In der öffentlichen Diskussion hierzulande spielen zunehmend Beurteilungen, ja Prämissen eine Rolle, die das bestehende Gemeinwesen, seine Ordnung und seine Voraussetzungen, für grundlegend gewandelt erachten. Der bei allen Einschätzungen mitschwingende gemeinsame Tenor ist, daß „Staat" — was immer im einzelnen darunter zu fassen wäre — nicht mehr das sei und sein könne, was er vor fünfzig, vor hundert Jahren war bzw. was dafür in der verklärten Rückschau gehalten wird. Nicht nur normativ erscheint das unbefriedigend, weil die verspürte Wirklichkeit damit hinter den Vorgaben von Verfassung und politischem oder moralischem Ansatz zurückbleibt. Attribute wie „moderner Industriestaat", „Massengesellschaft“ oder „Parteiendemokratie“ usw. kennzeichnen dann neben objektiver Sacheinordnung Vorstellungen von Undurchdringlichkeit und Entfremdung der Regierungsstrukturen.
Hinzukommen Manifestierungen bürgerlicher Unzufriedenheit wie etwa die vielfältigen publizitätswirksamen Demonstrationsaufzüge aller Art bzw. das mehr oder weniger kurzzeitige Aufblühen von Protestlisten bei Wahlen. Zu jedem Fall lassen sich bestimmte Erscheinungsweisen feststellen. Zum einen werden bei staatlichen Planungen und Entscheidungen die Gegenstellungnahmen immer kompromißloser vorgebracht; zum anderen nimmt unverkennbar eine gewisse Staatsverdrossenheit zu. Beide Haltungen entspringen dem Gefühl, unser Regierungssystem funktioniere irgendwie nicht optimal, und unterschiedlich ist nur die Reaktion darauf: Teilweise versucht man, dagegen anzugehen, teilweise zieht man sich resignierend zurück, weil gegen das, „was die da oben mit uns machen", doch nichts auszurichten sei.
Vor diesem komplexen Hintergrund ist die Bürgerinitiativbewegung ein Signal. Sie muß als Inbegriff des Aufbegehrens der Menschen gegen den öffentlichen Apparat, gegen undurchdringlich und uneinsichtig anmutende hoheitliche Entscheidungsprozesse verstanden werden Einzelheiten, insbesondere zur Größenordnung, lassen sich dabei kaum präzise ausmachen. Was die Zahl der Bürgerinitiativen angeht, schwanken die Schätzungen zwischen 000 und 50 000 3); der Mitgliederstand muß nach verschiedenen Bezifferungen auf 1, 5 — 2 Millionen Menschen veranschlagt werden und je nach Umfrage zei-gen sich potentiell 34— 59 Prozent der Bevölkerung für betreffende Aktionen ansprechbar Genaue Quantifizierungen sind wie überhaupt eine exakte Begriffsbestimmung — und da vor allem die Kriterien einer Mitgliedschaft oder der Organisationsgrad — umstritten. Aufgabe aller juristischen und soziologischen Erkenntnisbemühung ist es, hier den Ursprüngen und der Bedeutung nachzugehen. Die Entwicklung zu dieser aktuellen Erscheinung hat wohl in breiterem Maße bereits um die Mitte der sechziger Jahre eingesetzt Selbst die studentische Protestbewegung 1967/68 scheint nicht nur auf den Abbau etablierter Autoritäts-und Herrschaftsstrukturen gerichtet und zugleich Ausdruck eines durch unsere nationale Geschichte verschärften Generationenkonflikts gewesen zu sein. Sie bedeutete auch schon ein (freilich noch undifferenziertes) Aufbegehren gegen diktierte und als unangemessen empfundene staatliche Vorgaben allgemein Der Ruf nach Teilhabe an den Ordnungsgestaltungen des Staates, nach „Demokratisierung“ der eingerichteten Entscheidungsabläufe, fand dann eingangs der siebziger Jahre programmatische Form in der Forderung nach „mehr Demokratie". Zweifel-los hat der Gesetzgeber seither vieles in jene Richtung hin zu verändern versucht: vom Ausbau der Mitbestimmung im öffentlichen Dienst bis hin zur jüngsten Einführung unmittelbarer Entscheidungsmöglichkeiten der Bürger auf Kommunalebene Offenbar aber ist das nicht ausreichend gewesen, oder wahrscheinlicher noch: es hat nicht den Kern des Unbehagens getroffen. Die wachsende: bürgerschaftliche Unruhe blieb davon weitgehend unberührt.
Eines ist dabei jedoch schon unverkennbar: Das Problem der Bürgerinitiativbewegung ist nicht nur nach den entstehungsgeschichtlichen Ausprägungen, sondern auch inhaltlich-systematisch vorrangig eine Frage nach der Gediegenheit, nach dem Stand tagtäglichen Funktionierens von Demokratie in unserer Staatsordnung. Die Bürger finden mit ihren Willensäußerungen auf den institutionalisierten Wegen — tatsächlich oder nur vermeintlich — kein hinreichendes Gehör mehr und greifen deshalb gewissermaßen als Überdruckventil nach Formen des öffentlichen Aufbegehrens, um auf die Geschehensabläufe Einfluß zu gewinnen.
In der allgemeinpolitischen Einschätzung dieses Phänomens mag man recht unterschiedlicher Auffassung sein. Dem einen erscheint der Sachverhalt als Zusammenbruch der Ordnung oder „Ende der Aufklärung", wie es genannt worden ist dem anderen als Sieg des mündigen Bürgers oder als Triumph der Demokratie. Ein Vorhaben indes, objektivere Einsichten zu gewinnen, findet durchaus ergiebige Ansätze. Für den Versuch einer verfassungsrechtlichen und verfassungstheoretischen Einordnung jedenfalls muß hierzu auf die Markierungen des konstitutionellen Demokratieaufbaues zurückgegangen werden.
I. Das Demokratiekonzept der Verfassung
Art 20 des GG — an anderer Stelle noch ausdrücklich als unabdingbarer Eckpfeiler der Ordnung hervorgehoben (Art. 79 Abs. 3 GG) — bestimmt in seinem Abs. 2 lapidar: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Dies Demokratiegebot ist nicht nur allgemeine Zielbestimmung, sondern zugleich grundlegendes Organisationsprinzip des Staates, auf welches als maßsetzende Verfassungsnorm alle in dieser Rechtsordnung lebenden und agierenden Personen ihre verschiedenen Interessen, Bestrebungen und Verhaltensweisen zu einem Konsens zusammenführen sollen
Wie freilich der Topos im einzelnen ausgestaltet ist, ob also vorrangig im Sinne unmittelbarer, direkter Volksherrschaft oder als ein repräsentatives, mittelbares Regierungssystem, bleibt vorerst offen. Auch der nächste Verfassungssatz (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG): „Sie (die Staatsgewalt) wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt“, erlaubt noch keine endgültige Aussage über die Form der realisierten Demokratie. Zwar bedeutet die Anführung der „besonderen Organe" wohl schon eine Wendung hin zur Vermittlung der bürgerschaftlichen Einflußnahme. Aber inwieweit das Volk daneben außer durch Wahlen auch durch Abstimmungen oder in noch anderer Form direkt in die Willensbildung des Staates eingreifen können soll, ist damit noch nicht entschieden.
