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Das Ringen zwischen Ost und West um Sicherheit. SALT, MBFR und die Optionen der westlichen Politik | APuZ 26/1979 | bpb.de

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APuZ 26/1979 Artikel 1 Die Bundesrepublik -eine heimliche Großmacht? Zur Diskussion über die Grundlagen bundesrepublikanischer Außenpolitik Das Ringen zwischen Ost und West um Sicherheit. SALT, MBFR und die Optionen der westlichen Politik

Das Ringen zwischen Ost und West um Sicherheit. SALT, MBFR und die Optionen der westlichen Politik

Gerhard Wettig

/ 51 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

festhalten will und sein partielles militärisches Übergewicht in politische Vorteile umzusetzen sucht. An diesem Punkt liegen die Aufgaben, die bei einem künftigen Ost-West-Arrangement über wechselseitige Sicherheit gelöst werden müssen, wenn das Unternehmen überhaupt Sinn haben soll. Es kann nicht genügen, wenn sich die beiden Supermächte nur — nach dem Vorbild von SALT 1 und SALT II — über Regelungen auf der global-strategischen Ebene verständigen und damit tendenziell die Probleme auf der darunterliegenden militärischen Ebene (also die Fragen der Sicherheit für ihre Verbündeten) verschärfen. In kontinental-strategischer Hinsicht wie in der Gefechtsfeld-Dimension bestehen gefährliche Ungleichgewichte — hier liegen also die eigentlichen Instabilitätsfaktoren; sie gilt es vor allem anderen zu beheben. Das Leitprinzip dabei muß sein, dem abstrakt-politisch bereits akzeptierten Grundsatz des Verzichts auf die Anwendung, Androhung u'nd Manifestation von Gewalt zwischen den Staaten auch konkret-sicherheitspolitisch Geltung zu verschaffen, indem mittels Krisen-Stabilität die Möglichkeit zu jedwedem „ungestraften" Gewaltgebrauch beseitigt, also die Wahrscheinlichkeit, daß irgendeine Seite sich zur Anwendung, Androhung oder Manifestation von Gewalt veranlaßt sehen könnte, so gering wie möglich gehalten wird.

I. Entspannung und Sicherheit

1. „Politische" und „militärische" Entspannung

Seit 1969 sucht die sowjetische Führung das Thema der „europäischen Sicherheit" zum Gegenstand multilateraler Verhandlungen in Europa zu machen. Es entsprach ihren Absichten, daß, als nach einigem Hin und Her die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zustande kam, nur die Fragen der „politischen Sicherheit"

(wie insbesondere die Prinzipien der Grenzunverletzlichkeit, des Gewaltverzichts und der Nichteinmischung) auf die Tagesordnung gesetzt wurden, während die militärischen Bedingungen der Sicherheit in diesem Zusammenhang außer Betracht blieben. Zwar kamen auf nachdrücklichstes Verlangen der NATO-Staaten hin fast gleichzeitig Ost-

West-Verhandlungen über wechselseitige ausgewogene Streitkräftereduzierungen in Mitteleuropa (MBFR) in Gang, doch waren diese von den KSZE-Beratungen über die politischen Probleme in jeder Weise getrennt.

Das führte dazu, daß die KSZE im Sommer 1975 einen erfolgreichen Abschluß fand, während die MBFR-Verhandlungen keine wesentlichen Fortschritte machten. Die sowjetischen Politiker und Kommentatoren hatten seit 1970 wiederholt erkennen lassen, daß nach ihrer Ansicht zunächst auf der KSZE ein Arrangement der „politischen Entspannung" getroffen werden sollte und daß dann anschließend — möglichst in einem „gesamteuropäischen" Rahmen — die Fragen der „militärischen Entspannung" zur Regelung gelangen müßten. Dementsprechend leitete Moskau nach dem Ende der KSZE sogleich eine lautstarke Kampagne unter der Parole ein, es gehe nunmehr darum, das Werk der Entspannung von der militärischen Seite her zu vollenden. )

Die östliche Propaganda stieß in den westlichen Ländern auf Argwohn. Die UdSSR und die meisten ihrer Verbündeten hatten die Jahre der „politischen Entspannung", während der die westlichen Rüstungen stagniert hatten oder zurückgegangen waren, zu einem zügigen Ausbau ihrer militärischen Kapazitäten benutzt. Nach westlicher Einschätzung hatten sie sich auf diese Weise vielfach unvertretbar günstige Positionen gegenüber der NATO verschafft. Außerdem arbeitete die östliche Seite mit einseitigen Darstellungen INHALT I. Entspannung und Sicherheit 1. „Politische" und „militärische" Entspannung 2. Das Problem der Krisen-Stabilität 3. Ungleichgewichtige Rüstungsentwicklungen 4. Der Stellenwert Chinas in der sowjetischen Sicherheitspolitik II. Probleme bei den Ost-West-Verhandlungen über Rüstungsbegrenzung (SALT und MBFR)

1. Entwicklungen bei den global-und kontinental-strategischen Kräfterelationen 2. SALT und das global-strategische Verhältnis 3. SALT und das kontinental-strategische Verhältnis in Europa 4. Das technologische Moment beim ko'ntinental-strategischen Verhältnis 5. Kontinental-strategisches und europäisches Gefechtsfeld 6. Das MBFR-Konzept der NATO 7. Die Haltung der UdSSR zum Paritätskonzept 8. Sowjetische Vorstellungen einer Rü-

stungsbegienzungszone 9. Das westliche MBFR-Dilemma 10. Gesamtwertung der Verhandlungssituation III. Optionen der westlichen Politik 1. Zielsetzungen für eine Regelung wechselseitiger Sicherheit 2. Möglichkeiten der westlichen Verhandlungsführung und Forderungen, welche die Mitgliedstaaten des westlichen Bündnisses in eine Art Anklagestand versetzen sollten. Die Vorschläge, welche die Warschauer-Pakt-Staaten auf dem Belgrader Folgetreffen zur KSZE 1977 auf den Tisch legten und in der europäischen Öffentlichkeit als einzig sinnvolles Friedensprogramm zu propagieren suchten, erschienen weder den westlichen noch den neutralen und nicht-gebundenen Ländern als geeignete Basis für eine künftige Regelung.

2. Das Problem der Krisen-Stabilität Von der polemischen Instrumentalisierung abgesehen, entbehrt die von der UdSSR empfohlene Reihenfolge nicht der vernünftigen Überlegung. Geht man davon aus, daß keine der beiden Allianzen die andere aus Aggressionslust bekriegen will, dann gibt es zwei Haupterfordernisse der Friedenssicherung in Europa. Zum einen soll eine vorbeugende Entschärfung der politischen Konflikte dafür sorgen, daß die Wahrscheinlichkeit von kri-senund kriegsträchtigen Spannungen so gering wie möglich gehalten wird. Dies ist im Zuge der Ostverträge und der KSZE großenteils geschehen. Zum anderen besteht das noch unerfüllte Desiderat, daß in dem — nicht mit restloser Sicherheit auszuschließenden — Fall einer Krise keine der beiden Sei‘ ten aus dem militärischen Kräftverhältnis die Erwartung herleiten kann, durch den direkten oder indirekten Gebrauch von Gewalt Vorteile zu erlangen, die nicht mit unannehmbaren Nachteilen und Risiken bezahlt werden müßten. Mit anderen Worten: Keine Seite darf die Fähigkeit besitzen, die andere irgendwie zu bedrohen, ohne sich damit zugleich selbst einer entsprechenden Bedrohung auszusetzen.

Wenn von den Relationen der militärischen Macht wechselseitig ein gleich starker Anreiz ausgeht, sich der Gewalt gegeneinander zu enthalten, dann besteht ein Zustand der Krisen-Stabilität: Niemand sieht sich in diesem Falle durch Ambition oder Nervosität zu militärischem Losschlagen oder Druckausüben veranlaßt. Die Herstellung eines derartigen Zustandes muß als zentrales Erfordernis einer bündnisübergreifenden (aber nicht bündnisaufhebenden) Sicherheitspolitik gelten. Eine Rüstungs-Stabilität (d. h. die Festlegung des Rüstungs-Umfangs auf gleichem oder niedrigerem Niveau wie bisher) dagegen kann, wenn sie der Friedenssicherüng dienen soll, erst auf dieser Basis anvisiert werden: Die Festschreibung eines militärischen Kräfteverhältnisses, das einer Seite Potentiale ungestrafter Kriegsinitiative einräumt, würde ein ungleiches Interesse an der Kriegsverhütung schaffen und damit die realpolitische Grundlage des Gewaltverzichts gefährden.

Das KSZE-Prinzip des Verzichts auf die Anwendung, Androhung und Manifestation von Gewalt hat politisch-abstrakt das Ziel vorgegeben, das durch die Schaffung von Krisen-Stabilität militärisch-konkret festgelegt werden könnte und sollte. Auf das Recht zum Gewaltgebrauch zu verzichten, kann jedoch, wenn mit dem vereinbarten Prinzip Ernst gemacht werden soll, auf die Dauer nicht ausreichen: Da sich die Staaten in den Fragen ihrer Sicherheit — mit einer ironischen Redewendung aus der UdSSR ausgedrückt — normalerweise nicht auf die „Macht des Papiers"

verlassen, erscheint es sinnvoll, ja notwendig, auch die Möglichkeit zum Gewaltgebrauch für alle Beteiligten mittels Krisen-Stabilität so weit wie nur vorstellbar einzuschränken. Verhandlungen, die der Erzielung von Krisen-Stabilität dienen könnten, haben bisher nur in Teilbereichen stattgefunden: Die MBFR-Thematik umfaßt nur einen — allerdings nicht unwichtigen — Ausschnitt der europäischen Gefechtsfeld-Dimension. Westliche Versuche, dabei auch Maßnahmen der Zurückhaltung im Blick auf die dahinterliegenden Aufmarschgebiete und auf die Nord-bzw. Südflanke Europas zur Sprache zu bringen, sind bisher an sowjetischem Widerstreben gescheitert. Inzwischen mehren sich aber .

