I. Einleitung
Der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler prägte 1973 den. Begriff „Geschichte als Historische Sozialwissenschaft" und verkündete damit programmatisch einen neuen Ansatz in der deutschen Geschichtswissenschaft: Nicht mehr das herkömmliche Verständnis einer „verstehenden" Geisteswissenschaft sollte das „erkenntnisleitende Interesse" der Historiker sein, vielmehr definiert die „Historische Sozialwissenschaft" ihren Erkenntnisbereich als die Wissenschaft von der Veränderung des Menschen in seinen gesellschaftlichen Verhältnissen in der historischen Zeit. Alle Bereiche menschlicher Erfahrung und menschlichen Handelns wurden damit zum Gegenstand historischer Forschung, wie auch Theorien der Sozialwissenschaften in die Frage nach den geschichtlichen Zuständen und ihren Wandlungsprozessen einbezogen wurden. In einem 1977 erschienenen Sammelband „Historische Sozialwissenschaft" finden sich Überlegungen zur Bevölkerungsgeschichte, zur historischen Bildungsforschung und zur Gesellschaftsgeschichte der Familie, und die von Wehler seit 1975 herausgegebene Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft — Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft" befaßte sich u. a. schwerpunktmäßig mit Themen wie „Soziale Schichtung und Mobilität in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert", „Sozialer Protest", „Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert", „Analyse sozialer Strukturen", „Sozialgeschichte der Technik" und „Arbeiterkultur im 19. Jahrhundert". Diese und andere einzelne Aspekte sollen schließlich münden in eine Erklärung der Struktur und der Entwicklung des gesellschaftlichen Ganzen. Das konnte bislang aber noch nicht geleistet werden.
In diesem neuen geschichtswissenschaftlichen Konzept nimmt die Entwicklung der Technik — vornehmlich im Zeitalter der sogenannten Industriellen Revolution — eine wichtige Stellung ein. Die Mechanisierung bereits bestehender Produktionszweige (z. B. Tuchherstellung) und die Veränderung der Produktionsorganisation (Handwerk/Manufaktur/Fabrik) sowie das Aufkommen ganz neuer« industrieller Sektoren (Elektrotechnik, Chemie u. a.) veränderten das gesamte soziale, wirtschaftliche und auch soziokulturelle Leben der Menschen im 19. und 20. Jahrhundert nachhaltiger als vieles andere, z. B. als politische Ereignisse.
Die historische Einzigartigkeit des Industrialisierungsprozesses in Westeuropa und Amerika seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ließ schon früh die Frage nach den Ursachen dieses Phänomens aufkommen. Der Soziologe und Wirtschaftshistoriker Max Weber formulierte 1905 seine bis heute vieldiskutierte These vom Zusammenhang zwischen der „protestantischen Ethik" und der „kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung". Doch sind sich die Historiker noch längst nicht einig über die Frage, „wer Prometheus entfesselte". Diese Einigkeit wird auch wohl dann erst zu erzielen sein, wenn die Geschichtswissenschaft im Sinne der oben definierten „Historischen Sozialwissenschaft" weitere Ergebnisse über dieses Problem vorlegt.
Das Interesse an technikgeschichtlichen Fragen ist im letzten Jahrzehnt spürbar gewachsen. Neben einer breiter werdenden Forschungstätigkeit im universitären Rahmen findet die Erhaltung technischer „Kulturdenkmäler" einen spürbaren öffentlichen Widerhall. Und nicht zuletzt rückte 1977 der Schülerwettbewerb „Deutsche Geschichte — Sozialgeschichte des Alltags" mit dem Thema „Arbeitswelt und Technik im Wandel" die Technikgeschichte stärker in den Mittelpunkt des Interesses.
II. Die „ältere Technikgeschichte" als Wissenschaftsdisziplin
Die Anfänge des Faches Technikgeschichte liegen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert der Göttinger Professor Johann Beckmann (1739— 1811) stellte das Fach Technologie in den Rahmen der Kameralwissenschaften und veröffentlichte in diesem Zusammenhang auch ein fünfbändiges Werk „Beyträge zur Geschichte der Erfindungen" Zur gleichen Zeit formulierte der Göttinger Historiker und Publizist August Ludwig Schlözer (1735 bis 1809) daß technische Erfindungen eine ähnliche Bedeutung hätten wie politische Ereignisse Johann Heinrich Moritz von Poppe (1776— 1854) und Karl Karmarsch (1803 bis 1879) untersuchten in ihren wissenschaftsgeschichtlichen Veröffentlichungen die Entwicklung von Technik und Technologie als Wissenschaftsdisziplin. Den beiden letztgenannten Untersuchungen ist gemeinsam, daß sie die Entwicklung technischer Erfindungen technikimmanent betrachten und die Wechselbeziehungen zum sozio-ökonomischen Umfeld außer acht lassen.
Die vereinzelten Anfänge der Technikgeschichte im 19. Jahrhundert verdichten sich um die Wende zum 20. Jahrhundert zu einem eigenen Forschungsfeld, das aber weniger von Vertretern der Geschichtswissenschaft als von Ingenieuren bearbeitet wird Neben mehreren wichtigen Einzelstudien zu technologischen Leitsektoren des 19. Jahrhunderts (Dampfmaschine, Eisen-und Stahlgewinnung, Maschinenbau) erschienen seit 1909 auch zwei Zeitschriften ausschließlich zur Technik-und Naturwissenschaftsgeschichte Dieser Höhepunkt einer technikimmanent ausgerichteten Technikgeschichte ist besonders mit der Person Conrad Matschoß verbunden, der aber schon die Einbindung technikhistorischer Erkenntnisse in die „große Geschichte der menschlichen Kultur" forderte, ohne daß jedoch aus diesem Postulat Konsequenzen gezogen wurden.
