„Nehmen wir an, Frankreich würde plötzlich seine fünfzig besten Physiker verlieren, die fünfzig besten Chemiker, die fünfzig besten Biologen, die fünfzig einflußreichsten Bankiers, die zweihundert wichtigsten Geschäftsleute, die fünfhundert wichtigsten Landwirte, die fünfzig wichtigsten Ingenieure, die fünfzig wichtigsten Baumwollfabrikanten, die fünfzig wichtigsten Maler, Musiker usw., d. h. insgesamt die dreitausend wichtigsten Gelehrten, Künstler und Handwerker des Landes. — Die Nation würde augenblicklich zu einem Körper ohne Seele. Sie wäre mit einem Schlag jenen Nationen unterlegen, deren Rivalin sie heute ist; und diese Unterlegenheit würde so lange andauern, als es ihr nicht gelänge, den Verlust wieder wettzumachen. Gehen wir nunmehr von einer anderen Annahme aus. Stellen wir uns vor, Frankreich könnte all diese genialen Männer, die es im Bereich der Wissenschaft, der Künste und des produzierenden Gewerbes besitzt, behalten, es würde ihm aber das Unglück widerfahren, an ein und demselben Tag den Bruder des Königs, den Herzog von Angouleme zu verlieren, den Herzog von Orleans, den Herzog von Bourbon usw. ... zugleich alle Großoffiziere der Krone, alle Staatsminister mit oder ohne Geschäftsbereich, alle Kardinäle, Erzbischöfe, Präfekten, Unterpräfekten und obendrein unter jenen, die ein angenehmes Leben führen, die zehntausend reichsten Eigentümer. Dieses Unglück würde die Franzosen sicher betrüben, weil sie gute Menschen sind, weil sie es nicht fertigbrächten, dem plötzlichen Verschwinden einer so großen Zahl ihrer Landsleute gleichgültig zuzusehen. Aber dieser Verlust von dreißigtausend Personen, die als die wichtigsten des Staates gelten, würde ihnen nur aus gefühlsmäßigen Grün-DieserAufsatz ist die geringfügig überarbeitete Fassung eines Vortrags, der in Augsburg im Mai 1979 aus Anlaß des 30jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland gehalten wurde. den Kummer bereiten, denn es entstünde daraus kein politisches Übel für den Staat."
Dieses Zitat des Grafen Henri de Saint-Simon scheint uns vortrefflich als Einführung in das hier zu behandelnde Thema, die Elitenherrschaft, geeignet. Um etwaigen Befürchtungen zuvorzukommen: In den folgenden Ausführungen ist nicht beabsichtigt, ein entsprechendes Gedankenexperiment für die Bundesrepublik Deutschland durchzuführen. Dazu bedürfte es der naiven Fortschrittsgläubigkeit des Utopikers Saint-Simon, der genau zu wissen meinte, wer zur produktiven und wer zur parasitären Oberschicht der französischen Gesellschaft seiner Zeit zählte. Dazu bedürfte es aber auch eines nicht unbeträchtlichen Mutes, denn bekanntlich wurde Saint-Simon wegen seiner Streitschrift gerichtlich verfolgt und entging nur knapp einer Gefängnisstrafe Darf man sicher sein, daß es demjenigen, der heute ähnliches unternähme, besser erginge?
Was im folgenden versucht werden soll, ist vielmehr, einen knappen Überblick über jene Spitzen-und Führungskräfte der deutschen Gesellschaft zu geben, die als deren Macht-elite bezeichnet werden. Angesichts der Brisanz des Themas erscheint es sinnvoll, an den Anfang einige Erläuterungen zum wissenschaftlichen Gebrauch des Begriffs Elite und zum Stand der deutschen Eliteforschung zu stellen (I). Anschließend werden einige allgemeine Merkmale der bundesrepublikanischen Führungsschicht aufgezählt (II). In Abschnitt III wird gefragt, wie sich die Existenz einer Machtelite mit dem Demokratiepostulat des Grundgesetzes vereinbaren läßt. Abschließend werden einige kritische Gedanken über Eliten und Elitenkonzeptionen vorgetragen. Wenn das Elitenthema eben als brisant bezeichnet wurde, so deshalb, weil es wie kaum ein anderes in den Sozialwissenschaften mit Wertungen und Vorurteilen belastet ist. Wer sich mit Eliten befaßt, gerät zwangsläufig in den Verdacht, entweder einen Beitrag zur Elitenbildung und -herrschaft leisten zu wollen oder aber eine Beseitigung des Machtgefälles zwischen der schmalen Gesellschaftsspitze und der breiten Bevölkerungsmasse anzustreben Es hat wenig Zweck zu versuchen, diesen Beigeschmack der Wertung und Stellungnahme auszuräumen, um zu einer keimfreien „objektiven" Definition von Elite zu gelangen. Denn Thema und Begriff enthalten in der Tat eine Herausforderung zur eigenen Positionsbestimmung, der sich keiner, auch nicht der Wissenschaftler, entziehen kann. Was man von letzterem jedoch zu Recht erwarten wird, ist das Bemühen um eine möglichst präzise Erfassung der verschiedenen Bedeutungsvarianten, in denen der Begriff verwendet wird. Von den Einteilungsvorschlägen, die in dieser Hinsicht gemacht wurden, sei nur einer erwähnt, der sich seit dem Zweiten Weltkrieg allgemein eingebürgert hat. Es wird heute deutlich zwischen den sog. Werteliten und den Funktionseliten unterschieden Mit Wertelite ist die Auslese der jeweils Besten einer Gesellschaft gemeint, die in ihren Eigenschaften und ihrem Lebensstil die höchsten Werte des Gemeinwesens in exemplarischer Weise verkörpern Der Begriff der Funktionselite ist weniger anspruchsvoll. Er verzichtet auf die
I. Zum Forschungsstand