Das Grundgesetz enthält nur vereinzelt und bruchstückhaft Elemente plebiszitären Charakters: — Als unmittelbar handelnde Größe wird auf das Volk zunächst in Art. 146 GG und dem Präambelsatz 3 Bezug genommen. Dies als ein Stück direkter Demokratie zu werten, erscheint aber nur bedingt angängig. Daß „das deutsche Volk" dort aufgerufen ist, zu gegebener Zeit eine neue gesamtdeutsche Verfas-sung zu beschließen bedeutet eine Verweisung auf den „pouvoir constituant" und seine stete Präsenz neben wie über der bestehenden Verfassungsordnung Das Volk, oder genauer: die Nation, wird hier also als Subjekt der Verfassungsgebung angesprochen und nicht als Organ des verfaßten, der Demokratie verschriebenen Staates. — Weiter enthält das Grundgesetz in Art. 28 Abs. 1 S. 3 eine Einführung unmittelbarer Handlungskompetenz der Bürger. Dogmatisch kann in diesem Zusammenhang außer Betracht bleiben, daß die dort angelegten sog. „Gemeindeversammlungen" nach der kommunalen Gebietsreform keinerlei praktische Bedeutung mehr haben Wichtig als Element unmittelbarer Demokratie ist hingegen ihre spezielle Ausrichtung auf den Bereich der gemeindlichen Selbstverwaltung. Die Definition in Art. 28 Abs. 2 S. 2 GG läßt deutlich erkennen, daß es dort in sachlicher Hinsicht um eine Form tätiger Selbsthilfe geht, einen Aktivitätssektor also, bei dem Aufgabenentstehung und Aufgabenbewältigung dieselbe Zurechnungsgröße haben. Die „örtliche Gemeinschaft", wie sie die Verfassung sieht, soll die Befriedigung der in ihrem Lebensbereich auftretenden Bedürfnisse selbst, „in eigener Verantwortung" bewerkstelligen. Die Eigenregelung der Angelegenheiten durch die Betroffenen ist so bereits durch einen spezifisch auf den Gedanken nachbarlicher Solidarität und damit auf genossenschaftliche Wurzeln zurückgehenden Sinngehalt vorgegeben Die Norm kann deshalb nur bedingt als Ausgestaltung eines Demokratieansatzes gelten. — Als ein Komplex unmittelbarer Ausübung von Staatsgewalt durch das Volk hingegen wird vom Grundgesetz das Verfahren zur Neugliederung des Bundesgebietes geregelt (Art. 29 und 118). Hier stehen in Form von Volksentscheid, Volksbegehren und Volksbefragung echte Entscheidungskompetenzen bereit. Hinsichtlich des Demokratiebezugs sind freilich materiell gewisse Abstriche zu machen. Bereits Werner Weber hat mit dem Hinweis, man solle hier „besser von Bevölkerungsentscheid als von Volksentscheid sprechen", darauf aufmerksam gemacht, daß eben nur jeweils ein regional begrenzter Teil des Staatsvolkes zur Mitwirkung aufgerufen ist. Dennoch wird man insgesamt von einem Stück plebiszitärer Demokratie sprechen können
Ob diese karge Bilanz unmittelbar demokratischer Komponenten im Grundgesetz schon als prinzipielle Absage an diese Beteiligungsform verstanden werden muß oder lediglich als eine einfache Verschweigung, bei welcher dann weitere Einräumungen anheim gestellt blieben, läßt sich indes immer noch nicht eindeutig entscheiden. Angesichts der Unergiebigkeit des Gesetzestextes muß dafür auf andere Deduktionswege zurückgegriffen werden. Hier nun ist von Bedeutung, daß das Grundgesetz nicht nur historisch, sondern auch inhaltlich-systematisch eine stete Reflektierung zur Weimarer Reichsverfassung darstellt — sei es, daß Teile jener ersten republikanisch-demokratischen Staatsordnung Deutschlands übernommen wurden, weil sie sich bewährt haben, sei es, daß man bewußt andere Wege wählte
Was nun die Frage der Demokratieform anbetrifft, bot Weimar vielfältiges Material zu kritisch reflektierender Beurteilung und Herausbildung eigener Standpunkte. So konnte der Reichspräsident — vom Volke unmittelbar gewählt (Art. 41) — das Parlament auflösen (Art. 25) und damit die Legitimationserteilung für strittige, grundsätzliche Entscheidungen wieder an den Souverän, das Volk, zurückverweisen. Außerdem stand es ihm sowie u. U.dem Reichsrat zu (Art. 731, 74 III bzw. 76 II) Gesetze einem Referendum zu unterwerfen. Und schließlich bestand vor allem ein selbständiges „Volksgesetzgebungsverfahren“ (Art. 73 III mit Regelungsgesetz vom 27. Juni 1921) durch das sich nach erfolgreichem Volksbegehren eine Regelung am widerstreitenden Parlament vorbei per Volksentscheid durchsetzen ließ.
Gerade die Praxis dieses letzteren Weges — und hier besonders beim Volksentscheid 1929 gegen den Young-Plan, die sog. Initiative „gegen die Versklavung des deutschen Volkes" — belegt dabei für den kritischen Betrachter die Fragwürdigkeit und Mißbräuchlichkeit solcher Instrumente nachdrücklich. Und die von den Nationalsozialisten 1933 eingeführte, generelle Praktizierungsmöglichkeit einer Volksabstimmung bestätigt diese Erfahrung noch deutlicher: Es finden hier Demagogie und Ressentiment einen Entfaltungsraum und radikalen Strömungen eröffnet sich breite Wirksamkeit. Es zeigt sich, ein wie willfähriges Mittel das Plebiszit in der Hand der Herrschenden sein kann wenn die dem Volke vorgelegten Fragen nur geschickt genug abgefaßt, suggestiv gestellt bzw. mit Köderfragen gekoppelt werden oder man auch nur raffiniert genug Beharrungsneigung Fatalismus und Trägheit der Massen in Rechnung stellt.
