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Die Massenflucht aus Vietnam. Zum historischen Hintergrund | APuZ 36/1979 | bpb.de

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APuZ 36/1979 Moses Mendelssohn. Gedanken zu Toleranz und Emanzipation Menschenrechte in der Deutung evangelischer Theologie Die Massenflucht aus Vietnam. Zum historischen Hintergrund Exodus aus Vietnam

Die Massenflucht aus Vietnam. Zum historischen Hintergrund

Helmut Heinzlmeier

/ 14 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Vietnam sorgt wieder für Schlagzeilen in der Weltpresse. Zu Hunderttausenden fliehen die Menschen aus dem Land. In ihrer Mehrheit sind sie chinesischstämmig. In Südostasien leben rd. 15 Millionen Auslandschinesen. Daß es in den letzten hundert Jahren zu solch massenhafter Auswanderung kam, wurde durch zwei Faktoren bedingt: Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich immer deutlicher der Niedergang des chinesischen Kaiserreiches ab. Die Not der Bauern nahm unbeschreibliche Ausmaße an. Zur selben Zeit wuchs in den europäischen Kolonien Südostasiens der Bedarf an billigen Arbeitskräften. Was lag da näher, als in Form eines kaum verhüllten Sklavenhandels Bauern aus dem verarmten Südchina einzuführen? Sie kamen zu Millionen. Heute beherrschen sie in hohem Maße die Volkswirtschaften Südostasiens. Hanoi verdächtigt sie als mittelständische Klassenfeinde und „Trojanisches Pferd" Pekings. Aber auch in den nichtkommunistischen Staaten der Region steht man ihnen mit Vorbehalten gegenüber. In diesen Vorbehalten vermengen sich Rassen-und Klassenkonflikte in schier unentwirrbarer Weise. In Vietnam lebt die Masse der Auslandschinesen in der Doppelstadt Saigon-Cholon. Was die Flüchtlinge — in zunehmendem Maße auch Vietnamesen — aus dem Land treibt, ist nicht allein Diskriminierung und die harsche Sozialisierungspolitik, sondern insbesondere Hanois Umsiedlungspolitik. Während des 30jährigen Indochinakrieges sind Millionen von Landbewohnern in die Städte geflohen. Hanoi kann diese Massen nicht mehr ernähren und zwingt sie auf das Land zurück. Vor die Wahl zwischen Neulandbearbeitung im Dschungel oder Flucht gestellt, wählen viele Betroffene das letztere.

Letzte UNO-Statistiken weisen weltweit rund dreizehn Millionen Flüchtlinge aus. Die Dunkelziffer in diesen Statistiken ist außerordentlich hoch. Sie liegt in den Millionen. Niemand weiß mit Sicherheit zu sagen, ob allein in Afrika vier oder mehr Millionen Flüchtlinge umherirren. Doch nicht diese Zahlen sind es, die derzeit schrecken. Vielmehr ist es wiederum Vietnam, das weltweit für Schlagzeilen sorgt. Zu Hunderttausenden flüchten die Menschen aus dem Land. Vielfach unter Lebensgefahr, auf seeuntüchtigen Booten. Sie haben vorher hohe Fluchtgelder bezahlt. In ihrer Mehrheit sind es Chinesen — sogenannte Auslandschinesen. Damit wird die Weltöffentlichkeit auf ein Problem aufmerksam, das in der Region schon seit langem schwelt. Ohne seine Kenntnis bleibt vieles am derzeitigen Geschehen unverständlich — sowohl, warum so viele Menschen aus Vietnam flüchten, als auch, warum die Flüchtlinge auf so wenig Hilfe in den Nachbarstaaten stoßen. Zum Verständnis ist ein kurzer Blick in die Geschichte unumgänglich. Auslandschinesen gibt es nicht nur in Vietnam. In allen Staaten Südostasiens lebt eine mehr oder weniger große chinesische Kolonie. Mit der Ausnahme Singapurs — wo sie die Bevölkerungsmehrheit und die Regierung stellt — wird ihr überall mit einem mehr oder minder ausgeprägten Mißtrauen begegnet. Insgesamt leben in der Region nicht weniger als fünfzehn Millionen Auslandschinesen. Schon lange vor der Ankunft der ersten europäischen Seefahrer im 16. Jahrhundert bestanden in Südostasien chinesische Handelsniederlassungen. Ihr Einfluß war jedoch gering. Wohl waren einige jener Staaten im Laufe der Geschichte dem chinesischen Kaiserreich tributpflichtig gewesen, kulturell jedoch war das vorkoloniale Südostasien — mit der Ausnahme Vietnams — stärker von Indien als von China her beeinflußt. Die chinesische Auswanderung nach Südostasien blieb bis in das 19. Jahrhundert hinein gering, nahm dann aber ständig zu.

