenvertretung langfristig nur dann zur Geltung kommen, wenn in den Institutionen der politischen Willensbildung und Entscheidung der Einfluß politischer Kräfte gewährleistet ist, die konsequent die Interessen der lohnabhängigen Mehrheit der Bevölkerung vertreten.“ (S. 469) Im Klartext des Mannheimer Parteiprogramms der DKP lautet die entsprechende Passage: „Die Arbeiterklasse verfügt über viele Organisationen. Sie erstreben Teilziele, nehmen sich spezieller Belange von Teilen der Arbeiterklasse an. Die DKP hingegen vertritt die Gesamtinteressen der Arbeiterklasse. Sie organisiert den Klassenkampf auf ökonomischem, politischem und ideologischem Gebiet. Sie setzt sich konsequent für die Gegenwartsbelange der arbeitenden Menschen ein und behält stets die weitergesteckten sozialistischen Zukunftsziele der Arbeiterbewegung im Auge. Die DKP ist durch keine andere Organisation der Arbeiterklasse zu ersetzen." Nur wenige Leser werden das DKP-Programm so genau kennen, daß sie die Zusammenhänge bemerken. Wer in seiner Arglosigkeit zunächst meint, die Autoren aus Marburg könnten auch einen Appell zur Unterstützung der Sozialdemokratie oder auch des Arbeitnehmerflügels der CDU gemeint haben, der studiere nochmals die Seiten 403 bis 405, insbesondere die Fußnote 244. Dort besteht nur noch die DKP als eine Partei, „die sich — wie die kommunistischen Parteien anderer Länder — als Arbeiter-und Klassenpartei definiert. Wer den hessischen Landtagswahlkampf Ende 1978 genau verfolgt hat, fand diesen Monopol-anspruch der DKP auch in ihrer Wahlwerbung dokumentiert Programmkommission, Geschichtsschreibung und Wahlkampfwerbung der DKP und ihrer Kader arbeiten offensichtlich Hand in Hand. Die Übereinstimmungen gehen bis in die Wortwahl hinein. So heißt es in der „Geschichte“ unter „Bilanz und Ausblick' wörtlich: „Knapp drei Jahrzehnte nach der Gründung des DGB befindet sich die gesellschaftliche und politisch-ideologische Entwicklung der Bundesrepublik an einem historischen Wendepunkt" (S. 466). Die entsprechenden Passagen im Protokoll des Mannheimer Parteitags der DKP lauten: „In unserem Parteiprogramm bezeichnen wir die Herbeiführung einer Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt in der Bundesrepublik als vorrangige politische Aufgabenstellung. Diese Zielsetzung entspricht zugleich den Schlußfolgerungen, die wir aus der nunmehr fast dreißigjährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ziehen." Weiter unten heißt es: „Im Kampf um eine Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt wie in ihrer weitergehenden Zielsetzung baut die DKP auf die Kraft des arbeitenden Volkes. Sie geht auch hiervon den Erfahrungen des Klassenkampfes aus.“
Und schließlich: „Die Entwicklung der DKP zu einer Massenpartei ist unerläßlich für die Herbeiführung einer Wende zu demokratischem und sozialem Fortschritt, für die Erkämpfung einer antimonopolistischen Demokratie, für die Durchsetzung der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik.“ Die „antimonopolistische Demokratie" erscheint dabei als ein Synonym für Diktatur des Proletariats. Was im Schlußteil der Gewerkschaftsgeschichte als historischer Wendepunkt markiert wird, erweist sich als beabsichtigte Umfunktionierung der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Hier wird Geschichte nicht nur in einem bestimmten Parteiinteresse umgeschrieben, sondern auch bewußt verfälscht Hier dient die scheinbar wissen-schaftlich fundierte und dem Anschein nach „objektive“ Geschichtsschreibung der schleichenden Indoktrination im Sinne einer politischen Partei, die den Gewerkschaften ihren Führungsanspruch aufdrängen möchte ohne dazu durch Zustimmung der Mitglieder oder breitere Resonanz in den Arbeitermassen legitimiert zu sein. Der politischen Bereitschaft, ein renitentes Volk notfalls mit Gewalt zur Räson zu bringen, wird hier die geschichtswissenschaftliche Hilfestellung geboten: Man lösche die Geschichte einer Volksbewegung aus und schreibe eine neue!