All dies veranlaßte die Schöpfer des Grundgesetzes zu tiefgreifender Skepsis gegenüber der unmittelbaren Demokratie. In den Protokollen des Verfassungskonvents auf Herrenchiemsee und des Parlamentarischen Rates läßt sich das vielfach nachlesen Bündig hat damals der Abgeordnete Theodor Heuss diese Einstellung auf die Formel gebracht „Das Volksbegehren ist in der großräumigen Demokratie die Prämie für jeden Demagogen." Hinzu trat der Wunsch, das parlamentarische Regierungssystem stärker als in
Weimar abzusichern, und dabei sah man Formen unmittelbarer Volksherrschaft als Ausgangspunkt potentieller Gefährdung. Hugo Preuß, der Konzeptor der Weimarer Verfassung und seinerzeitige Innenminister, hatte schon 1919 gewarnt man möge nicht über das „Parlamentarische System das Damoklesschwert der reinen Demokratie hängen", und jetzt wurde diese Sorge noch vertieft durch die Erfahrung, daß es Ende 1928 sogar einen realen Versuch gegeben hatte, per Volksentscheid gezielt die Abhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlamentes zu beseitigen
Auslegungsfazit also muß sein: Das Grundgesetz ist Ausdruck einer eindeutigen Haltung gegen die unmittelbare Demokratie. Das Fehlen plebiszitärer Elemente im Ordnungsgefüge der Verfassung kann daher nur als eine prinzipielle Absage an diese Form der Volksherrschaft verstanden werden 29®); die Beteiligungsinstitute des Art. 29 GG — Art. 118 ist mittlerweile ohnehin obsolet — sind die einzig eingeräumten Ausnahmen Mochte die Weimarer Reichsverfassung unterschwellig von einem prinzipiellen „Mißtrauen gegen das Staatsbürgervolk als Staatsorgan" durchzogen sein und sich gleichwohl zu etli-eben plebiszitären Elementen bereit gefunden haben, so ist heute im Grundgesetz das Volk als oberster Souverän vorbehaltlos anerkannt, die Sorge um seinen möglichen Mißbrauch jedoch veranlaßte zu ausdrücklicher Enthaltsamkeit gegenüber Instrumenten unmittelbarer demokratischer Beteiligung. Angesichts dieses Befundes scheint es sogar nur begrenzt möglich, das Grundgesetz noch durch Verfassungsänderung oder -ergänzung mit weiteren Plebiszitärelementen anzureichern, wie es neuestens von gewichtiger Seite favorisiert wird Verfassungstheoretisch nämlich stellt sich die Frage ob bzw. wann eine solche Umgewichtung — da an die Grundlagen der politischen Gesamt-entscheidung, die „positive Verfassung" rührend — nicht dem pouvoir constituant Vorbehalten bleiben müßte. Sieht man gar die prinzipielle Absage an die unmittelbare Form der Demokratie schon in Art. 20 Abs. 2 GG ent-halten, folgte ein derartiges Veto bereits kompromißlos aus Art. 79 Abs. 3 GG.
Diese strenge plebiszitäre Enthaltsamkeit des Grundgesetzes erscheint im bestehenden Bundesstaat auch gesamtpolitisch durchaus erträglich. Gewissermaßen kompensatorisch bestehen auf Landesebene vielfache Möglichkeiten unmittelbarer Demokratieausübung Bis auf die drei norddeutschen Staaten Schleswig-Holstein, Hamburg und Niedersachsen halten alle anderen Bundesländer Formen des Volksbegehrens, des Volksentscheides oder beider Arten in ihrer Verfassung bereit, unterschiedlich nur in den verfahrensmäßigen Ausgestaltungen. Und daß diese Möglichkeiten wirklich handhabbar sind, beweist etwa die Zahl von bisher allein sieben Volksbegehren in Bayern oder das jüngst erfolgreiche nordrhein-westfälische Volksbegehren gegen die Einführung der Kooperativen Schule
II. Das System der repräsentativen Demokratie im Grundgesetz
Bedeutet aber nun jene strenge Entscheidung für die mittelbare Demokratie, daß das Volk von den „besonderen Organen“ ganz aus einer realen Teilhabe an der staatlichen Willensbildung verdrängt wird und seine Meinung nur bei der Einsetzung des alles weitere repräsentativ lenkenden Parlamentes zur Geltung bringen kann? Die Bürger in der Demokratie des Grundgesetzes also quasi nur ein „Souverän auf Zeit", der sich zwischen den Wahlen regelmäßig wieder zu bescheiden hat? Eine Antwort auf diese Frage muß aus dem Gehalt der verfassungsgegebenen, normativen Verankerung demokratischer Repräsentation kommen.
Im Grundgesetz sind diese Strukturen, aufbauend auf dem Demokratiesockel des Art. 20 Abs. 2, vornehmlich in Art. 38 Abs. 1 S. 2 angelegt. Wegen der ganz konkreten Gestalt dieser Formung verbietet es sich, für eine Exegese von apriorischen Begriffsgehalten der Repräsentation auszugehen. In der Grundvorstellung immerhin beruht die Idee der Repräsentation auf der Hypothese, daß der Wille des Volkes auf die Förderung eines Gesamtinteresses, das Gemeinwohl, gerichtet sei und eben diese „volonte generale" allein durch Delegierte zutreffend und verbindlich festgestellt werden könne, die unabhängig und nur ihrem Gewissen unterworfen das objektiv Beste für die Gemeinschaft zu erreichen suchen. Die Abgeordneten bedürfen also nicht nur eines aus-drücklichen Einsetzungsaktes durch das Wahlvolk, sondern sollen auch moralisch und geistig, in Weitsicht und Verantwortungsgefühl besonders qualifiziert sein um tendenziell „besser“ als andere und vor allem das Volk selbst die Gemeinwohlerfordernisse ausmachen zu können. Vom demokratischen Blickwinkel her wird hier nicht auf eine Identität zwischen Regierten und Regierenden abgestellt, wie es in Rückgriff auf Rousseau die Theoretiker unmittelbarer Volksherrschaft für entscheidend halten sondern (in, wie ich meine, richtiger Illusionslosigkeit) der prinzipielle Unterschied beider Seiten von Herrschaft als Prämisse zugrunde gelegt. Das spezifische Demokratie-moment liegt hier in der unbedingten Legitimationsabhängigkeit der Herrschaftsorgane vom Volke. — Repräsentation in diesem nicht apriorisch ordnungsbegrifflichen, sondern mehr deskriptiven, prozeßhaften Sinne kann danach mit Ernst Fraenkel bezeichnet werden als „die rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, im Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden Auftrag handelnde Organe eines Staates oder sonstigen Trägers öffentlicher Gewalt, die ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom Volk ableiten und mit dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen zu vollziehen" 38).