Kurz nach 1900 erreichte sie einen ersten und bald nach dem Ersten Weltkrieg einen zweiten Höhepunkt. Die chinesische Auswanderung nach Südostasien ist also ein historischer Vorgang allerjüngsten Datums. Erst mit dem Zweiten Weltkrieg ebbte diese Auswanderung allmählich wieder ab.

Warum es zu diesem Massenexodus kam, bedarf einiger Erläuterungen. Dies um so mehr, als die Chinesen aufgrund ihres ausgeprägten Überlegenheitsanspruches, ihres Familien-und Ahnenkultes als ausgesprochen heimat-verbunden galten. Nach dem konfuzianischen Wertekanon war eine Verbannung ins Exil eine schrecklichere Strafe als eine Hinrichtung. Noch bis in das 19. Jahrhundert hinein bestand in China eine tiefe Abneigung gegenüber einem Auslandsaufenthalt. Für Chinesen waren nur asoziale Elemente imstande, ihre Heimat für längere Zeit zu verlassen. Mehrere tiefgreifende historische Ereignisse mußten Zusammentreffen, daß es im 19. und 20. Jahrhundert trotz alledem zu einer chinesischen Massenauswanderung nach Südostasien kam. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich immer deutlicher der Niedergang des chinesischen Kaiser-reichs ab. Die Not der Bauern nahm unbeschreibliche Ausmaße an. Zur selben Zeit wuchs in den Kolonien Südostasiens der Bedarf an billigen Arbeitskräften auf den Plantagen und im Bergbau. Was lag da näher, als in Form eines kaum verhüllten Sklavenhandels Bauern aus dem übervölkerten und verarmten Südchina einzuführen? Sie kamen zu Millionen. Die Existenz der chinesischen Minderheiten in Südostasien ist zu einem Großteil aus diesem Zusammenhang zu verstehen. Die vorkoloniale Gesellschaftsordnung in Südostasien war eine Zweiklassengesellschaft. Eine Klasse — die überwältigende Bevölkerungsmehrheit — waren Bauern. Sie unterhielten mit ihren geringen Überschüssen und durch Dienstleistungen die Aristokratie. In dieser traditionellen Wirtschaftverfassung gab es für Chinesen wenig Möglichkeiten, am Erwerbsleben teilzunehmen. Dazu mußte zuerst die traditionelle Gesellschafts-und Wirtschaftsordnung aufgebrochen werden.

Dies geschah dann im 19. Jahrhundert. Aber nicht durch die Chinesen, sondern durch die europäischen Kolonialmächte. Ihr Kapital mußte, um in den Tropen rentabel arbeiten zu können, vorzugsweise in Großbetrieben — Plantagen und Bergbau — angelegt werden. Dies bedingte zweierlei: Die Großbetriebe bedurften ergänzender Kleinbetriebe, und sie brauchten abhängige Lohnarbeiter. Zu diesen Tätigkeiten war die selbstgenügsame einheimische Bevölkerung selten bereit. In diese Lücken strömten die herbeigeschafften chinesischen Kulis. Sie übernahmen wirtschaftliche Positionen, die weder von der einheimischen Bevölkerung noch von den Europäern ausgefüllt wurden. Die Chinesen wurden — gleichsam als europäische Hilfskräfte — zur Erschließung Südostasiens herbeigeholt. Die Europäer bestimmten die Entwicklung, die Chinesen paßten sich ihr an. Ihre Aufgabe war es, die traditionelle einheimische Wirtschaft an den Welthandel anzuschließen. Sie fügten sich in das vorgegebene koloniale Wirtschaftssystem mit viel Erfolg und Geschicklichkeit ein. Die Chinesen brachten ein hohes Arbeitsethos mit, daß sich unter den politischen und sozialen Bedingungen im Mutterland nicht voll entfalten konnte. In der konfuzianischen Sozialordnung wurden Staatsdienst und Landwirtschaft hoch, Gewerbe und Militär gering geachtet. Der Kaufmann galt gesellschaftlich wenig. Ihm drohte beständig willkürliche Enteignung durch die herrschende Beamtenschicht. Das war einer der Gründe, warum im kaiserlichen China keine dem kapitalistischen Wirtschaftssystem des Westens vergleichbare Entwicklung aufkommen konnte.