Latente Wiederherstellung von RGO-Positionen
Objektiv handelt es sich um Ideologie im schlechtesten Sinne, um eine intellektuell maskierte und proletarisch verkleidete Fehleinschätzung der Lage der Arbeiterschaft, um eine entsprechende Fehldeutung der wirklichen Geschichte der Arbeiterbewegung und um eine politische Fehlorientierung im Über-gang zu den achtziger Jahren. Wer darauf hineinfällt, den lenken die Verfasser in eine Sackgasse, den führen sie zurück in die verzweifelte Lage bei Zerstörung der Weimarer Republik, als die RGO ihren größten Einfluß, die KPD ihren stärksten Massenanhang und die Arbeiterschaft ihre traurigsten Aussichten hatte. Hier sitzt die eindringliche Warnung Herbert Wehners: „Nicht zurückgleiten in den dialektischen Doktrinarismus eines mit Leninismus gewürzten angeblichen Marxismus."
Zwar verurteilt das Marburger Autorenkollektiv den Mißerfolg der RGO-Politik, aber es scheint die Anfänge zu billigen, über die es heißt: „Das Hauptanliegen der Opposition bestand darin, die Betriebsbelegschaften in den Tarifauseinandersetzungen zu aktivieren, um Druck auf die Schlichtungsverhandlungen im Sinne der ursprünglichen betrieblichen Forderungen auszuüben. Durch diese Taktik sollten die Verbandsleitungen zu einem entschlossenen Auftreten veranlaßt werden. Gleichzeitig erwartete man von einer Aktivierung der Arbeiter eine Stärkung des Bewußtseins und des gewerkschaftlichen Organisationsgrades. Ausdrücklich wurde betont, die kommunistische Gewerkschaftsarbeit vollziehe . sich im Rahmen der Statuten und Beschlüsse der betreffenden Gewerkschaften'. Dabei wurde das Ziel verfolgt, die wirtschaftsfriedliche Grund-orientierung des ADGB zu ändern“ (S. 192).
Diese Darstellung enthält eine Fälschung und einen Widerspruch: Zum einen war der ADGB niemals eine „wirtschaftsfriedliche" Organisation. Als solche wurden vielmehr die von den Unternehmern abhängigen, sogenannten „gelben“ Werkvereine bezeichnet, gegen die christliche, liberale und sozialistische Gewerkschaften gemeinsam angegangen sind. In diesem Zusammenwirken liegt einer der Ursprünge der modernen Einheitsgewerkschaft Wer den ADGB als „wirtschaftsfriedliche“ Organisation bezeichnet, der fälscht Geschichte. Freilich dient diese Fälschung der Rechtfertigung eines Widerspruchs, daß nämlich die RGO unter der Tarnung satzungsmäßigen Vorgehens den wirtschaftspolitischen Kurs des ADGB sabotierte und eine revolutionäre „Wende“ anstrebte. Ansonsten entspricht das taktische Vorgehen, wie es die Marburger Autoren der RGO zuschreiben, vom „Ranschmeißen“ über die . Autonomie“ bis zur viel-zitierten „Wende“ genau jenen drei Schritten, die Fritz Vilmar so treffend in der heutigen Gewerkschaftspolitik der DKP erkannt hat Uber den heutigen Einfluß der DKP heißt es beschwichtigend: „Schließlich kommt der Bruch in der gesellschaftspolitischen Entwicklung der Bundesrepublik nach 1966 auch in der Neubildung einer kommunistischen Partei (DKP, 1968) zum Ausdruck, die zwar noch keinen Masseneinfluß entfaltet, deren politisch-ideologische Arbeit jedoch — vor allem über die kommunistischen Arbeiter, Vertrauensleute und Betriebsräte — auf die Entwicklung der Gewerkschaften und des Bewußtseins von Teilen der Lohnabhängigen einwirkt" (S. 418 f.). Eine Kritik an Taktik, Strategie und Programm der DKP wird nicht geübt. Das Ziel, die „wirtschaftsfriedliche" Grundorientierung des DGB zu ändern, ist evident, wenn man Deppes Aussagen über Lohnpolitik und Mitbestimmung als „Klassenkampf" betrachtet. Der Übergang zu einer offenen RGO-Politik scheint lediglich eine Frage der Zeit zu sein, getreu der Leninschen Empfehlung, die politische Macht nicht erobern zu wollen, bevor der „Kampf nicht eine gewisse Stufe erreicht hat“ Hier werden RGO-Positionen latent wiederhergestellt Der Angriff richtet sich letztlich gegen die parteipolitisch unabhängige, integrierte und autonome Einheitsgewerkschaft, die entweder beherrscht oder zerstört werden soll.