Wesenszug der repräsentativen Demokratie auch im Grundgesetz ist deshalb neben dem ordnungsgemäßen Einsetzungsakt durch Wahl das Vorliegen eines dauernd gegenwärtigen, allgemeinen Konsenses zwischen Herr-sehenden und Beherrschten. Repräsentation im verfassungsideellen Sinne bezeichnet danach nicht einen organisatorischen Zustand, sondern einen beständigen Prozeß der getreuen Darstellung und Vergegenwärtigung des real abwesenden Volkes. Dieses wesentliche Moment — in jüngerer Zeit von der Wissenschaft wiederholt aus unterschiedlichen Perspektiven herausgestellt — wird von der gängigen Darstellung des Repräsentationsprinzips vielfach übersehen. Gewiß liegt der Grundakt demokratischer Wirksamkeit in der Einsetzung, also der Wahl des Repräsentativ-organs. Aber der Staatswille, wie er dann im Parlament verbindlich festgestellt wird, erwächst gegenständlich aus einem steten informatorischen Zusammenspiel und Kontakt mit dem Volke.
Jede Repräsentation setzt mithin eine spezifische geistig-affektive Nähe zur repräsentierten Ebene voraus Das Gemeinwohl, dem die Parlamentsabgeordneten verpflichtet sind, gerät wesensmäßig in Gefahr, wenn der tatsächliche Volkswille (oder die fühlbar dominante Volksstimmung) von ihnen unbeachtet bleibt Schon ausgangs des 18. Jahrhun-derts sprach in diesem Sinne der englische Staatsmann Edmund Burke — einer der Ausformer der Repräsentationsidee — von der Notwendigkeit, daß es „eine Gemeinsamkeit der Interessen (gebe), ein Mitfühlen in den Empfindungen und Wünschen, zwischen denen, die im Namen des Volkes handeln, und denen, in deren Namen sie handeln" Und zutreffend hat das Bundesverfassungsgericht den politischen Vorgang der Herausbildung des Staatswillens bis zur Feststellung im Parlament als einen Konkretionsfluß vom Volke zu den Staatsorganen hin beschrieben und eine Umkehrung dieser Richtung mit dem Verfassungskonzept repräsentativer Demokratie im Grundgesetz für unvereinbar erklärt
Auch für die Konstruktion mittelbarer Volksherrschaft also ist das permanente Zur-Geltung-Drängen des Volkswillens ein Element der Verfassung — wobei unter „Volkswille" hier nicht die definitiv bekundete, organschaftliche Entscheidung zu verstehen ist, sondern das komplexe, noch unausgetragene Gesamtbild von politischen Meinungen, Argumenten, Wünschen, Befürchtungen und
Kritik aus dem Volke. In solchem Geltungsanspruch eine Aufweichung der unabhängigen Entscheidungskompetenz des Abgeordneten sehen zu wollen, wäre verfehlt. Auf dem Boden der grundlegenden Entscheidung für die Demokratie wird eben das repräsentative Herrschaftsmodell unausweichlich zur demokratischen Repräsentation. Der Abgeordnete ist exklusiv berufen — und hieran darf keinesfalls gerüttelt werden —, aus allem, was ihm als derart komplexer Volkswille von der „Basis" zufließt, eigenständig das Gemeinwohl herauszufiltern und zur Geltung zu bringen In der repräsentativen Demokratie macht nicht die juristische Verbindlichkeit jener Willenssignale aus dem Volke, sondern ihr verantwortungsbewußtes, reales Verarbeitetwerden durch den Abgeordneten die verfassungsrechtliche Wichtigkeit jenes Informationsflusses aus.
Präziser sollte daher wohl die Passage, welche in Art. 20 Abs. 2 GG die mittelbare Demokratie begründet, so gelesen werden: „Sie (die Staatsgewalt) wird vom Volke durch besondere Organe ausgeübt"; und d. h. noch pointierter eben: auch durch die „besonderen Organe" übt das Volk die Staatsgewalt aus.
III. Parteienstaatlichkeit
Der Vorgang, in welchem sich jener komplexe „Volkswille" herausformt und in den jeweiligen Phasen Ausdruck verschafft, ist überaus vielschichtig und differenziert. In ihn gehen ein — so hat das Bundesverfa-sungsgericht eine Beschreibung versucht — „die vielfältigen, sich möglicherweise widersprechenden, ergänzenden, gegenseitig beeinflussenden Wertungen, Auffassungen und Äußerungen des Einzelnen, der Gruppen, der Verbände und sonstigen gesellschaftlichen Gebilde, die ihrerseits von einer Vielzahl politisch relevanter Tatsachen, zu denen auch Entscheidungen des Staates und Äußerungen und Maßnahmen staatlicher Organe gehören, beeinflußt sind". Die Erhellung dieses Prozesses bleibt im einzelnen der Publizistik, der Soziologie und der Psychologie überlassen. Der Jurist darf hier getrost auf dortige Erkenntnisse verweisen, wobei dem summarischen Bild des Bundesverfassungsgerichts höchstens noch ein Hinweis auf die Rolle von Presse, Rundfunk und Fernsehen anzufügen wäre
Von verfassungsrechtlicher Seite indes sind noch gewisse äußere Vorgaben von Bedeutung Die heutige Gesellschaft, die sich kaum mehr aus isolierten Individuen zusammensetzt, sondern sich nach Gruppen gliedert, scheint zur funktionalen Kooperation zu drängen. Unter diesen Bedingungen im großflächigen, dicht bevölkerten Staat wäre eine unorganisierte, quasi naturhaft hervorquellende Meinungsäußerung des Volkes und ihre Verdichtung zu politisch verwertbaren Aussagen schon technisch beinahe unmöglich. Hinzu tritt die stark gewachsene Kompliziertheit der modernen Lebensverhältnisse, die eine unangeleitete Beurteilung erschwert. Bei aller grundrechtlichen und institutionellen Absicherung der Freiheitlichkeit des bürgerschaftlichen Willensbildungsprozesses muß deshalb bei ihm die Verfassung auch Vorsorge treffen für instrumental angemessene und leistungsfähige Herausformungswege.