Diese Hemmnisse entfielen in Südostasien.

Als aktive Minderheit, losgelöst von sozialen Bindungen und moralischen Hemmungen, die ihnen zu Hause ihr Ruf und der ihrer Familie auferlegt hatte, strebten die Auslandschinesen nach schnellem Gelderwerb.

Sie wollten möglichst schnell möglichst reich werden, um im Alter als wohlsituierte Bürger wieder in die Heimat zurückkehren zu können. Aus dieser weitgehenden sozialen Bindungslosigkeit läßt sich einiges am erstaunlichen Durchsetzungsvermögen der chinesischen Einwanderer erklären. Dazu kam die weitverbreitete Sitte, sich in ebenso undurchsichtigen wie einflußreichen Geheimgesellschaften zusammenzuschließen.

Besondere Sympathien vermochten sich die Auslandschinesen bei alledem in keinem Land Südostasiens zu erwerben. Die Gründe hierfür sind zahlreich. Die rassischen und religiösen, sozialen und kulturellen Unterschiede gegenüber den jeweiligen Gastvölkern sind unübersehbar. Konnten die Auslandschinesen während der Kolonialzeit jedoch noch ein weitgehend unangefochtenes Eigenleben führen, so sind sie seit der Entkolonisierung in allen diesen Staaten mehr oder minder harten Restriktionen ausgesetzt. Der Unabhängigkeitskampf dieser Völker hatte sich nicht nur gegen die koloniale Vorherrschaft der Europäer, sondern vielfach auch — was gemeinhin übersehen wird — gegen die Wirtschaftsdominanz der vorwiegend mittelständischen urbanen Chinesen gerichtet. Nach der Unabhängigkeit wurde ihnen denn auch wiederholt der Vorwurf gemacht, während des antikolonialen Befreiungskampfes auf der Seite der Europäer gestanden zu haben. Ihnen wurde überdies vorgehalten, daß ihre wirtschaftlich führende Stellung nicht zuletzt auch auf die vormalige europäische Protektion zurückzuführen sei. Fortan war es — mit der erwähnten Ausnahme Singapur — das erklärte Ziel aller Regierungen Südostasiens, die wirtschaftliche Vormachtstellung der Auslandschinesen zu brechen. Dieses Ziel zu verwirklichen, ist den einzelnen Staaten Südostasiens bislang nur bedingt gelungen. Ob — bis vor wenigen Jahren — in Kambodscha und Südvietnam, ob — noch heute — in Malaysia oder in Thailand, in Indonesien oder auf den Philippinen; überall ist die wirtschaftliche Stellung der Auslandschinesen — zum Teil in Zusammenarbeit mit Singapur und Hongkong — stark, überdies führt die verschiedentlich betonte Eigenart, die unterschiedliche Sprache, Kultur und Religion der chinesischen Minderheit immer wieder zu Spannungen — vor allem in dem Verhältnis zu den islamischen Malaysiern und Indonesiern.

Doch nicht nur ihre wirtschaftliche ‘Vormachtstellung wird den • Auslandschinesen immer wieder zum Vorwurf gemacht. Auch ihre politische Loyalität gegenüber den jeweiligen Gastvölkern wird oft angezweifelt. Danach sind sie nicht viel mehr als eine „Fünfte Kolonne" Chinas — obwohl Peking seit Jahrzehnten nachdrücklich solche Befürchtungen zu zerstreuen sucht. Es ist vor allem dieses Muster von wirtschaftlichen und politischen Vorbehalten, das die Stellung der Auslandschinesen in Südostasien kennzeichnet. Ohne seine Kenntnis ist kaum recht einzuordnen, warum Hanoi so viele Flüchtlinge ziehen läßt, warum sie andererseits in den Nachbarstaaten so wenig gerne gesehen werden.