die Anzeichen dafür, daß Moskau einer Erörterung dieser Fragen aufgeschlossener als bisher gegenübersteht. Die Zielvorstellungen weichen zwar, wie das Kommunique über die Konferenz der östlichen Außenminister vom 15. Mai 1979 erkennen läßt, noch stark von den westlichen Überlegungen ab, doch ist damit immerhin eine erste Voraussetzung für einen Wandel des bisher starren Nein geschaffen. Allerdings besitzen die „vertrauensbildenden Maßnahmen" der Ankündigung von Manö-

vern und der erwünschten Einladung von Manöverbeobachtern, mit denen die KSZE allein den militärischen Bereich berührt hat, für sich einen zu geringen Stellenwert, um die notwendige Verklammerung der mitteleuropäischen Lage mit den übrigen Gebieten Europas herbeizuführen. Das global-strategische militärische Verhältnis zwischen den USA und der UdSSR (d. h. die interkontinentalen Trägersysteme und Nuklearwaffen der beiden Supermächte) steht bei den Verhand-lungen über eine Begrenzung der strategischen Rüstungen (SALT) zur Diskussion. Die kontinental-strategischen Kräfterelationen in Europa und Asien sind bisher noch nicht zum Gegenstand von Gesprächen geworden. Uber die Spielregeln, die Ost und West politisch und militärisch bei den Konflikten in den Ländern der Dritten Welt beachten sollten, gibt es nicht einmal ansatzweise einen Dialog. 3. Ungleichgewichtige Rüstungsentwicklungen In den westlichen Ländern herrschte nach den Fortschritten der Ost-West-Entspannung zu Beginn der siebziger Jahre weithin die Erwartung, daß nun auch das Problem des Rüstungswettlaufs eine Lösung finden werde. Der Abschluß eines ersten Abkommens über die Begrenzung der strategischen Waffen (SALTI) im Mai 1972 und der Beginn von Gesprächen über eine Truppenverringerung in Mitteleuropa (MBFR) Anfang 1973 schienen zu derartigen Hoffnungen konkret zu berechtigen. Es zeigte sich jedoch während der folgenden Jahre immer deutlicher, daß die Entspannung die militärischen Anstrengungen nur der NATO-Staaten, nicht aber der Warschauer-Pakt-Mitglieder dämpfte. Daher schlugen militärische Fachleute in den westlichen Ländern zunehmend Alarm: Es drohe, so hieß es, eine Ausweitung der bereits bestehenden begrenzten östlichen Überlegenheit auf den potentiellen Kriegsschauplätzen entlang den Grenzen der UdSSR bzw. ihres Hegemonialgebietes, und das bei gleichzeitiger Parität — oder sogar Überparität — gegenüber den USA (die herkömmlicherweise mit ihrer Kernwaffenmacht lokale Schwächemomente des Westens hatten ausgleichen können) auf der global-strategischen Ebene.

Nach westlichen Erkenntnissen haben die Sowjetunion und ihre Verbündeten im Verlauf des Entspannungsprozesses keineswegs ihre militärischen Anstrengungen eingeschränkt.

Das sowjetische Militärbudget liegt, wenn man die Kosten für den „Output" an Truppen und Rüstungen berechnet, mit 11 bis 13 Prozent des Bruttosozialprodukts relativ über doppelt so hoch wie das amerikanische. Auch absolut gesehen dürfte die UdSSR bei den Verteidigungsaufwendungen die USA mittlerweile überholt haben. Die jährliche Steigerungsrate der sowjetischen Militärausgaben beträgt nach westlichen Schätzungen 4 bis 5 Prozent. Diese Zunahme — mit der Wirkung eines fortlaufenden starken Ausbaus der sowjetischen Militärmacht in allen Bereichen — blieb auch während der großen Entspannungsfortschritte zu Beginn der siebziger Jahre konstant, als die Entwicklung der westlichen Verteidigungshaushalte eine entgegengesetzte Tendenz nahelegte. Auch die anderen War-schauer-Pakt-Staaten sahen sich dazu veranlaßt, militärisch mehr oder weniger stark zu-zulegen. Die unterschiedliche Entwicklung in Ost und West führte zu einer Verschiebung des militärischen Kräfteverhältnisses. Auf der global-strategischen Ebene hat sich die traditionelle Überlegenheit der USA gegenüber der UdSSR wesentlich verringert; sie könnte in den achtziger Jahren einem völligen Gleichstand oder sogar, wie einige befürchten, einer gewissen Disparität zuungunsten Amerikas Platz machen. Das bedeutet für die NATO, daß der Schutzschirm der amerikanischen global-strategischen Abschreckung die regionalen Verteidigungsdefizite nicht mehr unbedingt und zuverlässig ausgleicht. Die Wahrung der europäischen Kräftebalance, die lange vernachlässigt worden ist, wird zu einem immer weniger abzuweisenden Erfordernis.

Die Elemente des Ungleichgewichts zugunsten der Warschauer-Pakt-Staaten in Europa haben sich während des letzten Jahrzehnts zunächst in der Gefechtsfeld-Dimension und dann auf eurostrategischer Ebene wesentlich verstärkt. Beginnend mit der Besetzung der Tschechoslowakei 1968, hat die Sowjetunion ihre Mannschaftsstärken in Mitteleuropa erhöht. Auch verbündete Staaten wie vor allem die DDR haben Truppenvermehrungen durchgeführt. Dem folgte ein Prozeß der Modernisierung und Zunahme in der Bewaffnung der östlichen Streitkräfte in Europa, welche deren Feuerkraft erheblich heraufsetzten. Bei manchen Waffensystemen erreichte der Warschauer Pakt gegenüber der NATO eine zwei-bis dreifache Überlegenheit. Besondere Unruhe rief im Westen hervor, daß Offensivsysteme wie vor allem die Panzerwaffe von dem Ausbau besonders profitierten. Gleichzeitig nahm die herkömmliche westliche Überlegenheit bei den taktisch-nuklearen Waffen immer mehr ab. Westliche Sorgen gehen dahin, daß der War-schauer Pakt auf dem europäischen Gefechts-feld im Laufe der nächsten Jahre eine sofortige und totale, durch die westliche Verteidigung nicht mehr auszugleichende Offensivkapazität gewinnen könnte. Verstärkt werden derartige Befürchtungen durch den Umstand, daß durch die Dislozierung der Rakete SS-20 in der UdSSR (mit einer ganz Westeuropa erfassenden Reichweite) auch die eurostrategische Balance vollends aus den Fugen zu geraten droht. Es eröffnet sich die besorgniser-regende Aussicht, daß die Sowjetunion künftig kraft militärischer Überlegenheit eine zunehmende Kontrolle über die Politik westeuropäischer Staaten erlangen könnte.

Unter diesen Umständen gilt in der NATO die dreiprozentige Zulage bei den Militärausgaben pro Jahr, welche die Teilnehmerstaaten im Mai 1978 beschlossen haben, als ein Mindesterfordernis, um den östlichen Rüstungsanstrengungen Paroli zu bieten. Die Vorstellung, daß, wie die Moskauer Deklaration der Warschauer-Pakt-Staaten vom 23. November 1978 daraufhin propagandistisch unterstellt hat, die westlichen Länder in Europa eine Position der militärischen Überlegenheit anstreben und erreichen könnten, erscheint bar jedes Realitätsbezugs. Dessen ungeachtet hat der Oberkommandierende des Warschauer Pakts, Marschall Kulikov, während der Moskauer Beratungen Alarm geschlagen und von den Verbündeten sowohl eine Stärkung des gemeinsamen Verteidigungspotentials als auch eine engere Integration ihrer Abwehrbemühungen gefordert.

Diesem Ansinnen widersetzten sich nur die Rumänen offen

Wie ein Kommentator in der sowjetischen Zeitschrift für internationale Beziehungen im Februar 1979 ausführte, sehen sich die östlichen Staaten durch die NATO-Rüstung gezwungen, ihr militärisches Instrumentarium zu verstärken. Die Sowjetunion und ihre Verbündeten seien nicht bereit, auf westliche Vorschläge einzugehen, nach denen sie das Bemühen um eine Stärkung ihrer Verteidigung aufgeben sollten. Es könne nicht zugelassen werden, daß die „imperialistischen Staaten" die Möglichkeit erlangten, mit den Ländern des Warschauer Pakts aus einer „Position der Stärke" heraus zu verhandeln. Daher hätten sie es auf der Moskauer Konferenz für notwendig erachtet, „einige Maßnahmen zur Koordinierung ihrer militärischen Anstrengungen im Rahmen der Organisation des Warschauer Vertrages" vorzusehen, und sich dem unabweisbaren Erfordernis gebeugt, „ihre Verteidigung zu stärken". Auf diese Weise, so hieß es weiter, sei der westlichen Seite zu verstehen gegeben worden, man werde „nicht mit untätigen Händen dasitzen", wenn die NATO ihre Militärmaschine ausbaue

Ein derartiges östliches Vorgehen verstärkte die westlichen Befürchtungen, daß die Sowjetunion eine hohe militärische Überlegenheit in Europa anstrebe. Seit Ende 1978 hat sich in der NATO als Gegenkonzept eine Doppelstrategie herausgebildet: Die westlichen Staaten bieten der UdSSR und ihren Verbündeten zum einen Verhandlungen über Maßnahmen einer wechselseitigen Rüstungsbegrenzung auf der Basis eines militärischen Gleichgewichts in Europa an und bekunden zum anderen ihre Entschlossenheit zu einer Politik der Nachrüstung, wenn die östliche Seite nicht darauf eingehen sollte. Dementsprechend wird vor allem der eventuelle Ausbau kontinental-strategischer Kapazitäten in Europa vorbereitet. Die Außenminister der Warschauer-Pakt-Staaten lehnten am 15. Mai 1979 die westliche Gleichgewichtsforderung indirekt ab und polemisierten gegen das angebliche Anheizen des Wettrüstens durch die NATO.