Das Grundgesetz nun hat zu diesem Zweck die politischen Parteien als „notwendige Bestandteile des Verfassungsaufbaues" in sein Konzept aufgenommen und damit die Konsequenz aus der Einsicht gezogen, daß die Demokratie in der modernen Massengesellschaft zwangsläufig ein Parteienstaat sein müsse Den Parteien wird in Art. 21 Abs. 1 GG die ausdrückliche Aufgabe zugewiesen, „bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken". Diese förmliche Inkorporation war ohne Frage für die deutsche Verfassungsgeschichte revolutionär — selbst gegen Mitte unseres Jahrhunderts noch. Bis dahin galten die Parteien — aus dem sich emanzipierenden Bürgertum heraus im Grunde parakonstitutionell entstanden — in der geschriebenen Verfassung als geborener Gegenspieler der Gemeinwohlverwirklichung im Staate. Noch das Weimarer Verfassungsgesetz (Art. 130 Abs. 1) ist ganz von diesem Mißtrauen geprägt. Jetzt endlich erfolgte darin eine grundsätzliche Umorientierung: Die Parteien werden von der Verfassung in Pflicht genommen als organisatorische Bindeglieder für die Förderung und Umsetzung des Volkswillens.
Verständlicherweise begegnete dieser Ansatz durchaus mancher Skepsis. Wirkliche Demokratie — so wird eingewandt — sei damit blockiert, denn das Volk werde „vollständig und ausnahmslos durch die politischen Parteien mediatisiert" Nach dem Konzept des Grundgesetzes jedoch stehen solcher Einschätzung zweierlei eindeutige Markierungen entgegen. Zum einen ist dies die klare Zuweisung einer nur dienenden Funktion an die Parteien. Sie sollen, wie die Verfassungsnorm unmißverständlich formuliert, bei der politischen Willensbildung des Volkes lediglich „mitwirken“; es ist ihnen also verwehrt, jene Förderungsaufgabe zu monopolisieren oder den Volkswillen gar selbsttätig ausfül-len zu wollen Zürn anderen aber wäre es unter den soziologischen und politischen Bedingungen gerade ohne Parteien nur unzureichend möglich, daß die Bürger eine Chance fänden, ihr politisches Wollen zielgerichtet zu formulieren und zur Geltung zu bringen. Nach dem Bild der Verfassung sind es — wie der Politiker Karl-Hermann Flach einmal plastisch gesagt hat — „erst die Parteien, die , das Volk’ in der politischen Arena als real handelnde Einheit in Erscheinung treten lassen". Nicht Mediatisierung des Volkes im Sinne von Fernhaltung, interpretierender Ersetzung und Unterbindung direkter Kontakte also ist die Funktion der Parteien, sondern gerade Herbeiführung einer Immediat-Stellung, Eröffnung erst eines tatsächlichen Einwirkungsweges für das Volk.
Gewiß sind die Parteien dazu nicht auf rein technische Hilfstätigkeiten beschränkt. Sie stellen nicht nur (um ein Bild zu gebrauchen) den „Transmissionsriemen" dar, auf welchem die Meinungsimpulse des Volkes zielgerichtet in die Staatsorgane hineingetragen werden. Es kommt ihnen auch eine entscheidende Integrations-und Erziehungsfunktion zu, weil sie den Meinungsfluß beständig erhalten und anregen und die Bürger allgemein an ihre mittragende Rolle heran, d. h. zu einem staatsbürgerlichen Bewußtsein überhaupt führen sollen Nach der Verfassung also — so läßt sich hier formelhaft zusammenfassen — sind gerade die Parteien die speziellen „Hüter“ jenes demokratiezentralen Konsenses zwischen dem Volk und den Repräsentativorganen.
IV. Fehlentwicklungen bei der Verfassungsrealisation
Nach dieser Analyse des verfassungsmäßigen Demokratiesystems stellt sich erneut die Frage, ob und wo denn-hier der Bürgerinitiativbewegung ein legitimer Platz zukommen kann oder ob nicht über sie von der Verfassung im günstigsten Fall ein „Non licet", wenn nicht gar definitiv ein unnachgiebiges Verdikt gesprochen werden müsse. Zur Beantwortung gilt es indes, das Augenmerk noch auf die Wirklichkeit des normierten Ablaufes zu richten. Sollten nämlich beim bestimmungsmäßigen Gang des komplizierten Demokratiemechanismus an irgendeiner Stelle Spannungen aufgetreten sein, könnte das bürgerschaftliche Aufbegehren immerhin eine organische Folge davon, eine Reaktion darauf, eine Ausgleichserscheinung darstellen und von dorther beurteilt werden müssen
Eine solche Prüfung nun läßt in der Tat zur Feststellung gewisser Funktionsstörungen gelangen. An eben jenem so entscheidenden wie zugegebenermaßen äußerst empfindlichen Gelenkstück des Demokratieablaufes, welches die politischen Parteien auszufüllen haben, machen sich — mehr oder weniger signifikant schon — bestimmte Verschleißerscheinungen und Fehlentwicklungen bemerkbar.
Bereits vor mehr als zehn Jahren, 1966, offerierte der Philosoph Karl Jaspers in seiner Schrift „Wohin treibt die Bundesrepublik?“ den Befund, unser Regierungssytem habe sich „von der Demokratie zur Parteien-Oligarchie" gewandelt Die etablierten politischen Parteien, die tatsächlich nur eine Minderheit der Staatsbürger erfaßten, hätten sich durch vielfache Verzahnung fest in der staatlichen Macht verankert; und einerseits bewachten sie nun deren Zugang monopolartig, andererseits verwendeten sie die Position bedenkenlos zu eigenem Nutzen. Jene damals noch ebenso spektakuläre wie z. T. gewiß überzeichnete Einschätzung hat sich — mancher tatsächlich falschen Neben-sentenz entkleidet — heute in vielem bestätigt. Sie wird zudem durch einen weiteren Störungssachverhalt ergänzt. Es ist dies der offenbare Schwund an Fähigkeit bei den Parteien, sowohl die vielfältigen bürgerschaftlichen Meinungsimpulse ausreichend aufzugreifen und zu integrieren als auch zu den wirklichen, aktuellen Existenzfragen des Lebens in unserem Staate grundsätzliche, über den Augenblick hinausreichende Aussagen zu treffen.
Im einzelnen: 1. In den politischen Parteien sind derzeit lediglich rund 3 Prozent der Bevölkerung, d. h. knapp 2 Mio. Menschen mitgliedschaftlich gebunden; bei dieser Quote scheinen die Zahlen zu stagnieren So bedenklich auch dieser Sachverhalt schon absolut sein mag, so wenig reicht er freilich aus, um schlüssig Mängel in der Funktionsverwirklichung der Parteien ablesen zu müssen. Hierzu wären noch Erkenntnisse vonnöten, wonach tatsächlich Schwierigkeiten bestehen, daß Intentionen und Auffassungen der „Basis“ parteiintern verläßlich Gehör finden.
