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Kampf um Lebensraum". Karl Haushofers „Geopolitik" und der Nationalsozialismus | APuZ 34-35/1979 | bpb.de

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APuZ 34-35/1979 Der Weg in den Krieg. Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik Kampf um Lebensraum". Karl Haushofers „Geopolitik" und der Nationalsozialismus Zum Verhältnis von Geschichts-und Politikunterricht. Politische Bildung im Fächerverbund

Kampf um Lebensraum". Karl Haushofers „Geopolitik" und der Nationalsozialismus

Hans-Adolf Jacobsen

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Zusammenfassung

Der heute noch gebräuchliche Begriff „Geopolitik" ist eng mit dem Namen Karl Haushofer, bayerischer General, Universitätsprofessor und Lehrer von Rudolf Heß, verbunden. Aus Haushofers Sicht war Geopolitik die Wissenschaft von der Weltpolitik, eine interdisziplinäre Methode, mit der die politische Wirklichkeit beschrieben und erklärt werden konnte und deren Erkenntnisse für das politische Handeln genutzt werden sollten. Geopolitik war so ein Mittel zum Zweck, zum Wiederaufstieg Deutschlands zur Weltmacht, zum „Kampf um Lebensraum". Zweifellos hat Haushofer für Hitler und Heß Denkanstöße gegeben und deren Weit-sicht beeinflußt, doch wurden seine Ideen von Hitler dogmatisch weiterentwickelt und radikalisiert: Während Haushofer vornehmlich die Volksgrenzen und Staatsgrenzen der damaligen Zeit zur Deckung bringen wollte, war das für Hitler nur eine Etappe zur Neuordnung des europäischen Kontinents. Zwar sah auch Haushofer den „Kampf um Lebensraum" nicht nur defensiv, doch war sein Ziel eben die „Wiedervereinigung der Volkheit". Auch er schloß den Krieg als Mittel der Politik nicht aus; Hitler hin-, gegen sah im Krieg das legitime Mittel zur Erweiterung des Lebensraumes auf Kosten anderer. Und wenn Haushofer auch anfänglich die nationalsozialistische Politik begrüßte, so waren doch seine Endziele nicht mit denen Hitlers identisch. Dessen Zielsetzung, das Judentum und den Marxismus zu vernichten, widersprachen Haushofers Vorstellungen von Politik. Er wollte keine deutsche „Herrschaft der Bajonette" in Europa und war gegen den Krieg mit der Sowjetunion. 1939 hat er das Unheil schon geahnt, 1940 wurde es ihm zur Gewißheit. Doch um noch etwas zu ändern, war es jetzt zu spät. So hat Haushofer — trotz seiner späteren Distanzierung — einen Beitrag zur Glaubwürdigkeit der NS-Politik geleistet, einer Politik, deren konkrete und radikalisierte Ausprägung er keinesfalls gewollt hatte.

Der heute noch immer gebräuchliche Begriff . Geopolitik" ist unlösbar mit dem Namen Karl Haushofer (1869— 1946), bayerischer General, Professor an der Universität München und Lehrer von Rudolf Hess, des ehemaligen „Stellvertreters des Führers“, verbunden. Das Schicksal dieses Mannes, der nach der Ermordung seines Sohnes und Widerstandskämpfers Albrecht durch die Gestapo, dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches" und dem Scheitern seines wissenschaftlichen Werkes zusammen mit seiner Frau Martha 1946 freiwillig aus dem Leben schied, war ebenso ungewöhnlich wie widerspruchsvoll. Noch mit fünfzig Jahren hat der Geopolitiker — auch für seine Epoche eine Ausnahme — das Schwert mit der Feder vertauscht und in über 500 Artikeln, Rezensionen und Büchern „Gesetze" der Weltpolitik aus dem engen Blickwinkel geographischer Bedingungen zu analysieren versucht.

Nachdem der ganze Nachlaß des Generals und Professors der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung steht, ist es möglich, zahlreiche Fragen, die mit seinem Lebens-schicksal und seinen Ideen verbunden sind, besser als früher zu beantworten. Diese Ideen sind vor allem durch den Dienst in der bayerischen Armee, den längeren Aufenthalt >n Japan (1908— 1910), die Teilnahme am Ersten Weltkrieg und durch die Rolle als Universitätsprofessor, Volkstumkämpfer und Politikberater in den dreißiger Jahren geprägt worden

Die Schwierigkeiten, den Begriff „Geopolitik", seine wirkliche Bedeutung im Denken von Haushofer, unmißverständlich zu präzisieren, liegen vor allem darin begründet, daß die Repräsentanten dieser neuen „Wissenschaft" in Deutschland keineswegs einheitliche Vorstellungen von ihrem Forschungsobjekt besaßen und ihr führender Kopf sich über diesen häufig widersprüchlich oder zweideutig geäußert hat. Von Anfang an bestanden auch zwischen Vater und Sohn (Albrecht) Differenzen in der Frage, ob die „Geopolitik" überhaupt eine „Wissenschaft" sei. Albrecht Haushofer — seit 1940 Professor für politische Geographie und Geopolitik in Berlin — hat dies bezweifelt. Vor allem hat er klar erkannt, daß sein Vater „kein Systematiker" war. In seinem am Ende des Zweiten Weltkrieges fertiggestellten Lehrbuch zur politischen Geographie und Geopolitik, das posthum 1951 veröffentlicht wurde, hat er die Unterschiede zwischen seinen Auffassungen und denen seines Vaters herausgearbeitet.

Wurzeln geopolitischen Denkens Wer versucht, die Genesis der geopolitischen Entwicklung von K. Haushofer zu analysieren, wird vielleicht vier Wurzeln erkennen können. Sehen wir einmal von seinen speziellen Neigungen in der Schule und im Elternhaus ab, so war die eine seine Erfahrungen als Soldat in Bayern, was er später als die „wehrgeographische Durchdringung" (d. h. Festlandsdenken oder bodenfest) bezeichnet hat. Die zweite waren seine tiefen, lebhaften, später vielfach übersteigerten Eindrücke von Japan und seinen Reisen durch einige Länder Asiens (Entwicklung des ozeanischen Weltbildes). Als dritte kann sein intensives Studium der Werke von Ratzel, Carl Ritter, F. v. Richthofen und insbesondere von R. Kjellen genannt werden. Dessen Buch „Der Staat als Lebensform" (1917) hat ihn „im höchsten Grad" gefesselt, so daß er seiner Frau begeistert schrieb: „Das jst die Problemstellung geradezu für meine wissenschaftliche Alters-Arbeit . . . Geopolitik: Versuch einer vergleichenden Staatenkunde! Das wäre ein Vorlesungstitel, der das umfaßt, was mich reizen würde — ein Gebiet von Geographie, Geschichte, der veralteten Staatswissenschaften, der Völkerpsychologie und Anthropolo-gie begrenzt, selbständigen Wachstums fähig." „Und", so fügte er hinzu — damit wird die vierte Wurzel angedeutet, die schließlich in seinem ganzen geopolitischen Denken zu dominieren begann — ...... bitter nötig für unser . tumbes Volk', damit es nicht wiederum von politischen gerisseneren Gegnern um die Früchte seiner Tüchtigkeit und seiner schweren blutigen Opfer geprellt" werde. Später hat K. Haushofer geradezu von einer „Geburt der Not" (Versailles; europäische Mittellage des Deutschen Reiches) gesprochen. Und in einem Entwurf zu seiner Antrittsvorlesung 1919 hat er in diesem Zusammenhang betont, daß es die „Geopolitik" — hier noch als „Leitwissenschaft angewandter Volks-Wehr-Kunde" bezeichnet — nach dem Kriege geben müsse, damit das deutsche Volk seine Wehr-kraft, Wehrdauer und den Wehrwillen sowie die Wehrkraft seiner Nachbarn besser erkennen lerne als „unser Volk, ehe es die Probe zu bestehen hatte". Sie müsse jedoch „angewandt" sein, um ein „Volk zu einer bewußten Diätetik (d. h. gesunden . . . Weise) seiner Lebensform, eben seines Staates zu bringen, anstelle der instinktiven und empirischen, über die wir nur zum großen Teil verfügt" hätten, und diese könne gar nicht „volkstümlich" genug sein, denn „die Massen haben letzten Endes über die Mittel der Diätetik zu entscheiden und müssen in die Lage gebracht werden, selbst die Gesetze zu erkennen, nachdem sie über die harte Erziehung hierzu hinauswachsen wollen und schon gewachsen sind". Seiner Meinung nach war „angewandte Volkswehrkunde" das „wichtigste Mittel der unentbehrlichen politischen Selbsterziehung" eines selbstverantwortlichen Volkes.