4. Der Stellenwert Chinas in der sowjetischen Sicherheitspolitik Die sowjetische Führung legt große Sorge an den Tag gegenüber der Möglichkeit, daß sich westliche Technologie und chinesisches Menschenpotential miteinander verbinden könnten, vornehmlich — aber keineswegs ausschließlich — im militärischen Bereich. Es wurden daher keine Überredungskünste gescheut, um die Westeuropäer und die Nord-amerikaner an einer Politik des wirtschaftlich-technischen Aufbaus in China zu hindern. Ein von Moskau als bedrohlich angesehenes westlich-chinesisches Zusammenwirken wird als mit der Ost-West-Entspannung unvereinbar erklärt.

Der Besuch des chinesischen Parteichefs Hua Guofeng in Rumänien (und anschließend in Jugoslawien) im August 1978 führte den Männern im Kreml vor Augen, daß selbst innerhalb des Bereichs, den sie als ihre traditionelle Domäne betrachten, „chinesische Provokationen" stattfinden können. Um einer Wiederholung auf dem Boden des Warschau-er Pakts vorzubeugen, setzten sie äuf der Moskauer Tagung des östlichen Bündnisses am 22. /23. November 1978 eine Diskussion über diese Frage in Gang. Zu welchen Ergebnissen man dabei gelangt ist, wurde nicht bekannt. Im Zusammenhang damit brachte die sowjetische Seite erneut die Forderung vor, der Warschauer Pakt müsse das Band der politischen und militärischen Solidarität nicht nur in Europa knüpfen. Der Vorstoß scheiterte am Widerstand der Rumänen — aber auch andere Bundesgenossen der UdSSR waren über dieses negative Ergebnis nicht unglücklich

Die militärische. „Lektion", welche die chinesische Führung — erbittert über die Eroberung Kambodschas, die Vertreibung des chinesischen Bevölkerungsteils und die Anzettelung vieler Grenzzwischenfälle von vietnamesischer Seite — dem Regime in Hanoi erteilen wollte, kam den Männern im Kreml außerordentlich zustatten. Es bot sich so nicht nur eine willkommene Gelegenheit, öffentliche Warnungen an den Westen vor einer Kollaboration mit den „chinesischen Aggressoren" zu richten, die Verfechter einer Annäherung an China in den USA und anderswo der Komplicenschaft mit den Pekinger Angreifern zu bezichtigen und die These von der Unvereinbarkeit eines guten westlich-chinesischen Verhältnisses mit der Ost-West-Entspannung zu illustrieren. Die östlichen Kommentatoren

II. Probleme bei den Ost-West-Verhandlungen über Rüstungsbegrenzung (SALT und MBFR)

1. Entwicklungen bei den global-und kontinental-strategischen Kräfterelationen

Die NATO sucht traditionellerweise den sowjetischen Gegner von dem hypothetischen Entschluß, Westeuropa mit der Truppenmacht des Warschauer Pakts anzugreifen, durch die Inaussichtstellung einer „Bestrafung" mittels eines amerikanischen Kernwaffenschlages abzuschrecken. Solange die Trägersysteme, mit denen die nuklearen Sprengköpfe ins Ziel gebracht werden konnten, noch keine interkontinentale Reichweite besaßen, war diese Abschreckung völlig unproblematisch: Die USA sahen sich im Falle des von ihnen angedrohten Kernwaffenschlags gegen die UdSSR keiner sowjetischen Vergeltung ausgesetzt; ein Vordringen der östlichen Armeen nach Westeuropa und in andere angrenzende Gebiete richtete sich zugleich gegen die dortigen strategischen Basen — und damit gegen das globale Machtpotential — der USA. Falls die sowjetische Seite die Sicherheit der westeuropäischen NATO-Staaten durch eine militä-konnten auch mit einiger Plausibilität geltend machen, daß ihre Einschätzung der Chinesen als einer aggressiven und friedensfeindlichen Kraft richtig gewesen sei, während sich der Westen mit seiner positiven Sicht der Pekinger Politik offenkundig geirrt habe.

Mehr noch: Wer bisher im Westen geglaubt habe, er könne die „chinesische Karte" gegen die UdSSR ausspielen, sei nun eines Besseren belehrt worden — die chinesische Führung habe es statt dessen verstanden, die westliche, vor allem amerikanische Karte für ihre eigenen, den Westen in Verlegenheit stürzenden Zwecke zu benutzen. Liege es, so ist die Schlußfolgerung, nicht im ureigensten Interesse der westlichen Länder,, sich von den „Abenteurern" in Peking, von dem schädliche Unruhe stiftenden und sich jeder westlichen Kontrolle oder Berechnung entziehenden China so rasch wie möglich zu lösen, um nicht in den Strudel gefährlicher Entwicklungen hereingezogen zu werden? Der Appell lautet, die westliche Seite müsse sich für die Entspannung mit der UdSSR und damit zugleich gegen ein Zusammenwirken mit der Volksrepublik China entscheiden. rische Offensive gefährden sollte, mußten die Vereinigten Staaten sowohl wegen ihrer gegenüber den Verbündeten eingegangenen Verpflichtungen als auch um der Behauptung ihrer strategischen Macht willen nuklear zurückschlagen — und sie konnten dies auch tun, ohne daß sie Zerstörungen auf ihrem eigenen Territorium zu erwarten gehabt hätten.

Diese Situation änderte sich, als beide Supermächte nukleare Trägermittel von interkontinentaler Reichweite entwickelten. Die UdSSR gewann nun ebenfalls die Fähigkeit, Kernwaffen auf das Gebiet des Hauptgegners zu befördern. Die Amerikaner konnten von da an nicht mehr damit rechnen, daß ein nuklearer Vergeltungsschlag gegen die UdSSR für ihr eigenes Land folgenlos bleiben würde, auch wenn sie bis Anfang der siebziger Jahre oder noch darüber hinaus hinsichtlich ihres Kernwaffenpotentials weit überlegen blieben. Anfang der sechziger Jahre zog die amerikanische Führung ihre landgestützten Mittel-• aus Spanien, Marokko, Libyen, Saudi-Arabien, Italien, Großbritannien und schließlich auch aus der Türkei ab, weil diese nunmehr durch Interkontinentalwaffen auf amerikanischem Boden ersetzbar schienen. Damit verloren die Länder, die bis dahin den USA strategische Stützpunkte zur Verfügung gestellt hatten, einen Teil ihres Wertes für Washington. Gleichzeitig entschloß sich die amerikanische Seite, die eigenen und die britischen Mittelstreckenbomber nicht, wie bis dahin vorgesehen gewesen war, durch den Einbau von Luft-Boden-Raketen als eine für die fernere Zukunft schlagkräftige Waffe zu erhalten. Trotzdem stationierten die USA auf den Flugplätzen westeuropäischer NATO-Länder, des Irans und in Ostasien weiterhin nuklearfähige Bomber und Kampfflugzeuge, die allerdings zum Teil für Gefechtsfeldaufgaben bestimmt sind und unter bestimmten Voraussetzungen nur konventionell eingesetzt werden sollen. Ähnliches gilt für die Flugzeuge der Trägerschiffe der amerikanischen Flotte im Nordatlantik und im Mittelmeer. Gegen die UdSSR gerichtete nukleare Sprengköpfe tragen amerikanische U-Boote, die in den beiden genannten Meeren sowie im Indischen Ozean und im Pazifik kreuzen.

Der Abbau der landgestützten amerikanischen Mittelstreckenkapazitäten wurde durch die Raketenrüstung Großbritanniens und Frankreichs nicht wettgemacht. Die sowjetische Führung folgte dem amerikanischen Beispiel nicht: So blieben die gegen Westeuropa gerichteten Mittelstreckenraketen SS-4 und SS-5 (mit einer Reichweite zwischen 200 und 4 000 km) unverändert bestehen, als die UdSSR ihre Interkontinentalraketen zu Land und zur See ausbaute. Während sich die westliche Abschreckung immer stärker auf die in und um die USA stationierten Interkontinentalraketen stützte, legte die sowjetische Sicherheitspolitik daneben weiter Wert auf ein günstiges kontinental-strategisches Kräfteverhältnis in Europa und anderwärts. Durch diese Entwicklung hat sich die NATO in eine Situation manövriert, in der die Amerikaner auf der global-strategischen Ebene der Interkontinentalwaffen nicht nur für ein stabiles Verhältnis zwischen den beiden Supermächten, sondern auch für einen Kräfteüberschuß zum Ausgleich für Schwächelagen ihrer Verbündeten auf den kontinental-strategischen Ebenen der Mittelstreckenwaffen, vor allem in Europa, sorgen müssen.

Das hat die amerikanisch-sowjetischen SALT-Verhandlungen von allem Anfang an mit dem Problem belastet, daß es dabei nicht allein um die Schaffung von global-strategischer Stabilität im bilateralen Verhältnis gehen kann: Die westeuropäischen Verbündeten der USA — potentiell auch die amerikanischen Bundesgenossen in Östasien und anderswo — würden sich preisgegeben sehen und eine Gefährdung des grundlegenden Allianzkontrakts geltend machen, wenn die Vereinigten Staaten bei den SALT-Vereinbarungen nur ihre eigene, global-strategisch definierte Sicherheit, nicht aber die Sicherheit ihrer Partner auf den darunter liegenden militärischen Ebenen im Auge hätten.

Es könnte beispielsweise für die NATO nicht genügen, wenn die beiden Supermächte ein Arrangement träfen, in dem sie für eine wechselseitige Verwundbarkeit ihrer Gesellschaften (d. h. vor allem ihrer administrativen und industriellen Zentren) und für eine wechselseitige Unverwundbarkeit ihrer strategischen Streitkräfte (zur Sicherung des vergeltenden Zweitschlags) sorgen würden. Vermutlich ist es nicht zuletzt auf dieses Problem zurückzuführen, wenn die amerikanische Regierung sich nicht konsequent an dem Stabilitätspostulat des Rüstungssteuerungskonzepts (arms control philosophy) orientiert hat und wiederholt Optionen einer teilweisen Ausschaltung gegnerischer Raketenstellungen (counterforce strategy) anvisiert hat.