Wer die vorliegende Geschichte Kapitel für Kapitel studiert, wird trotz unterschiedlichen Niveaus in der Ausführung überall dasselbe historisch-politische Strickmuster erkennen. Das Werk bringt keine neuen Erkenntnisse über den Verlauf der Geschichte, sondern eine besondere Art der Interpretation aus kommunistischer Parteilichkeit heraus. Es dient nicht der geschichtlichen Selbstbesinnung und historischen Reflexion der Gewerkschaftsbewegung in ihren selbstgesetzten Entwicklungslinien. Gewerkschaftsgeschichte wird hier nicht im Sinne einer wahrhaft dialektischen Methode auf ihren eigenen Begriff gebracht Das Werk dient also nicht der autonomen gewerkschaftlichen Bewußtseinsbildung, sondern dem Transport sowjetmarxistischer Interpretationsmuster und Handlungsanweisungen in die Schulungsarbeit der Gewerkschaften. Das alles findet sich weit verstreut und immer wieder verklausuliert angedeutet, bestätigt sich aber in der kritischen Analyse durch quantifizierende, vergleichende und interpretierende Methoden.
Gesamturteil
Wer die oben erläuterten gewerkschaftlichen und wissenschaftlichen Kriterien zur Bewertung von Geschichtsschreibung auf das vorlie-gende Buch anwendet, kommt zu einem rundum negativen Ergebnis: 1. Das Werk von Deppe, Fülberth und ihren Mitarbeitern ist keine „unparteiische und rücksichtslose Geschichte“. Sie steckt vielmehr voller Parteilichkeit in der Verteilung von rücksichtslosem Tadel und rücksichtsvollem Lob. Die Geschichte legt nicht Rechenschaft über die Vergangenheit der gesamten Gewerkschaftsbewegung, sondern setzt allein den Anteil kommunistischer Gewerkschafter ins beste Licht, zieht also nicht Bilanz —, mit roten und schwarzen Zahlen — sondern fälscht die bisherige Geschichte in parteikommunistischem Sinne um. 2. Die Autoren zeigen keine freie, offene Perspektive künftiger Entwicklungen. Sie weisen der Arbeiterbewegung keine neuen Ziele, sondern hängen an der Vergangenheit des „realen Sozialismus". Sie führen zur Wiederherstellung von latenten RGO-Positionen im Hinblick auf die vorgebliche „historische Wende“ in der Entwicklung der Gewerkschaften und der Bundesrepublik Deutschland, fallen also auf Positionen zurück, die vor bald fünfzig Jahren in einem sehr schmerzhaften Lernprozeß überwunden wurden. Mit dem „Prinzip Hoffnung“ hat das nichts zu tun. 3. Der Versuch, aus der parteilichen Interpretation jüngster Geschichte direkt zu politischen Handlungsanweisungen zu gelangen, widerspricht dem Problembewußtsein aufgeklärter Geschichtswissenschaft Diese Position ist nicht pragmatisch, sondern dogmatisch. Sie dient nicht einer verbesserten, wissenschaftlich fundierten Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften, sondern ihrer ideologischen Fixierung auf fremdbestimmte Programmsätze. 4. Die vorliegende Geschichte fördert nicht die „Pflege und die Erhaltung des Bewußtseins der historischen Identität", sondern nutzt das Vakuum weitverbreiteter Geschichtslosigkeit, um der deutschen Gewerkschaftsbewegung den Unterbau einer neuen Identität zu verpassen. Der breite Strom Gewerkschaftsbewegung wird gleichsam in einen künstlichen Seitenkanal gelenkt. Das lebendige Gleichgewicht Einheits in der historisch -
sich gewerkschaft sieht gefährdet durch den Versuch der Kanalisation. Die verbleibende potentielle Energie soll offenbar in den Dienst einer fremden Sache gestellt werden. Darin liegt letztlich ein Angriff auf die autonome Einheitsgewerkschaft in ihrer Gesamtheit.