Zweifel am wissenschaftlichen Charakter Aber bei allem Bestreben, die „Geopolitik" in Wort und Schrift zu einem „mächtigen Kampfmittel" zu formen, sie als geistige Waffe im Ringen um die Wiedererlangung der deutschen Weltmachtstellung einzusetzen und sie daher in den Mittelpunkt einer staatlich geförderten politischen Bildung zu stellen, um eine „einheitliche Linie des Handelns und Wollens“ der Deutschen zu gewährleisten — was K. Haushofer auch einmal als „Baugrund für den Tempel einer neuen Religion von den notwendigen Zukunfts-Lebensformen der Menschheit" apostrophiert hat —, ist er von seiner Sache doch niemals ganz überzeugt gewesen. Er hat seine „Geopolitik" nicht als etwas Abgeschlossenes, absolut fest fundiertes und empirisch Abgesichertes empfunden, mag er auch gegenüber der Öffentlichkeit manchmal das Gegenteil behauptet haben. Für ihn war die „Geopolitik" mehr etwas Werdendes und Unfertiges. Daher wandte er sich wiederholt gegen eine vorzeitige Dogmatisierung, unter der „eine gute Sache nur erstarren würde". Die Zeit war ihm einfach noch nicht reif für ein „abschließendes Handbuch", da das Themenfeld erst umfassender durchgearbeitet werden müsse. So haben denn seine Kollegen und er auch nur sogenannte Bausteine zu veröffentlichen gewagt, die für K. Haushofer wohl „Meisterproben", aber noch keine „Meistertaten" waren.

Aus dem Schriftwechsel mit seinem Verleger Kurt Vowinckel während des Zweiten Weltkrieges wird ersichtlich, daß beide am Ende mehr und mehr von Zweifeln an den jahrelang publizierten Thesen geplagt wurden. Mußten sie doch feststellen, daß die „Geopolitik" als Wissenschaft ohne „einen klaren systematischen und logischen Kern als wissenschaftliche Disziplin" fremd im Rahmen der Universitäten stehe. Vowinckel drückt es umißverständlich aus: „Es gibt keine schriftliche Festlegung dessen, wo die Geopolitik in der Wissenschaft steht, was ihr Arbeitskern und ihre Arbeitsaufgabe" ist. Selbstkritisch resümierte er, daß fruchtbare geopolitische Arbeit nicht möglich sei, „wenn wir einseitig auf die Wirkung der Raumkräfte in der Politik hinausgehen. Der Raum wirkt eben nicht von sich aus, sondern nur mittelbar durch seine Wirkung auf den Menschen". Und Karl Haushofer, jetzt freilich in einem zunehmenden Stadium der Resignation, bekannte, daß die „Geopolitik" den anderen Wissenschaften dienen müsse.

Eine weitere entscheidende Frage war die, ob so weitgehende Forderungen nach einem „einheitlichen Weltbild" auf objektiver Grundlage überhaupt verwirklicht werden konnten. Vowinckel glaubte, daß außer K. Haushofer (ihn dabei maßlos überschätzend) kaum jemand in der Lage sein würde, jene „einzigartige Verbindung" zwischen „überragendem Wissen und künstlerischer Fähigkeit, dieses Wissen im Dienst der Politik zu gestalten", herzustellen. Diese und ähnliche Äußerungen beweisen einmal mehr, daß die nach außen hin zur Schau getragene Selbstsicherheit in der Frage nach dem Wissenschaftscharakter der „Geopolitik" nicht gerechtfertigt war.

Definitionen von „Geopolitik"

Schlägt man heute in verschiedenen Lexika unter dem Stichwort „Geopolitik" nach, so finden sich, wie schon in der Vergangenheit, die unterschiedlichsten Definitionen. Im . Großen Brockhaus" (1978) heißt es lapidar: „Grenzwissenschaft zwischen Geographie, Staatenkunde, Geschichte und Gesellschaftswissenschaft . . . sucht die Beziehungen zwischen den politischen Gegebenheiten und dem Raum zu erforschen." Im „Lexikon zur Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert" wird . Geopolitik" (übersetzt als Erdraumpolitik) als die „Lehre von der Wirkung des geographischen Raums auf den Staat und das politische Leben" bezeichnet. R. Beck definiert in seinem „Sachwörterbuch der Politik" (1977): „Geopolitik" als „Lehre von den bestimmenden Einflüssen geographischer Gegebenheiten auf die Politik", die die „angeblichen gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen geographischem Raum (Lage, Grenze, Größe, Boden-beschaffenheit und -schätze, Oberfläche, Klima usw.) und politischen Vorgängen und Erscheinungen ... aufzuzeigen“ sucht. In marxistischer Sicht ist „Geopolitik" eine auf den geographischen Determinismus gestützte un-wissenschaftliche soziologische Theorie, die in der Überschätzung oder bewußter Übertreibung der Bedeutung geographischer Faktoren für das gesellschaftliche Leben behauptet, daß die Politik der Staaten durch die Größe, Lage und Art des Territoriums, die Bodenbeschaffenheit, den Umfang der Bodenschätze u. ä. bestimmt wird. — Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Es kann hier nicht versucht werden, die weltweit geführte Diskussion von Geographen, Historikern, Politologen und Sozialwissenschaftlern über Sinn und Unsinn, Möglichkeiten und Grenzen der „Geopolitik" zusammenzufassen. Zum Teil haben dies bereits u. a. Backer und Matern geleistet. Hier soll lediglich verdeutlicht werden, welche Vorstellungen K. Haushofer mit dem Begriff „Geopolitik"

Verbunden hat. Einer seiner wohl schärfsten Kritiker aus der Reihe der Geographen, P. Schöller, hat — ausgehend von der Definition gellens: „Geopolitik ist die Lehre über den Staat als geographischen Organismus oder Erscheinung im Raum" — der deutschen geopolitischen Schule, insbesondere ihrem geistigen Führer K. Haushofer, vorgeworfen, die „Prinzipien des geographischen Determinismus in die Deutung des Weltbildes" überführt zu haben. Bei K. Haushofer sei aus der „Raumbezogenheit“ des politisch-staatlichen Lebens die „Lehre von der geographischen Bedingtheit der Politik, von der Erdgebundenheit der politischen Vorgänge" geworden. Im übrigen sei es ihm jedoch weder gelungen, „eine verbindliche Definition der Geopolitik zu erarbeiten" noch „eine geschlossene Systematik mit eigener Schwerpunktbildung als Grenzfach zwischen Geographie, Staats-wissenschaft, Geschichte und Soziologie" zu entwickeln. Zuletzt 1977 hat sich J. Matznetter in seiner Einführung zu dem Sammelband „Politische Geographie“ mit diesem Problem auseinandergesetzt und gemeint, man werde dabei wohl zwischen dem „früheren Haushofer", der von seiner Asienreise beeindruckt und vom Ausgang des Ersten Weltkrieges betroffen war, und dem „späteren Haushofer" unterscheiden müssen, der „unter den Einfluß einer Ideologie" geraten sei. Diese Annahme dürfte nur zum Teil zutreffend sein.