Insoweit allerdings muß heute nun als weitgehend gesichert gelten, daß die innerparteiliche Willensbildung, namentlich etwa bei der Kandidatenaufstellung unter einem deutlichen Effizienzdefizit leidet Dies be87) ruht nicht einmal vorrangig auf etwa undemokratischen Praktiken oder unzureichenden Verfahrensvorschriften. Der Grund liegt vielmehr darin, daß es — weshalb immer — erwiesenermaßen nur wieder 5— 10 Prozent der Parteimitglieder sind, die sich tatsächlich an den betreffenden Konkretionsvorgängen beteiligen. Höchstens 0, 3 Prozent der Bevölkerung also wirken realiter bei der hiesigen Meinungsabklärung mit. 2. Die großen Parteien in der Bundesrepublik halten nahezu lückenlos alle maßgebenden Posten öffentlicher Funktionswahrnehmung durch Gewährsleute besetzt.
Bezüglich des Parlamentsbereiches wird man das grundsätzlich kaum beanstanden können, denn die Willensbildung des Volkes, an welcher die Parteien mitwirken sollen, findet hier nun einmal ihr verfassungsmäßiges Ziel-stadium. In dieser Zone aber wirkt sich heute die Fünf-Prozent-Wahlsperrklausel demokratiesystematisch mißlich aus. Das mit ihr verfolgte Anliegen einer Sicherung parlamentarischer Arbeitsstabilität ist zwar verfassungsrechtlich völlig legitim. Gegenwärtig jedoch scheint dies Erfordernis nahezu überholt zu sein. Angesichts dessen wandelt sich die Klausel mehr und mehr zu einem Mittel der Besitzwahrung für die gestandenen Parteien und sperrt damit praktisch neue Parteiimpulse aus Dies wiegt noch uni so schwerer, als die zum Zuge kommenden Kandidaten meist durch einen längeren parteiinternen Anpassungsprozeß gegangen sind, der politisch eigenständige Durchsetzungsbereitschaft bei ihnen vielfältig abgeschliffen hat
Hinsichtlich der zweiten Gewalt im Staate zeigt sich die Machtokkupation der Parteien in anderem Licht. Was die Regierung anbetrifft, so ist hier die parteimäßige Ausrichtung gewiß noch korrekt, denn im Parteienstaat bedeutet sie die natürliche Konsequenz des parlamentarischen Regierungssystems. Im Exekutivbereich jedoch, bei der Verwaltung, tritt die beanstandete Durchsetzung massiv hervor: Die Organwalterhierarchie wird längst bis in untere Ränge hinein konsequent mit Parteigängern besetzt in den Ministerien unterhalten die großen Parteien jeweils eigene Arbeitskreise, und es ist nachgerade erwünscht, daß jeder Beamte in einem von ihnen mitwirkt; bei Coleurwechsel in der Regierung folgt nicht nur ein weitreichender Austausch der politischen Beamten, sondern auch vielfältige Umsetzung der übrigen Chargen; im Extremfall führen partei-und koalitionspolitische Gründe dazu, daß bei der Ämterbesetzung Fragen fachlicher Qualifikation zurückstehen müssen. Die Umgangssprache hat wenig schön, aber plastisch für all dies rasch ein Schlagwort geprägt, den Begriff „Filzokratie".
Ergebnis der Verzahnung ist auf Seiten des öffentlichen Dienstes eine Abnahme an Neutralität nicht nur gegenüber der Verwaltungsleistung und ihren Adressaten In gleichem Maße schwinden auch Unvoreingenommenheit und Befolgungstreue gegenüber den anzuwendenden Normen Auf Seiten der Parteien verringert sich umgekehrt — wie vor kurzem Uwe Thaysen dargelegt hat — die Bereitschaft, der immer dichteren Knüpfung des sozialstaatlichen Vorschriften-netzes entgegenzutreten. Aus Mangel an Vertrauen in ein unnormiert systemgerechtes Verhalten der Menschen und fehlender Distanz zu Planungseuphorie und Perfektionsneigung der Verwaltung fallen damit die Parteien als Anwalt im Überlebenskampf der privaten Freiheit weitgehend aus.
Daß demgegenüber schließlich die rechtsprechende Gewalt sich parteistrategisch noch weitgehend undurchsetzt zeigt, liegt keineswegs an entsprechender Zurückhaltung der Parteien, sondern an funktionsspezifischen Gesetzmäßigkeiten, die hier erstaunliche Widerstandsfähigkeit offenbaren 3. Der verführerische Sog, einen solcherart etablierten Machtbesitz auch zu individueller Nutzziehung zu verwenden, ist naturgemäß groß. In der breiten Grauzone zwischen gemeinem und partikulärem Vorteil scheinen ihm die Parteien in den Augen der Bürger nicht immer ausreichend zu widerstehen.
Das gilt zum einen etwa für das nicht seltene . Zuschanzen'einträglicher Ämter, Pfründe und öffentlicher Aufträge an verdiente, bedürftige oder einfach „an der Reihe befindliche" Parteifreunde Zum anderen hat es Belang für die stete Emsigkeit der Parteien bei Erschließung neuer, lohnender Geldquellen. Dem insoweit wohlpräparierten Weg einer unmittelbaren Parteienfinanzierung durch den Staat hat zwar das Bundesverfassungsgericht 1966 einen Riegel vorgeschoben und kurz darauf auch eine Monopolisierung der (prinzipiell zulässigen) Wahlkampfkostener-stattung gestoppt Der Hang, sich finanzielle Privilegien zu sichern, aber wurde höchstens subtiler. Erwähnt seien nur die undurchsichtigen Duldungspraktiken der Parteien, wenn es darum geht, sich über halböffentliche Einrichtungen oder Tarnorganisationen Zuwendungen machen zu lassen, die für den dahinterstehenden Spender anonym und womöglich noch steuerfrei bleiben Und in dasselbe Bild scheint zu passen, daß erst das Bundesverfassungsgericht (1976) auch einem parteilosen Einzelbewerber den Zugang zum Erstattungstopf für Wahlkampfkosten eröffnen mußte.