Diese Bedeutung der Technik im gesamtgesellschaftlichen Prozeß hatte allerdings schon Karl Marx (1818— 1883) in historischer Perspektive erfaßt: „Die Technologie enthüllt das aktive Verhalten des Menschen zur Natur, den urmittelbaren Produktionsprozeß seines Lebens, damit auch seiner gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und der ihnen entquellenden geistigen Vorstellungen." Die Produktivkraft Maschine wird in Marx’ Theorie zum entscheidenden Faktor beim Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise, die Theorie des historischen Materialismus als Modell für die historisch zwangsläufige Entwicklung zum Sozialismus basiert auf der entwickelten Produktivkraft Technik, kurz, alle sozio-ökonomischen Veränderungsprozesse beruhen nach Marx auf einer Weiterentwicklung der Produktivkräfte
Ganz allgemein rückt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Technik als gesellschaftsverändernde Kraft stärker in das öffentliche Bewußtsein — eine Folge der technischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen der „Industriellen Revolution". Eine faszinierte Technik-und Zukunftsgläubigkeit greift um sich, wie sie der Dichter Arno Holz 1885 formuliert „Mir schwillt die Brust, mir schlägt das Herz Und mir ins Auge schießt der Tropfen, Hör ich dein Hämmern und dein Klopfen Auf Stahl und Eisen, Stein und Erz.
Denn süß klingt mir die Melodie aus diesen zukunftsschwangern Tönen. Die Hämmer senken sich und dröhnen: schau her, auch dies ist Poesie!" — Als Gegenbewegung entsteht eine dezidierte Kultur-und Zivilisationskritik, wie sie beispielsweise bei Oswald Spengler oder bei dem Dichter Georg Heym anklingt . Doch insgesamt überwiegt um die Jahrhundertwende die Apologie der Technik, was sich an einer bislang von den Technikhistorikern vernachlässigten Quellengruppe zeigen läßt: der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer populärer werdenden Science-Fiction-Literatur . War die Technik in den utopischen Staats-romanen des 16. bis 18. Jahrhunderts eher Bei-werk eines Idealstaates, so wird sie in den Science-Fiction-Romanen zur Grundlage der Handlung. Die Bücher von Jules Verne, Kurd Laßwitz und H. G. Wells dokumentieren vor dem Hintergrund einer wachsenden Leserschaft ein verändertes gesellschaftliches Verhältnis zur Technik. Nicht allein der Inhalt der Romane spiegelt Zukunfts-und Fortschrittsgläubigkeit (wobei man etwas differenzieren muß), sondern noch mehr das wachsende Leserinteresse an dieser Gattung Literatur.
Die schon erwähnte antitechnische Kulturkritik drückte sich u. a. in einer Aversion gesell-schaftlicher Führungsgruppen in Deutschland gegenüber Technikern und Technik aus wie sie z. B.der Eisenbahningenieur Max Maria Freiherr von Weber beschrieb Soziale Mißachtung des Technikers und die vermeintliche „Dämonie der Technik" sind zwei wichtige Faktoren, die das soziale Selbstverständnis des Ingenieurs belasteten
Hier liegen die Gründe, warum gerade zu diesem Zeitpunkt — um die Jahrhundertwende — die Technikgeschichte sich als Wissenschaftsdisziplin etabliert, jedoch nicht als Teilbereich der Geschichtswissenschaft, sondern, von ihr nahezu unbeachtet, als eigenständige, von Ingenieuren betriebene Forschungsrichtung
1. Die Techniker schrieben die Geschichte ihres eigenen Faches, um den Stellenwert von Technik und Technologie im Rahmen der Entwicklung der menschlichen Kultur bzw. Zivilisation herauszustellen.
2. Damit wird auch der Beitrag der Techniker als Berufsstand zur Entwicklung der modernen Industriegesellschaft dokumentiert. Es handelt sich hierbei um den Versuch, die soziale Stellung des Technikers in der wilhelminischen Gesellschaft durch das Aufzeigen der vergangenen und gegenwärtigen Leistungen zu stärken. 3. Die Technikgeschichte sollte den Technikern helfen, in der Auseinandersetzung mit der Technik der Vergangenheit und deren Leistungen Vertrauen in die zukünftigen Möglichkeiten zu gewinnen. Der in allen technikhistorischen Spezialdarstellungen mehr oder minder mitschwingende Fortschrittsglaube verdeutlicht dies.
Eine Integration dieses neuen Forschungsansatzes in die Geschichtswissenschaft gelang auch deshalb nicht, weil die historische Forschung dieser Zeit unter dem Primat der politischen Geschichte stand und sich gegenüber wirtschafts-, sozial-und kulturgeschichtlichen Ansätzen ablehnend verhielt, wie der bekannte Lamprecht-Streit zeigt Einzig Franz Schnabel räumte in seiner „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert" (1934) der Technik einen wichtigen Platz ein
Die Integration der Rolle der Technik in die allgemeinen historischen Prozesse und die strukturelle Verknüpfung zu Wirtschaft, Politik und Sozialsystem zu vollziehen, den Stellenwert der Technik in der Geschichte, vornehmlich bei der Ausbildung der modernen westeuropäischen Industriegesellschaft, zu bestimmen, bleibt die Aufgabe einer noch zu definierenden modernen Technikgeschichtsforschung.