Wechselverhältnis von Theorie und Praxis Eine systematische Auswertung der wesentlichsten Arbeiten von K. Haushofer ergibt nicht nur eine Differenzierung, sondern auch eine Ausweitung des Begriffes von „Geopolitik". Zunächst einmal ist festzuhalten: „GeoPolitik“ war für Haushofer stets mit einem Wechselverhältnis von Theorie (so wie er sie auslegte) und Praxis, von Wissen und Handeln sowie von Erkenntnis und Anwendung verbunden. „Geopolitik" hatte für ihn wahrscheinlich eine vierfache Bedeutung: Sie war Wissenschaft von der „politischen Lebensform im natürlichen Lebensraum in ihrer Erdgebundenheit und Bedingtheit durch geschichtliche Bewegung“, d. h. alles politische Geschehen war von den dauernden Bedingungen der Bodengestalt abhängig. Zugleich war sie eine Art Integrationswissenschaft, d. h.der Versuch einer Synthese von Natur-und Geistes-welt (darunter u. a. von Biologie, Bodenkunde, Botanik, Zoologie, Medizin, Gesellschaftsund Staatswissenschaft, Philosophie und Rechtskunde); die anderen Disziplinen sollten mehr oder weniger als „Hilfswissenschaf19 ten" die „festeste Plattform" bilden. Diese sollte „weltumspannend" sein, ohne intellektuelle Grenzen bzw. nur mit solchen, „die Erkenntnis und Natur über den Erdball zwischen seinen Großräumen und seinen uralten Kulturvölkern ziehen". „Geopolitik" war im Grunde eine andere Umschreibung von „Politischer Wissenschaft" (oder auch deren Grundlage, wenn man will),'insbesondere von deren Teilbereich „Außenpolitik“ — zugleich als vergleichende Staatenkunde oder Auslandskunde interpretiert. Sie war so etwas wie ein Schlüssel zum Weltverständnis (u. a. zu dem der Unterschiede zwischen kontinentalen und ozeanischen Völkern und Staaten, zwischen kleinräumiger, groß-und weiträumiger politischer Anschauung). Sie sollte zukunftsgewandt, dynamisch — im Gegensatz zur statischen politischen Geographie — „angewandte Wissenschaft", d. h. eine Kunst-lehre, und Wegweiser im politischen Leben sein in dem Bestreben, das gesamte Wissen „griffbereit und handgerecht" aufzuarbeiten. Pflicht der Wissenschaft sei es, „dem, der sich zur Fähigkeit politischen Handelns erziehen will, zu sagen, wie er am einfachsten, mit den geringsten Umwegen und — ehrlich herausgesagt — mit dem kleinsten Arbeitsaufwand in den Besitz ausreichenden Wissens kommen kann, um den Sprung vom politischen Wissen zum Können mit ausreichender Aussicht auf Erfolg" zu wagen. „Geopolitik" lehre das Wissen um die „bodenwüchsigen, erdhaften, raumbedingten Grundlagen und Leitzüge der Kunst der Staatenführung und Völkerleitung". Damit verbunden sei der Mut zur Prognose durch den Wissenschaftler, der sich nicht „mit der Rolle des Registrators begnügen dürfe". Es komme also darauf an, geopolitische Leitlinien im unruhigen Kräftespiel der Gegenwart wahrzunehmen, in ihrem Verlauf zu erkennen und deren Zukunftsrichtungen anzudeuten, natürlich mit einem gewissen Spielraum von „Fehldiagnosen". Angesichts der Willkür menschlichen politischen Waltens könnten aber höchstens zu 20 Prozent „ganz bestimmte Aussagen gemacht werden". Freilich, so ergänzte Haushofer 1940 einmal — jetzt wohl unter dem Eindruck der Entwicklung —, „was der Mensch aus den Gegebenheiten mache, die ihm exakte Wissenschaft als Vorhersage über das Mögliche und Unmögliche liefern könne, das sei seiner schicksalsgestaltenden Kraft überlassen, für deren Ausmaß es keine Schicksalskündung gebe"; „ihr Umfang ist Gnade einer höheren Macht".

Nichtsdestoweniger glaubte K. Haushofer, daß die „Geopolitik" als „treueste, vorbereitende Gehilfin des politisch gestaltenden und schöpferischen Menschens in der Kunst politischen Handelns" nützlich sein könne. Sie sei dasselbe, was für den militärischen Kämpfer „eine gute Karte und eine vollendete Geländekenntnis seines Kampfraumes und der Nachbarböden" sei, für den „Bergsteiger im Ringen um die Höhe" und für „den Land-mann auf seinem Agrarboden Kenntnisse von Natur und Boden" sowie für den Kaufmann „das Wissen um die Bedingungen der Wirtschaftsräume und die Dauer staatlicher Existenz". Letzten Endes aber verstand Haushofer unter „Geopolitik“ ein Mittel zum Zweck, nämlich zur Raumerziehung und zum Kampf um Lebensraum, sowohl defensiv zur Abwehr fremder geopolitischer Einflüsse als auch offensiv zur Erweiterung der eigenen Macht und „Wiedervereinigung der Volksheit". In dem unablässigen „Fechten" um unser „Leben und Dasein als selbständiges Volk auf dem Rücken der Erde" sah Haushofer die eigentliche Erfüllung seiner „Geopolitik". „Geopolitik" im Selbstverständnis von K. Haushofer So gesehen läßt sich vielleicht „Geopolitik“ im Selbstverständnis von K. Haushofer wie folgt umfassender definieren: Geopolitik ist Wissenschaft von der Weltpolitik in ihrer Abhängigkeit von geographischen Grundlagen und Lehre ihrer praktischen Anwendung in der Außenpolitik mit dem Zweck, das notwendige geistige Rüstzeug für Schutz und Erweiterung des deutschen Lebensraumes zugunsten der Siedlungstüchtigen (d. h. zur „gerechten Verteilung") zu schaffen. Zusätzliche Mittel hierfür sind Weckung der geopolitischen Instinktsicherheit, Selbsterziehung, politische Bildung zur Schaffung eines politischen Weltbildes und Prognosen auf wissenschaftlicher Grundlage. Entscheidend bleibt, den Wiederaufstieg Deutschlands zur Weltmacht — mit „Güte oder Gewalt" — zu fördern und zu rechtfertigen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, daß K. Haushofer gelegentlich letzteres eingeschränkt und davon gesprochen hat, daß er nicht beabsichtigt habe, mit der .Geopolitik" eine „Milieutheorie" zu entwik-keln oder einem Determinismus das Wort zu reden. Er wußte wohl um den gewissen Dilettantismus seiner „Wissenschaft".

Ohne Frage war K. Haushofer zeit seines Lebens auf der Suche nach der Identität seiner Wissenschaft; zugleich bemühte er sich um die Anerkennung der von ihm vertretenen . Geopolitik" durch Kollegen und Gesellschaft. In vielem war er seiner Zeit voraus. Was er anzustreben versucht hat, war die Entwicklung einer interdisziplinären Methode, mit der Wirklichkeitszusammenhänge beschrieben und erklärt sowie die Erkenntnis daraus für politisches Handeln nutzbar gemacht werden konnten. In den Kategorien von Kontinenten und Weltmeeren zu denken, sich weltpolitisch zu orientieren und dabei die Interdependenz nicht außer acht zu lassen, geographische Faktoren, z. B. bei außen-politischen Entscheidungen, zu berücksichtigen, d. h. die Einsicht, daß Größe und Gestalt, Lage auf der Erdoberfläche und in bezug auf andere Staaten, Möglichkeiten und Erfolg der Besiedlung eines Raumes ganz verschiedene Bedingungen für Bestand und Entwicklung eines politischen Gemeinwesens schaffen, eine praxisbezogene politische Wissenschaft (mit Politikberatung) zu betreiben und zudem mittels politischer Bildung Bewußtseinsveränderungen zu bewirken, diese und ähnliche Forderungen sind heute kaum noch umstritten.

Während die vor allem in den USA nach dem Ersten Weltkrieg aufkommende „idealistische Schule" Handlungsanweisungen erarbeiten wollte, um den Weltfrieden institutionell zu sichern, die „Realisten" die Rolle der Macht bei der Erhaltung staatlicher Existenz untersuchten, ging K. Haushofer bei seinen erkenntnisleitenden Interessen vom Lebensraum und seiner Erweiterung aus, was auch durch die Wahl seiner Fragestellungen und die Art seiner Informationsbeschaffung zum Ausdruck kam.