Vor allem in jüngster Zeit sind hier zudem die vielfältigen Bemühungen in Sachen „Abgeordnetenentschädigung" zu vermerken. Zugegebenermaßen ist dies stets ein für die Öffentlichkeit ebenso unpopuläres wie grundsätzlich unerläßliches Regelungsgeschäft. Bei der derzeitigen Generalsanierung jedoch scheinen sich dem Betrachter die einzelnen Länderparlamente allzu geflissentlich über die Vorfrage hinwegzusetzen, ob und inwieweit denn bei ihnen das Abgeordnetenmandat tatsächlich wie im Bund eine berufsgleiche Haupttätigkeit darstelle. Daß die gern als Total-Alibi benutzte Signalentscheidung des Bundesverfassungsgerichts dies ausdrücklich offenließ gerät dabei aus dem Blick. Allzu schnell münden die Anstrengungen so in ein Ringen um erreichbare Höhen der Alimentation 4. Von allen drei großen Parteien wird heute zugegeben, daß es bei ihnen zu Leistungsmängeln in Aufnahme und Verarbeitung der bürgerschaftlichen Auffassungen komme Der Kontakt zu den wirklichen Belangen der Bürger ist vielfach verlorengegangen. Die Parteien formulieren statt dessen ihre Zielvorstellungen in abstrakter, interner Programmdiskussion und widmen sich in ihrer politischen Tätigkeit vorrangig deren Realisierung, dem Gewinn strategischer Vorteile oder dem eigenen korporativen Zustand. Leicht erscheinen dann Interessen besonders einflußreicher Gruppen als Projektionen des Gemeinwohls.
In solcher Situation geht den Parteien zwangsläufig ihre verfassungszentrale Fähigkeit zur Integration der bürgerschaftlichen Anschauungen und Wünsche verloren Immer häufiger kommt es dadurch — wie kürzlich bilanziert wurde — „zu Gesetzen, Verwaltungsmaßnahmen und Regierungsentscheidungen, deren Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl zweifelhaft anmutet und die deshalb Widerstand in der Bevölkerung hervorrufen, z. B. auf den Gebieten der kommunalen Neugliederung, der Schul-und Hochschulverfassung, der Berufsschulausbildung, der Sozial-, Steuer-und Verkehrspoli-tik oder der Energiewirtschaft". Hier droht an der empfindlichsten Stelle des Demokratieprozesses eine Kluft aufzubrechen, durch welche „der Staat sich von der Gesellschaft ablöst" und der stete Legitimierungs-und Integrationsfluß vom Volke zu den Staatsorganen abreißt. Der Bürger kann „sich von den Abgeordneten nicht mehr hinreichend repräsentiert fühlen"
5. Die Entwicklung zu sog. „Volksparteien" hat dazu geführt, daß die tatsächlich einflußreichen Parteien nurmehr unpräzise, pauschal-allgemeine Aussagen über ihre Pläne machen können Der Zuschnitt als Massenpartei absorbiert zwangsläufig echte, konturscharfe Auffassungsprofile. Der (vermeintliche) Zwang, dem Wähler auf jeden Fall Geschlossenheit demonstrieren zu müssen, erstickt zudem nicht nur öffentlich geäußerte, sondern auch interne Problematisierung und Kritik rasch. Wegen des schon erwähnten Blockadeeffektes der Fünf-Prozent-Klausel kann diese Versteinerung des politischen Meinungsspektrums auch kaum durch neue Gruppierungen aufgebrochen werden. Folge davon ist, daß der Bürger bei den parlamentarisch vertretenen Parteien vielfach Feststellungen zu den ihn bewegenden, speziellen und vielleicht atypischen Problemen vermißt und wenig prinzipielle Aussagen zu den drängenden, grundlegenden Zukunftsfragen finden kann Die Scheu vor allein sachgetragener Argumentation ohne parteiische Rücksicht-nahmen bedingt einen Verlust an politischer Führung im Staate und läßt allzuoft als Konkretion des Gemeininteresses ausgeben, was tatsächlich nur einen ängstlichen Kompromiß zwischen den stärksten Gruppeninteressen darstellt
Der Befund wird durch einen weiteren Umstand verschärft: Die auf den unterschiedlichen Staatsebenen einander ständig ablösenden Wahlen mit ihrer Bedeutung für den jeweiligen Anteil am Machtbesitz stürzen die Parteien in permanenten Wahlkampf. Den bestehenden Mangel an Alternativen und wirklichen Sachdifferenzen ersetzen sie dabei zunehmend durch massiven Umgangsstil. Verstärkte Polemik, vielfältige Angriffe und Verdächtigungen sowie ein gegenseitiges Bestreiten des Gemeinwohlbezugs erzeugen ein dichtes Klima der Polarisierung und politischen Vergiftung Daß die Bürger sich davon abgestoßen fühlen, erscheint nur natürlich.
V. Schlußfolgerungen
Die beschriebenen Deformationen haben — das läßt sich wohl unumwunden feststellen — zu einer Krise im Parteienwesen geführt. Und da eben die politischen Parteien im repräsentativ-demokratischen Aufbau der Verfassung eine ganz zentrale Rolle innehaben, ist daraus eine allgemeine Krise der Repräsentation geworden. Anders jedoch als gegen Ende der Weimarer Republik, als Arnold Köttgen im verfassungsrechtlichen Kontext von der „Krise der Repräsentation" sprach 86), erscheint dieser Zustand heute reparabel. Mußten damals vor dem Hintergrund einer immer stärkeren, überhaupt parlaments-feindlichen Stimmung grundsätzliche Infrage-stellungen und Pressionen notiert werden, in welche die Repräsentationsträger gerieten, so handelt es sich bei den heutigen Systemstörungen um eher „äußere“, verfahrensmäßige Fehler, die den prinzipiellen Bestand vorerst nicht erschüttern.
Zwei empirische Anhaltspunkte können das vielleicht zusätzlich bestätigen:
1. Ganz offenbar registriert der Bürger jene Verschleißerscheinungen im Parteiwesen als eine Normabweichung. Jedenfalls bemerkt er die Störungen deutlich und verarbeitet sie reaktiv i seiner allgemeinen politischen Verhaltensbereitschaft. Resultat ist eine spürbare Parteienverdrossenheit, wie sie derzeit übrigens mehr oder weniger stark anscheinend in allen westlichen Demokratien verzeichnet werden muß Der Befund läßt sich sogar quantifizieren. Umfangreiche Erhebungen, die der Mannheimer Soziologe Rudolf Wildenmann 1977 anstellte, haben ergeben daß nicht nur fast 30 Prozent der Befragten die Politiker und Verwaltungsbeamten für die privilegierte Gruppe in der Bundesrepublik halten, sondern zugleich über ein Drittel der stellungbeziehenden Bürger (25, 1 Prozent der Wähler bei knapp 30 Prozent Unentschiedenen) dazu neigen, sich künftig bei Wahlen auch einmal von den etablierten Parteien abzuwenden und eine Protestliste zu unterstützen.
