Die Diskussion um die Berechtigung und die Richtigkeit — oder um das Gegenteil — der Emanzipationsbestrebungen der Juden in Deutschland ist, seitdem es diese Emanzipation gibt, nie unterbrochen worden. In gewissem Sinn gehörte sie sogar als integrierter Bestandteil zum emanzipatorischen Geschehen selbst, denn im ständigen Befragen aller Aspekte der Assimilation, der Akkulturation, der Selbstverwirklichung der Juden spielte die Diskussion innerhalb der Judenheit selbst wie im jüdisch-christlichen Raum eine fruchtbare und fördernde Rolle. In ihren besten Bereichen wurde die Diskussion zum Dialog, der allen Beteiligten half, sich selbst und andere zu verstehen und so die Interessen aller zu fördern, und der damit weit über den Kreis christlich-jüdischer Beziehungen hinauswirkte
Wenn einleitend gesagt wurde, die Diskussion sei nie unterbrochen worden, so muß eine große Einschränkung gemacht werden. Der Nationalsozialismus brachte das Ende des Dialogs, das Ende aller möglichen Diskussion im deutsch-jüdischen Zusammenleben ebenso wie in fast allen anderen emanzipatorischen Bestrebungen, z. B.der arbeitenden Klassen und der Frauen. In keinem Bereich waren jedoch die Folgen verheerender und grauenhafter als im jüdischen. Hier können nicht alle Aspekte der nazistischen Verfolgung und Ausrottung der Juden wiederholt werden; sie haben sich ereignet, und die Geschichte, vor allem die Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses, kann an Auschwitz nicht vorbei.
Ist also Auschwitz ein unwiderruflicher Schlußpunkt? Ist alles,, was vorher gewesen war, nur Auschwitz zu nun noch an messen? Es scheint, als könne man ein Moses-Mendelssohn-Jubiläum gar nicht mehr feiern, als sei die Epoche zwischen dem Leben des jüdischen Emanzipators und dem Vertreiben der Juden und dem Mord an Hunderttausenden deutscher und Millionen anderer Juden vielleicht doch nur eine Zeit der Irrungen und Wirrungen, die Emanzipation ein Versuch mit untauglichen Mitteln gewesen
Diese Unsicherheit in der Beurteilung der Geschichte der deutsch-jüdischen Beziehungen in den rund 150 Jahren von Moses Mendels-sohn bis 1933 spiegelt sich vielfältig in Veröffentlichungen über diesen Zeitraum. Vor allem bei Schriften aus dem nicht-jüdischen Bereich kann man zwei scheinbar unterschiedliche Tendenzen feststellen, die jedoch grundsätzlich das gleiche erreichen: Entweder werden die Beiträge der Juden und der jüdischen Gemeinschaft zu Entwicklungen verschwiegen, oder die Beziehungen Juden— Nichtjuden werden ausschließlich unter dem Aspekt des Antisemitismus betrachtet, wobei der Eindruck entsteht, die jüdische Geschichte im deutschen Bereich sei eine ununterbrochene Kette von Verfolgungen gewesen; kraß ausgedrückt: gleich nach dem Ghetto kam Hitler Und so sehr man eine Besinnung der Öffentlichkeit auf die Verfolgung und Ausrottung der Juden durch die Fernsehserie „Holocaust" begrüßen möchte, so stark scheint doch die Gefahr zu sein, daß durch sie eine sachlichere Beschäftigung mit der Geschichte der Juden in Deutschland vor 1933 erschwert wird
Befinden wir uns also in einem unlösbaren Dilemma, einer Sackgasse? Fast möchte es so scheinen. Das liegt einmal daran, daß das Schlagwort vom „Deutschland ohne Juden" eine gewisse Berechtigung hat. Die heute in Deutschland lebenden jüdischen Menschen haben zum großen Teil mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit, wenig oder nichts mehr zu tun. Man muß also die bittere Wahrheit anerkennen, daß die Geschichte der „großen Emanzipation" auf deutschem Boden durch Hitler zu Ende gegangen ist. Diese Wahrheit darf jedoch nicht zu dem Fehlschluß verleiten, daß es eine solche Geschichte nie mehr geben wird. Es wird in Zukunft weiterhin jüdische Gemeinden in Deutschland und deutsche Mitbürger geben, die Juden sind Aber nicht für sie allein muß die Geschichte der Juden in Deutschland seit Moses Mendelssohn erforscht und behandelt werden; weit wichtiger erscheint dies für die heute und künftig lebenden Deutschen, die ihre eigene Geschichte und die Geschichte der Wirkung von Ideen und Idealen kennen lernen wollen