Kritik der „Geopolitik"

Die wachsende Kritik unter seinen Kollegen hat K. Haushofer nicht nennenswert bewegen können, seine Anschauungen öffentlich zu revidieren. Es bedurfte erst der persönlichen tragischen Erfahrungen, um ihn zu veranlas-sen, sich zu der verspäteten Einsicht durchzuringen, daß sich in „Zeiten der Hochspannung" die „Grenzen zwischen reiner und angewandter Wissenschaft" leicht verwischen; auch seien ihm „gelegentliche Überschreitungen" unterlaufen.

Schon einer seiner ersten Rezensenten, der ihm wohlgesonnene Robert Sieger (Graz), hat 1924 darauf hingewiesen, daß der Forscher „Verständnis und Wissen sowohl auf politischem wie auf geographischem Gebiet" benötige, um, wie er es zu nennen pflegte, die „geographisch orientierte Politik" untersuchen und bewerten zu können. H. Preller bemerkte ein Jahr später, daß K. Haushofer mit dem Begriff „Geopolitik" den ursprünglichen Gedanken von Kjellen erweitert habe. Letzterer habe „Geopolitik" ja nicht als eine für sich existierende isolierte Größe betrachtet, zumal er ihr nicht einmal eine Vorzugsstellung vor den anderen Disziplinen der zukünftigen Staatswissenschaft eingeräumt habe (Staat als Reich = Geopolitik, Staat als Völk = Demopolitik, Staat als Haushalt = Okopolitik", Staat als Gesellschaft = Soziopolitik und Staat als Regiment = Kratopolitik). K. Haushofer habe die bei Kjellen der Geopolitik koordinierten „Wissenschaften praktisch-politischen Handelns" der „Geopolitik" subordiniert und als Teilgebiet eingegliedert. Zur gleichen Zeit äußerte G. Vogel, daß die junge Wissenschaft, wohl aus „Entdeckerfreude über die neuentdeckte Welt von Beziehungen, die Anwendung der neuen Kunstsprache auf stets andere Objekte schon für einen wissenschaftlichen Fortschritt" halte. So entstehe für den, dem „gelehrte Fachausdrücke nur dann etwas besagen würden, wenn sie wirklich neue Erkenntnisse“ vermittelten, bisweilen der Eindruck einer gewissen „Phrasenhaftigkeit, eines scholastischen Spielens mit analogisch gebildeten Worten, die bei der Geopolitik sonst mit Vorliebe aus der Biologie (Herz, Lunge, Nervenstränge), neuerdings auch aus der Physik (Kraftfeld, Kraftlinien) entnommen" würden.

Noch schärfer formulierte es S. Passarge 1929, als er von dem „Zirkus der Phrasenkapriolen" sprach, vom „schwammigen Wort-reichtum, Mangel an Urteilskraft", von der Fülle „kritiklos aufgenommener gleichgültiger Notizen" und voreiliger Erklärungen. Der Republikaner C. Mertens forderte, der „glän zend arbeitenden, sorgsam forschenden, strebsamen aktiven Gruppe geopolitisch orientierter Nationalisten", die im Dienste „des jungen deutschen Imperialismus" stün21 den, eine republikanisch-paneuropäisch gesinnte Gruppe deutscher Geopolitiker entgegenzustellen, um den Einfluß der ersteren in ihrer „heutigen Form" und mit der erkennbaren Tendenz zur Machtpolitik zu reduzieren.

Die erste umfassendere Kritik an der Geopolitik aus politikwissenschaftlicher Sicht stammte aus der Feder von Adolf Grabowsky, einem Mitarbeiter der Deutschen Hochschule für Politik, der sich zunächst auch zur Haushofer-Schule gezählt, seinen Lehrmeister als „lauteren Menschen" geschätzt, sich dann aber von ihm getrennt hatte. 1930 erläuterte er: „Wie alle Geschichtsschreibung, die von dem ökonomischen Faktor nichts weiß, uns heute in der Methode rückständig erscheint, so wird das auch in kurzem mit jeder Historik der Fall sein, die den räumlichen Faktor mißachtet. Wie wir aber stufenweise die sog. materialistische Geschichtsauffassung von den Übertreibungen der ersten Zeit auf ein vernünftiges Maß revidiert haben, so wird das auch mit der geopolitischen Auffassung geschehen." Im Hinblick auf den „räumlichen Faktor" würde sich selbst dort, „wo man alles auf den Raum zurückführen möchte", die Erkenntnis durchsetzen, „daß das politische Wollen, die Kraft des Staatsmannes und die Anlage des Volkes unendlich viel, wenn freilich auch nicht das letzte dem Raum gegenüber vermögen". Er fügte sodann hinzu: „Man darf sogar sagen, daß insofern die Geopolitik ein tragisches Schicksal hat, als sie in einer Epoche als Wissenschaft Geltung erhielt, da sich der Raum längst nicht mehr so schicksalsbestimmend wie vordem zeigt." Grabowsky hat 1960 in seinem Buch „Raum, Staat und Geschichte" sein Verständnis (Grundlegung) von Geopolitik ausführlicher begründet („Wissenschaft von dem durch Politik und Geschichte bewegten Raum") und dabei auf einen bedeutsamen Punkt hingewiesen, der bei K. Haushofer fast völlig fehlt (erstmals in seiner „Apologie" 1945 angedeutet!), nämlich auf den des so notwendigen Interessenausgleichs zwischen den Staaten, der verbunden sei mit dem sich Hineinversetzen in die Lage, Rechte und Interessen des Gegenüber und dem Prinzip der Toleranz.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich insbesondere die Amerikaner E. A. Walsh, H. Sprout, F. M. Wassermann und H. Blumenthal, von deutscher Seite C. Troll, P. Schöller, G. Fochler-Hauke, M. Schwind, R. Matern, sodann der Niederländer G. Bakker, Vertreter des Marxismus wie Wittvogel und Semjonow und der Franzose R. Aron mit der „Irrlehre" der „Geopolitik" auseinandergesetzt. Für Walsch, den K. Haushofer am Ende seines Lebens als seinen letzten Gönner bezeichnet hat, lag die „Todsünde K. Haushofers und die Tragik seines geistigen Lebens" darin, daß er „nicht Humboldt, sondern Machiavelli zum sittlichen Vorbild seiner geographischen Wissenschaft" gemacht habe. Troll, einst selbst Schüler und Assistent des Generals a. D., warf seinem Lehrer später „geringe Wissenschaftlichkeit, politische Tendenz und eine gewisse Effekthascherei" vor. K. Haushofer sei kein Gelehrter und kein Bekenner („Professor") im eigentlichen Sinne, wohl aber „eine durch Geist, Bildung und Können ausgezeichnete Persönlichkeit" gewesen, die an „anderer Stelle Besseres hätte leisten können". Schöller bemängelte in erster Linie das Fehlen methodischer Klarheit bzw. Logik und die begrifflichen Schwächen, zudem das „pseudowissenschaftliche Unterbauen eines sozialdarwinistischen Machtstrebens" und den Anspruch, „zwangsläufiges Geschehen voraussagen" zu können. Ähnliches hatte schon Albrecht Haushofer im Kriege kritisiert, als er schrieb, daß die Geopolitik nicht „völlig jenen Gefahren“ entgangen sei, denen „jede neuartige Lehre mit starkem äußeren Erfolg und beträchtlicher unmittelbarer politischer Wirkung gegenübersteht: Einseitigkeit der Betrachtungsweise etwa im Sinne eines übersteigerten geographischen Determinimus bzw. zu grobes kartographisches Vereinfachen vielgestaltiger Probleme“.

Am überzeugendsten und tiefschürfendsten hat R. Aron in seiner Theorie der Staatenwelt die Legende vom Determinismus des Klimas oder des Geländes zerstört. Er hat u. a. nachgewiesen, daß die „Lage eines Landes" zwar auf der physikalischen Landkarte „unveränderlich", aber höchstens eine Ursache unter anderen sei; sie lade zu „bestimmten Handlungen ein und stecke den Rahmen der Möglichkeiten ab". Im übrigen sei wahrscheinlich „die Zahl der Ursachen, die das Geschick der Staaten" bestimme, zu groß, als daß auf irgendeine Weise eine Voraussage auf kurze Sicht über das Ende einer politischen oder militärischen Krise wissenschaftlich möglich wäre. Aber in jedem Fall müsse eine Voraussage dieser Art auf der „Berücksichtigung alB ler Gegebenheiten und nicht einer willkürlich partiellen Analyse beruhen".