III. Gegenstand und Methodologie der modernen Technikgeschichte
Der Stand der Theoriediskussion über die Problemfelder, Fragestellungen und methodischen Wege der neueren Technikgeschichte ist bis heute mit dem Attribut einer „reflektierten Vorläufigkeit" zu bezeichnen. Folgende Aspekte bedürfen einer genauen Klärung, bevor der Aufgabenbereich der Technikgeschichte überhaupt klar eingegrenzt werden kann: 1. Was ist unter dem Begriff „Technik" zu verstehen, wo liegen die Abgrenzungen zur Naturwissenschaft, wo die Verbindungen zur Wirtschaft? 2. Die Frage „Welche Rolle spielt die Technik im historischen Prozeß?" ist unvollständig formuliert. Gefragt werden muß nicht nur, was gemacht und wie etwas gemacht wurde, sondern vor allem, warum technische Entwicklungen vonstatten gehen Damit wird die Position der älteren Technikgeschichte — der bloß beschreibende Nachvollzug der technischen Entwicklung, die nur allzuleicht als Erfolgsgeschichte des technischen Fortschritts verstanden wurde — überwunden. Die Frage nach den Gründen für technische Neuerungen führt unweigerlich zu außertechnologischen Aspekten, deren wichtigster m. E. das ökonomische Motiv ist. 3. In dem Wort „Technik-Geschichte" kommen zwei traditionell unterschiedliche Wissenschaftsbereiche mit unterschiedlichen erkenntnistheoretischen und erkenntnisleitenden Prämissen zusammen: die exakte Natur-und Technikwissenschaft und die Geisteswissenschaft. Die Verständigung zwischen beiden Bereichen ist wegen der unterschiedlichen Denk-und Arbeitsmethoden, der Fachsprache und der häufig unterschiedlichen gesellschaftlichen Einschätzung des eigenen Tuns problematisch Das erschwert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Historikern und Ingenieurwissenschaftlern, die zur Aufarbeitung technikhistorischer Probleme unabdingbar ist, denn der Historiker bedarf der exakten technisch-technologischen Interpretation von technikgeschichtlichen Quellen, die er aufgrund seiner Ausbildung gar nicht leisten kann; demgegenüber ist der Ingenieur-wissenschaftler nicht mit den Methoden der Geschichtswissenschaft vertraut, und er wird dazu neigen — wie die ältere Technikgeschichte ja ausreichend belegt —, nur technikimmanente Entwicklungen von Entdeckungen, Erfindungen und Innovationen darzustellen, ohne den Versuch einer Integration in die allgemeine Sozialgeschichte zu machen.
Ideal wäre natürlich eine Spezialausbildung, die die genaue Kenntnis einer technischen Dis-ziplin vermittelt und zudem noch ein umfassendes historisches Studium umfaßt. Doch das scheint praktisch undurchführbar. So bleibt nur die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Historikern und Ingenieuren zu intensivieren, um fachlichen Dilettantismus zu vermeiden.
Schon die Frage nach dem Gegenstand der Technikgeschichte läßt sich nur schwer beantworten: Wie definieren wir den Begriff „Technik"? überholt ist sicherlich die Definition „angewandte (Natur-) Wissenschaft denn sie gibt nur völlig unzureichend den Sachverhalt wieder. George H. Daniels umschreibt den Begriff „Technologie" zu Recht folgendermaßen: „Zunächst wollen wir für unsere Zwecke Technologie nicht als , Art und Weise, wie Dinge getan oder hergestellt werden', definieren; vielmehr verstehen wir unter Technologie außer diesem auch noch, warum Dinge überhaupt hergestellt werden und warum sie auf diese Weise und nicht auf einem möglichen anderen Wege hergestellt werden, und schließlich, was diese Unterschiede . . . für eine bestimmte Gesellschaft bedeuten."
Während also Technologie das Wissen um die Funktion und die Auswirkungen von Maschinen und Werkzeugen meint, bezeichnet das Wort „Technik" mehr die realen Manifestationen der Technologie, also die Maschinen und Arbeitsmittel selbst
Die Frage nach der Rolle der Technik im historischen Prozeß der gesellschaftlichen Totalität umfaßt daher ein ganzes Problembündel: Einerseits muß der Technikhistoriker den Zustand der Produktivkraftentwicklung zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben, die Maschinen und Arbeitsgeräte im Produktionsprozeß; zum zweiten muß er fragen, welche naturwissenschaftlichen Vorbedingungen diesen Zustand ermöglicht haben und welche außer-technischen Motive der Einführung einer Technologie zugrunde liegen (z. B. Gewinnerwartung durch „Füllen einer Marktlücke"); als drittes muß analysiert werden, welche wirtschaftlichen, sozialen und politischen Konsequenzen sich ergeben. Dabei darf nicht un-berücksichtigt bleiben, daß ökonomische oder soziale Veränderungen ihrerseits wieder Veränderungen in der Produktivkraftentwicklung verursachen. Insofern ist die Technik Subjekt und Objekt gesellschaftlichen Wandels. Sie beeinflußt den sozialen Zustand bzw. Veränderungsprozeß an einer zentralen Stelle: der Arbeitsorganisation. 1. Die Etablierung der modernen Technik-geschichte in der Bundesrepublik Deutschland 1965 die internationale Forschung seit und Das Jahr 1965 markiert den Beginn der „modernen" Technikgeschichtsforschung in der Bundsrepbulik Deutschland: In diesem Jahr erschien wieder, herausgegeben von Wilhelm Treue, einem bekannten Vertreter der deutschen Technik-und Unternehmensgeschichte, und Friedrich Klemm, dem Leiter der Forschungsstelle für die exakten Naturwissenschaften am Deutschen Museum in München, die Zeitschrift „Technikgeschichte" als Fortsetzung der zwischen 1909 und 1941 erschienenen „Technikgeschichte, Beiträge zur Geschichte der Technik und Industrie". Im Vorwort wird das Erkenntnisziel der neu zu etablierenden Wissenschaft formuliert: „Die Zeitschrift veröffentlicht Beiträge über die geschichtliche Entwicklung der Technik und Industrie sowie deren naturwissenschaftliche Voraussetzungen. Es ist ihr Ziel, die Gebiete in die Darstellung der allgemeinen Geschichte einzuordnen." Diese Zielformulierung blieb bis 1976 bestehen, obwohl sie schon längst nicht mehr den theoretischen Erkenntnisstand der Technikgeschichte widerspiegelte, wie sie auch die Herausgeber der Zeitschrift verstehen Von daher war eine Neuformulierung auf der Basis der bisher erreichten Theorie-diskussion unbedingt nötig. In ihr wurde die Verknüpfung von Technik, Wirtschaft, Sozial-system und Politik wesentlich stärker akzentuiert.