Nun haben Ideen und Ideale heute keinen hohen Stellenwert mehr — man möchte sogar unterstellen, daß man sich dem Vorwurf von Altmodischkeit und Konservativismus aussetzt, wenn man sich auf Ideen oder Ideale beruft. Erst vor wenigen Jahren machte sich im Geschichtsunterricht, der bezeichnenderweise zumeist nicht einmal mehr diesen Namen trug, die Tendenz bemerkbar, geschichtliche Vorgänge Von der eigenen Warte her unnachsichtig zu beurteilen. In der Vergangenheit Erreichtes wurde an den Forderungen der eigenen Zeit gemessen — entsprach es dem nicht, so wurde es kraß als unzureichend verurteilt. Es entwickelte sich eine Intoleranz der Vergangenheit gegenüber, die aller geschichtlichen Entwicklung Gewalt antat und sogar zu einer gewissen „anti-historischen" Haltung führte.
Daß eine solche Einstellung gerade einem Zeitraum gegenüber, der voll von widerstrebenden, fast einander sich ausschließenden Entwicklungen war, wie derjenige von der Aufklärung an bis weit in die Gegenwart hinein, verheerende Folgen für das Verständnis dieser Zeit hat, liegt auf der Hand. Eine Verallgemeinernde Betrachtung, eine Geschichtsbeurteilung durch Schlagworte, wird den Menschen, die in der Vergangenheit lebten und strebten, nie gerecht werden. So beginnt also die von Moses Mendelssohn geforderte Toleranz zuerst bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit.
Toleranz bedeutete für Mendelssohn das Akzeptieren des anderen ohne die Tendenz der Veränderung — in seinem höchst persönlichen Fall die Akzeptierung als Mitbürger und Mitmensch ohne Taufe. In welch starkem Maße Mendelssohns Umwelt durch die Idee und die Realität des christlichen Staates geprägt war, ist für die heute Lebenden nur schwer nachzuvollziehen. Für die meisten Menschen war damals der Gedanke, man könne ein guter Bürger sein, ohne Christ zu sein, kaum vorstellbar. Mindestens ebenso schwierig war für eine Reihe jüdischer Zeitgenossen Mendelssohns der Gedanke, sich aus dem engen Umkreis des Judentums zu lösen und trotzdem ein guter Jude zu bleiben. Man kann die große Leistung Mendelssohns nur ermessen, wenn man die Voraussetzungen seiner Mit-und Umwelt in die Beurteilung der Leistung miteinbezieht.
Sicher stand Moses Mendelssohn in seinem Kampf nicht allein. Doch wer waren die Mit-'Streiter? Sie gehörten keineswegs zu den Mächtigen der Zeit; die „Lobby" der deutschen Aufklärer konnte sich nur durch Wort und Schrift, die noch dazu — trotz aller gegenteiligen Behauptungen — einer gewissen Zensur unterlagen Gehör verschaffen. Rein quantitativ erreichten sie auch nur recht wenige Menschen. Realpolitisch gesprochen, hatten die Aufklärer um Mendelssohn, hatte Mendelssohn selbst kaum eine Chance. Und doch hat dieser Mann zusammen mit anderen mehr zur geistigen und politischen Entwicklung der Juden und der Deutschen beigetragen als viele Mächtige dieser Welt
Das philosophische Werk Mendelssohns gehörte schon am Ende seines Lebens der Vergangenheit an. Lebendig blieb der Einfluß seiner Persönlichkeit und seiner Ideale. In dem Maß, in dem sich jüdische Menschen in Deutschland als Juden und als Deutsche fühlen konnten — und man soll nicht übersehen, daß dies bei Hunderttausenden der Fall war —, in dem Maß fühlte man, daß die historische Mission Mendelssohns nicht umsonst gewesen war. Selbst die Befürchtungen, die Emanzipation könne zu einer völligen Aufweichung alles Jüdischen führen, erwiesen sich als kaum berechtigt. Die Zahl derjenigen, die durch Taufe oder als Dissidenten der Religionsgemeinschaft der Juden verloren gingen, war zwar nicht gering, wurde jedoch nie für die Existenz dieser Gemeinschaft bedrohlich
Nun sollen die der Emanzipation entgegenstehenden Tendenzen, vor allem der Antisemitismus, nicht unterschätzt werden. Wenn auch, wie Eva Reichmann betont, die Emanzipation, die Judenfrage nicht löste, sondern die Spannungen von der rechtlichen auf die gesellschaftliche Ebene verlagerteu), so darf die Geschichte der Juden jedoch nicht allein als eine Geschichte des Antisemitismus geschrieben werden Im Antisemitismus muß vielmehr ein Element dauernder Bedrohung gesehen werden, wobei die Gegner des Rassenwahns die besseren Argumente, nicht jedoch, vor allem nicht in der jüngsten Vergangenheit, die stärkeren politischen Positionen hatten.