Annahme, es gebe eine Gruppe höherwertiger Individuen in einer Gesellschaft und begnügt sich statt dessen mit der Erfassung jener Personen, die aufgrund feststellbarer Qualifikationen die Spitzenpositionen in den verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereichen innehaben. Nur partiell identisch mit der Elite ist die sog. Prominenz, von der F. Siegburg schon 1954 bissig bemerkte, sie ahme zwar Gebärden und Formen der Elite täuschend nach, komme aber nicht durch Auslese zustande, sondern durch Beifall und öffentliche Bewunderung
Elitemitglieder zählen meist zur gesellschaftlichen Oberschicht, aber die Gleichung ist nicht umkehrbar: Wer der Oberschicht angehört, muß deshalb noch nicht elitäre Führungskraft sein Machen wir uns dies am Beispiel der Bundesrepublik klar. Von der rund 60 Millionen umfassenden Gesamtbevölkerung unseres Landes entfallen nach soziologischen Untersuchungen etwa ein bis zwei Prozent auf die Oberschicht Das sind immerhin ungefähr 600 000 Personen. Zur gesellschaftlich-politischen Führungsgruppe im engeren Sinn werden aber nur wenig tausend Individuen (die Schätzungen schwankenzwischen 2 000 und 5 000) gerechnet. Die Differenz erklärt sich daraus, daß bei Eliteforschungen Personen mit großem Reichtum oder Prestige ausgeklammert bleiben. Es wird allein auf jene begrenzte Zahl von Führungskräften abgestellt, die über besonders viel Macht und Einfluß verfügt, auf jene Menschen, „die die Gesetze machen", wie Dahrendorf an einer Stelle sagt
Wer aber macht die Gesetze? Sind sie das Werk jener Männer und Frauen, die formell die höchsten politischen Ämter bekleiden, der Minister, Staatssekretäre und Abgeordneten? Oder sind sie mehr dem Einfluß von Personen und Gruppen zuzuschreiben, die hinter den Kulissen wirken, von grauen Eminenzen in der Ministerialbürokratie oder in den Verbänden, die es im allgemeinen vorziehen, anonym zu bleiben. Streng genommen ließe sich diese Frage nur durch eine detaillierte Analyse aller wichtigen politischen Entscheidungen über einen längeren Zeitraum hinweg beantworten. Solche Studien von Entscheidungsprozessen wurden bisher nur auf kommunaler Ebene durchgeführt, also innerhalb eines begrenzten Rahmens, der sich einigermaßen transparent machen läßt Ein vergleichbares Unternehmen auf Bundesebene wäre eine ungemein kostspielige und aufwendige Angelegenheit. Deshalb wurde bisher bei so gut wie allen Untersuchungen, die sich auf die Herrschaftselite der Bundesrepublik beziehen, der sog. Positionsansatz zugrunde gelegt. D. h., es wird davon ausgegangen, faktischer Einfluß und hierarchische Position fielen im wesentlichen zusammen, Macht-und Entscheidungsfäden konzentrierten sich bei jenen Personen, die auch offiziell den höchsten Rang innerhalb eines Funktionsbereichs einnehmen
Der Kreis der herrschaftsrelevanten Funktionsbereiche nicht im allgemeinen zu eng gezogen. Bei einer Elitebefragung von 1972, die sich auf rund 2 000 Personen erstreckte, wurden beispielsweise berücksichtigt: die Exekutive von Bund und Ländern, die Legislative von Bund und Ländern, weiterhin Banken, Versicherungen, Wirtschafts-und Berufsverbände, die Gewerkschaften, Presse, Rundfunk, Fernsehen, Wissenschaft, Militär und die Kirchen Die Justiz wurde nicht erfaßt, was im Hinblick auf die große Bedeutung etwa Bundesverfassungsgerichts politische Kraft als schwer verständlich erscheint.
Leider ist die Forschungssituation hinsichtlich von Eliten in der Bundesrepublik nicht sonderlich günstig. Die wenigen umfassenden Elitebefragungen, die durchgeführt wurden, stammen fast alle aus den 60er und den frühen 70er Jahren während aus jüngster Zeit nur die eine oder andere Studie über Teileliten vorliegt Dips ist an sich nicht tragisch, da alle Anzeichen daraufhindeuten, daß sich Eliten in ihrer Zusammensetzung und ihrem Verhalten nicht von einem Tag auf den anderen ändern. Die unbefriedigende Lage wirft aber ein bezeichnendes Licht auf die Probleme des Sozialwissenschaftlers in diesem Forschungsgebiet. Eliten sind ja definitionsgemäß nur wenigen von der unmittelbaren Beobachtung her vertraut, zu denen der Sozialwissenschaftler nur in Ausnahmefällen gehört. Will dieser sich nicht mit der Auswertung von Daten begnügen, die in allgemeinen Nachschlagewerken wie dem „Who is Who" enthalten sind, so muß er versuchen, die Elitepersonen selbst zu Auskünften über ihre Karriere und ihre Lebensgewohnheiten zu bewegen. Dies stößt nicht nur deshalb auf Schwierigkeiten, weil Führungskräfte stets sehr wenig Zeit dem haben, sondern steht auch die sehr mäßige Informationsbereitschaft gerade der deutschen Eliten entgegen. Die Mächtigen ziehen es häufig vor, als Person, also außerhalb ihres spezifischen Aufgabenbereiches, im Schatten zu bleiben. Der Grund für diese Haltung ist nicht nur in der Bescheidenheit und fehlenden Eitelkeit der Eliteangehörigen suchen. hängt zu Sie nicht minder mit der Befürchtung zusammen, die Verbreitung der Kenntnis von den Machtverflechtungen gegenseitigen Beziehungen werde eine größere öffentliche des Kontrolle ausgeübten Einflusses nach sich ziehen.
Es soll kein zu dunkles Bild von unserem Kenntnisstand über Einstellungen und Verhaltensweisen der bundesdeutschen Fühtungsgruppen gezeichnet werden. Immerhin reicht er aus, um ein ungefähres Porträt dieser Führungsschicht zu entwerfen. Wie sieht dieses Porträt aus, welches sind seine auffälligsten Züge?