Der hier knapp skizzierte Katalog der Kritik ließe sich ohne weiteres erweitern, etwa im Hinblick auf die zahlreichen Fehleinschätzungen, die vielen Widersprüche, den sog. geopolitischen Instinkt (was die Beurteilung der NS-Politik und ihrer Führer anbetraf), oder darauf, daß K. Haushofer meist nur seine eigenen persönlichen Erfahrungen unzulässigerweise verallgemeinert und aus ihnen „Gesetzmäßigkeiten" abgeleitet hat, die empirisch gar nicht bewiesen werden konnten. Hinzu kam, daß er die soziologisch-politische Analyse der einzelnen Träger der Weltpolitik, die spezifischen Bedingungen des innerstaatlichen Entscheidungsprozesses, die sozioökonomischen Faktoren, die Rolle der Ideologie und gesellschaftlicher Gruppen vernachlässigt und Fragen des Völkerrechts (z. B. die der Kriegsverhinderung und des friedlichen Wandels) bagatellisiert hat.

Auch wenn wir K. Haushofer wohl kaum abstreiten können, daß er innerlich von der „Richtigkeit" und einer gewissen „Wissenschaftlichkeit" seiner Arbeiten überzeugt gewesen sein mag, so ändert dies nichts an der Tatsache, daß er dem selbst gestellten Anspruch der Geopolitik, „geographisches Gewissen des Staates" sein zu wollen, nicht gerecht geworden ist und seine wissenschaftlichen Ambitionen letzten Endes gescheitert sind.

Lebensraum-Begriff Eine in der Wissenschaft bis heute immer noch umstrittene Frage ist, ob und in welchem Umfang Karl Haushofer mit seiner geopolitischen Konzeption in statu nascendi über seinen Schüler und Vertrauten Rudolf Heß die Abfassung des Buches „Mein Kampf" von Hitler beeinflußt hat. In seiner •Apologie" vom November 1945 hat er nachdrücklich betont, daß keine einzige Zeile desselben von ihm stamme; er habe den ersten Band (der am 18. Juli 1925 erschienen ist) erst gesehen, als dieser gedruckt vorgelegen habe. Und dann habe er es abgelehnt, das Buch in seiner Zeitschrift zu rezensieren, weil es mit „Geopolitik" nichts zu tun gehabt habe. Er gab allerdings zu, daß er bei seinen Besuchen in Landsberg 1924 bestimmte geographische Fragen, die weder Hitler noch Heß verstanden hätten, seinem Freund an Hand von F. Ratzels Buch „Politische Geographie" zu erklären versucht habe. (Außerdem hatte er C. v. Clausewitz’ Werk „Vom Kriege" den Häftlingen zur Verfügung gestellt.) Heß habe das Erläuterte Hitler übermittelt. Er — Haushofer — sei jedoch der Meinung, daß der „Tribun" (Hitler) seine Ideen im Kern niemals verstanden habe, insbesondere nicht den von ihm (Haushofer) entwickelten Begriff vom „Lebensraum", der bekanntlich im Mittelpunkt der außenpolitischen Programmatik der NSDAP stand.

Was läßt sich aber nun vom Begriff „Lebensraum" bei Karl Haushofer sagen? Zunächst ist der Hinweis erforderlich, daß dieser Begriff gewissen Modifikationen unterlag.

Am 28. Juni 1924 sprach Haushofer im Rahmen einer Veranstaltung des „Deutschen Kampfbundes gegen die Kriegsschuldlüge" im Cirkus Krone über „Lebensraum und Schuld-lüge". Seiner Frau berichtete er am darauffolgenden Tag: „Ich habe also ... in dem rappelvollen C(ircus) K(rone) ... gesprochen; wie ich glaube, gut, schon herzlich von den jungen Leuten (über 1 000) mit minutenlangem Heilgeschrei, Geklatsch und Getrampel begrüßt und nachher erst recht. Ich glaube, ich habe ihre Seele zum Teil gehabt und das Richtige gesagt, wie es vor ihnen und vor Dir zu rechtfertigen war." U. xa. hatte er seinen Zuhörern zugerufen: „Wo steht geschrieben, daß von allen großen Völkern der Erde allein das unsere geprellt und verstümmelt sein soll in seinem Lebensraum und daß nur wir nicht das Recht auf freies Atmen haben sollen?" Sie müßten immer daran denken, daß das deutsche Volk nie und nimmer mit dem verstümmelten Lebensraum weiterleben würde und daß „wir unsere unveräußerlichen Rechte wahren werden". Unter brausendem Beifall mahnte er zum Schluß: „Sie haben kein Recht, Kinder in die Welt zu setzen, kein Recht, in glühender Vaterlandsliebe aufbauenden Gedanken den künftigen Leistungen Raum zu geben, wenn sie nicht entschlossen sind, diesen Kindern, dieser Zukunftsarbeit den Lebensraum zu erhalten und diesen Lebensraum wieder zu erfechten."

Fast zur gleichen Zeit hatte er das Vorwort seines Buches „Geopolitik des Pazifischen Ozeans" verfaßt, in dem er u. a. betont hatte: Unablässig ändert sich das Kraftfeld der Erde, und gerade der zur Zeit Glücklose und deshalb Freudlose sollte es erst recht scharf im Auge behalten, um rechtzeitig zu beobachten, ob und wo solche Veränderungen sich zu seinen Gunsten von selbst ergeben oder sich von ihm beschleunigen oder herbeiführen lassen. Das erfordere nicht nur Worte, sondern auch Taten. Anfang 1926 dozierte er in der Staatspolitischen Woche des Deutschen Hochschulringes über Auswärtige Politik. Grundlage jeder Erörterung der Fragen auswärtiger Politik sei der Lebensraum, auf dem der Volkskörper gewachsen sei. Aufgabe der auswärtigen Politik sei es, diesen Lebensraum zu betreuen und zu erweitern, wenn er zu eng geworden sei, die Grundlage für die höchste Kulturentwicklung zu schaffen, ihre Freiheit von fremder Macht sowie die Unabhängigkeit von fremder Wirtschaft zu erhalten. Rüstzeug der Schulung des außenpolitischen Denkens sei die „Geopolitik", verbunden mit der großen leitenden Idee: Schutz und Vergrößerung des Lebensraumes.

Unter „Lebensraum" . verstand K. Haushofer, auf F. Ratzel aufbauend, einen Teilraum bzw. ein Stück Erdoberfläche, bei dem unter Berücksichtigung natürlicher oder künstlicher Grenzen die Erhaltung des Lebens der darin befindlichen Wesen (Menschen, Tiere, Pflanzen) im Mittelpunkt stehe. Dabei konnte an die Daseinsmöglichkeit überhaupt (Atemdichte), die bloße Anwesenheitszahl (Volksdichte), die dauernde Wohnmöglichkeit ..., die Ernährungsmöglichkeit (Nährfähigkeit) und an die damit in Verbindung stehende Frage nach Autarkie oder weltwirtschaftlicher Verbundenheit gedacht werden. Erst mit dem Wohn-und Lebensraum, der überzeugenden Idee, steige eine Völkerpersönlichkeit — d. h. die Volkheit — auf, schreite sie fort, strebe sie empor. Wenn sie sich davon entferne, steige sie herab, gehe sie nieder und schließlich unter. Dabei betrachtete Haushofer als Leitlinie das Ideal der Selbstbestimmung einer freien Völkerpersönlichkeit in ihrer natürlichen Landschaft, nach Möglichkeit ihrer Wahl; im Gegensatz dazu müsse man die Fremdbestimmung über diesen Raum und die darin Lebenden sehen.