2. SALT und das global-strategische Verhältnis Die amerikanischen Strategen suchen die Un-verwundbarkeit ihrer eigenen Interkontinentalraketen, die im Falle eines nuklearen Konflikts den Zweitschlag gegen die UdSSR zu führen bestimmt sind, unbedingt aufrechtzuerhalten. In der ersten Hälfte der sechziger Jahre war errechnet worden, daß im amerikanisch-sowjetischen Verhältnis eine jeweilige Verfügung über etwa 1 000 Raketen geeignet sein werde, um das Territorium des jeweiligen Gegners, einer hinreichenden Vernichtung auszusetzen, zugleich aber dessen Zweitschlagskapazitäten unbeeinträchtigt zu lassen. Dementsprechend legte die amerikanische Regierung fest, daß sie ihren „Minute-man" -Aufbau bei 1 000 stoppen werde. Ab 1967 war diese Zahl erreicht — wozu noch 54 alte Flüssigtreibstoff-Raketen vom Typ „Titan 2" kamen.

Ende der sechziger Jahre zeichnete sich deutlich die Tendenz ab, daß die UdSSR auf ihrer Seite keine entsprechende numerische Begrenzung respektieren werde. Als die UdSSR mit der Interkontinentalrakete SS-9 ein System mit sehr hohem Wurfgewicht (das den Transport von Sprengköpfen mit sehr hoher Detonationskraft erlaubt) in Dienst stellte, regte sich in Washington die Sorge, der sowjetische Gegner könnte die Fähigkeit zur weitgehenden Vernichtung der amerikanischen Landraketenstellungen mittels eines Erstschlages gewinnen. Das Interimsabkommen zur Begrenzung der interkontinentalen Offensivwaffensysteme bei SALT I 1972 schuf in dieser Hinsicht wenig Abhilfe. Die Zunahme der sowjetischen Raketen wurde zwar 'gestoppt, doch hatte die UdSSR inzwischen eine erheblich größere Zahl erreicht als die USA. Die „schweren Raketen" (wie die Träger vom Typ SS-9 bezeichnet wurden) sollten nicht über das bestehende Ausmaß hinaus vermehrt werden. Das hieß aber zugleich, daß den über 300 Stück auf sowjetischer Seite keine entsprechenden Systeme der Amerikaner gegenübergestellt werden durften. Bestimmungen, die nach amerikanischer Absicht eine Vergrößerung der bis dahin vorhandenen Wurfgewichte um mehr als 15 Prozent ausschließen sollten, fanden in der UdSSR während der folgenden Jahre eine Handhabung, die eine Steigerung bis zu 150 Prozent ermöglichte.

Für die amerikanische Regierung war SALT I nur darum akzeptabel, weil die Vorteile, die der anderen Supermacht zugestanden wurden, durch die interkontinentale Überlegenheit der USA aufgrund höherer Treffgenauigkeit und Sprengkopfzahl mehr als ausgeglichen schienen. Bei dieser Einschätzung spielte der Umstand eine besondere Rolle, daß die Vereinigten Staaten im Gegensatz zur UdSSR das Waffensystem der unabhängig voneinander ins Ziel zu bringenden Mehrfachsprengköpfe (MIRV) entwickelt hatten. Diesen technologischen Vorsprung suchten die Amerikaner zu nutzen und achteten infolgedessen darauf, daß die SALT-I-Vereinbarungen die MIRV-Option offen hielten. Dabei wurde in Kauf genommen, daß die neue Technologie potentiell stabilitätsgefährdend wirken konnte.

Dem amerikanischen Verhalten lag auch eine Unterschätzung der sowjetischen Möglichkeiten zugrunde. Der zeitliche Vorsprung der USA war geringer als angenommen: Bereits 1973 testete die UdSSR MIRV-Raketen. Die Kombination der wesentlich größeren sowjetischen Wurfgewichte mit der neuen Technologie eröffnete die Perspektive, daß die Sowjetunion im Endergebnis wesentlich mehr nukleare Sprengköpfe bereitstellen könnte als die Vereinigten Staaten. Mehr als jemals zuvor entstand Grund zu der Befürchtung, daß in einer voraussehbaren Zukunft die amerikanischen Raketenstellungen durch einen sowjetischen Erstschlag ausgeschaltet werden könnten — und das um so mehr, als auch hinsichtlich der Treffgenauigkeit sowjetische Fortschritte zu verzeichnen waren. Dann stünden die USA der anderen Super-macht nur noch mit einer beträchtlich geschwächten Kapazität, nämlich mit ihren see-gestützten Raketen, gegenüber.

Bis jetzt haben sich die Vereinigten Staaten nach allgemeiner Einschätzung noch einen gewissen Vorsprung zu erhalten gewußt, doch wird vielfach für die achtziger Jahre eine kritische Lage befürchtet. Das Problem dürfte freilich wechselseitiger Art sein: Die interkontinentalen Landraketen werden voraussichtlich nicht nur in den USA, sondern auch in der UdSSR durch einen gegnerischen Erstschlag großenteils bedroht sein.

Ein wesentliches Motiv der amerikanischen Seite bei den SALT-II-Verhandlungen ist, dabei keine Disparitäten zugunsten der Sowjetunion entstehen zu lassen. Dieses Bemühen ist nicht erfolglos geblieben. Vor allem sollen die höheren Wurflasten der UdSSR nicht voll in vermehrtes Zerstörungspotential umgesetzt werden können. Die Zahl der Träger, die beiderseits mit MIRV ausgestattet werden dürfen, soll überdies einer Limitierung unterliegen, welche die Wucht eines eventuellen Erst-schlags einzugrenzen geeignet ist. Mit 1 200 (bzw. 820 bei den Abschußstellen zu Land) liegt die Obergrenze zwar höher, als dies dem amerikanischen Wunsch entsprochen hätte, aber zugleich auch niedriger, als die sowjetischen Verhandlungspartner ursprünglich wollten. Auch die vorgesehene Bestimmung, daß eine Rakete nicht mit beliebig vielen Sprengköpfen ausgerüstet werden darf (etwa zehn bei den landgestützten und 14 bei den seegestützten Raketen), nimmt der UdSSR die Möglichkeit, ihr ungleich größeres Wurflastpotential langfristig entsprechend zu einer Sprengkopfvermehrung auszunutzen.

Schließlich hat sich Moskau bereitgefunden, eine gemeinsame Trägerhöchstzahl zusammen mit den USA zu akzeptieren und demgemäß im Unterschied zu der anderen Supermacht bereits vorhandene Trägersysteme wieder abzubauen. Die fixierte Obergrenze von 2 250 beseitigt zwar nicht die Sorgen hinsichtlich einer vergeltungsschwächenden Wirkung eines möglichen Erstschlags der anderen Seite, stellt aber ein substantielles sowjetisches Zugeständnis an amerikanische Forderungen dar. Natürlich haben die USA ihren Verhandlungspartnern Gegenkonzessionen machen müssen. Dazu gehört die Übereinkunft, nach der den USA — im Gegensatz zur UdSSR — keinerlei „schwere Raketen" zustehen. Das sowjetische Verlangen richtet sich weiterhin auf die Schließung technologischer Optionen, die der amerikanischen Seite bisher noch offenstehen. Welche Regelung hier getroffen worden ist, läßt sich zur Zeit — vor Veröffentlichung des SALT-II-Abkommens — noch nicht genau angeben.

3. SALT und das kontinental-strategische Verhältnis in Europa

Entscheidenden Wert legt die sowjetische Führung darauf, daß die Vorteile, die sie sich auf den kontinental-strategischen Ebenen verschafft hat, vertraglich festgeschrieben und nach Möglichkeit noch erweitert werden. Das gilt vor allem im Blick auf das eurostrategische Kräfteverhältnis. Schon bei SALT I hat die UdSSR die „vorne stationierten Systeme" (forward based Systems, FBS) in die Verhandlungen einzubeziehen gesucht. Die peripheren Trägersysteme der USA und ihrer Verbündeten, so hieß es, gehörten ebenfalls zur strategischen Gleichung. Der Begriff „strategische Waffen" müsse sich an dem Kriterium orientieren, ob man mit ihnen das Gebiet der jeweils anderen Seite — der USA bzw.der UdSSR — erreichen könne. Unabhängig davon, ob sie eine größere oder geringere Reichweite besäßen, stellten alle gegen die UdSSR gerichteten westlichen Träger eine Bedrohung des Sowjetlandes dar und müßten deshalb eine entsprechende Berücksichtigung finden. Daher, so lautete das Fazit, seien auch die vorgeschobenen westlichen Träger in Europa und anderwärts gegen die sowjetischen Interkontinentalkapazitäten (als den einzigen gegen die USA gerichteten Waffen der UdSSR) aufzurechnen. Was unter den „vorne stationierten Systemen" verstanden werden soll, ist niemals im einzelnen ausgeführt worden. Gemeint sind offenbar vor allen die nuklearfähigen Raketen und Flugzeuge, die von ihren westeuropäischen Basen und von Trägerschiffen auf den europäischen Randmeeren aus gegen sowjetisches Gebiet tätig werden könnten.

Die sowjetische Logik erscheint auf den ersten Blick hin überzeugend. Bei genauerer Betrachtung freilich zeigt sich, daß sie von einer den NATO-Zusammenhalt gefährdenden Prämisse ausgeht. Wollte man nämlich der sowjetischen Argumentation folgen, dann hieße dies, daß nur die Sicherheit der beiden Supermächte in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden würde, während die Sicherheit der dazwischen liegenden Länder außer Betracht bliebe. Da das westeuropäische NATO-Gebiet (wie analog das mit den Amerikanern verbündete Japan in Ostasien) ei-27 nerseits durch einen Ozean von den USA getrennt ist und im geographischen Vorfeld der sowjetischen Militärmacht liegt, andererseits eines ausreichenden Gegengewichts zur sowjetischen kontinental-strategischen Bedrohung entbehrt und daher auf einen strategischen Schutz seitens der Vereinigten Staaten angewiesen ist, läuft die FBS-Logik auf eine einseitige sicherheitspolitische Entblößung der westlichen Länder in der Zwischenregion hinaus.