II. Allgemeine Charakterisierung
Beginnen wir zunächst mit einigen sozialstatistischen Merkmalen Elitenmitglieder haben überwiegend eine lange formelle Ausbildung genossen, die sie mit einem Hochschulexamen abschlossen. Lange Zeit rekrutierten sich die Inhaber von Spitzenpositionen in erster Linie aus den juristischen Fakultäten, was manche Autoren dazu veranlaßte, von einem regelrechten Juristenmonopol bei den Anwärtern auf Führungspositionen zu sprechen Inzwischen haben jedoch die Sozial-und Wirtschaftswissenschaftler aufgeholt; in der Verwaltung, den Verbänden und natürlich der Justiz dominiert aber immer noch die juristische Profession. Als weiterer wichtiger Zug ist hervorzuheben, daß die Mitglieder der Machtelite zumeist eine lange Karriere durchlaufen müssen, bevor ihnen Führungsaufgaben übertragen werden. Dies gilt insbesondere für die Laufbahn in bürokratischen Großorganisationen wie der Verwaltung oder Wirtschaftsunternehmen. Aber auch in der Politik ist mittlerweile die sog. Ochsentour, zur Regel geworden, die mit der Übernahme des Amtes des Parteivorsitzenden in einem Ortsverband beginnt und über die verschiedenen Stufen der Parteihierarchie nach oben führt, während der Seiteneinstieg auf einer höheren Ebene den Ausnahmefall darstellt Nicht selten vergehen zwanzig bis dreißig Jahre vom Eintritt in eine Organisation bis zum Erreichen des Spitzenamtes, das den Elitestatus markiert. Dementsprechend galt lange Zeit das relativ hohe Alter als ein charakteristisches Merkmal deutscher Führungsgruppen. In dieser Hinsicht vollzog sich aber in den vergangenen zehn Jahren ein signifikanter Wandel. Bei der erwähnten Elitebefragung vom Jahre 1972 zeigte sich beispielsweise, daß rund ein Drittel der Interviewten nur zwischen 40 und 49 Jahre alt war und immerhin die Hälfte das 55. Lebensjahr noch nicht überschritten hatte Dieser Trend zur Verjüngung dürfte sich inzwischen noch verstärkt haben. In einigen Gebieten, wie der Wissenschaft, dem Zeitungswesen und den Landesparlamenten, kommt es in den letzten Jahren geradezu zu einer Anhäufung von re-lativ jungen Führungskräften, die die Aufstiegsmöglichkeiten für den Nachwuchs blokkieren. Was sich im Verlauf der letzten Jahre dagegen nicht geändert hat, das ist die Abwesenheit von Frauen in den Führungsgruppen. Die deutsche Machtelite ist eine Elite von Männern; gleiches gilt übrigens auch für die meisten anderen westlichen Länder. Die wenigen bekannten Spitzenpolitikerinnen in unserem Land korrigieren dieses Gesamtbild nur unwesentlich, denn auf den nächsttieferen Rängen der Parteibürokratie fehlen Frauen fast vollständig Ein weiterer wesentlicher Zug ist die Überrepräsentierung von Protestanten bei den Eliten. Nur dort, wo auf den Proporz zwischen den Konfessionen geachtet wird, wie etwa in der Politik, ist das Verhältnis zwischen ihnen ziemlich ausgeglichen. In den anderen Bereichen sind die Protestanten vorherrschend, vor allem in der Wirtschaft, in der Verwaltung, dem Militär und den Universitäten. Was den regionalen Aspekt anlangt, so ist eine zunehmende Herkunft der Eliten aus westlichen Gebieten erkennbar, die allerdings schon vor 1945 einsetzte In.den ersten beiden Jahrzehnten nach der Gründung der Bundesrepublik waren Ost-und Mitteldeutsche in Politik und Verwaltung überrepräsentiert; inzwischen ist ihr Anteil jedoch zurückgegangen. Eliteangehörige stammen öfter aus Mittel-und Großstädten als der Bevölkerungsdurchschnitt. Der Unterschied fällt jedoch nicht sehr ins Gewicht, vermutlich weil es in der Bundesrepublik an einem hauptstädtischen Zentrum fehlt, das in den anderen westlichen Ländern das wichtigste Reservoir für Führungskräfte bildet.
Entgegen dem, was oft angenommen wird, sind Mitglieder der Herrschaftselite keineswegs besonders wohlhabend. E. K. Scheuch, der diesen Aspekt näher untersuchte, kam zu dem Schluß, Reichtum und Macht fielen nicht unbedingt zusammen Zwar seien Führungsgruppen in materieller Hinsicht nicht schlecht gestellt, ihr Einkommen würde sich aber kaum von den Einkünften der oberen Mittelschicht abheben. So verdienten Spitzen-manager oft nicht mehr als ein erfolgreicher Wohnungsmakler, der Besitzer einer Autoreparaturwerkstätte oder ein Einzelhändler. Im übrigen sind die Vergütungen innerhalb der Machtelite sehr unterschiedlich; die der Politiker liegen beispielsweise erheblich unter den Gehältern von Managern.
Die bisher genannten Daten und Merkmale gestatten eine erste Einordnung der Eliten nach sozialstatistischen Kriterien, lassen aber Fragen wie die nach ihrem inneren Zusammenhalt und ihrem Selbstverständnis offen. Da es sich insoweit um qualitative Aussagen handelt, die mehr der Interpretation selektiver Beobachtungen und Informationen als sicheren Kenntnissen entspringen, ist es nicht verwunderlich, daß hier die Ansichten stark divergieren. Eine Meinung, als deren Protagonist Dahrendorf genannt sei, geht dahin, in Deutschland gebe es keine etablierte, homogene Elite Dahrendorf mißt den stilistischen Gemeinsamkeiten elitärer Gruppen besondere Bedeutung bei. Da er bei den deutschen Führungsgruppen keine einheitlichen Lebensformen, Geschmacksmuster und Wertorientierungen zu erkennen vermag, lautet sein Urteil, die Inhaber der gesellschaftlichen und politischen Spitzenpositionen der Bundesrepublik bildeten keine soziale Gruppe, keine in sich organisierte Elite, sondern allenfalls eine soziale Kategorie von Personen. Demgegenüber vertritt ein anderer Soziologe, U. Jaeggi, den Standpunkt, die Führungsgruppen wiesen durchaus jenen Grad von Zusammenhalt und Zusammengehörigkeitsgefühl auf, der die Bezeichnung Machtelite rechtfertige Innerhalb des Bündnisses von Teil-eliten glaubt er einen hegemonialen Einfluß der großen Industrieunternehmer erkennen zu können: „Eliten sind Machteliten, weil sie ihre Auffassung durchzusetzen vermögen und nicht, weil sie das Fleisch auf dieselbe Art tranchieren, die gleichen Bücher lesen und denselben Theaterstücken applaudieren." Es sei hinzugefügt, daß die beiden angeführten Meinungen aus der Mitte bzw.den späten 60er Jahren stammen. Kann man sie auch zur Beurteilung der heutigen Situation heranziehen? Welche von ihnen kam und kommt der Wahrheit näher?