Doch auch die jetzige Zielformulierung: „Die Zeitschrift veröffentlicht Beiträge über die geschichtliche Entwicklung der Technik in ihren wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen" — ist noch zu ungenau. Eine Präzisierung könnte lauten: Die Technikgeschichte befaßt sich mit der Entwicklung der Arbeitsgeräte und -prozesse, den Gründen, Abläufen solcher Folgen Entwicklungen. faßt und Sie insbesondere die naturwissenschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und sozialen Vorbedingungen und Begleitumstände ins Auge. Ihr Ziel ist es, die Bedeutung der Technik im Rahmen einer allgemeinen Gesellschaftsgeschichte herauszuarbeiten.
Die moderne Theoriediskussion, begonnen 1965 mit einem Aufsatz von Wilhelm Treue ist noch nicht abgeschlossen, obwohl die methodologischen und theoretischen Vorüberlegungen schon einen beachtlichen Umfang angenommen haben Eine Bestandsaufnahme, jedoch mit einigen Lücken bzw. Verkürzungen, bietet Rammert in seinem Forschungsbericht 1975 Insgesamt läßt sich feststellen, daß bislang noch keine durchgebildete und einheitliche Theorie und Methodologie der Technikgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland existiert, die zu Forschungszwek-ken operationalisiert werden könnte. Nichtsdestoweniger ist die Zahl der Monographien und Aufsätze, die den Problemkreis Technik und Geschichte zum Gegenstand haben, nahezu unübersehbar. Dabei überwiegen zwar bei weitem die Darstellungen, welche die geschichtliche Entwicklung von Maschinen bzw. Werkzeugen und deren naturwissenschaftliche Vorbedingungen behandeln, doch bahnt sich — wie man bei der Sichtung des Aufsatz-und Rezensionsteils der Zeitschrift „Technikgeschichte" erkennt — hier seit einigen Jahren ein Wandel an
Rammert unterscheidet in der bisherigen technikhistorischen Literatur drei Ansätze:
1. Instrumenten-und verfahrensgeschichtlicher Ansatz, 2. ideen-und kulturgeschichtlicher Ansatz (Technik und soziokulturelle Entwicklung), 3. wirtschafts-und sozialgeschichtlicher Ansatz (im Zentrum steht die Innovationsproblematik). Zum jetzigen Zeitpunkt wird der letzte Ansatz von den Vertretern des Faches Technikgeschichte mehr und mehr in den Mittelpunkt der Theoriediskussion gerückt, mit dem Ziel der Ausdifferenzierung und Operationalisierung für weitere Forschungen. Erfolgversprechend erscheint diese Fragerichtung schon deshalb, weil sie die sachlich unabdingbare Verknüpfung zur Wirtschafts-und Sozialgeschichte betont. Auf der anderen Seite muß unterstrichen werden, daß auch rein Instrumenten-bzw. verfahrensgeschichtliche Untersuchungen wertvolles Basismaterial für die dritte Fragestellung bieten. Es gibt in den deutschen Archiven, insbesondere im Zentralen Staatsarchiv Merseburg (DDR), noch Tausende unausgewerteter Akten rein technischen Inhalts deren Aufarbeitung nach technischen und wirtschaftlichen bzw. unternehmensgeschichtlichen Aspekten Voraussetzung für eine umfassende Geschichte der Technik im Rahmen der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts ist.
Der Stand der internationalen Technikgeschichtsforschung ist unterschiedlich In den USA kam es 1958 zur Gründung der „Society for the History of Technology", deren Fachzeitschrift „Technology and Culture" seit 1960 eine international herausragende Stellung einnimmt. Die der Intensivierung amerikanischen „History of Technology" fällt nicht zufällig in den Zeitraum des beginnenden Raketen-und Rüstungswettlaufs. Es handelt sich deutlich um einen Nebenaspekt der großen technologischen Anstrengungen der fünfziger und sechziger Jahre: Der Ausbau der technikhistorischen Forschung spiegelte die wachsende gesellschaftliche Bedeutung von Technologie und Technik wider.
Dabei kam man — vor allem seit Mitte der sechziger Jahre — zu der inzwischen fast trivial gewordenen Einsicht, daß der technische Fortschritt angesichts der wachsenden ökologischen Belastung unserer Umwelt nicht gleichbedeutend mit sozialem Fortschritt ist. Für die Technikgeschichte wandelte sich damit ihr Erkentnisziel: Statt des Nachvollzugs technisch-wirtschaftlicher Prozesse — oft genug eine reine Erfolgsgeschichte der Technik — stand nun die Frage des „Warum" und „Wohin" stärker im Vordergrund. „Technikgeschichtliche Forschung konnte . . . zum Beispiel dazu beitragen, das Verständnis für technische Zwänge einerseits und gesellschaftliche Entscheidungen andererseits zu verbessern oder die Beziehungen zwischen technischem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum zu präzisieren; sie konnte mithelfen, den Schein des Automatismus technisch-gesellschaftlicher Entwicklungen zu zerstören, Interessen und Entscheidungsmechanismen bloßzulegen und damit schließlich die Voraussetzungen für gesellschaftlich verantwortliches Handeln in der Gegenwart zu verbessern."
Noch ein weiterer Aspekt machte die Technik-geschichte interessant: die Entwicklungspolitik der industrialisierten Staaten gegenüber den Ländern der Dritten Welt. So fragte Knut Borchardt 1967: „Europas Wirtschaftsgeschichte — ein Modell für Entwicklungsländer?" und er warnte vor einer undifferenzierten Übertragung des europäischen Industrialisierungsmodells auf die sogenannten Entwicklungsländer.