In Nordvietnam lebten niemals viele Chinesen. Zuletzt wenig mehr als einhunderttausend. Angesichts der langen gemeinsamen Grenze mag diese Tatsache überraschen. Nichtsdestoweniger gibt es Gründe dafür. Seit altersher besteht im Tal des Roten Flusses ein hoher Bevölkerungsdruck. Er schloß eine Einwanderung chinesischer Siedler aus. Auch gehört Nordvietnam in vielen zum chinesischen Kulturkreis. In diesem Kontext vermochten sich die Chinesen nicht in dem gewohnten Maße durchzusetzen. Auch waren sie hier über ein Jahrtausend lang als Besatzer aufgetreten. Die antichinesischen Vorbehalte Hanois haben eine lange Tradition.

Ganz anders liegen die Verhältnisse in Süd-vietnam. Hier lebten bis vor kurzem über eine Million Auslandschinesen — vorwiegend in der Doppelstadt Saigon-Cholon. In ihrer Mehrheit waren sie erst im Gefolge der französischen Kolonialmacht gekommen. Sehr bald jedoch waren sie zu einer exklusiven Gesellschaft im Lande geworden, die mehr und mehr dessen Wirtschaft zu beherrschen begann: vom Reis-bis zum Opiumhandel, vom Geld-bis zum Mädchenverleih. Schon 1956 hatte der südvietnamesische Präsident Diem der wirtschaftsstarken Minderheit auf dem Verordnungswege die vietnamesische Staatsbürgerschaft aufgezwungen, um ihrer erdrückenden Wirtschaftsdominanz gegenüber wenigstens ein Minimum an gesetzlicher Handhabe zu haben. Der Erfolg blieb begrenzt. Sie wahrte immer eine'gewisse Distanz zu ihrer Wahlheimat.

Nicht zuletzt während des Vietnamkrieges verdienten viele der Minderheit ausnehmend gut. Sie kontrollierten unter anderem den ausgedehnten Amüsierbetrieb — Bars, Bordelle und Heroin — für die Hunderttausende von amerikanischen Gis. Bei ihnen konnte auch der Vietcong Waffen aus amerikanischen Beständen kaufen. Als nordvietnamesische Truppen 1975 in Saigon einmarschierten, ließen sie die chinesischen Geschäftsleute zunächst Weiterarbeiten. Noch für Jahre kontrollierten diese unter anderem den so wichtigen Reismarkt. Zum Bruch kam es erst im Frühjahr letzten Jahres. Hanoi startete eine umfassende Verstaatlichungskampagne.

Gleichzeitig verfügte es eine einschneidende Währungsreform und konfiszierte, soweit sie ihrer habhaft werden konnte, Waren-und Goldbestände der chinesischen Geschäftsleute. Hanoi konnte mit guten Gründen unterstellen, daß es mit diesen Maßnahmen eine Massenflucht der Auslandschinesen auslösen würde.

Die Wirtschaftslage Vietnams ist außerordentlich schlecht. Dafür gibt es im wesentlichen drei Gründe:

Erstens: das Land hat die Folgen der beiden, insgesamt dreißig Jahre währenden, Indochinakriege noch lange nicht bewältigt. Zweitens fällt es Hanoi schwer, das so anders geartete Südvietnam zu integrieren. Drittens bindet der jüngste Konflikt mit Peking neuerlich alle Energien.

Allein der letzte Indochinakrieg hat Millionen von Menschenleben gekostet. Millionen Hektar wertvollen Ackerlandes sind zerstört worden. Millionen Tonnen Bomben haben Infrastruktur und Industrie Nordvietnams schwer getroffen. Zurück blieben — vor allem in Südvietnam — Millionen von Arbeitslosen, Hunderttausende von Witwen, Waisen und Invaliden. Hinzu kommt, daß die Wirtschaftsstrukturen Nord-und Südvietnams völlig verschieden sind. Eine Gleichschaltung erweist sich als außerordentlich schwierig. Letztlich am schwierigsten ist es jedoch für Hanoi, die so andere Mentalität der Südbevölkerung dem mönchischen Puritanismus des Nordens anzupassen, aus Kostgängern des Kapitalismus stramme Kommunisten zu machen, eine Konsum-in eine Produktionsgesellschaft umzuwandeln.