Fest steht jedenfalls, daß man die deutsche Führungsschicht nicht mit jenem elitären Insiderkreis des englischen Establishments vergleichen kann, das Dahrendorf offenbar als Leitbild einer liberaldemokratischen Herrschaftsklasse vor Augen schwebt. In Deutschland gibt es nicht ein System von Eliteschulen und Eliteuniversitäten, durch deren Besuch die künftigen Mitglieder der Führungsgruppen bereits frühzeitig zueinander in Beziehung treten und jene gemeinsamen Verhaltensformen, Symbole und Umgangsregeln erlernen, die später eine reibungslose Verständigung zwischen ihnen sicherstellen. Gleichwohl darf aus dem Fehlen solch früh einsetzender Elitenerziehung nicht voreilig geschlossen werden, die einzige Verständigungsbasis zwischen den verschiedenen Teil-eliten sei die allen gemeinsame Macht über und Verantwortung für Menschen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Mehrzahl der späteren Angehörigen der Machtelite aus der mittleren oder oberen Mittelschicht stammt. Diese Herkunft aus dem Bildungsbürgertum sorgt bereits für ein Minimum an gemeinsamen Grundeinstellungen, Leistungsnormen und Bildungsidealen. Eine weitere wichtige zusammenführende Sozialisationsinstanz bilden Gymnasium und Universität. Wenn der höheren Schule in den letzten Jahren immer wieder vorgeworfen wurde, sie sei vorwiegend auf die Mittelschichten hin orientiert, so steckt darin doch zugleich das Eingeständnis, daß hier ein ganz bestimmter Satz von Wertvorstellungen und Lebenszielen an den Jugendlichen vermittelt wurde. Ähnliches gilt für die Universität, die noch bis vor relativ kurzer Zeit eine Art ständische Hochschule war, geprägt von den spezifischen Lebensformen und Bildungswerten der oberen Mittelschicht. D. h. also, daß das künftige Elitemitglied bis etwa zu seinem Lebensjahr eingebettet in einer relativ breiten Schicht von Altersgenossen mit ähnlichem sozialen Hintergrund, ähnlichen Lebensgewohnheiten und Ambitionen heranwächst. Im Gegensatz zu den Eliteaspiranten Frankreichs und Englands, die schon zu einem relativ frühen Zeitpunkt auf ihren Sonderstatus vorbereitet werden, kann der deutsche Universitätsabsolvent zunächst nur mit einer Position innerhalb der gehobenen Bourgeoisie rechnen 25). Erst nach seinem Eintritt in den Beruf, dann allerdings ziemlich schnell, stellt sich heraus, ob er die Chance des Aufstiegs in eine Führungsposition hat. Das bedeutet aber auch, daß erst von diesem Zeitpunkt an jener Prozeß der zunehmenden Professionalisierung und damit des Sichauseinanderlebens der Teileliten einsetzt, den Dahrendorf so lebhaft bedauert.
Nachdem dieser Differenzierungsprozeß einmal begonnen hat, ist er allerdings in der Mehrheit der Fälle irreversibel. Nur wenige Führungskräfte in der Bundesrepublik sind bereit, aus dem Tätigkeitsgebiet, in dem sie sich hochgearbeitet haben und als Experten besonderes Ansehen genießen, in ein anderes Berufsfeld überzuwechseln Soweit ein Ämteraustausch stattfindet, verläuft er zudem nur in bestimmten Richtungen — z. B. von der Wirtschaft über einen Verband ins Parlament und dann aufwärts in der politischen Hierarchie, aber nicht umgekehrt —, so daß von einer echten Elitenzirkulation über diverse Funktionsbereiche hinweg, wie er in den USA üblich ist, keine Rede sein kann. Innerhalb der einzelnen Bereiche ist das Prinzip der Ämterrotation besser verwirklicht. Dabei sind teilweise erhebliche Unterschiede in der Länge der durchschnittlichen Amtszeiten zu verzeichnen: die politischen Eliten werden am schnellsten ausgewechselt, während sich Kirchenführer, Gewerkschaftsvorstände und Spitzenmanager vergleichsweise am längsten halten können. Insgesamt ist aber eine zunehmende Annäherung der Karrieremuster und Zirkulationswerte der Teileliten erkennbar, was auf eine durchgehende Tendenz zur Regelhaftigkeit und Verbürokratisierung von Elitelaufbahnen schließen läßt.