In der Sowjetunion nahm die Geschichte der Naturwissenschaften und Technik von Anfang an im Hinblick auf die Bedeutung der Produktivkräfte im System des historischen Materialismus (menschliche Arbeit, Maschinen, Produktionsorganisation und Wissenschaft) einen wichtigen Platz ein. Doch wurde das 1932 gegründete „Institut für Geschichte der Wissenschaft und Technik" im Zuge der Stalinschen Säuberungen aufgelöst und erst 1953 wieder eingerichtet, so daß die sowjetische Forschung zurückgeworfen wurde. Auch heute steht sie noch unter politisch-weltanschaulicher Bevormundung
Die in der DDR zu verzeichnenden Ansätze scheinen zu stagnieren während die polnische Forschung umfangreiche Ergebnisse vorzuweisen hat
In Frankreich hat die Geschichte der Technik seit langem einen anerkannten Platz innerhalb der Geschichtswissenschaft, vor allen Dingen der Schule der „Annales" Der Mitbegründer der gleichnamigen Zeitschrift, Lucien Febvre, formulierte schon 1935 einen strukturgeschichtlichen Ansatz für die Rolle der Technik in der Geschichte, wobei er jedoch die eigengesetzliche Entwick-Jungdieses Phänomens betont und den Verknüpfungen zur Wirtschaft und Gesellschaft nur eine sekundäre Rolle zuweist
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Stand der nationalen und internationalen Technikgeschichtsforschung bereits weit fortgeschritten ist, daß bislang aber keine einheitliche (oder dominierende) Theorie über Gegenstand und Methodologie dieses Problembereichs entwickelt werden konnte. Stark verkürzt lassen sich vielleicht alle hier kurz skizzierten Standorte in die Aussage zusammenziehen, daß die Technikgeschichte Platz, Wirkungsgrad und Wirkungsart der Technik im Rahmen der Geschichte der menschlichen Gesellschaft bestimmen will. 2. Quellen und Problembereiche der Technik-geschichte
Die Quellenlage des Technikhistorikers entspricht dem spezifischen Gegenstandsbereich: Die schriftlichen Quellen technischen Inhalts, die überkommenen Werkzeuge und Maschinen und nicht zuletzt die technischen Kultur-denkmäler erfordern die Zusammenarbeit mit Technikern und Ingenieuren, weil die Quellen-methodik des Historikers hier nicht ausreicht. Die handschriftlichen Quellen, die in den deutschen Staats-und Werksarchiven aufbewahrt werden, sind erst zum geringen Teil bearbeitet bzw. bekannt Es handelt sich hier u. a. um Patentgesuche bis 1877, danach wurden diese Akten beim Reichs-bzw. Bundespatentamt in Berlin, seit 1950 in München archiviert. Die Werksarchive enthalten oft detaillierte schriftliche Überlieferungen über den Vorgang der Einführung einer technischen Neuerung.
Zu den gedruckten technikgeschichtlichen Quellen zählen u. a. Maschinenbücher des 18. Jahrhunderts technische Zeitschriften des 19. Jahrhunderts technische Fachbücher und Lexika daneben Monographien technischen Inhalts, aber auch Unternehmnerbiographien und vieles mehr.
Aufschlüsse über die Arbeitsorganisation erhalten wir aus zeitgenössischen Bildern, Karten, Zeichnungen und Grubenrissen, deren Informationsgehalt allerdings anhand schriftlicher Quellen überprüft werden sollte, um Fehl-deutungen zu vermeiden bzw. Ungenauigkeiten auszugleichen. Ein Beispiel dafür ist Adolf von Menzels Bild „Eisenwalzwerk", welches mehr einen impressionistischen Ausschnitt aus der Arbeitswelt liefert als genaue Vorstellungen vom Ablauf der Arbeit selbst. Doch gerade, weil dieses Bild einen Eindruck schwer-arbeitender Menschen vermittelt, ist es eine wertvolle Ergänzung zu rein sachlichen Quellen über das Eisenwalzen im 19. Jahrhundert.
In diese Richtung gehen auch die Sachquellen wie Maschinen und Modelle, die in den zahlreichen technischen Museen der Bundesrepublik und des Auslandes gesammelt worden sind. Genannt seien hier nur die beiden bekanntesten, das Deutsche Museum in München und das Bergbaumuseum in Bochum.
In den letzten Jahren hat noch eine neue Gattung von Sachquellen an Bedeutung gewonnen, nämlich die technischen Kulturdenkmäler. Es sind typische Gebäude, Produktionsanlagen und Verkehrsmittel bzw. auch Kommunikationssysteme zumeist aus dem 19. Jahrhundert, welche die Entwicklung industrieller Prozesse veranschaulichen. Mit ihrer wissenschaftlichen Auswertung befaßt sich die neu entstandene Industriearchäologie In einem noch zu schreibenden Handbuch der Technik-geschichte müßten alle diese Quellengattungen systematisch aufgelistet und für die zu-künftige Technikgeschichtsforschüng bereitgestellt weden
Antike und Mittelalter sind recht gut erforscht, und auch die Rolle von Naturwissenschaft und Technik im 16. — 18. Jahrhundert ist schon Gegenstand umfangreicher Untersuchungen gewesen, wobei jedoch in beiden Bereichen noch zahlreiche offene Fragen bestehen.
Der Forschungsschwerpunkt liegt dagegen eindeutig in der Zeit der sogenannten Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Das hat seinen Grund in der Tatsache, daß von diesem Zeitraum an die Technik ein wesentlicher, gesellschaftlich determinierender Faktor geworden ist, der alle Bereiche historischen Geschehens mitbeeinflußt. Diese Forschungspräferenz erscheint sinnvoll, weil die Technikgeschichte den Zustand der gegenwärtigen Welt miterklären kann: Sie zeigt die Gründe für technologische Entwicklungen auf, deren Verläufe und ihre positiven wie negativen Begleiterscheinungen.