Die Aufnahme eines derartigen Buches durch die Öffentlichkeit wird nicht dem Zufall überlassen. Zunächst ernteten die Verfasser ein ungewöhnlich eindeutiges Lob: Heinz Deutschland, Leiter der Forschungsgruppe Geschichte an der Gewerkschaftsschule Fritz Heckert, Bernau, schrieb in der führenden Fachzeitschrift der DDR, „es gehöre zu den Vorzügen des Buches, daß ihm jene Prinzipien zugrunde liegen, die Marx und Engels bereits im vorigen Jahrhundert entwickelten“ über die Behandlung aktueller Fragen heißt es weiter: „Verdienstvoll ist die Darstellung der Entwicklung des DGB von seinen Anfängen bis 1976. Im Unterschied zu anderen Veröffentlichungen wird hier die ganze Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit dieser Entwicklung erfaßt. Die Potenzen und Grenzen des DGB werden gezeigt, den Aktivitäten der Mitglieder-und Arbeitermassen wird breiter Raum gewidmet sowie die Komplexität gewerkschaftlichen Wirkens und der Zusammenhang von Programm, Politik und Taktik wird behandelt." Bemerkenswert ist dabei, was Heinz Deutschland aus der „Geschichte" durch Zitat nochmals hervorhebt: „Tatsächlich besteht das entscheidende Problem der Gewerkschaftspolitik nicht darin, neue Theorien und Strategien zur Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftskrise zu diskutieren, um durch die Logik der Argumente Regierung und Unternehmer zu überzeugen. Die Gegensätzlichkeit der Vorschläge der Gewerkschaften auf der einen und der konservativen Kräfte auf der anderen Seite ist nur ein Ausdruck der Polarisation der Klasseninteressen, des Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital, der nicht in der Theorie, sondern nur in der Praxis des Klassenkampfes überwunden werden kann" (S. 465 f.). Zu viel öffentliches Lob aus Bernau hätte die Absichten der Marburger Autorengruppe durchkreuzen können. Sie beriefen sich in ihrer Werbung viel lieber auf die „Deutsche Volkszeitung“ und auf im Westen anerkannte Persönlichkeiten. Wolfgang Abendroth ließ sich zu einer peinlichen Lobhudelei hinreißen: „Das Buch ist nicht nur die einzige neuere umfassende Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, sondern vor allem auch eine große sozialwissenschaftliche und pädagogische Leistung ... eines der wichtigsten Bücher der Geschichte der Arbeiterbewegung.“ In einer Gewerkschaftszeitung lautete die lapidare Werbezeile: „Geschichte — konkrete Anleitung zum Handeln"
Auf der wissenschaftlichen Ebene wurde das Geschichtswerk durch Henryk Skrzypczak mit einem einzigen Absatz erledigt: „Obwohl die manipulativen Auswüchse, die dem historischen Schrifttum der Stalin-Zeit ihren entwertenden Stempel aufgeprägt haben, längst der Vergangenheit angehören, lassen sich die Ergebnisse der leninistischen Geschichtswissenschaft von einer objektivitätsorientierten Forschung nur sehr partiell rezipieren. Selbst in ihren herausragenden Leistungen nämlich kann diese Historiographie sich nicht aus den Fesseln des Prinzips einer Parteilichkeit lösen, die fast zwangsläufig zur selektiven Verengung des Wahrnehmungsfeldes führt und die Forschung andererseits zu wissenschaftlich drapierter Absicherung politisch vorgegebener Bewertungen nötigt Wo das Prinzip der Parteilichkeit sich unter Ausnahmebedingungen mit einer größeren Flexibilität der Darstellung verbindet, wie in dem jüngst von Frank Deppe, Georg Fülberth und Jürgen Harrer herausgegebenen voluminösen Sammelband . Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung', werden die grundsätzlichen Schwächen der leninistischen Historiographie zwar suggestivkräftig verdeckt, doch in keiner Weise behoben.“ Aber mit dieser zutreffenden Kritik war das politische Problem der Gewerkschaftsgeschichte nicht vom Tisch.