Zusammenfassend ist festzuhalten, daß es sich bei der deutschen Führungsschicht um eine Mischform von Elite handelt. Vordergründig betrachtet, haben wir es mit einer reinen Funktionselite zu tun, deren einzelne Über die Spannungsbeziehungen, die zwischen elitärer Machtausübung und demokratischen Prinzipien bestehen, ist schon viel geschrieben worden An dieser Stelle soll Mitglieder sich durch besondere Leistungen in einem bestimmten Kompetenzbereich hervorgetan haben. Diese Auffassung entspricht auch weitgehend dem Selbstverständnis der Führungsgruppen, deren Angehörige bei Befragungen mehrheitlich behaupten, sie hätten sich ihren Aufstieg hart erkämpft und seien stolz auf die erreichte Spitzenposition
Stellt man ausschließlich auf dieses Moment herausragender Macht in einem begrenzten Tätigkeitsfeld ab, so wird man Dahrendorfs Standpunkt schwer widersprechen können, es gebe nicht eine deutsche Elite, sondern mehrere, unverbunden nebeneinander stehende Teileliten. Allerdings vergißt Dahrendorf dabei einen zweiten wesentlichen Zug, auf den eben aufmerksam gemacht wurde: das Herauswachsen des überwiegenden Teils der Führungsgruppen aus dem gehobenen Mittelschichtmilieu. Von den meisten Beobachtern wurde dieser Zug mit einem Seitenblick auf die verfeinerten Lebensgewohnheiten und den aufwendigen Stil französischer und englischer Führungsgruppen mit einem ironischen Unterton registriert. Es wurde vom Demonstrationsverzicht der deutschen Eliten, ihrem mangelnden Selbstbewußtsein und ihrem schlechten Gewissen gegenüber der Macht gesprochen Abgesehen davon, daß man sich fragen muß, ob diese Feststellungen auch noch für die jüngste Zeit gültig sind, scheint es sinnvoller, solch polemische Akzente beiseite zu lassen und schlicht zu konstatieren, daß die deutsche Führungsschicht sich trotz der in ihren Händen konzentrierten Machtfülle nicht zu einer elitären Sonder-gruppe verselbständigt hat, sondern in ihren Anschauungen, ihren Geschmackspräferenzen und Lebensgewohnheiten fest im gehobenen Bürgertum verankert bleibt, aus dem sie großenteils hervorging.
III. Elitenherrschaft und Demokratie
nicht der Frage nachgegangen werden, inwieweit eine theoretische Brücke zwischen den beiden auf Anhieb konträr klingenden politischen Ordnungsprinzipien geschlagen werden kann. Vielmehr wollen wir versuchen, einen empirischen Zugang zu der Problematik zu finden. Es wurde festgestellt, in der Bundes-28) republik gibt es Machteliten. Aus der Warte des empirischen Sozialforschers liegt es nun nahe, Überlegungen darüber anzustellen, inwieweit der Demokratiegedanke in der Zusammensetzung der Eliten verwirklicht ist, inwieweit er in ihrer Einstellung zum Zuge kommt und schließlich, welche Chancen bestehen, daß Eliten im Falle der Verletzung demokratischer Regeln zur Rechenschaft gezogen werden. Wir bezeichnen dies als die Probleme der Repräsentativität, der Einstellung und der Kontrolle, und wollen sie nunmehr in dieser Reihenfolge behandeln.
Was zunächst die Frage der Repräsentativität angeht, so wurde bereits ausgeführt, daß sich die Machtelite überwiegend aus der Oberschicht bzw.der oberen Mittelschicht rekrutiert. Die Angaben darüber, wie groß dieser aus der Spitze der Schichtungspyramide stammende Elitenanteil ist, schwanken. Teils heißt es, rund die Hälfte der Inhaber von Spitzen-positionen werde von nur fünf v. H.der Bevölkerung gestellt, teils werden erheblich niedrigere Werte angegeben Dies mag an den unterschiedlichen Stichproben in den verschiedenen Untersuchungen liegen; es ist aber auch denkbar, daß die niedrigeren Werte auf eine allmähliche Verbreiterung der sozialen Rekrutierungsbasis für Führungskräfte hindeuten. Die Uberrepräsentierung der höheren Gesellschaftsschichten in der Machtelite stellt übrigens kein deutsches Spezifikum dar. In keinem westlichen Land spiegelt die Struktur der Führungsgruppen die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung wider. In vielen von ihnen, beispielsweise in England, ist die Schichtdurchlässigkeit noch wesentlich geringer als in der Bundesrepublik
Wenngleich die Chancen von Angehörigen der Unterschicht, in Elitepositionen aufzusteigen, insgesamt gesehen, ungünstig sind, so gilt dies doch nicht für alle Gebiete in gleichem Maße. Die relativ besten Möglichkeiten bieten sich ihnen in den Gewerkschaften und der SPD. Dagegen sind Wirtschaft und Verwaltung nach wie vor eine sichere Domäne der höheren Statusgruppen. Unter diesen hat der Adel seit den zwanziger Jahren kontinuierlich an Einfluß eingebüßt. Heute tritt er nur noch in bestimmten Machtbereichen wie im Auswärtigen Dienst oder im Militär stärker hervor
Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang noch einmal daran erinnern, daß es eine weitere Gruppe gibt, die ebenso schlecht gestellt ist wie die niederen sozialen Schichten: die Frauen. Es scheint in der Tat, als müßten Frauen viel mehr leisten als Männer, um in einer gleichwertigen Berufsposition akzeptiert zu werden. Je höher sie steigen, um so mehr macht sich diese leistungsfremde Wertungskomponente zu ihrem Nachteil bemerkbar, am meisten vermutlich, wenn es um die Besetzung von Spitzenpositionen geht.