Südvietnam erlebte in den langen Jahren des amerikanischen Indochina-Engagements eine wirtschaftliche Scheinblüte. Ungezählte Milliarden amerikanischer Hilfsgelder verhalfen der Stadtbevölkerung — im Unterschied zu der Landbevölkerung — zu einer gewissen Prosperität. Noch für die Ärmsten fiel etwas ab. Auch in den Vorstadt-Slums fanden sich noch ein Fernsehgerät und ein Motorrad. Für die öl-, aber auch die wachsenden Nahrungsmitteleinfuhren sorgte Washington. Damit ist es heute vorbei. Das fiel insofern nicht unmittelbar auf, als der Norden eine Art von dreijähriger Ubergangsfrist gewährte. Zum Teil ließ sich noch aus US-Beständen leben. Mittlerweile greift Hanoi hart in die Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung Südvietnams ein. Seine Hand lastet schwer auf dem Land. Vielfach wird in Saigon erst jetzt bewußt, daß der letzte Krieg endgültig vorbei ist. Mittlerweile kann auch davon ausgegangen werden, daß nicht nur die besonders hart getroffene chinesische Minderheit, sondern auch — etwas überspitzt ausgedrückt — ganz Saigon zur Auswanderung bereit ist. Wie alle großen Städte hat es seine gesamte Lebensweise zu ändern. Vietnam wird wieder das, was es vor dem Krieg war: ein vorwiegend agrarisches Entwicklungsland. Dagegen stellen sich die Betroffenen. Die vage, aber nichtsdestoweniger weitverbreitete und antriebsmächtige Zielvorstellung ist, irgendwie nach Kalifornien zu gelangen.

Besonders hart von diesem Wandel getroffen ist die Jugend Saigons. Zeit ihres Lebens hat sie — im Gefolge des amerikanischen Engagements — nicht viel anderes gelernt als schnell und viel Geld zu machen. Heute ste-hen viele ohne Berufsausbildung da. Auf sie stößt man auch heute noch allenthalben in Saigon. Frühmorgens im Kino, nachmittags — mit und ohne Honda — im Cafe am Straßenrand. Der Schwarzmarkt blüht noch immer. Nicht nur mit Waren aus alten US-Beständen. Mtitlerweile tauchen auf dem Markt auch eingeschmuggelte Waren aus Hongkong auf. Der lange Indochinakrieg hat eine ganze Generation heimatlos gemacht. Was das sozialpsychologisch für das Land bedeutet, ist bis heute auch nicht annäherungsweise abzuschätzen. Was in Südvietnam schreckt, ist nicht nur die harsche Sozialisierungs-, sondern auch die Umsiedlungspolitik Hanois. Sie soll nicht nur die — mehr oder weniger für alle Staaten Südostasiens charakteristische — soziale Distanz zwischen Stadt und Land ausgleichen und das hoffnungslos überbevölkerte Rote-Fluß-Delta Nordvietnams entlasten; für sie sprechen auch einige Wirtschaftsdaten: 1960 lebten rund fünfundachtzig Prozent der Bevölkerung Vietnams auf dem Land. Dann kam der zweite Indochinakrieg. Nicht weniger als zehn Millionen Menschen flohen aus ihrer angestammten Heimat — vorzugsweise vom Land in die Städte. Allein Saigons Einwohnerzahl stieg von über einer auf vier Millionen. In den letzten Jahren lebten weit über vierzig Prozent der Gesamtbevölkerung in den Städten. Ein Land wie Südvietnam — bis 1965 noch Reisexporteur — muß alljährlich viele Hunderttausende von Tonnen Reis einführen. Das kann sich Hanoi auf Dauer nicht leisten. Absicht ist, etwa fünf Millionen Menschen wieder auf dem Land anzusiedeln. Die Bedingungen sind überaus hart.

Betroffen davon ist in zunehmendem Maße auch die Mittel-und Oberschicht Südvietnams. Die Zahl der dieser Schicht zugehörigen Menschen wird auf bis zu zwei Millionen geschätzt. Vielfach sind es Ärzte, Professoren, höhere Beamte und Journalisten. Sie hatten sich während des Thieu-Regimes politisch nicht sonderlich engagiert. Sie hatten auf eine adäquate Verwendung beim Wiederaufbau des Landes gehofft. Heute wird in ihnen nicht zuletzt der Klassenfeind gesehen.