Strategie und Taktik als Herausforderung
Als Werk eines einsamen Einzelgängers wäre der vorliegende Band vermutlich kaum beachtet und vergessen rasch worden. Aber es handelt sich um ein dessen Arbeit in den Rahmen einer politischen Strategie eingebettet erscheint Die Deutsche -Kommu nistische Partei, die Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen (AgF) und das Institut für marxistische Studien und Forschungen (IMSF) arbeiten offensichtlich Hand in Hand. Wo Lehrpläne gewerkschaftlicher Bildungsarbeit erweitert werden, rückt Gewerkschaftsgeschichte langsam vor. Dagegen ist zunächst gar nichts einzuwenden. Aber gleichzeitig wird dafür gesorgt, daß Lehraufträge an Dozenten gehen, die der Linie des Anti-Antikommunismus folgen. Schließlich gelangt die Marburger Gewerkschaftsgeschichte auf einem dritten Wege in die Bücherpakete der Gewerkschaften und damit in die Unterlagen für jene Kurse, die von entsprechenden Dozenten in zunehmender Zahl durchgeführt werden. Damit schließen sich drei taktische Schritte zu einem strategischen Einbruch in die Bewußtseinsbildung des gewerkschaftlichen Nachwuchses. Schließlich bekommen die bildungswilligen jungen Leute das DKP-Programm in die Hände, zu dem es heißt: *— richtige Schlußfolgerungen aus der Geschichte, sicherer Kompaß für die Zukunft“ Die Synchronisation von DKP-Strategie und gewerkschaftlicher Tagesarbeit ist dann nur noch eine Frage der Zeit: der in die Zukunft hinein programmierten Geschichte.
Die ersten politischen Wirkungen auf Bundesebene zeigten sich, als auf der 10. DGB-Bundesjugendkonferenz von Vertretern der DKP und SDAJ die folgende Linie durchgesetzt wurde: „Gemeinsamer Kampf gegen Berufs-verbote in der BRD: ja — Solidarität mit Havemann, Biermann und Rudolf Bahro: nein.“ ’ Die Bundesjugendschule des DGB in Oberursel unter Leitung von Hinrich Oetjen wurde am intensivsten mit dem Problem konfrontiert und gab den Anstoß zur Auseinandersetzung mit der „Geschichte" aus Marburg. Manfred Scharrer, ein junger Sozialwissenschaftler aus Berlin, übernahm die undankbare Aufgabe, eine kämpferische Rezension für die Gewerkschaftspresse zu schreiben. Er sparte nicht mit kräftigen Zügen, sprach von „Geschichtsfälschung" und — in Anspielung auf Stalin—von „Kurzen Lehrgang" einem der Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung Scharrer konnte sein Urteil belegen und auch in der folgenden Auseinandersetzung behaupten”). Die angegriffenen Herausgeber und Autoren reagierten so, wie im Mannheimer DKP-Programm vorgesehen, „daß dem Antikommunismus in den Gewerkschaften kein Raum gegeben
wird" 78), und zwar auch nicht dem linken Antikommunismus, den Scharrer gegenüber „partei-kommunistischen" Positionen vertreten hatte. Es folgte eine breit angelegte Kampagne gegen Scharrer, die dem unbefangenen Beobachter deutlich machte, wie bei Säuberungen verfahren würde, die unter der fnquisitorischen Regie neostalinistischer Kräfte stünden. In einem ersten Schritt wurde Scharrer persönlich angegriffen und wissenschaftlich . disqualifiziert'. Im zweiten Treffen sollte er für die gewerkschaftliche Bildungarbeit unmöglich gemacht werden. Schließlich versuchten Deppe, Fülberth und Harrer gerichtliche Maßnahmen zu erreichen. Am Ende stand das vergebliche Bemühen, die inhaltliche Auseinandersetzung für abgeschlossen zu erklären und den Rest totzuschweigen Rolf Taubert vom Institut für Zeitungsforschung in Dortmund, fällte ein weitsichtiges Urteil, als er nach dem ersten Schritt der Kampagne gegen Scharrer schrieb: „Bei ihren Invektiven gegen den . Historiker'Scharrer allerdings läuft es einem eiskalt über den Rücken. Spätestens seit Glucksmann wissen wir es: Das ist die Sprache des GULAG! Ihre > Methode, Menschen dadurch zur Unperson zu erklären, daß man sie, ihre berufliche Stellung, ihr Selbstverständnis und ihre Ansprüche in Anführungszeichen setzt, ist nicht der einzige Beweis."