Die Sowjetunion brauchte ihre gegen Westeuropa (und auch gegen Ostasien) gerichteten Mittelstreckenwaffen wed*er zu beschrän-ken noch zu begrenzen, während die Träger, die von den bedrohten Regionen aus durch ein Anzielen sowjetischen Territoriums der Bedrohung von Seiten der UdSSR wenigstens teilweise Paroli bieten sollen, gegen die auf Ziele in Nordamerika gerichteten sowjetischen Interkontinentalkapazitäten aufgerechnet und Restriktionen unterworfen würden. Mit anderen Worten: Die kontinental-strategische sowjetische Bedrohung der angrenzenden westlich orientierten Länder würde weder durch Gegenmittel blockiert noch auf irgendeine Weise limitiert.

Die amerikanischen Unterhändler haben sich bei SALT I einem derartigen Herangehen an das Problem der wechselseitigen Sicherheit mit Erfolg widersetzt. Bei SALT II legte die sowjetische Seite die FBS-Forderung erneut auf den Tisch. Präsident Ford gelang es während seines Treffens mit Breshnew in Wladiwostok 1974 ein weiteres Mal, den Verhandlungsrahmen auf die interkontinentalen Waffensysteme beider Seiten zu beschränken. Die sowjetischen Unterhändler haben seither zu erkennen gegeben, daß sie bei SALT III auf eine Klärung der Angelegenheit in ihrem Sinne dringen werden.

Wenn sich der sowjetische FBS-Standpunkt bei SALT bisher nicht durchgesetzt hat, dann bedeutet dies nicht, daß die SALT-Ergebnisse für die kontinental-strategische Problematik gleichgültig sein müßten. So hat sich die sowjetische Seite bemüht, bei SALT II Klauseln zu erreichen, welche die kontinental-strategischen Sicherheitsinteressen der nicht-amerikanischen NATO-Länder negativ berühren. Das gilt zunächst in dem allgemeinen Sinne, daß die Festlegung eines Gleichgewichts bei den interkontinentalen Waffen, das den USA keine Extrakapazitäten als Ausgleich für die relative westliche Schwäche auf der kontinental-strategischen Ebene einräumt, auf eine Begünstigung der UdSSR hinausläuft.

Darüber hinaus suchte die sowjetische Fühung vertragliche Festlegungen herbeizufüh-en, welche die amerikanischen Mittelstrek- enkapazitäten in Relation zu denen der JdSSR zusätzlich vermindern. Die amerikanischen U-Boote, die von ihren Stützpunkten in Großbritannien und Spanien aus in den euroäischen Randgewässern operieren und mit ihren nuklear bestückten Raketen sowjetisches Gebiet erreichen können, werden seit SALT I als interkontinentale Waffensysteme gezählt, weil die Reichweite der Schiffseinbeiten zusammen mit der Reichweite der abzuschließenden Flugkörper eine interkontinentale Entfernung ergibt. Die sowjetische Seite weigert sich jedoch beharrlich, für den Bomber „Backfire" die gleichen Gesichtspunkte gelten zu lassen. Dieses Flugzeug, das eine sehr große Bombenlast zu tragen vermag, besitzt bei dem vorgesehenen Auftanken während des Fluges eine fast interkontinentale Reichweite und könnte auf dem Weg von der Sowjetunion nach Kuba mühelos jeden Punkt in Nordamerika erreichen. Würde er mit Luft-Boden-Flugkörpern ausgerüstet, würde er auch ohne Landung in Kuba interkontinentale Angriffsmissionen erfüllen können. Dessen ungeachtet, verweigern die sowjetischen Unterhändler mit der bloßen Erklärung, der Bomber habe keinen antiamerikanischen Auftrag zu erfüllen, bei SALT II jede Diskussion über eine zahlenmäßige Begrenzung. 4. Das technologische Moment beim kontinental-strategischen Verhältnis Die Frage des kontinental-strategischen Kräfteverhältnisses hat in den letzten beiden Jahren durch die Dislozierung der sowjetischen Mittelstreckenrakete SS-20 eine besondere Dringlichkeit erhalten. Mit diesem Waffensystem ist erstmals die MIRV-Technologie unterhalb der interkontinentalen Reichweite eingeführt worden. Die Treffgenauigkeit ist wesentlich gesteigert worden. Die SS-20 wird von mobilen Abschußrampen abgefeuert und kann daher durch die Zielabdeckungspläne der amerikanischen „Minuteman" nicht erfaßt werden. Außerdem ist rasches Nachladen der Startgeräte möglich. Daher ist (bei zur Zeit geschätzten 120— 130 SS-20 Startgeräten) eine nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Steigerung der Bedrohung Westeuropas und anderer Randzonen durch die Sowjetunion zu verzeichnen. Besorgnisse hinsichtlich der amerikanischen Sicherheit wurden durch den Umstand ausgelöst, daß die SS-20 durch eine dritte Antriebsstufe sich in eine SS-16 von interkontinentaler Reichweite verwandeln läßt. Im Rahmen von SALT II hat die sowjetische Seite freilich zugesagt, daß sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen werde. Damit erreichte Moskau zugleich, daß die SS-20 bei den derzeitigen Verhandlungen in keiner Weise zur Diskussion steht. Während die SS-20 mit 4 500 km Reichweite außer Betracht bleibt, wurden die von den USA geplanten Marschflugkörper (cruise missiles) in die SALT-Verhandlungen einbezogen, obwohl sie im Gegensatz zur SS-20 nicht als Erstschlags-, sondern nur als Vergeltungswaffe taugen und vielfach für weitaus kleinere Entfernungen vorgesehen sind. Nach dem gegenwärtigen Sachstand wollen sich die USA in einem Drei-Jahres-Protokoll dazu verpflichten, keine land-und seegestützten Marschflugkörper mit mehr als 600 km Reichweite zu entwickeln und zu dislozieren. Eine solche Regelung, die nach sowjetischer Absicht den Auftakt zu einem gleichartigen amerikanischen Dauerverzicht bilden soll, entspricht haargenau sowjetischen Wünschen: Auf diese Weise würde das neue westliche Waffensystem ohne entsprechende östliche Gegenleistung dadurch entschärft sein, daß es sowjetisches Territorium nicht erreichen könnte.

Das sowjetische Bestreben geht deutlich dahin, daß der eigene Boden im Falle eines Krieges in Europa von Westeuropa aus nicht getroffen werden kann, wie u. a. die Reaktion Moskaus auf die NATO-Diskussion über eine Ersetzung der „Pershing I" in der Bundesrepublik Deutschland durch eine Version II mit 2 500 km Reichweite gezeigt hat. Würde der Grundsatz, daß in Westeuropa stationierte amerikanische Waffensysteme nur das potentielle Gefechtsfeld erreichen dürfen und demzufolge zu einem überfliegen der sowjetischen Grenzen außerstande sein müssen, allgemeine Geltung erlangen, dann hätte dies nicht nur militärisch weitreichende Konsequenzen (etwa hinsichtlich der dann nicht mehr möglichen Interdiktion östlichen Nachschubs). Es wäre damit vor allem eine sicherheitspolitische Abkopplung Westeuropas von den USA verbunden: Solange die USA nicht ihre Interkontinentalwaffen einsetzen und damit die nukleare Weltkatastrophe heraufbeschwören würden, könnte die UdSSR sicher sein, daß ein von ihr begonnener europäischer Krieg keine unmittelbaren Rückwirkungen auf sie selbst hätte; die beiden Supermächte könnten somit nach einem Mao-Wort „auf dem Berg sitzen und dem Kampf der Tiger im Tal zuschauen".

Die sowjetischen SALT-Unterhändler forderten im Blick auf die NATO-Verbündeten der USA auch, daß hinsichtlich der Waffensysteme, die der Beschränkung und Begrenzung vertraglich unterliegen würden, eine Nicht-Weitergabe-Klausel formuliert werden müsse. Das hätte die Vereinigten Staaten dazu verpflichtet, praktisch alle Rüstungstechnologien von kontinental-strategischer Bedeutung, die entsprechender Modifikation meistens in auch für das nukleare wie konventionelle Gefechtsfeld wichtig sind, den NATO-Partnern vorzuenthalten. Der amerikanischen Seite ist es gelungen, die Sache zu einer Nicht-Umgehungs-Klausel abzuschwächen. Danach wird der Transfer der unter SALT II fallenden Waffentechnologien nur so weit untersagt, wie dies die Verwirklichung des künftigen Abkommens schwächen würde. Die amerikanische Regierung erklärte sich zu der Zusage bereit, darauf hinwirken zu wollen, daß ihre Verbündeten die SALT-Verpflichtungen für sich gelten ließen. Unter dieser Voraussetzung soll eine technologische Zusammenarbeit in der NATO nach wie vor statthaft sein. Der Transfer amerikanischer Rüstungstechnologien und die amerikanische Hilfe bei der Waffenentwicklung von Verbündeten sind daher grundsätzlich weiterhin möglich.

Unklar ist noch, ob (wie die sowjetische Seite verlangt) der Transfer von einzelnen Komponenten SALT-sensitiver Technologien — wie namentlich der Marschflugkörper — verboten sein soll. Da die Regelung dieses Punktes im einzelnen noch nicht bekannt ist, bleibt abzuwarten, ob die nachdrücklichen amerikanischen Versicherungen, SALT II werde die Rüstungskooperation innerhalb der NATO nicht beeinträchtigen, auf einer unzweideutigen Willensbekundung beider Vertragsparteien oder auf einseitigen amerikanischen Interpretationen basieren.

Kontinental-strategisches Verhältnis und europäisches Gefechtsfeld Die mangelhafte kontinental-strategische Abdeckung Westeuropas, die nach allgemeiner westlicher Einschätzung seit langem existiert und durch die militärischen und politischen Entwicklungen der letzten Jahre an Schärfe gewonnen hat, ist auch für die Gefechtsfeld-Dimension in Europa von großer Bedeutung.

Die sowjetische Militärdoktrin sieht nämlich vor, daß der Warschauer Pakt, wenn ein militärischer Konflikt in Europa unausweichlich erscheint, präemptiv mit allen militärischen Kräften zum Angriff schreitet, um mit überwältigender Stärke so rasch wie möglich den Atlantik zu erreichen und die Amerikaner vom europäischen Kontinent zu vertreiben.