Die folgenden thematischen Komplexe im 19. und 20. Jahrhundert gilt es noch näher zu erforschen, wobei angesichts der Vielfalt der Problembereiche und Gegenstände ein Uber-einkommen über die Frage notwendig erscheint, was vorrangig zu behandeln ist 1. Die naturwissenschaftlichen Vorbedingungen für technische Erfindungen Gemeinhin wird angenommen, daß alle technologischen Fortschritte im Bereich der Werkzeuge, Maschinen und Verfahren auf Erkenntnissen der Naturwissenschaft beruhen, daß Technik angewandte Naturwissenschaft sei, eine „Auswertung und Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse zur Befriedigung materieller Lebensbedürfnisse Diese Anschauung hatte zur Folge, daß das Sozialprestige des Technikers eindeutig unter dem des Wissenschaftlers lag
In den letzten nun mehrere Untersuchungen haben gezeigt, daß der technisch-industrielle Fortschritt sich häufig losgelöst vom naturwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt vollzogen hat, daß aber die Vorstellung vom wissenschaftlich ungebildeten Praktiker, der nur durch Versuche zu technischen Neuerungen kommt, falsch ist. Technologische Kenntnisse wurden durch „wissenschaftliche Gesellschaften" und Zeitschriften verbreitet, und Techniker, Industrielle und Wissenschaftler standen häufig in einem regen Erfahrungsaustausch. Doch von einer bewußten Übernahme naturwissenschaftlicher Erkenntnisse im Bereich der Technologie kann bis etwa 1850 nur zum Teil die Rede sein; erst das breitere Aufkommen der Elektrotechnik und chemischen Industrie verknüpfte wissenschaftliche Grundlagenforschung und industrielle Anwendüng in immer stärkerem Maße und führte schließlich zur Einrichtung von Forschungslaboratorien als wesentlichem Teil chemischer Industriebetriebe Neue Stoffe und Verfahren wurden nun systematisch gesucht und auf ihre wirtschaftliche Nutzanwendung getestet.
In diesem Bereich von naturwissenschaftlichem Erkentnisfortschritt und industrieller Nutzanwendung bleiben noch zahlreiche Probleme zu lösen. Es fehlt bislang an einer umfassenden Geschichte der chemischen Industrie unter Einbeziehung der chemischen Grundlagenforschung die ihrerseits wieder zahlreiche Impulse durch ökonomisch motivierte Forschung erhielt Auch die -für Be reiche Eisen und Stahl und Elektrotechnik ist die entsprechende Aufarbeitung noch nicht geleistet.
Zu den wissenschaftlichen Vorbedingungen des technologischen Fortschritts gehört untrennbar der Bereich des technischen Ausbildungswesens. Hier ist in einigen aufschlußreichen Studien schon viel Klarheit über dessen Rolle und Bedeutung geschaffen worden 2. Die Einführung neuer Werkzeuge und Verfahren Das in der neueren Technikgeschichtsschreibung vielgebrauchte Schlagwort „Innova-tion" umfaßt ein ganzes Problembündel technischer und wirtschaftlicher Fragen. Der Begriff selbst wird in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen mit ganz unterschiedlichem Inhalt gefüllt gemeinsame Kriterien sind die Neuheit einer Sache und deren allmähliche Durchsetzung. Technische Neuerungen bei Arbeitsgeräten, Maschinen, Produktionsverfahren, im Verkehrswesen usw. müssen u. a. auf folgende Aspekte hin untersucht werden: a) Wie kommt es zu der betreffenden Innovation? Zur Beantwortung dieser Frage gibt es vier wichtige unterschiedliche, im konkreten Fall aber durchaus zusammenhängende Theorien b) Welche Faktoren beeinflussen die Einführung einer technischen Neuerung, bzw. in welchen Phasen geht der Innovationsprozeß vor sich? c) Daran schließt sich die Frage nach der raum-zeitlichen Ausbreitung einer Neuerung an, nach der sogenannten Innovationsdiffusion nach den ökonomischen und technischen, evtl, auch politischen Faktoren, die diesen Prozeß beeinflussen. d) An dieser Stelle kann dann die Bedeutsamkeit einer Innovation im Rahmen des jeweiligen sozio-ökonomischen bzw. technischen Systems bestimmt werden: Handelt es sich um eine Basis-oder Verbesserungsinnovation? Deren jeweiliger ökonomischer Stellenwert ist allerdings damit noch nicht festgelegt. So können Folgeinnovationen wirtschaftlich durchaus wichtiger sein als Basisinnovationen. e) Welche Auswirkungen haben technische Neuerungen im Bereich der Arbeitsorganisation und der Betriebsstruktur? f) Welche Wirkung geht von ihnen auf das wirtschaftliche Wachstum eines Industriesektors aus, bzw. wie hängen Innovationen und gesamtwirtschaftliches Wachstum zusammen? g) Welche sozialen Veränderungen resultieren aus einer neuen Situation im Bereich der Arbeitsorganisation und der wirtschaftlichen Verhältnisse? h) Welche Beziehungen bestehen zwischen Technik und Politik?
Alle diese Fragen münden in einer einzigen: Welche Rolle und Bedeutung kommt dem Stand der Technik innerhalb eines bestimmten Zeitraums in einer Gesellschaft zu?
Die Zahl technikgeschichtlicher Untersuchungen, die nach dem vorstehenden Fragenkatalog angelegt sind, ist z. Z. noch klein
IV. Die Verbindung zwischen Technikgeschichte und Wirtschafts-und Sozialgeschichte
Aus den bisherigen Erörterungen mag deutlich geworden sein, daß die Betrachtung der Technikgeschichte nur in ihrem jeweiligen ökonomischen und sozialen Kontext sinnvoll ist, daß Fragestellungen und Erkenntnisse der Sozial-und Wirtschaftsgeschichte zur Deutung technikhistorischer Entwicklungen herangezogen werden müssen und daß umgekehrt jene Fachdisziplinen nicht ohne den Beitrag der Technikgeschichte auskommen können.
Da die Wirtschaftswissenschaften sich seit etwa zwei Jahrzehnten bemühen, den technischen Fortschritt als Faktor für das Wirtschaftswachstum exakt zu bestimmen, und da auch die Soziologie den Problembereich Technik als wesentlich erkannt hat (sozialer Wandel, Industriesoziologie u. a.), wäre es nur folgerichtig, wenn auch die Wirtschafts-und Sozialgeschichte die Technik in ihre Fragestellungen einbezieht Doch ist unter den Wirtschaftshistorikern der Stellenwert technischer Erfindungen und Innovationen im Rahmen ökonomischer Entwicklungen noch umstritten weil die Gretchenfrage: Wo liegt der entscheidende Impulsgeber für sozio-ökonomische Entwicklungen? für das 19. Jahrhundert letztlich noch nicht beantwortet werden kann.