In seinen Grundzügen der „Wehrgeographie" (zum erstenmal 1923— 1925 zusammenhängend entwickelt) wies er besonders auf die entscheidende Notwendigkeit des militärgeographischen Atemraums, d. h. auf die Entwicklungsfreiheit hin, die Zeitvorsprünge sichere. Als harte, naturwissenschaftlich beweisbare Tatsache der Wehrgeographie bezeichnete er die Unmöglichkeit der dauernden gegenwärtigen mitteleuropäischen Kleinräumigkeit, bei der die Gefahr der Rassen-und Volksverkümmerung drohe. Die selbst gestellte Frage: Wie eng können und wollen Menschen eigentlich wohnen und leben, hat Haushofer durch die Gegenthese beantwortet, daß zu den Daseinsbedingungen des deutschen Lebensraumes nicht gesicherte Ruhe oder Saturiertheit gehöre, da ihn ein ungeheurer Volksüberdruck erfülle, oder auch durch den „Nachweis", daß nördlich der Alpen durchschnittlich nur 100 Menschen pro qkm ernährt werden könnten, nicht aber die vorhandenen 133.

Im übrigen legte er immer wieder auf folgende Unterscheidungen besonderen Wert: Das geopolitische Raumbild ist nicht dasselbe wie das physikalische; es hat ja auch tatsächlich einen ganz anderen Zweck, und „wir möchten sagen: ein Grund-Irrtum der deutschen kartographischen Wissenschaft, trotz ihrer hohen Entwicklung und Leistung für die geopolitische und damit auch die politische Erziehung unseres Volkes im Daseinskampf um das Denken in weiten Räumen war, daß sie das verkannte". Das geopolitische Raumbild muß zu dynamischen Vorstellungen hinleiten, das physikalische kann auf statischen beruhen (obwohl die Bezeichnung „statisch“ leicht dazu führt, das langsamer, aber auch unausgesetzt arbeitende genetische Moment in der Physis der Erdoberfläche und ihre Umformung unter unseren Händen zu unterschätzen).

Die Forderung, den Lebensraum zu erkämpfen, schränkte Haushofer Anfang 1927 in einem Aufsatz für die „Süddeutschen Monatshefte“ insofern etwas ein, als er darauf hinwies, daß die Erweiterung des Lebensraumes, wenn dieser zu eng geworden sei, wohl Hauptaufgabe der auswärtigen Politik sei, freilich unter Beachtung des Grundsatzes: damit keine Lebensgefahr für den Volksbestand heraufzubeschwören. Aber fest stand für ihn, daß die Zeit geopolitischer Flurbereinigung, der Neuverteilung der Macht auf der Erde, mit dem Ersten Weltkrieg nicht abgeschlossen sei, sondern erst angefangen habe. „ ... Wir haben für die grenzdeutschen Probleme in der gegenwärtigen Lage so gut wie nichts mehr durch Veränderung zu verlieren, aber außerordentlich viel zurückzugewinnen." Zwölf Jahre nach Kriegsende kam Haushofer in sei-B ner Bilanz der geopolitischen Lage des deutschen Volksbodens zu dem Ergebnis: Aus dem Block der Zentralmächte mit mehr als 110 Millionen Menschen und fast 3 000 Kilometern Kostenentwicklung wurde ein verstümmeltes Reich mit etwas über 1 400 Kilometern Atemraum am Meer, ein Rumpf-Mittelstaat ohne Meeresanteil, eine abgesprengte Stadt am Meer (Danzig), ein Binnen-Zerrgebiet und ein Zwergländchen, das in die Arme der Schweiz abdriftet. Weite Strecken deutschen Volksbodens und viele Millionen deutscher Herzen gerieten unter harte fremde Hand, die sich zumeist beeilte, sie durch lle Regierungskünste unmittelbar oder unter dem Vorwand einer Bodenreform, durch Aushungerung oder Abschnürung ihrer volkspolitischen Zugehörigkeit zu dem einstigen Herrenvolke Europas zu berauben. Jeder, dem das gerechte Werk des Wiederaufbaues seiner Volkheit in einem ausreichenden Lebensraum heilig sei, müsse sich als ein Weltbewegender verantwortlich fühlen. Denn, so meinte er, wenn er die Welt so stehen lasse, wie sie ist und nicht bewegen wolle, dann ersticken und verdorren wir Mitteleuropäer millionenweise in ihr. In diesem Sinne gefaßt, sei jeder, der das nicht wolle, ein Revolutionär gegen sogenannte geheiligte Verträge und müsse sich klar darüber sein, daß er es sei.

In den dreißiger Jahren wiederholte Haushofer seine Thesen, jetzt jedoch unter dem Eindruck der gewandelten politischen Verhältnisse etwas bestimmter. Für ihn war der Lebensraum der Deutschen die politische Aufgabe der Führung schlechthin, denn nur dem deutschen als einzigem großen Kulturvolk sei die Freiheit nach seinem heutigen Lebensraum versagt. Die Deutschen müßten wie die Japaner und Italiener der Welt klarmachen: Hier (in Europa) füllt sich ein viel zu enger, künstlich verstümmelter Lebensraum mit ungeheuren Spannungen, und gebt ihr nicht Luft, so wird, wie Mussolini einmal sagte, die überfüllte Bombe platzen.

Die Rettung Deutschlands liege allein im volkspolitischen Denken; das einseitige staatspolitische Denken im Deutschen Reich habe in der Vergangenheit eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Das nunmehr auf die Erde her-abgekommene Dritte Reich könne allerdings erst erdient und verdient werden, wenn es weit über die staatspolitischen Grenzen hinausgreife, was „volkspolitisch unser Volk, unser Gut und Eigen aus dem Recht uralter Landnahme, Uralter Verteilung Jahrhunderte dauernder Arbeit und Verwurzelung aus eigener Kraft ist, und das im Bewußtsein seiner Größe und seiner alten Zeugen". Mit diesem Hinweis umriß Haushofer wahrscheinlich zum erstenmal konkreter, welche mittel-und langfristigen Ziele ihm vorschwebten.

In seiner Geopolitik der „Pan-Ideen" (1913) hat Haushofer an einer Stelle das räumliche Ausgreifen eines Staates jedoch mit einem bemerkenswerten Hinweis qualifiziert: Es komme bei der Fähigkeit, andersartige Räume anzugliedern, darauf an, diese zur willigen Mitarbeit zu bringen, zu gemeinsamem Nutzen, wie eine Art Allmende auszugestalten. „Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden." Uralte Herren-weisheit des Nahen Ostens gebe hier einen merkwürdig oft verkannten Schlüssel auch zur erfolgreichen Durchgestaltung von Pan-Ideen in ihren natürlichen und angegliederten Räumen.

Grenzen Anknüpfend an die geographisch-politischen Gesetzmäßigkeiten Ratzels erläuterte Haushofer auch das Prinzip der dynamischen Grenzen: Der im Innersten Schwächere ist bestrebt, sie (d. h. die Grenze) auf ewige Zeiten zu halten; der im Grunde Stärkere, auf die Zukunft Trauende, schiebt an ihr, auf die Gefahr hin, als Friedensstörer angeprangert zu werden, was schließlich neues, keimendes, wachsendes Leben dem Vergangenen und seinen Spuren gegenüber ist und sein muß.

Seiner Meinung nach konnte das Wesen der Grenze nicht vom zum Buchstaben erstarrten Gesetz, von der Statik her, von dem durch bloße abgeschlossene Gestaltung bereits notwendig veralteten Stande begriffen werden. Ihrem fließenden Formwechsel vermöge nur die dynamische, auf beständigen Umschwung des Kräftespiels eingestellte Betrachtung gerecht zu werden, von dem kommenden Gesetz her, das mit uns geboren ist. Für Haushofer waren Grenzen weniger vom Völkerrecht und Staatsrecht gezogene mathematische Linien, sondern eher Lebensformen mit eigenem Daseinsrecht. Stets sei die Wahl zu treffen zwischen der geistesgesetzlich gebotenen Achtung vor der Grenze und der naturgesetzlich erzwungenen, vom Leben gebotenen Grenzer-25 Weiterung und Grenzüberschreitung, wenn „wir nicht das Wachsen und die Erneuerung, das Grundgesetz des Lebens auf der Erde unterbinden" wollen.