Wie steht es mit dem zweiten Kriterium, der Einstellung der Machtelite zur Demokratie? Für die Mehrzahl der Soziologen, die sich zwischen 1960 und 1970 zu dieser Frage äußerten, galt es als ausgemachte Sache, daß die deutschen Führungsgruppen konservativ seien. Als Exponent dieser verbreiteten Ansicht sei wiederum Dahrendorf genannt, der unter Verweis auf die juristische Ausbildung der meisten Eliteangehörigen deren bewahrende, staatsverbundene, hierarchische Orientierung hervorhob und so weit ging, ihnen mangelnde Toleranz und deutlich ausgeprägte autoritäre Neigungen vorzuwerfen Demgegenüber unterschied Scheuch eine technische und eine politische Komponente in der Einstellung der Führungsgruppen. In technischer Hinsicht stufte er die Mehrheit als progressiv ein; vor allem die Wirtschaft habe echte Modernisierungseliten hervorgebracht. Dagegen glaubte er in politischer Hinsicht eine Scheu vor öffentlicher Diskussion und einen Hang zur Uminterpretation von Interessenkonflikten in Sachfragen zu erkennen, die ihn Dahrendorfs Urteil beipflichten ließen, die deutschen Führungsschichten seien politisch konservativ Diese Einschätzung muß nach den Ergebnissen neuerer Untersuchungen revidiert oder zumindet modifiziert werden. So erbrachte die Untersuchung von Kaltefleiter und Wildenmann aus dem Jahre 1972, daß Führungskräfte toleranter, liberaler und insgesamt demokratischer eingestellt sind als die Bevölke- rungsmehrheit Sie wenden sich beispielsweise überwiegend gegen die Wiedereinführung der Todesstrafe, sprechen sich für einen größeren Einfluß der Wähler auf die Politik, für Kompromißbereitschaft im Falle politischer Konflikte und gegen einen weiteren Machtzuwachs der Regierung aus. Verleger, Gewerkschaftsführer, Politiker und Vertreter von Massenmedien sind im allgemeinen demokratiefreundlicher als Unternehmer, Manager leitende Beamte der Ministerialbürokratie. Doch selbst letztere sind offener und liberaler, als ihnen oft nachgesagt wird.
nicht langer Bei einer vor Zeit durchgeführten, international -vergleichenden Untersu chung leitender Ministerialbeamter zeigten sich die deutschen Befragten zur Verwunderung des nordamerikanischen Projektleiters relativ aufgeschlossen für demokratische Regeln und Werte, weit aufgeschlossener beispielsweise italienischen Kollegen ihre
Natürlich geht aus derartigen Untersuchungen nicht hervor, inwieweit die geäußerte Ansicht einen Schluß auf das tatsächliche Verhalten des Befragten zuläßt. Spielt dieser dem Interviewer nicht nur eine gut einstudierte Rolle vor, die zu erlernen ihm um so leichter fällt, als er überdurchschnittlich gebildet ist? Dies läßt sich in der Tat nicht ausschließen. Da die exponierten Positionen von Führungskräften aber fast ständig glaubwürdige Demonstrationen von Demokratiebeflissenheit erforderlich machen, ist es letztlich gleichgültig, ob sie mit ihrer tiefsten Über-zeugung hinter dieser Rolle stehen oder nicht.
Während zur Repräsentativität und Einstellung der deutschen Machtelite empirische Daten vorliegen, auf die man sich stützen kann, ist die Beurteilung der Möglichkeiten der Elitenkontrolle, des dritten Aspektes des Spannungsverhältnisses Elitenherrschaft—Demokratie, schwieriger. Denn zum einen gibt es zu dieser Frage kaum Forschungsergebnisse. Zum anderen handelt es sich dabei um ein äußerst vielschichtiges, stark in die institutionelle Sphäre hineingreifendes Thema, das an dieser Stelle nicht annähernd mit der erforderlichen Differenziertheit ausgeleuchtet werden kann. Deshalb mag es hier mit einigen kurzen Bemerkungen zu zwei möglichen Kontrollgruppen sein Bewenden haben: der Mitgliederbasis und den Konkurrenzeliten. Die Einflußmöglichkeiten der Mitgliederbasis, also der untersten Stufe der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionspyramiden auf die Führungsspitze, variieren je nach Tätigkeitsfeld erheblich. Beispielsweise kann in der politischen Sphäre der Bürger periodisch seinem Willen durch einen Wahlakt Ausdruck verleihen, ein Recht, das ihm in der Wirtschaft und der Verwaltung, zumindest was die Auswahl der Führungskräfte betrifft, verwehrt ist. Neben den formell eingeräumten können auch außergesetzliche Wege beschritten werden, um den Regierenden die Wünsche und Ängste der breiten Bevölkerungsmasse zu Gehör zu bringen, etwa Bürgerinitiativen, Protestmärsche, Unterschriftsaktionen und ähnliches. Obwohl in den letzten Jahren die zweitgenannten, mehr oder weniger spontanen Formen der Willensbekundung erheblich zugenommen haben, ist offen, inwieweit daraus in der Gesamtbilanz auf eine intensivere Kontrolle der Machteliten durch den . Unterbau'geschlossen werden kann. Nicht wenige Beobachter betrachten die Entwicklung eher mit Skepsis. Diese skeptische Haltung wird bestätigt durch eine neuere Untersuchung über das Verhalten von Neuparlamentariern nach der Wahl in den Bundestag, bei der eine zunehmende Lösung von der Wählerbasis zu konstatieren war Auch die verschiedentlich von ausländischer Seite zu hörende, wenig schmeichelhafte Einschätzung der Demokratiereife der deutschen Bevölkerung scheint zu Optimismus wenig Anlaß zu geben.
Stärkere Beachtung als die Kontrolle „von unten" findet in der Elitediskussion die Kontrolle „von seitwärts" durch gleichrangige Gruppen. Hier lag ja auch das eigentliche Anliegen Dahrendorfs, als er darüber Klage führte, in der Bundesrepublik fehlten die notwendigen Voraussetzungen eines fruchtbaren Konkurrenzkampfes zwischen den Eliten in der Form einer frühzeitigen gemeinsamen Erziehung und einer elitären Subkultur. Wie wir sahen, ist Dahrendorf nur bedingt zuzustimmen; dies räumt aber nicht die Berechtigung der von ihm aufgeworfenen Frage aus.
Funktioniert in der Bundesrepublik der Machtausgleich zwischen den Teileliten, neutralisieren sie sich gegenseitig in ihrem Ein-flußstreben, oder stehen sie beziehungslos nebeneinander, ein „Kartell der Angst" (auch dieser Ausdruck stammt von Dahrendorf), das allein durch das gemeinsame Interesse an der Verteidigung der errungenen Positionen geeint wird?