Einerseits scheint der Impuls für technische Erfindungen im 19. und 20. Jahrhundert zumeist im wirtschaftlichen Bereich zu liegen. Gewinnerwartung ist vielfach das Hauptmotiv für technologische Aktivitäten. So hat der amerikanische Wirtschaftshistoriker Jacob Schmookler anhand umfangreichen Daten-materials feststellen können, daß die Zahl der Patentanmeldungen steigt, wenn sich der entsprechende Industriesektor in einem Aufwärtstrend befindet: Steigender Waren-Output und eine steigende Gewinnquote ziehen eine steigende Zahl von Erfindungen bzw. Patenten nach sich, weil die technologische Aktivität durch die vorhandene Gewinnerwartung verstärkt wird. Eine weitere Expansion des Industriesektors wird vorausgesetzt.
Andererseits haben grundlegende Erfindungen bzw. Innovationen im Prozeß der quantitativen wie qualitativen Ausbildung eines Industriesektors häufig die Funktion einer Initial-zündung Die wirtschaftliche Expansion ist dann das sekundäre Moment. Folgeerscheinung: Der Erfolg hängt dann von den Markt-gegebenheiten ab. Begleitet wird sie fast immer von einer Reihe von Verbesserungs-oder Sekundärinnovationen, die die Arbeits-bzw. Kapitalproduktivität erhöhen sollen.
Als ein Beispiel für eine wichtige Innovation soll hier die 1856 erstmals in die industrielle Praxis erfolgreich eingeführte Bessemer-Birne zur Stahlherstellung genannt werden. Der steigende Stahlbedarf u. a. für den Eisenbahnbau (den „Schlagadern der Industrialisierung") forcierte das Streben nach einer technischen Neuerung, die das qualitativ wie quantitativ veraltete Puddel-Verfahren ablösen sollte. Dennoch dauerte es eine Reihe von Jahren, bis sich diese Innovation auf breiter Basis durchgesetzt hatte. Die technikgeschichtliche Forschung hat hier nun die Aufgabe, diesen Problemkreis von seiner technisch-(betriebs-) wirtschaftlichen Seite aufzuarbeiten und die Ergebnisse einzuordnen in die bereits bestehenden wirtschaftsgeschichtlichen Erkenntnisse über die „Industrielle Revolution".
Der Aspekt der sozialen Folgen der Technik im 19. Jahrhundert ist schon Gegenstand unübersehbarer Untersuchungen gewesen deshalb sollen hier nur einige Stichworte genannt werden. Die Mechanisierung der Arbeitsplätze wirkt sich auf die Arbeitstätigkeit und Qualifikation der Arbeiter aus; sie ver-langt eine andere Arbeitsdisziplin als in handwerklichen Betrieben
Während im ländlichen Familienbetrieb oder im Handwerk des 18. Jahrhunderts noch eine gewisse persönliche Zeiteinteilung möglich war, diktierte mit dem Aufkommen der mechanisierten Fabrik die Maschine das Arbeitstempo. Regelmäßigkeit und steigende Intensität der Arbeitsanforderungen verlangten von den Fabrikarbeitern eine wesentlich höhere Arbeitsdisziplin. Die erhöhte und in der qualitativen Ausformung ungewohnte physische und auch psychische Belastung führte u. a. zu einem Ansteigen der Trunksucht unter der Industriearbeiterschaft. Jedoch ist der Alkoholismus, der sich im 19. Jahrhundert zu einem bedeutenden sozialen Problem auswächst, nicht nur darauf zurückzuführen, sondern auch auf die menschenunwürdigen Wohnverhältnisse und die allgemein elenden Lebensbedingungen. Der Ausbau industrieller Produktionsstätten verändert die Sozialstruktur der Städte, ja legt eigentlich erst den Grundstein für die Entstehung und Ausbreitung moderner Großstädte: die Urbanisierung geht einher mit der Proletarisierung breiter städtischer Bevölkerungsschichten. Damit verbunden ist zur Zeit der „Industriellen Revolution“ eine breit angelegte Binnenwanderung bzw. Auswanderung. Am Beispiel der Zuwanderung von Tausenden von Arbeitern aus den östlichen Teilen des Deutschen Reiches in das Ruhrgebiet läßt sich erkennen, welche sozialen Probleme dieser Vorgang für die Betroffenen beinhaltete. Wert-und Normvorstellungen sowie Interaktionsformen und Lebensstil einer ländlich orientierten Schicht wurden hier mit der industriellen Lebensform konfrontiert, was zwangsläufig zu Konflikten bzw. Anpassungsschwierigkeiten führen mußte. Den Zuwanderern standen in ihrer neuen Umwelt drei Reaktionsalternativen zur Verfügung: 1. Beibehaltung des eigenen Wertesystems und Lebensstils mit der Gefahr von Konflikten, 2. langsame Anpassung, 3. schnelle bewußte Verinnerlichung der industriellen Lebensform. An diesem Beispiel mag andeutungsweise klar werden, wie die Veränderung der Umwelt durch die Arbeitsorganisation (industrielle Produktionstechnik und wirtschaftliche Organisation) die Lebensverhältnisse der Menschen beeinflußt.
Die daraus entspringende „Sociale Frage" im 19. Jahrhundert verknüpft schließlich die Bereiche Technik, Wirtschaft und Sozialsystem mit dem Bereich Politik: Arbeiterbewegung und Sozialgesetzgebung mögen hier als Hinweise genügen.
V. Technikgeschichte im Geschichtsunterricht
Die Vertreter der westdeutschen Technikgeschichte haben sich bis 1975 noch nicht mit der Stellung ihres Faches im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I und II auseinander-gesetzt, wohl aus der Erkenntnis heraus, daß eine erkenntnistheoretisch wie methodologisch noch unfertige Wissenschaftsdisziplin sich nicht auf den immer noch schwankenden Boden der Geschichtsdidaktik begeben soll.