Dieses Protestpotential von rund einem Viertel der Wählerschaft macht sich in den Stimmzahlen der Grünen Listen erst relativ eingeschränkt bemerkbar. Denn dort wird mit der rein ökologischen Problemorientierung vorerst nur eine spezielle Alternative angeboten Schon aber treten auch andere Gruppen hervor, die sich nach dem Vorbild der französischen Poujadisten oder der dänischen Glistrup-Vereinigung für künftige Wahlen rüsten: Nach langen Ankündigungen und Drohungen hat nun der Vorsitzende der Deutschen-Steuergewerkschaft, Fredersdorf, eine „Partei der Bürgerfreiheit und Gerechtigkeit, des Umweltschutzes und der Rentensicherung, der Jugendchancen sowie der Würdigung von Haus-und Mütterarbeit in Deutschland und Europa" gegründet, die alle geographischen und politischen Bereiche der Bundesrepublik abdecken soll® Anfang August 1978 wurde in Kassel eine „Partei für Renten-, Steuer-und soziale Gerechtigkeit“ ins Leben gerufen 92); und bereits im Frühling desselben Jahres hat sich in Berlin eine „Deutsche Fortschritts-Bewegung" konstituiert, die allgemein — so wörtlich — der „Großmannssucht der Politiker und der Flut von Formularen und Gesetzen" den Kampf ansagt und sich als eine umfassende „AntiParteien-Bewegung" versteht 93). Ganz deutlich zeigt sich jedoch außerdem, daß es den aufbegehrenden Bürgern (immer noch) darum geht, ihre Ansichten in den bestehenden Entscheidungsgremien und -wegen zu Gehör zu bringen. Das beweist zum einen der Eifer, mit dem sich die Exponenten als Einzelkandidaten oder auf Listen an Wahlen zu den Vertretungskörperschaften beteiligen und man eben allgemein bestrebt ist, sich als wahlfähige Partei zu organisieren. Zum anderen läßt darauf das Zielspektrum der Bürgerinitiativen schließen. So umfassend die Tätigkeitsfelder der verschiedenen Initiativgruppen auch sein mögen — ihre Aktivitäten erstrecken sich nach allen Untersuchungen vorrangig auf die Bereiche Umweltschutz, Städtebau/Verkehr und Erziehung/Bildung durchweg haben sie konkret-aktuelle Stoßrichtung (einsetzen „für etwas" bzw. „gegen etwas und entfalten sich insbesondere auf kommunaler Ebene —, so relativ geschlossen zeigen sie sich, was ihre Vorgehensweisen anbetrifft. Nur rund 2 Prozent der Initiativgruppen agieren gewaltsam Statt dessen sind Informationskam-pagnen und Versammlungen, direktes, beharrliches Ansprechen der zuständigen Entscheidungsinstanzen und -personen sowie in ganz besonderem Maße gerichtliches Vorgehen die probaten Mittel.
2. Es hat durchaus den Anschein, als zeigte das Wirken der Bürgerinitiativen bereits parteispezifische Folgen. Stimmen der Selbstkritik werden aus dem Kreis der Parteien vernehmbar und — z. T. überstürzt — man beginnt, sich von dort der bürgerschaftlich vorgebrachten Fragen neu anzunehmen — insbesondere beim Umweltschutz und der Steuerproblematik wird das momentan deutlich. Allerdings neigen die Parteien wohl vorrangig immer noch dazu, die Bürgerinitiativen zuerst einmal nach ihrer Einspannbarkeit für die eigenen Ziele zu beurteilen Eine behutsame Umorientierung ist jedoch unverkennbar.
Die aufbegehrenden Bürger andererseits scheinen diese Wirkungen ihres Eintretens zu bemerken und überwiegend als zufriedenstellend zu empfinden. Wie anders sonst könnten die freilich wohl noch unsicheren Daten gedeutet werden, welche neuestens einen Rückgang des Protestpotentials zu signalisieren scheinen? Danach soll die Zahl der protestbereiten Bürger von 1975 auf 1977 um rund 20 Prozent zurückgegangen sein Mögen dabei auch phasenweise Schwankungen in der allgemeinen Günstigkeitseinschätzung der politischen Lage und der (staatlich) eigenen Position darin eine wesentliche Rolle spielen, spürbar wird doch, wie weitgehend offenbar (noch) das Erreichen lediglicher Sachverfahrens-und Erkenntniskorrekturen die Motivation der bürgerinitiativen Kräfte erfüllt.
— Verfassungsrechtliches Resümee nach alledem ist, daß das repräsentativ-demokratische System des Grundgesetzes in seinem derzeitigen Zustand durchaus Ansätze für eine Tolerierung, ja Einbeziehung der Bürgerinitiativbewegung bietet Ihre phänotypische Wirkung als Fremdkörper verliert sich, wenn man die Funktionsstörungen des normierten Ablaufes erkennt und die Bürgerinitiativen als Reaktion darauf einordnet. Die Verfassung hat als obersten Souverän aller staatlichen Macht das Volk eingesetzt; bei Fehlentwicklungen im Institutionengefüge'muß also ihm auch das Recht zustehen, auf Abhilfe, auf Wiedererreichung verfassungsmäßiger Abläufe zu dringen.
— Verfassungstheoretisch erscheint das bürgerschaftliche Aufbegehren damit als Ausdruck eines immanenten Selbsthilfepotentials der Demokratie Solange Bürgerinitiativen die natürlichen Träger dieses Aufbegehrens bleiben und nicht wieder ihrerseits von selbständigen, bürgerfremden Interessen übernommen werden solange sie bei ihrem Vorgehen rechtsstaatliche Verhaltensregeln beachten und die eingerichteten Entscheidungswege nicht ausschalten, sondern mit den fehlenden Basisimpulsen ergänzen solange können sie als ein Mittel jenes Demokratiepotentials gelten. — Verfassungspolitisch endlich wirken die Bürgerinitiativen danach für die hier an sich als Mittler eingesetzten Parteien und ihre Mandatsträger als Anstöße zur Regeneration. Wieweit sie von dort als solche allerdings aufgenommen und genutzt werden, wird sich erst erweisen müssen. Unter den genannten Voraussetzungen darf das repräsentative Demokratiesystem der Verfassung sie jedenfalls eher als eine Chance denn als Gefahr sehen.
Der Weimarer Staatsrechtslehrer Richard Thoma hat einmal gesagt: „Die Demokratie ist ein Staat, dessen Souverän man unentwegt anschreien muß, damit er nicht ein-schläft." Daß dies in der Bundesrepublik heute offenbar anders ist und die Bürger eigene Anstöße im erlahmenden Schwung der Demokratie geben, sollte bei aller vielleicht entstehenden Unruhe im Grunde positiv bewertet werden können.