Weiter oben wurde davon gesprochen, daß die Gegenwart zum Teil dem Gedanken an die reale Macht von Ideen und Idealen skeptisch gegenübersteht. Wenn man jedoch den unheilvollen Einfluß negativer Ideen — so z. B.des Antisemitismus — im Laufe der Geschichte verfolgt und erforscht, ist man dann nicht geradezu verpflichtet, der Entwicklung positiver Ideale nachzuforschen und sie auf ihren Einfluß und ihre Möglichkeiten hin zu untersuchen? Auch die Idee der Toleranz, der Inhalt dieses Wortes war Wandlungen unterworfen, Mißdeutungen ausgesetzt. Vor allem in Zeiten, in denen das „Alles oder Nichts" regierte, in denen das Wort vom „Und willst Du nicht mein Bruder sein, so hau’ ich Dir den Schädel ein" grausame Wirklichkeit wurde, erhielt der Toleranzbegriff einen Akzent von Schwächlichkeit einerseits und geistigem Hochmut andererseits, der es Späteren schwer machte, das Wort erneut vorurteilsfrei zu gebrauchen.
Es erscheint also angebracht, sich wiederum an den ursprünglichen Begriff der Toleranz zu erinnern: das Akzeptieren des anderen ohne die Tendenz der Veränderung. Diese Einstellung entspricht in keiner Weise einem kläglichen „Alles Verstehen ist alles Verzeihen", sondern sie entspringt der Überzeugung, daß man alle Voraussetzungen kennen muß, um den anderen zu verstehen und zu akzeptieren. Moses Mendelssohn lebte in einer christlich geprägten Umwelt, die sich Tugend ohne Christsein nicht vorstellen konnte. Daß es Menschen gab, die Mendelssohn in seinen Bestrebungen unterstützten, beweist, daß jede Umwelt Veränderungsmöglichkeiten in sich trägt, selbst wenn diese für die meisten Mitlebenden nicht vorausschaubar sind.
Heute bestehen andere und nicht etwa leichtere Probleme. Es gibt nicht mehr nur eine festgefügte Umwelt, sondernUmwelten en mässe. Dies sollte dazu führen, daß man gegen jeden Alleinvertretungsanspruch skeptisch zu sein hat, ohne jedoch die guten Gründe, die zu diesem Anspruch führen, von vornherein zu verwerfen. Es kann nur der tolerant sein, der für sich selbst eine feste — was nicht heißt starre — Basis gefunden hat, die ihm die Toleranz anderen gegenüber ermöglicht. Die Pflicht zur Toleranz endet nur dort, wo sie der eingefleischten Intoleranz begegnet. Diese rechtzeitig zu erkennen und zu bekämpfen, ist auch Pflicht und Aufgabe der Toleranten. Intoleranz in verbrecherischer Form hat zu Auschwitz geführt, nicht eine Emanzipation, die auf den Begriffen der Menschenwürde und der Toleranz aufgebaut war. Und dies ist die Lehre, die heute noch aus dem Leben und Wirken von Moses Mendels-sohn zu ziehen ist.