Es liegt nahe, daß dabei alle Mittel eingesetzt werden — so wie die östliche Seite von dem westliche Gegner erwartet, daß er seine Niederlage in Europa mit allen verfügbaren Mitteln zu verhindern suchen wird.

Dieses Konzept für den Fall eines Krieges läßt verständlich werden, warum die sowjetische Führung auf westeuropäischem Boden so wenig Kernwaffen wie möglich stationiert sehen will: Jedes von westlicher Seite regional einsetzbare nukleare Potential erschwert nicht nur ein rasches Vordringen der östlichen Streitkräfte, sondern birgt auch das politische Risiko einer Eskalation der Kämpfe auf die amerikanisch-sowjetische strategische Ebene in sich. Es sollte nicht erstaunen, daß die sowjetische Führung einen nuklearen Abbau in Westeuropa mit einem Rückzug ihrer nuklearen Kapazitäten bis hinter die Grenzen der UdSSR zu honorieren bereit ist: Während die amerikanischen Kernwaffen regionaler Reichweite kaum innerhalb von wenigen Tagen über den Atlantik zurückgeholt werden können, kann die sowjetische Seite ohne große Mühe ihre taktisch-nuklearen Systeme bei Bedarf nach Mitteleuropa vorschieben und mit ihren kontinental-strategischen Trägern von sowjetischem Boden aus alle Ziele im letzten Winkel von Westeuropa erreichen.

Es erscheint plausibel, daß, wie General Gallois argumentiert hat 5), die sowjetische Führung im Falle eines europäischen Krieges auch ihre kontinental-strategische Überlegenheit einsetzen würde, um jeden westlichen Widerstand aussichtslos zu machen und das Anfangsziel einer Besetzung aller Gebiete diesseits des Atlantik schnellstmöglich zu erreichen. Sie könnte dies mit um so geringerem Risiko tun, je weniger in Westeuropa stationierte Nuklearsysteme das Risiko einer global-strategischen Eskalation vergrößern würden. Wie Breshnew am 2. März 1979 deutlich gemacht hat, ist die UdSSR zu Verhandlungen über den „Grauzonenbereich" zwischen der global-strategischen und der konventionellen Ebene bereit, will aber unbedingt verhindern, daß die NATO Maßnahmen zum Abbau ihrer relativen Schwäche in diesem Bereich unternimmt

6. Das MBFR-Konzept der NATO Bei den MBFR-Verhandlungen verfolgen die NATO-Staaten das erklärte Ziel, in dem begrenzten Raum von Mitteleuropa eine militä-rische Parität durch einen stärkeren Streit-kräfteabbau auf östlicher als auf westlicher Seite herbeizuführen. Eine Verwirklichung dieses Konzepts würde freilich die für Mitteleuropa relevanten Militärstärken nicht bei derseits auf gleiches Niveau bringen, denn die geographische Asymmetrie, die dem War-schauer Pakt, nicht aber der NATO ein rasches Nachziehen von Kräften und eine Kampfführung durch Mittelstreckenwaffen erlaubt, läßt sich durch diese Regelung nicht beheben. Die westlichen Regierungen haben darüber hinaus von Anfang an die regionale Parität nur in einem sehr eingeschränkten Sinne gefordert. Sie haben darauf verzichtet, die — so gut wie ausschließlich auf östlicher Seite vorhandenen — paramilitärischen Streitkräfte in die Rechnung einzubeziehen, und sie haben ihrem Verlangen das Kriterium der Mannschaftsstärken zugrunde gelegt, womit die militärisch ausschlaggebenden Größen — Kampfeinheiten und Feuerkraft — von vornherein außer Betracht blieben. Die Wahl dieser Diskussionsbasis läßt die NATO militärisch stärker erscheinen, als sie tatsächlich ist. Nach amtlichen westlichen Angaben bzw. Schätzungen stehen 791 000 Soldaten in der Bundesrepublik Deutschland und in den Benelux-Ländern auf dem Gebiet der DDR, der CSSR und Polens 962 000 Mann gegenüber. Die Relation der Kampfverbände wird auf 28 zu 58 Divisionen von jeweils durchschnittlich etwa gleich starker Bewaffnung veranschlagt. Dementsprechend ergibt sich bei den meisten konventionellen Waffensystemen ein sehr erhebliches Übergewicht an Feuerkraft auf östlicher Seite. Besonders groß ist der Vorteil des Warschauer Pakts bei der Offensivwaffe der Panzer: Hier liegt das Zahlenverhältnis etwa bei 1 : 3.

Die NATO setzt also ihren Personalbestand weit weniger in Kampfstärke um als der Gegner. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß bei den westlichen Staaten die Nachschublinien länger sind und für die Aufgaben der rückwärtigen Sicherung nur reguläre Truppen zur Verfügung stehen. Mithin läuft eine Personalparität notwendigerweise auf ein bestimmtes Maß an Kampfstärken-Unterlegenheit für die NATO-Seite hinaus. Zu berücksichtigen ist auch, daß auf östlicher Seite innerhalb kurzer Zeit je vier sowjetische und einheimische Divisionen aus Ungarn und 33 sowjetische Divisionen aus der westlichen UdSSR herangeführt werden können. Ihnen steht in Großbritannien und Frankreich nichts Vergleichbares gegenüber.

Unter diesen Umständen richtet sich das westliche Bemühen bei den MBFR-Verhandlungen, der offiziellen Paritätsrhetorik ungeachtet, nicht auf die Erzielung eines militärischen Gleichstandes in Europa. Es geht vielmehr darum, ein Minimum an militärischer Stabilität zu gewährleisten. Dabei gehen die westlichen Regierungen von der Annahme aus, daß die NATO als die ausschließlich auf Verteidigung festgelegte Seite ihren militärischen Auftrag mit wesentlich geringeren Kräften erfüllen kann, als dies dem in der Rolle des Angreifers auftretenden östlichen Gegner möglich wäre. Die These von der Überlegenheit der Defensive über die Offensive ist unter den westlichen Militärsachverständigen nicht unumstritten, findet aber eine Stütze in der sowjetischen Militärdoktrin, die eine fünf-bis sechsfache Überlegenheit für den Angreifer an dem Frontabschnitt der geplanten Aktion fordert.

Nach amtlicher westlicher Ansicht besteht in Mitteleuropa ein Zustand ausreichender militärischer Stabilität bereits dann, wenn der östlichen Seite die Bildung von Angriffs-schwerpunkten, die nach ihrer Doktrin erfolgversprechend wären, „aus dem Stand heraus" (d. h. ohne die vorherige Heranführung von strategischen Reserven) verwehrt wird. Die westliche Forderung nach „Parität" zielt wesentlich darauf ab, eine Entwicklung abzufangen, die der UdSSR die Fähigkeit zu einem siegreichen Überraschungsangriff in Mitteleuropa verschaffen könnte. Dies erscheint nicht nur militärisch im Hinblick auf die Verhütung eines östlichen Überraschungsangriffs wichtig. Als noch bedeutsamer wird angesehen, daß die sowjetische Führung in diesem Falle keine Möglichkeit hat, eine Manifestation von militärischer Gewalt vorzunehmen, d. h. ohne die ausdrückliche Androhung von Gewalt stillschweigenden Druck auf die Entscheidungen westeuropäischer Länder auszuüben und auf diese Weise ohne einen Abbruch der Entspannung nötigende Gewalt zur Geltung zu bringen.

Eine relative militärische Stabilität auf der europäischen Gefechtsfeld-Ebene, d. h. das Fehlen von Erfolgsaussichten für einen östlichen Überraschungsangriff, gilt den westlichen Regierungen als Minimalerfordernis der Krisen-Stabilität in Europa. Wenn die sowjetische Führung ohne vorheriges Heranführen strategischer Reserven aus der UdSSR Aussichten hätte, mit ihren Streitkräften die westdeutschen Länder blitzartig zu erobern und so vor einem Anlaufen amerikanischer Gegenmaßnahmen in den Besitz der atlanti-sehen Westküste zu gelangen, erschiene das Verhältnis einer wechselseitigen Abschrek-kung zwischen Ost und West gefährdet: Der Einsatz der amerikanischen global-strategischen Waffensysteme könnte nicht mehr zum Schutze der westeuropäischen Verbündeten angedroht werden, falls diese während einer kurzen Anfangsphase, die möglicherweise knappere Zeit beanspruchen würde als die amerikanische Entscheidung zum Eingehen des totalen Risikos, bereits ihre politische Existenz verlieren würden. Aus diesem Grund hält die NATO eine längere „Warnzeit" für unerläßlich, bevor die Truppen des Warschauer Pakts durch Nachschubbewegungen aus der UdSSR nach Mitteleuropa die Fähigkeit zur Bedrohung des westeuropäischen Verteidigungssystems erlangen können. Ein derartiges zeitliches Polster, so ist die Überlegung, verwehrt der sowjetischen Führung im Krisenfall die Option sofortiger Pressionen und Aggressionen. Vielmehr müßte eine derartige Option erst mittels entsprechender militärischer Vorbereitungen geschaffen werden — und das würde der westlichen Seite die Möglichkeit einräumen, sich auf die entstehende Bedrohungslage durch Gegenmaßregeln einzustellen.

7. Die Haltung der UdSSR zum Paritätskonzept Die in der westlichen Öffentlichkeit teilweise gehegten Hoffnungen, daß die östliche Seite von sich aus an Rüstungs-Stabilität interessiert sein werde und daß von daher auch das Problem der Krisen-Stabilität keine Schärfe mehr besitzen werde, haben sich nicht erfüllt. Das NATO-Konzept einer auf Minimal-stärke abgestellten Verteidigung, die zunächst nur nach Zahl der Kampfverbände und dann zunehmend auch nach Ausmaß der Feuerstärke den — seit den sechziger Jahren auf „präemptiven" Angriff eingestellten — Streitkräften des Warschauer Pakts weit unterlegen waren, veranlaßte die sowjetische Führung nicht zu gleicher Zurückhaltung. Der personelle Ausbau der östlichen Truppen-macht in Mitteleuropa zwischen 1968 und 1973 und die seit Beginn der siebziger Jahre einsetzenden Wellen der waffenmäßigen Verstärkung und Modernisierung lassen eher auf das Bestreben schließen, bestehende Momente der östlichen Überlegenheit auf dem europäischen Schauplatz so weit wie möglich zu vervollkommnen. Die Repräsentanten des Warschauer Pakts bei den MBFR-Verhandlun-gen haben in den Jahren 1973— 1976 aus der Ansicht, daß ihre Seite in Mitteleuropa eine gewisse Überlegenheit erreicht habe und an dieser günstigen Lage festzuhalten gedenke, kaum einen Hehl gemacht. Zur Begründung wurde auf anderwärts bestehende Nachteile gegenüber den NATO-Staaten verwiesen, die der Kompensation bedürften.