Haushofer warnte immer wieder vor dem Niedergang der Lebenskraft in Kern-und Grenzräumen, d. h. auch vor der Preisgabe des Bodens. Es hänge von dem Lebenswillen derselben und von der weisen Leitung der Zentrale entscheidend ab, ob das umfassende Organ der Volkheit mit dem nötigen Lebens-blut durchströmt werde. Das gelte im besonderen für das Grenzproblem im Osten, das in seiner Mannigfaltigkeit und Vitalität (beständiges Hin-und Herwallen der Kräfte) das eigene Grenzerlebnis dokumentiere. Hier sei bedrohlich am Bestand des höher kultivierten Partners (d. h.der Deutschen) gerüttelt worden (so u. a. in Posen, Westpreußen, Ostpreußen, Böhmen, Mähren und Siebenbürgen). Wer die Rückzugsstadien der Deutschen durch die Jahrhunderte im Osten verfolge, begreife erst, was dort verloren gegangen sei. Das alles war in der Intention sicherlich mehr als ein Konzept, das lediglich Abwehr fremder Ansprüche auf unbestreitbaren Wohn-und Wirtschaftsbereich eines ansässigen Volkes beinhaltete.

Vergleich der Lebensraumkonzeptionen Ein Vergleich dieser Konzeption von Lebensraum mit derjenigen der NS-Führung läßt eine gewisse Stufenfolge vom Wissen zur Tat, vom generellen zum speziellen und vom übersteigerten Nationalismus zum Radikalismus erkennen, sehen wir einmal von dem Problem ab, wer wen richtig verstanden hat. F. Ratzels Vorstellungen wurzelten stark in dem Biologismus und Naturalismus des 19. Jahrhunderts, zu deren Begründer u. a. Auguste Comte und Herbert Spencer zählten. Bei seinem Dreiklang von Raum, Lage und Bewegung besaß letzere das Übergewicht. Die Bewegung war später geradezu die Grundlage der Geopolitik („dynamische Kunst"). Ratzel versuchte, naturwissenschaftliche Gesetze der Zoologie und der Botanik auf die Weltgeschichte zu übertragen, was zu einer absoluten Überbewertung der Naturfaktoren gegenüber anderen, so denen der Gesellschaftspolitik, der Ökonomie und der Führungseliten in ihren Entscheidungen, führte und vor allem zu Schlußfolgerungen verleitete, die empirisch gar nicht bewiesen werden konnten. Seine sogenannten Gesetzmäßigkeiten, die er erkannt zu haben glaubte, verband er im Ansatz mit praktischen Richtlinien zum Handeln (Raumerziehung). Ausgehend von der grundlegenden Relation zwischen Fläche und Bevölkerung war für ihn das Dasein eines Staates erst dann gesichert, wenn derselbe genügend Raum hatte. Allerdings bleibt für ihn dieser Gesichtspunkt zunächst einmal nationenneutral. Jeder Bodenerwerb bedeute seiner Meinung nach weniger Endpunkt als Ausgangspunkt eines neuen, über die alten Grenzen des Staates reichenden Ausgreifens. Wenn er den Kampf um Lebensraum als das tragende Prinzip in der Geschichte bezeichnete, so bewertete er auch den Krieg als wachstumsförderndes Mittel. Je größer die innere Geschlossenheit eines Staates sei, desto stärker und fähiger sei er zur Bewältigung der Raumprobleme.

Wie eng sich Haushofer an derartige „Erkenntnise" angelehnt und sie z. T. kritiklos übernommen hat, wird nicht nur durch seine zahlreichen Schriften deutlich, sondern auch durch sein ständiges Berufen auf den großen Lehrmeister Ratzel, den er noch 1944 in einem kleinen Aufsatz als einen der führenden Geister des Zweiten Reiches gewürdigt hatte. Im Kern übernahm er dessen Gesetze des räumlichen Wachsens der Staaten; indessen modifizierte und aktualisierte er sie, indem er u. a. von der generellen zur speziellen Aussage überleitete: Angesichts der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, der Versailler Friedensordnung und der weltpolitischen Lage bezog er die Lebensraumfrage primär auf die verstümmelten Staaten ohne Atemfreiheit, d. h. vor allem auf Deutschland und Japan, später auch auf Italien. Er propagierte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln der Massenkommunikation den Schritt von der reinen zur angewandten Wissenschaft mit politischer Zielsetzung. Auch für ihn stand der Kampf ums Dasein, um neuen Grund und Boden im Mittelpunkt seines Denkens. Neben der Revision des Versailler Vertrages, der Angleichung des Raumes an die Bevölkerungsentwicklung waren es vor allem drei Motive, die ihn beherrschten: Raumerweiterung war für ihn stets auch ein Aspekt der Wehrgeographie, d. h. erhöhter militärischer Sicherheit, des Anspruchs der Tüchtigsten zur Raumkultivierung und schließlich des Rechts auf uralte historische Landnahme. Das Mittel dazu sollte die Raumerziehung (interpretiert als „Geopolitik") sein, d. h. das Schmieden geistiger Waffen für den Politiker. Haushofer schloß allerdings auch einen anderen Waffengang nicht aus, falls es die Situation erfordere; freilich hat er sich hierzu niemals konkreter geäußert.

Hitler und seinesgleichen hatten demgegenüber weit radikalere Vorstellungen. Sie hatten, angestoßen und beeinflußt von Haushofer, die sogenannten wissenschaftlichen Erkenntnisse ganz einfach dogmatisch weiterentwickelt und zu einem extremen, tagespolitischen Kampfprogramm erhoben, das sie zusätzlich mit einem Antisemitismus und Antimarxismus im Weltmaßstab verbanden. Dabei benutzten sie — meistens unreflektiert — Begriffe von Rätzel und Haushofer. Ihr Lebensraumprogramm sollte um jeden Preis realisiert werden. Sprach Karl Haushofer vom Recht der höher Kultivierten auf Erweiterung des Lebensraumes, so bezogen die Nationalsozialisten dies auf die „beste", d. h. germanische Rasse. Noch unmißverständlicher als Ratzel und Haushofer hielt Hitler den Krieg für ein absolut legitimes Mittel zur Verwirklichung der „Neuordnung" des europäischen Kontinents. Eine gewisse Übereinstimmung schien es allerdings im Hinblick auf die Notwendigkeit gegeben zu haben, das deutsche Volk im Geiste innerer Geschlossenheit zu erziehen, mochte Haushofer bei seinen pädagogischen Forderungen auch weit differenzierter als die NS-Führung argumentiert haben.

Vermeintlicher „Gleichklang"

von „Geopolitik" und NS-Weltanschauung Wenn auch zwischen den Anschauungen Karl Haushofers und der Ideologie der NS-Machthaber beträchtliche Unterschiede bestanden, so läßt sich trotz allem die Tatsache nicht verleugnen, daß der Geopolitiker in den Jahren 1933—-1940 durch mannigfache Äußerungen und Kommentare den Eindruck erweckt hat, daß die von der NS-Führung verfolgte Politik (zumindest bis 1940) mit seinen geopolitischen „Theorien" und Prognosen (letztere hätten sich damit als „zutreffend" erwiesen) übereinstimmte und seine Ziele mit denen der Nationalsozialisten weithin identisch seien. So bescheinigte er z. B. schon wenige Wochen nach der NS-Machtergreifung den neuen Machthabern, daß sie, die Minderheit, als einzige in der Weimarer Republik ihr Weltbild nicht verloren und das „Recht der Deutschen auf Raum und Selbstbehauptung wachgehalten" hätten. „Dieser Gewissensschärfung diente auch die Arbeit auf dem Gebiet der Geopolitik." Aus solchen Betrachtungen flamme „jäh ein Naturrecht der Fleißigen auf gerechten Anteil an Erde und Lebensraum empor — echt national und sozial zugleich in seinem Kerngehalt —, ein Kampf, der von der nationalsozialistischen Bewegung heute mit voller Wucht" aufgenommen worden sei.