Es fällt schwer, zu dieser Frage als Außenstehender Stellung zu nehmen. Der bereits erwähnte fehlende Ämteraustausch über die Funktionsbereiche hinweg hat in dieser Hinsicht nicht viel zu besagen. Denn eine personelle Fluktuation zwischen den Führungsgruppen kann sowohl das Konkurrenzdenken beleben als auch zu Interessenverfilzung und Komplizität führen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, daß keiner einzelnen Teilelite ein Machtübergewicht zukommt. Die Versuche, den Großunternehmen und Wirtschaftsverbänden eine hegemoniale Position im politisch-gesellschaftlichen Kräftefeld zuzuschreiben, entbehren der empirischen Beweise Daß die politischen Führungskräfte nicht nach Belieben schalten und walten können, sondern sich bei ihren Initiativen mit allen betroffenen Gruppen und Verbänden abstimmen müssen, ist ohnedies bekannt. Die Sicht der Elitenstruktur als einem Netzwerk von miteinander im Wettstreit liegenden Kräften wird im übrigen von den Elitemitgliedern selbst geteilt, die insoweit mit die zuverlässigsten Informanten sein dürften Auf die Frage, wie die Machtverteilung in der Bundesrepublik am treffendsten zu charakterisieren sei, antworteten 62 v. H„ es gebe eine große Zahl von Organisationen und Gruppen, die um gesellschaftlichen Einfluß konkurrieren und sich gegenseitig kontrollieren; etwa 20 v. H. meinten, es gebe einige zentrale Knotenpunkte, bei denen die Fäden zusammenlaufen, aber nur zwei v. H. stimmten der Behauptung zu, eine ganz bestimmte Gesellschaftsschicht sei tonangebend, der man angehören müsse, um Einfluß ausüben zu können.
Insgesamt scheinen die aus dem Demokratiegedanken ableitbaren Forderungen an Struktur, Einstellung und Kontrolle der Machtelite zwar nicht vollkommen erfüllt, aber doch in wesentlichen Punkten eingelöst zu sein. Die Probleme, die sich im Zusammenhang mit der Elitenstruktur in der Bundesrepublik stellen, liegen mehr in einem anderen Bereich. Dies führt uns zum letzten, einige kritische Überlegungen enthaltenden Teil dieser kurzen Abhandlung.
IV. Grenzen der Funktionselite
Diese Überlegungen sind in zwei Thesen zusammengefaßt:
1. Das Prinzip der Auswahl nach Leistung und nachgewiesener Qualifikation, das dem Begriff der Funktionselite zugrunde liegt, birgt, wenn es überspitzt wird, große Gefahren in sich. Es wirkt sich beim Individuum auf Kosten der künstlerischen und schöpferischen Neigungen aus und geht gesamtgesellschaftlich zu Lasten der kulturellen Kontinuität. 2. Der Ruf nach der Herrschaft der Eliten hat seine historische Wurzel in der Angst des Bürgertums des späten 19. Jahrhunderts vor der heraufziehenden Massengesellschaft. Angesichts des Niedergangs der alten Werte und der Erschütterung der bürgerlichen Ordnung glaubte man, Staat und Gesellschaft nur durch die Übertragung maximaler Entscheidungsgewalten auf einige wenige, besonders fähige Individuen retten zu können. Diese Annahme ist rational nur bedingt haltbar. In Zukunft sollte man weniger den Machtspitzen der Gesellschaft Aufmerksamkeit schenken als den sog. Muttergruppen aus denen sie hervorgehen und von denen sie getragen werden.
Zur ersten These: Die Bundesrepublik gilt als Leistungsgesellschaft par excellence und ihre Eliten verstehen sich primär als Leistungseliten. Daran ist nichts auszusetzen, wenn man beides nicht wörtlich nimmt und die im Leistungsbegriff enthaltenen Anforderungsnormen nicht zu sehr forciert. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich nämlich, daß in die Karriere jener, die heute Spitzenpositionen bekleiden, meistens durchaus Phasen eingeschoben waren, in denen der Selektionsdruck gelockert, Raum zu individueller Entfaltung gegeben war. Hier ist beispielsweise an die Schule zu denken, in der früher zwar einige entscheidende Hürden eingebaut waren, die man überwinden mußte, in der jedoch Noten bei weitem nicht jene Schlüsselbedeutung beigemessen wurde wie seit jeher in Frankreich oder bei uns nach der Einführung des Numerus clausus. Des weiteren sind die ersten Jahre an der Universität anzuführen, in denen viele der Eingeschriebenen neben den Pflichtvorlesungen Zeit für jene Veranstaltungen fanden, an denen sie persönlich interessiert waren. Gewiß, dieses System war, vordergründig betrachtet, nicht das effizienteste. Es bedeutete unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten eine Vergeudung von Zeit und Energie und ließ jene frühzeitige zielstrebige Auslese und Formung künftiger Führungskräfte vermissen, an der Dahrendorf so sehr gelegen ist. Es wäre jedoch zu fragen, ob jene relative Lockerheit und Ungebundenheit, die früher unser Schul-und Universitätssystem kennzeichneten, nicht wesentliche Voraussetzungen der späteren hohen Leistungskraft unserer Funktionselite waren.
Mit anderen Worten: Es ist zu bezweifeln, daß aus stetigem Leistungsdruck auch ein entsprechendes Mehr an Leistung resultiert. Dies läßt sich gerade in der Universität gut beobachten, wo die zunehmenden Klagen über Leistungszwang keineswegs mit effektiven Leistungssteigerungen einhergehen. Außerdem kann sich der Leistungsdruck immer nur auf meßbare, rational nachvollziehbare Kenntnisse und Inhalte beziehen, so daß künstlerische oder sonstwie sich der Standardisierung entziehende Fähigkeiten des jungen Menschen verkümmern.