Eine östliche Argumentation ging — und geht in anderem Zusammenhang auch heute noch — dahin, daß der Westen hinsichtlich des wirtschaftlichen Potentials eine große Überlegenheit besitze, die das sozialistische Lager nur mit militärischen Übergewichten ausgleichen könne. Im übrigen komme an diesen Punkt die freie Wahl der beiden Seiten zum Ausdruck: Die westlichen Länder hätten vorrangig in ökonomische Wohlfahrt investiert und erfreuten sich eines entsprechend hohen Lebensstandards, während die UdSSR und ihre Verbündeten ihre Anstrengungen vor allem auf die Wahrung ihrer Sicherheit gerichtet hätten und nun die Früchte dieser Politik ernteten.

Andere Darlegungen lenken den Blick auf sicherheitspolitische Defizite außerhalb Europas (bei denen hier unentschieden bleiben muß, inwieweit es sich um vorgebliche, vermeintliche oder tatsächliche Sicherheitsmängel handelt). Die UdSSR macht geltend, daß sie — anders als die NATO-Länder — rings von feindlichen Nachbarn umgeben sei: Den sowjetfeindlichen Völkern in Europa schließt sich demnach ein ebenso sowjetfeindlicher Iran im Mittleren Osten an (wie zumindest bis zum Sturz des Schah-Regimes erklärt wurde); weiter östlich folgen ein feindliches China und ein fast ebenso ablehendes Japan. Während die NATO ihre Bemühungen weithin mit denen anderen potenter Mächte vereinen könne, sei die Sowjetunion gezwungen, eine militärische Fähigkeit aufzubauen, mit der sie gegebenenfalls allen potentiellen Gegnern gleichzeitig zu begegnen imstande sei. Daher benötige sie ungleich größere Verteidigungskapazitäten, als sie die westlichen Staaten bereitzustellen brauchten.

Dieses Bild, das zur Rechtfertigung der sowjetischen Rüstung gegenüber westlichen Gesprächspartnern entworfen wird, vervollständigt sich noch durch Hinweise auf fortdauernde global-strategische Vorteile der USA und auf das weit überlegene Technologie-Potential des Westens, vor allem der Amerikaner. Es entspricht diesen Thesen, wenn die sowjetische Verhandlungsführung und die östliche Propaganda in Sachen Rüstungskontrolle häufig vorrangig darauf abzielen, der westlichen Seite den Gebrauch des global-strategischen Moments in der Abschreckungspolitik zu erschweren und ihr die Nutzung von Optionen der wehrtechnologischen Innovation zu versagen. Die Führer der sowjetischen Politik haben sich demgemäß bisher den westlichen MBRF-Vorstellungen nicht aufgeschlossen gezeigt, obwohl sie sich in der KSZE-Schlußakte ausdrücklich auch zum Verzicht auf die Manifestation von Gewalt verpflichtet haben. Während der ersten Jahre der MBFR-Verhandlungen haben die Delegationen der Warschauer-Pakt-Staaten auf einer Linie argumentiert, die — besonders deutlich in Äußerungen außerhalb des Konferenzsaals — auf eine Wahrung ihrer als bestehend angenommenen militärischen Vorteile abgestellt war. Gleichzeitig wurden Mannschaftsverstärkungen und vor allem quantitative Rüstungsverbesserungen in Mitteleuropa vorgenommen, die das östliche Übergewicht in der Region weiter ausbauten.

Die östlichen Vorschläge sind überdies geeignet, die Disparitäten weiter zugunsten der UdSSR zu vergrößern. Wenn die wechselseitigen „Reduzierungen", den Entwürfen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten folgend, dergestalt gegeneinander aufgerechnet würden, daß — entsprechend der unterschiedlichen Zusammensetzung der Truppen auf beiden Seiten — die NATO etwa zwei Drittel ihres Solls aufzulösen hätte (weil es sich um einheimische Streitkräfte handelt), während der Warschauer Pakt etwa den gleichen Prozentsatz nur einige hundert Kilometer zurückzuziehenbrauchte (weil dies sowjetische Stationierungsverbände wären), dann liefe dies klar auf eine überproportionale Schwächung des Westens hinaus. Die östlichen Unterhändler haben als Zielvorstellung zu erkennen gegeben, daß vor allem die Bundeswehr (als das Kernstück der westeuropäischen Verteidigung) auf diese Weise im Gegenzug gegen die sowjetischen Formationen in Mitteleuropa „reduzieren" müsse. Die amerikanischen Expeditionsverbände würde es einseitig treffen, wenn, wie östlicherseits gefordert, die Kaderung von Verbänden und die Einlagerung von Waffen verboten würden. Das würde die USA gegenüber der UdSSR nicht nur wegen der unterschiedlichen Entfernungen benachteiligen. Ebenso würden mehr als zwei amerikanische Divisionen, die gemäß dem System der Doppelstationierung (dual based System) mit ihrem Personal in Nordamerika, mit ihren Kadern und Ausrüstungen aber in der Bundesrepublik Deutschland stehen (wohin die Soldaten im Bedarfsfall dann sehr rasch gebracht werden können), ohne jede östliche Gegenleistung in Wegfall kommen. Derartige Vorschläge sind für die NATO von vornherein unannehmbar.

Unter dem moralischen Druck der westlichen Paritätsargumente hat sich die erklärte östliche Verhandlungsposition während der letzten beiden Jahre gewandelt. Das Paritätsziel wird nunmehr bejaht. Gleichzeitig jedoch brachte die östliche Seite in die Datendiskussion Zahlenangaben über ihre Truppenstärken ein, die dem Zweck dienen, einen Zustand der „annähernden Parität" als bereits gegeben hinzustellen. Dementsprechend soll von einer Korrektur des gegenwärtigen militärischen Kräfteverhältnisses in Mitteleuropa keine Rede sein können. Dieser Standpunkt wurde in dem letzten Vorschlag der Warschauer-Pakt-Staaten vom 8. Juni 1978 nicht wesentlich verändert. Da sich die Diskrepanz zwischen östlichen Eigenangaben und westlichen Erkenntnissen bei der bisherigen Datendiskussion nicht im mindesten aufgehellt hat, kam keine Übereinkunft darüber zustande, was Parität konkret bedeutet.

Innerhalb des grundsätzlichen Rahmens, daß die Ost-West-Relation in Mitteleuropa an Hand der Personalbestände zu bestimmen sei, haben die NATO-Staaten selektiv auf einige Truppenverbände und Waffensysteme Bezug genommen. Im Namen der militärischen Stabilität forderten sie in begrenztem Umfang die Zurücknahme sowjetischer Angriffskapazitäten (die als besonders ausgeprägte Bedrohung für Westeuropa empfunden werden) auf das Gebiet der UdSSR. Konkret ging es dabei um eine Armee mit fünf Divisionen und geschätzten 1 400 bis 1 500 (später 1 600 bis 1 700) Kampfpanzern. Wenn man das Zahlenverhältnis zwischen den Kampfverbänden auf westlicher und östlicher Seite und den östlichen Gesamtbestand von 15 000 (später 18 000) Kampfpanzern oder mehr bedenkt, dann war damit ein relativ geringes Zugeständnis gefordert.

Die Warschauer-Pakt-Staaten lehnten jedoch das westliche Verlangen als eine einseitige Zumutung rundweg ab. Daraufhin bot die NATO im Dezember 1975 als Gegenkonzession ausnahmsweise und einmalig den Abzug von 1 000 amerikanischen Kernsprengköpfen samt ihren Trägersystemen — darunter 54 „Phantom“ -Flugzeugen und 36 „Pershing" -Raketen — an. Dem lag die — nicht unumstrittene — Einschätzung zugrunde, daß die NATO in Europa ein unnötig großes (etwa zweifaches) Übergewicht an taktischen Gefechtsfeldwaffen besitze. Am 19. April 1978 ermäßigte die NATO ihre Forderung dahingehend, daß die UdSSR nur noch fünf beliebige Divisionen abzuziehen brauchte. Die östliche Seite bot zwei Monate später statt dessen drei Divisionen und einige kleinere Verbände mit 1 000 Kampfpanzern — also eine weitaus geringere Gegenleistung — an. Inzwischen hatte die UdSSR ihre nuklearen Gefechtsfeldkapazitäten stark ausgebaut, so daß die Annahme einer westlichen Überlegenheit in diesem Bereich zunehmend ins Wanken geriet. Unter den veränderten Umständen kehrte sich die Aufrechterhaltung des NATO-Angebots vom Dezember 1975 gegen dessen Urheber: Eine auf seiner Basis getroffene Regelung mußte nunmehr dazu führen, daß die nordatlantische Allianz ihre nuklearen Gefechtsfeldsysteme einseitig verringerte und begrenzte, während der sowjetische Gegner seine entsprechenden Fähigkeiten ungehindert weiter vergrößern konnte.