Noch klarer formulierte K. Haushofer in seinem von Heß inspirierten Aufsatz „Der nationalsozialistische Gedanke in der Welt" aus dem Jahre 1934 den „Gleichklang" von NS-Weltanschauung, wie er sie verstand, und Geopolitik; das betraf nicht nur die „Ausdehnungsziele", die „Volkserneuerung", die „Überlegenheit des nationalen Willens — namentlich auf sakral gehaltenem Boden, in einem dem Blut und der Rasse kongenialen Raum" —, sondern auch die „Sicherung des Führergedankens" („Herrschaft des Besten“) und den Führungsanspruch der Nationalsozialisten in Europa. Und im Saarbrücker „Trutzbund" schrieb er im gleichen Jahr u. a. „ ... man muß sich klar darüber sein, daß Ideale, wie das Dritte Reich, nur hin und wieder auf die Erde herabkommen". Im Rückblick auf die NS-Außenpolitik der Jahre 1933— 1939 resümierte Haushofer voller Genugtuung, wie schnell die „politische Tat“ die „Richtigkeit geopolitischer Schicksalskündung“ erwiesen habe.

In Verkennung seiner wirklichen Bedeutung dozierte er vor der Deutschen Akademie im Jahre 1940: Wenn nunmehr das Großdeutsche Reich in seiner vielleicht „größten Daseinsgefahr" geeint auf so „viel festerem geopolitischen Boden mit geschützter Ostfront" stehe als das kurzlebige Zweite Reich von 1871 bis 1914, so hätten daran gewiß die „Ansätze zu geopolitischer Volkserziehung und die intensive Auswertung der Weltkenntnis der politischen Erdkunde" ihren bescheidenen Anteil. Auch diese Äußerung enthüllte einmal mehr den Wunsch als Vater des Gedankens.

Unterschiede in den Endzielvorstellungen Indessen gab es auch in der Frage nach der Ziel-Mittel-Relation zwischen der NS-Füh27 rung und Karl Haushofer gravierende Unterschiede, mögen diese auch erst im Verlauf des Zweiten Weltkrieges deutlich geworden sein. Solange die Nationalsozialisten mit verdeckten Karten spielten und eine Strategie grandioser Selbstverharmlosung verfolgten, blieb es ein schwieriges Unterfangen, diese zu erkennen. Der Kampf um die rassische „Neuordnung Europas" mit qualitativ veränderten Wertbegriffen war für Hitler unlösbar mit dem weltanschaulichen Vernichtungskrieg geen das Judentum und den Marxismus verbunden. Der revolutionäre Kampf gegen die „Weltverderber", die „Entmachtung" der Rassenfeinde, konnte und mußte mit allen „inhumanen" und „ungerechten" Mitteln geführt werden, wenn dabei nur die „Rettung Deutschlands" gelang. Solange die „pax germanica" nicht gesichert war, gab es keinen Unterschied zwischen Krieg und Frieden.

Wenngleich sich Haushofer auch meist zweideutig oder bildhaft auszudrücken pflegte und ebenfalls taktisch zu argumentieren verstand, seine Endzielvorstellungen waren — sicherlich je nach politischer Lage variierend und kühner prognostiziert — mit denen des Nationalsozialismus nicht identisch, mag es auch partielle Gemeinsamkeiten gegeben haben. Der Geopolitiker, dessen Denken und Handeln — wie bei vielen konservativen Zeitgenossen — von dem tiefen Versailles-Trauma („Volk in Ketten", „Knechte der Angelsachsen" und der „Ruin des Reiches") durchdrungen war, dachte in den Kategorien traditioneller imperialistischer Machtpolitik.

Ausgehend von konzentrischen Kreisen, sah Haushofer im Innern den „festgeballten Kern" des totalen Staates, um diesen herum zunächst den amtlichen (diplomatischen) Außendienst, sodann die Auslandsorganisation zur Erfassung der Reichsdeutschen in der Welt, und als äußeren Ring die Volksdeutschen, gewissermaßen als vorgeschobene Bastion, straff organisiert. Jenseits derselben sollte seiner Meinung nach die Kulturpolitik der Deutschen Akademie wirken, in enger Fühlung mit dem „obersten Willensträger", bittend, werbend und überzeugend, mit dem Ziel, dem Deutschtum Halt, Unterstützung und dem besonders gefährdeten Grenzland die notwendige geistige Rüstung zu bieten.

Für Haushofer war der Kampf um die Weltgeltung der deutschen Kultur vordringlich. Die Vorstellung von dem künftigen Reich, in dem alle Deutschen und möglicherweise alte deutsche Kulturlandschaften wieder vereint waren, beherrschte ihn zeit seines Lebens. Ohne diese näher zu präzisieren, gebrauchte er in diesem Zusammenhang Vokabeln, die ihn lange Zeit auf eine Stufe mit den Nationalsozialisten zu stellen schienen, zumal er Kriege als ultimo ratio für den Kampf um „gerechten Lebensraum", im Sinne des Naturgesetzes der „wachsenden Räume", nicht ausgeschlossen hat. Es ist anzunehmen, daß ihm als letztes Ziel vorgeschwebt hat, die Volksgrenzen mit den Staatsgrenzen in Übereinstimmung zu bringen, um damit die Groß-machtstellung Deutschlands für die Zukunft zu sichern. Freilich: was ihm und seinesgleichen die Erfüllung der deutschen Geschichte bedeuten mochte, war für die NS-Führung kaum mehr als eine weitere Etappe auf dem Wege zur rassischen „Neuordnung des europäischen Kontinents" („Großgermanisches Reich“).

Als Hitler ab 1939 mit Mitteln der militärischen Gewalt immer kühner und rücksichtsloser ausgriff, war Karl Haushofer völlig deprimiert ob der „mechanischen Kräfte", die damit gesiegt hätten. Das hatte er nicht gewollt, schon gar nicht eine „Herrschaft der Bajonette" in Europa, eine Assimilierung fremder Volksteile und einen Krieg gegen die Sowjetunion, der ja seiner Konzeption vom weltumspannenden Bündnissystem zwischen Deutschland, der UdSSR und Japan zur Abwehr der angelsächsischen Koalition widersprach. —

Wie immer auch das künftige Urteil über den Geopolitiker ausfallen mag, unbestreitbar bleibt die Tatsache, daß Haushofer durch seine unablässigen Lebensraum-und Kampfparolen dazu beigetragen hat, den Boden für den Aufstieg des NS-Systems geistig aufzubereiten und die außenpolitischen Ziele der Nationalsozialisten partiell (bis 1939) zu rechtfertigen. Damit leistete er einen Beitrag zur Glaubwürdigkeit der NS-Herrschaft, d. h. eines Systems, das mit seiner Politik die Katastrophe von 1945, die Teilung Deutschlands und Europas entscheidend verursacht hat. Von dieser moralischen Mitschuld wird ihn die Geschichte wohl kaum freisprechen können. 1939 hat er das kommende Unheil erahnt, und 1940 wurde es ihm zur Gewißheit. Jetzt setzte er alle seine Hoffnungen auf die von ihm unterstützten geheimen Friedenssondie-B rungen seines Sohnes Albrecht; auch der „leiseste Strahl" sollte genutzt werden, um mit England zu einem Arrangement zu kommen. Aber vergeblich: Das Rad der Geschichte ließ sich nicht mehr anhalten. Albrecht Haushofer drückte dies auf seine Weise aus: „ ... mit vollen Segeln jagten sie das Boot im Sturm hinein in klippenreichen Sund, mit Jubelton verfrühter Siegeskunde — nun scheitern sie — und wir. In letzter Not versuchter Griff am Steuer ist mißlungen. — Jetzt warten wir, bis uns die See verschlungen."

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aus wissenschaftliche Belege wird hier ver-Achtet.

Weitere Inhalte

Hans-Adolf Jacobsen, o. Univ. Professor, Direktor des Seminars für politische Wissenschaft an der Universität Bonn, geb. 1925. Veröffentlichungen: Zahlreiche Studien und Dokumentationen zur Geschichte des Dritten Reiches; Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), 2 Bde., 1973/1978; Von der Strategie der Gewalt zur Politik der Friedenssicherung, 1977; Bundesrepublik Deutschland — Volksrepublik Polen. Bilanz der Beziehungen (Mithrsg.), 1979; 30 Jahre Außenpolitik der DDR (Mithrsg.), 1979.