Neben diesen individualpsychologischen Gesichtspunkten lassen sich auch aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive Bedenken gegen die einseitige Herausbildung einer Funktionselite vorbringen. Sie wurden bereits vor über dreißig Jahren am überzeugendsten in einer kleinen Schrift von T. S. Eliot zum Begriff der Kultur formuliert Eliot stellt sich die Frage, wie es möglich sei, kulturelle Erfahrungen und Werte in einer Gesellschaft zu bewahren und zu tradieren. Er verwirft den Gedanken, diese Aufgabe einer kleinen, homogenen Oberschicht anzuvertrauen, da er davon ausgeht, daß alle Schichten eines Volkes an dessen Kultur teilhaben. Aus ähnlichen Gründen kann er sich nicht mit der Mee einer Funktionselite als Kulturträger be-freunden. Sein Einwand lautet, von einer nur nach Leistungsgesichtspunkten ausgewählten Führungsgruppe sei wohl die optimale Lösung sachbezogener, zeitgebundener Probleme zu erwarten, wie man auch in Rom zu Notzeiten die Macht für einen begrenzten Zeitraum auf einen Diktator übertragen habe. Technokratische Leistungseliten stießen aber dort an ihre Grenze, wo es um die Speicherung, Fortentwicklung und Fruchtbarmachung kultureller Güter geht. Denn diese hätten in der zweckrationalen, berufsorientierten Ausbildung der Funktionseliten keinen Platz. Eliot glaubt die Bewahrung und schöpferische Fortgestaltung kultureller Werte und Erfahrungen am besten bei einer Schicht aufgehoben, die er unterhalb der herrschenden Klasse ansiedelt. Diese Schicht bedürfe zwar einerseits des Rückhalts in der Herrschaftselite und könne zum Teil sogar mit ihr identisch sein, sie sollte aber andererseits nach unten hin offener und insgesamt flexibler und kreativer sein als die politischen Führungsgruppen. Im Vorschlag Eliots, der sozialen Ebene unmittelbar unterhalb der Machteliten mehr Aufmerksamkeit zu schenken, klingt bereits unsere zweite These an. Neben seinem Einwand, Funktions-und Machteliten eigneten sich nicht als Kulturübermittler, seien noch zwei Argumente zugunsten der Aufwertung der Muttergruppen und gegen eine Über-schätzung der Eliten angeführt: ein sachliches und ein historisches.
In sachlicher Hinsicht ist vorzubringen, daß nach den Erkenntnissen der modernen, stark von der Kybernetik beeinflußten Organisationslehre die Spitzenkräfte von Mammutorganisationen eine weit geringere Entscheidungsfreiheit besitzen, als von außen oft angenommen wird. Um ihre Führungsfunktionen effektiv wahrnehmen zu können, bedürfen sie eines Stabes von Mitarbeitern, der sie mit präzisen, umfassenden Informationen versorgt, sie in allen wichtigen Angelegenheiten berät, die in Frage kommenden Lösungen eines Problems antizipatorisch durchspielt und sie gegen unvorhersehbare Störfaktoren abschirmt. Dadurch gewinnen die Experten der zweiten Linie an Bedeutung: die Referenten, Assistenten, Generalsekretäre, Hauptgeschäftsführer oder wie immer sie sonst heißen Ihre Macht ist um so größer, je stärker 43 die Erfüllung von Führungsaufgaben an bürokratische Verfahren gebunden ist. Da aber sämtliche Funktionsgebiete, auch auf den höheren und höchsten hierarchischen Ebenen, immer mehr bürokratischer Regelhaftigkeit unterworfen werden, wächst der Einfluß der Männer aus dem zweiten Glied ständig. In gleichem Sinn wirkt sich der Umstand aus, daß die Mitglieder der Machtelite meistens nicht nur eine, sondern mehrere bedeutende Positionen inne haben. Der zitierten Umfrage von 1972 zufolge nehmen rund 27 v. H.der deutschen Führungskräfte zwei bis vier Ämter neben der eigentlichen Berufsposition ein, bei 14 v. H. sind es fünf bis zehn Ämter und bei immerhin fast fünf v. H. mehr als zehn zusätzliche Ämter Wer aber kann in kompetenter Weise so viele Positionen zugleich ausfüllen? Auch hier wird deutlich, daß die offiziellen Machtträger oft nur Exponenten bestimmter Gruppen und Interessen und ihre Aufgaben teils mehr repräsentativer Natur sind, während die entscheidenden Weichen auf der nächsttieferen Rangebene gestellt werden.
Die allgemeine Neigung zur Überschätzung der Weitsicht und Führungspotenz eines kleinen Zirkels besonders befähigter Individuen ist nicht zuletzt aus der Entstehungsgeschichte des Elitegedankens zu erklären. Dieser ist ja nur zum geringsten Teil ein Relikt der aristokratisch-höfischen Denk-und Lebensweise früherer Jahrhunderte, vielmehr wurde er erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert virulent, also zu einer Zeit, die bereits deutlich im Zeichen der liberalen Demokratie stand Er gewann deutlich an Boden, als der bürgerliche Wertkonsens brüchig wurde, die bürgerlichen Ordnungsvorstellungen sich sowohl von innen heraus als auch von außen — unter dem Druck der aufkommenden sozialistischen Bewegung — aufzulösen begannen. In dieser Phase ließ die irrationale Angst vor Vermassung und Dekadenz breite Teile des Bürgertums ihre Hoffnungen in nicht weniger irrationaler Weise auf eine Minderheit zur Führung und Herrschaft Berufener setzen, die den gordischen Knoten zerhauen, die bürgerliche Welt Von ihrem Untergang bewahren sollte. R. Alt-mann hat nicht ganz Unrecht, wenn er schon 1954 die Eliten als immanente und kollektive Gottheiten der Gesellschaft und ihrer entzauberten Welt bezeichnete Ein guter Teil dieses Vertrauens hat sich auch auf die Funktions-und Herrschaftseliten übertragen, die an der Spitze der spätindustriellen Gesellschaft der Bundesrepublik stehen.
Man wird nicht behaupten können, dieses Vertrauen sei in keiner Weise gerechtfertigt. Es muß jedoch vor einer Überschätzung der Handlungs-und Gestaltungsmöglichkeiten von Eliten gewarnt werden. Gerade das Beispiel-der Bundesrepublik ist ein Beweis dafür, daß Führungskräfte aus eigener Kraft keine Wunder vollbringen können, sondern so tüchtig, prinzipienstark und innovationsfähig sind wie die gesellschaftlichen Schichten und Gruppen, aüs denen sie hervorgegangen sind und die sie trag'en.