Scharrer wurde nicht im Stich gelassen. Gleichwohl dürfte sein Fall einschüchternde Wirkung gehabt haben. Wer sich als , Antikommunist" in den Gewerkschaften exponiert, muß offenbar mit Einkreisung und Ausgrenzung rechnen — jedenfalls mit einem derartigen Ansatz. Aber es gelang nicht, die aufge-brochene Debatte über das Geschichtsbuch zu beruhigen. Eine Reihe Gewerkschaftszeitungen druckte kritische Besprechungen. In Leserbriefkampagnen außerordentlichen Umfangs wurde versucht, die betreffenden Redaktionen unter Druck zu setzen, Gegendarstel-Wegung", o. O. u. J„ S. 58. lungen zu bringen etc. Gleichzeitig entwikkelte sich eine Diskussion in Fachzeitschriften
Wer bislang Gewerkschaftsgeschichte für eine akademische, unpolitische und langweilige Angelegenheit gehalten hat, der muß seine Einstellung angesichts der jüngsten Entwicklung revidieren. Die gegenwärtige Auseinandersetzung führt bis an den Rand eines „Stellvertreterkrieges" zwischen unvereinbar festgelegten Positionen. Die weltanschauliche Neutralität und politische Unabhängigkeit der Einheitsgewerkschaft steht dabei auf dem Spiel. Wer die Einheitsgewerkschaft für ein tragendes Element unserer Demokratie hält — und diese Auffassung ist wohlbegründet und zahlreich — der darf sich hier nicht gleichgültig verhalten. Er sollte auch tunlichst darauf verzichten, die Substanz der Einheitsgewerkschaft bei dieser Gelegenheit von rechts in die Zange zu nehmen
Eine historisch hochgerüstete, arbeitsteilig organisierte und disziplinierte Truppe trifft hier auf ein nahezu unvorbereitetes Arbeiterbewußtsein. Die historisch bedingte Geschichtslosigkeit der deutschen Arbeiterschaft steht dem Angriff fast wehrlos gegenüber. Hier hat Geschichtswissenschaft sich nicht, wie Heinz Oskar Vetter 1977 forderte, in den Dienst einer sozialen Sache gestellt. Hier versuchen vielmehr politische Kader auf dem Umweg über die Universität eine soziale Bewegung für ihre fremdbestimmten Zwecke einzuspannen.
Wer den üblichen Sozialkunde-und Geschichtsunterricht im Rahmen unseres Bildungssystems genossen hat, der weiß kaum etwas über Geschichte im allgemeinen und schon gar nichts über die Vergangenheit seiner Organisation. Der Illustrierten-und Buchmarkt, die politischen Magazine geben ihm kaum Argumentationshilfe, wenn es um so spezielle Fragen geht Das Fernsehen sieht sich immer wieder außerstande, visuell zu vermitteln, was nicht vorher wissenschaftlich-literarisch bewältigt wurde. Am Vorabend der ersten historischen Konferenz des Deutschen Gewerkschaftsbundes, dreißig Jahre nach dem Münchner Gründungskongreß des DGB, stehen Geschichtswissenschaft, politische Erwachsenenbildung und Sozialkundeunterricht vor einer außerordentlichen historisch-polit sehen Herausforderung Sie sollten diese Si tuation als Chance nutzen um der Einheits gewerkschaft und der sozialen Demokrati willen.