Schon vor dem gegenwärtigen Massenexodus sprach vieles dafür, daß Hanoi jene, die den existentiellen Wandel im Lande scheuten, nicht ungern ziehen ließ. Schon im letzten Jahr suchten sich Hunderttausende Südvietnamesen dem Zugriff der neuen Herren aus Hanoi durch die Flucht zu entziehen. Zu einem nicht geringen Prozentsatz waren und sind es — wie auch immer definierte — städtische Mittelschichten, die diesen gefährlichen Fluchtweg wählen. Hanoi sucht des Problems der überbevölkerten Städte nicht zuletzt dadurch Herr zu werden, daß es sie zur Umsiedlung auf das Land zwingt. Von dieser Politik ist insbesondere die chinesische Minderheit betroffen. Nicht nur, weil sie vorzugsweise in Städten lebt — die Doppelstadt Sai\gon-Cholon war einst nach Singapur die größte chinesische Stadt Südostasiens —, sondern auch, weil sie mittlerweile zum Spielball im vietnamesisch-chinesischen Konflikt geworden ist. Dieser Konflikt hat nicht nur eine jahrtausendealte Geschichte, er ist auch in seiner aktuellen Brisanz schlechterdings nicht zu überschätzen. Die beiden kommunistischen Staaten kämpfen um die Vorherrschaft in Indochina. Dieser Zielsetzung ordnet Hanoi all seine Politik unter. Es ist auf die Auseinandersetzung mit. Peking fixiert — wie einst in seinem Kampf gegen Frankreich und die USA.

Fast zweitausend Jahre lang war Nordvietnam chinesische Kolonie beziehungsweise den Chinesen tributpflichtig. Das entsprach — im chinesischen Selbstverständnis — dem konfuzianischen Unterördnungsverhältnis vom jüngeren zum älteren Bruder. Einiges in der neuesten chinesischen Politik spricht dafür, daß auch das kommunistische Peking an dieser Zuordnung festzuhalten trachtet. Es sieht in Indochina seine Einflußsphäre. Als Hanoi dem gegensteuerte, reagierte Peking heftig, so heftig, daß es Gefahr läuft, das zu bewirken, was es unter allen Umständen zu vermeiden sucht: eine weitergehende Annäherung Hanois an Moskau. Der lachende Dritte im vietnamesisch-chinesischen Konflikt sind die Russen. Doch auch für sie ist dieser Gewinn nicht kostenlos. Der Kapitalbedarf des Entwicklungslandes Vietnam ist schier unerschöpflich.

Es gibt nicht wenige nachdenkliche Stimmen in Asien, die es bedauern, daß es nicht schon im vergangenen Jahr zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Washington und Hanoi gekommen ist. Damit hätten Vietnam in seiner Politik Alternativen offengestanden. Damit hätte Washington heute auch mehr Möglichkeiten, auf die Flüchtlingspolitik Hanois Einfluß auszuüben.

Aus vietnamesischer Sicht nahm sich das chinesische Engagement für das kambodscha-nische Pol-Pot-Regime wie ein Zangenangriff aus. Dies um so mehr, als Hanoi kaum hoffen kann, das unruhige Südvietnam in den Griff zu bekommen, wenn im benachbarten Kambodscha eine feindliche Regierung an der Macht ist. Ein Blick auf die Landkarte macht das deutlich. Hanoi ist nur durch einen vergleichsweise schmalen Landstreifen mit dem fernen Saigon verbunden. Südvietnam seinerseits hat eine lange gemeinsame Grenze mit Kambodscha. Sie ist gleichermaßen für Infiltration und Rückzug geeignet. Das mindeste, was Hanoi deshalb erwartete, war eine ihm freundlich gesinnte Regierung in Phnom Penh und Reislieferungen. Zu beidem war Pol Pot nicht bereit. Es spricht einiges dafür, daß Hanoi die anhaltende negative Reaktion der Weltöffentlichkeit auf seinen Einmarsch in Kambodscha nicht voraussah. Jahrelang hatte Pol Pot in der westlichen Presse als menschliches Scheusal gegolten. Von dieser Aburteilung hoffte Hanoi zu profitieren.

In dieses komplexe Spiel der nationalen Interessen ist die chinesische Minderheit in Vietnam geraten. In Hanoi gilt sie als mittelständischer Klassenfeind und „Trojanisches Pferd" Pekings. Diskriminiert, bleibt ihr — aber auch einer wachsenden Zahl von Vietnamesen — allein die Wahl zwischen Neulandbearbeitung im Dschungel oder Flucht.

Hanois Flüchtlingspolitik läßt sich mit nichts entschuldigen. Das ist Massenmord. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, daß ein Drittel der Bootsflüchtlinge auf der Überfahrt umkommen. Trotzdem ist eine Lösung dieses Problems nur im Gespräch mit Hanoi zu finden. Zugeständnisse sind wohl unumgänglich. Das ist nicht das einzige Dilemma in dieser Tragödie. Hanoi anzuhalten, den Flüchtlingsstrom — soweit es dazu in der Lage ist — abzustoppen, kann für Ungezählte den Tod bedeuten.