Auch die Verfasser von Lehrbüchern für den Geschichtsunterricht behandeln die Rolle der Technik im historischen Prozeß recht stiefmütterlich was aber durch die bislang unzureichenden fachwissenschaftlichen Ergeb-nisse und die Bedeutungslosigkeit der Technikgeschichte als Universitätsfach erklärbar ist. Eine Ausnahme unter den Geschichtsbüchern bildet die für die Sekundarstufe I konzipierte „Reise in die Vergangenheit“ von Ebeling /Birkenfeld (Bd. 3, Westermann-Verlag, Braunschweig), wo zum einen der Technik im Prozeß der Industrialisierung eine entscheidende Rolle zugesprochen wird und zum anderen die methodisch-didaktische Konzeption aufgrund des Textes, der Quellen, Abbildungen und Arbeitsaufgaben vorbildlich genannt werden muß.
Von Seiten der Geschichtsdidaktik her wird erst seit kurzem die Bedeutung der Technik im 19. Jahrhundert stärker akzentuiert Die didaktische Legitimation dieses Problemkreises ergibt sich aus folgender Überlegung des Bremer Technikhistorikers Ludwig: „Die Tech-nik hat seit dem 19. Jahrhundert das Leben der Gesellschaft unseres Kulturkreises entscheidend mitgestaltet. Die Fortschritte der Natur-und Ingenieurwissenschaften haben sich ebenso wie deren industrielle Auswertung und die allgemeine Technisierung der Umwelt im Geschichtsverlauf erkennbar ausgewirkt . . . Gewonnene Erkentnisse über die Rolle der Technik in der Geschichte verhelfen aber zu einem Verständnis der Gegenwart und der Aspekte zukünftiger Entwicklung."
Hierbei darf die Aufhellung des geschichtlich Gewordenen unserer heutigen technisierten Umwelt nicht als bloße Erfolgsgeschichte des technischen Fortschritts erscheinen, darf die Technik auch nicht als unveränderbarer Sachzwang dargestellt werden, sondern als von menschlicher Entscheidung abhängig. Gerade unter dem Eindruck der jüngsten technischen Entwicklungen muß die unkritisch gebrauchte Gleichsetzung von technischem und gesellschaftlichem Fortschritt in Frage gestellt werden, wobei andererseits natürlich eine pauschale Negation keineswegs gerechtfertigt wäre.
Ein oberstes Lernziel ließe sich etwa so formulieren: Die Schüler sollen erkennen, daß Technik und Wirtschaft immer stärker historische Prozesse und ihre eigene Gegenwart beeinflussen und daß sie Bereitschaft zur Auseinandersetzung diesen aufbringen mit Faktoren und dazu die nötigen Kenntnisse erwerben müssen. Gleichzeitig ist diese stärkere wirtschafts-, technik-und sozialhistorische Akzentuierung des 19. und 20. Jahrhunderts ein Beitrag zur Korrektur des bislang vermittelten eindimensionalen, weil nahezu ausschließlich an den politischen Ereignissen orientierten Geschichtsbildes bzw. -bewußtseins.
Einige Grobziele technikgeschichtlichen Unterrichts in Verbindung mit wirtschafts-und sozialgeschichtlichen Aspekten seien hier angeführt: 1. Die Schüler sollen die industrielle Gesellschaft der Gegenwart in ihren wichtigen Erscheinungen kennenlernen, um eine eigene Standortbestimmung und kritische Auseinandersetzung zu ermöglichen. 2. Sie sollen dazu befähigt werden, indem sie neben der Gegenwartsanalyse auch die historische Dimension erfassen lernen, ohne die ein fundiertes Verständnis der Gegenwart nicht möglich ist. 3. Sie sollen die Bereitschaft entwickeln, sich mit dem Problem des technischen Fortschritts sachkundig und kritisch auseinanderzusetzen. Dazu ist es notwendig, anhand historischer Beispiele zu erfahren, daß technischer Fortschritt von Menschen mit bestimmten, zumeist wirtschaftlichen Motiven „gemacht" wird. Ebenso lassen sich die sozialen Folgen positiver wie negativer Art von Technik am geschichtlichen Beispiel erklären. 4. Die Schüler sollen erkennen, daß die Lebens-und Arbeitsbedingungen einer industriellen Gesellschaft immer stärker von der Technik diktiert werden, daß ihr eigenes Dasein von ihr beeinflußt wird. Jedoch muß ihnen bewußt gemacht werden, daß die Technik nichts Unveränderbares, ein den Menschen beherrschender Sachzwang ist, sondern im Dienst der menschlichen Bedürfnisse steht und von ihm gelenkt wird. 5. Dem Schüler muß allerdings auch bewußt gemacht werden, daß die gesellschaftlich wünschbaren und möglichen Fortschritte der Technik oft unterbleiben, weil innerhalb des privatkapitalistischen Systems die Anwendung von Technik weitgehend von den Kapitalverwertungsbedingungen, d. h.den Profit-möglichkeiten gesteuert wird.
Es bleibt abschließend nur die Hoffnung auszusprechen, daß in der Geschichtswissenschaft und im Geschichtsunterricht der Rolle von Technik und Wirtschaft vornehmlich für das 19. und 20. Jahrhundert der Platz eingeräumt wird, der sachlich angemessen erscheint. Ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung war 1977 der Schülerwettbewerb „Deutsche Geschichte — Sozialgeschichte des Alltags" mit dem Thema: „Arbeitswelt und Technik im Wandel", der, getragen von der Kurt-A. -Körber-Stiftung Hamburg, um den Preis des Bundespräsidenten ging. Hier heißt es zur Begründung der Wichtigkeit des Themas: „Eine Betrachtung von Arbeitswelt und Technik in der Vergangenheit zeigt Unterschiede und Parallelen zu unserer heutigen Lebensweise. Indem man die Voraussetzungen, Bedingungen und Entwicklungen des Alltags-lebens untersucht, wird das Verständnis für die Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Verhaltens in der Gesellschaft gefördert."