Tödlich in dieser Flüchtlingstragödie ist aber auch einiges am Verhalten der benachbarten nichtkommunistischen Staaten. Sie alle haben einst mehr oder weniger offen das amerikanische Engagement in Vietnam begrüßt. Thailand und die Philippinen haben eigene Truppenkontingente entsandt. Sie alle — ob Taiwan oder Singapur — haben viele Jahre lang als Etappe Milliarden am Vietnamkrieg verdient. Da nimmt es etwas wunder, wenn sie sich nunmehr für die Folgen des Krieges für unzuständig erklären.

Rund zweihundertfünfzig Millionen Menschen zählen die in dem Staatenbund ASEAN zusammengeschlossenen Länder Thailand, Malaysia, Indonesien und die Philippinen. Einige Hunderttausend Flüchtlinge habendortmittlerweile Zuflucht gesucht. Viele Zehntausende sind wieder über die Grenze abgeschoben oder aufs Meer hinausgeschickt worden. Das läßt sich nicht damit rechtfertigen, daß diese Länder mit der Aufnahme der Flüchtlinge finanziell überfordert seien. Ob Thailand oder Malaysia — keine der Regierungen mußte bislang eine Mark an unmittelbaren »Kosten für die Flüchtlinge aufbringen. Diese werden voll von den UNO-Organisationen übernommen.

Das Ganze ist denn auch keine Kosten-, sondern eine politische Frage. Die Masse der Flüchtlinge sind Auslandschinesen. Sie sind eine ungeliebte Minderheit in Südostasien. Nicht einmal das vergleichweise wohlhabende Singapur — der Staat der Auslandschinesen — ist ihr gegenüber zu minimalem humanitärem Entgegenkommen bereit. Auf den indonesischen Anambas-Inseln hungern Zehntausende. In Malaysia, wo sie weit mehr sind als nur eine Minderheit, berührt die Zuwanderung das komplizierte Rassenverhältnis im Lande. Trotzdem bleibt die Tatsache, daß die millionstarke chinesische Bevölkerungsgruppe wohl bereit und in der Lage wäre, die angelandeten fünfundsiebzigtausend Flüchtlinge zu integrieren. Sie wagt es jedoch nicht. Als vor wenigen Jahren weit über einhunderttausend Menschen aus den Südphilippinen flohen, nahm sie Kuala Lumpur auf, da es malaiische Moslems waren. Auch Thailand schockierte, als es über vier-zigtausend kambodschanische Flüchtlinge zurückschickte, während es gleichzeitig Zehntausenden von bewaffneten Pol-Pot-Anhängern das Grenzland als Rückzugsgebiet zuge-stand.

Einzig Hongkong scheint in dieser Reihe ein Gegenbeispiel abzugeben. Fünfundachtzigtausend Flüchtlinge sind dort gelandet. London hat seiner Kronkolonie dafür noch kaum finanziell geholfen. Trotzdem scheint Hongkong bereit, auch diese Massen noch zu integrieren — vorausgesetzt, es erhält tatkräftige westliche Hilfe. Sie ist bei dem Strom von Flüchtlingen ohnehin in noch viel stärkerem Maße als bislang nötig.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Helmut Heinzlmeier, Dr. phil., geb. 1938; Studium der Politikwissenschaft; Forschungsaufenthalt in Südostasien; Wissenschaftler und Publizist. Veröffentlichungen u. a.: Die amerikanisch-sowjetischen Auseinandersetzungen um den Indischen Ozean, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 51— 52/75; Der Konflikt am Horn von Afrika, ebd., B 16/78; Indonesische Außenpolitik nach Sukarno, 1965— 1970, Institut für Asiehkunde, Hamburg 1976 (Mitautor); Welt-und Großmächte, westermann-colleg, Braunschweig 1979; zahlreiche Aufsätze u. Beiträge in Zeitschriften und Sammelbänden, u. a,: Probleme Südafrikas; Domino-stein Thailand?; Ökologie in der Dritten Welt'am Beispiel der Bergregionen; Erdöl in China; Großmachtinteressen in Südostasien; Der Indische Ozean in der Weltpolitik; Islam in Indonesien.