8. Sowjetische Vorstellungen einer Rüstungsbegrenzungszone

Die sowjetische Führung macht auch den Versuch, die MBFR-Verhandlungen zu einem Forum der Diskussion über eine Zone besonderer Rüstungsüberwachung in Mitteleuropa zu machen. Die geforderte Festlegung nationaler Höchststärken (statt der von der NATO vorgesehenen kollektiven Höchststärken beider Bündnisse) würde nicht nur in die militärischen Dispositionen der westlichen Allianz eingreifen und einen verteidigungspolitischen Zusammenschluß der westeuropäischen Staaten negativ präjudizieren. Sie würde vor allem die von MBFR betroffenen Länder einem Sonderregime unterwerfen, bei -dem die andere Seite darüber wachen würde, daß die bündnisinterne Verteilung der übernommenen Rüstungsbegrenzungspflichten in einer bestimmten Weise erfolgt. Eine vertragliche Festlegung der beteiligten Staaten auf nationale Reduzierungen könnte überdies nationale Existenzen festschreiben und so Barrieren gegen westeuropäische Integrationsmaßnahmen errichten. Die Ansatzpunkte für Eingriffs-und Mitbestimmungsansprüche bei dem anderen Bündnis würden sich weiter vermehren, wenn, östlichen Vorschlägen folgend, auch die Art der zu reduzierenden Einheiten samt ihrer Waffen spezifiziert würde.

Wenn dies nämlich funktionieren soll, dann muß ergänzend eine Übereinkunft darüber zustande kommen, welche Verbände und Ausrüstungen danach noch in dem Reduzierungsgebiet verbleiben dürfen. Das aber würde dem Gegner ein Veto hinsichtlich aller Strukturveränderungen innerhalb des eigenen militärischen Verteidigungssystems einräumen. Man kann natürlich argumentieren, daß dies nicht nur auf westlicher, sondern auch auf östlicher Seite gelten würde. Die praktischen Auswirkungen jedoch wären nicht gleichartig. Militärisch betrachtet besitzt die NATO im Gegensatz zum Warschauer Pakt noch ein unausgenutztes organisatorisches und waffen-mäßiges Rationalisierungspotential. Des weiteren hat der vorgesehene Reduzierungsraum für beide Bündnisse einen höchst unterschiedlichen Stellenwert: Für die NATO-Militäror-ganisation bildet er das allein tragfähige militärische Glacis auf dem europäischen Kontinent, während er für die UdSSR ein bloßes Vorfeld darstellt, das zudem bei Bedarf sehr rasch mit militärischen Kräften wieder aufzufüllen ist. Das bedeutet, daß sich die Nordatlantische Allianz — anders als der War-schauer Pakt — eine durch gegnerische Mitsprache geschaffene Schwächezone ihres Verteidigungssystems nicht leisten kann.

Im übrigen ist zweifelhaft, ob die Kontrolle in West-Ost-Richtung auch nur annähernd so wirksam funktionieren würde wie umgekehrt. Das Beispiel der Vier-Mächte-Regierung im besetzten Deutschland 1945— 1947 spricht dagegen: Ganz überwiegend konnte zwar die UdSSR ihren Willen in den Westzonen geltend machen, wohingegen die westliche Einflußnahme auf das wenig transparente und antipluralistisch ausgerichtete politische System der Sowjetzone sehr eng begrenzt blieb. Zu all diesen Gesichtspunkten kommt noch hinzu, daß die Begründung eines diskriminierten Status für einzelne Staaten zwar im westlichen Bündnis (das sich grundsätzlich partnerschaftlich versteht), nicht aber auf östlicher Seite zu weitreichenden politischen Problemen führen würde. Die sowjetische Führung hält, ungeachtet einiger Modifikationen in dem letzten östlichen Vorschlag, grundsätzlich an ihrem Konzept fest. 9. Das westliche MBFR-Dilemma Unter diesen Umständen sind die MBFR-Verhandlungen in eine Sackgasse geraten. Das entscheidende Problem liegt darin, daß die NATO-Staaten aus einer Position der relativen militärischen Schwäche heraus operieren und daher der sowjetischen Seite wenig Gegenleistungen anbieten können, wenn sie nicht das Kräfteverhältnis noch weiter verschlechtern wollen. Die für die westeuropäische Verteidigung Verantwortlichen sehen sich weithin nicht weit von dem Minimum dessen entfernt, was sie zur Erfüllung ihres Auftrags benötigen. Wie läßt sich da noch eine Offerte machen, welche die sowjetische Führung davon überzeugen könnte, daß ein Arrangement zu ihrem Vorteilwäre? Es deutet manches darauf hin, daß die Behebung dieses Dilemmas durch bloße Verhandlungen kaum zu erreichen sein wird.

Man kann freilich auch die Gegenfrage stellen, wieso denn die sowjetische Führung auf eine Regelung nicht eingehen sollte, die ihre Sicherheit in keiner Weise vermindern würde.

Ein MBFR-Abkommen nach westlichen Vorstellungen würde — nur auf eine Abschwächung, nicht aber auf eine Beseitigung der östlichen Militärüberlegenheit in Mitteleuropa hinauslaufen und daher den NATO-Streitkräften (deren Dislozierung ohnehin nur auf die Bedürfnisse der Verteidigung ausgerichtet ist) auch nicht theoretisch eine Option des militärischen Angriffs einräumen und — von vornherein das militärische Kräfteverhältnis nur in dem eng begrenzten mitteleuropäischen Raum festlegen, so daß die UdSSR im Krisenfall innerhalb kürzester Zeit die frühere Stärkekonzentration gegenüber Westeuropa wiederherstellen könnte.

Nur zu einem müßte die sowjetische Führung allerdings bereit sein: zu einem gewissen Abbau des in Mitteleuropa jederzeit präsenten und damit verfügbaren militärischen Drohpotentials, das, wenn sich der Prozeß seines relativen Erstarkens in der bisherigen Weise fortsetzt, Moskau die Optionen der politischen Pression und des militärischen Vorgehens * ohne entspannungsstörende und warnzeitträchtige Vorbereitungsphasen verschaffen könnte.

10. Gesamtwertung der Verhandlungssituation Die sowjetische Politik zielt darauf ab, die erreichten militärischen Vorteile uneingeschränkt zu wahren und nach Möglichkeit weiter auszubauen. Diese Machtmaximierung dient weder der Erzielung von Krisen-Stabili-

tat, wie sie westlichen Vorstellungen einer wechselseitigen Sicherheit für Ost und West entsprechen würde, noch einer Materialisierung des Gewaltverzichts, wie er in zahlreichen Ost-West-Dokumenten als Entspannungsspielregel festgelegt worden ist. Die Situation wird noch dadurch erschwert, daß die sowjetische Seite von verschiedenen Ansatzpunkten her die Kopplung zwischen den USA und Westeuropa und den Zusammenhalt innerhalb der NATO zu lockern sucht. Des weiteren soll der Westen die Option eines Einverständnisses mit China aufgeben.

Gleichzeitig beansprucht die UdSSR für sich und ihre Gefolgschaftsstaaten die Option, in den Ländern der Dritten Welt mit allen Mitteln einschließlich kriegerischer Aktionen westliche Positionen in Frage zu stellen und die eigene politisch-militärische Präsenz auszuweiten. Das sowjetische Beharren auf einer derartig selektiven und einseitigen Entspannungspraxis in den entscheidenden sicherheitspolitischen Fragen hat zu einer Krisis der Ost-West-Entspannung geführt, d. h. zu dem Punkt, an dem sich die Entscheidung über Kooperation oder Kompetition beider Seiten in den Fragen der Sicherheitspolitik nicht mehr länger hinausschieben läßt.

Die Vorschläge und Standpunkte der östlichen Seite, die in der Moskauer Deklaration sowie bei SALT und MBFR deutlich geworden sind, markieren natürlich Ausgangspositionen und sind daher nicht als endgültige Festlegungen anzusehen. Es wird entscheidend auf das westliche Verhalten ankommen, ob und inwieweit Moskau von den geäußerten Auffassungen abrückt. Als zentrale Frage stellt sich, mit welchen Anreizen die westlichen Regierungen operieren können, um der sowjetischen Führung ein Eingehen auf ihre Sicherheitsinteressen vorteilhaft erscheinen zu lassen. Was gegen die westliche Seite zu Buche schlägt, ist seit langem klar in Erscheinung getreten: die fortlaufende Verschiebung des militärischen Kräfteverhältnisses durch die sowjetische Rüstung, die Schwächen der NATO-Verteidigung auf dem europäischen Schauplatz und das Vordringen der sowjetischen Macht in Afrika, Mittelost und Südostasien. Weniger bewußt ist sich die westliche Öffentlichkeit der Positiva, die der Westen in die Waagschale zu werfen hat: des überlegenen waffentechnischen Knowhow, das, politsch richtig eingesetzt, die UdSSR mit der Aussicht auf eine Veränderung des Kräfteverhältnisses zu westlichen Gunsten konfrontieren könnte, und der Option eines Zusammenwirkens mit China, das die sowjetische Führung auf mittlere und lange Sicht hin sehr fürchtet. Von selbst versteht sich, daß alle Schritte, die einer Überwindung innen-und integrationspolitischer Schwierigkeiten im westlichen Lager und einem wechselseitig funktionalen Interessenausgleich im Nord-Süd-Verhältnis dienen, die westliche Verhandlungsposition zu stärken geeignet sind.

Die westliche Sicherheitspolitik, die auf dem Abschreckungskonzept beruht, gibt den global-strategischen Kapazitäten der USA die zentrale Bedeutung: Die Stabilitätsdefizite der darunter liegenden militärischen Ebenen — der kontinental-strategischen wie der Ge-fechtsfeld-Ebene — schließen dort das Entstehen kritischer Situationen nicht aus und machen daher den eventuellen Rückgriff auf die global-strategische Abschreckung notwendig. Eine rüstungsbegrenzende Ost-West-Regelung auf kontinental-strategischer Ebene läßt sich daher nicht außerhalb des Zusammenhangs mit einem entsprechenden global-strategischen Arrangement aushandeln. Ein Gleichgewicht auf der Gefechtsfeld-Ebene ohne Rücksicht auf die Rahmenbedingungen bei den beiden darüber liegenden Ebenen festlegen zu wollen, wäre höchst problematisch. Die Gefahren, denen sich die NATO-Staaten während der kommenden Diskussionen und Auseinandersetzungen um Rüstungsbegrenzung gegenübersehen werden, betref- weniger das globale als vielmehr das regionale (kontinental-strategische und gefechtsfeldmäßige) Kräfteverhältnis. Während die sowjetische Führung unter den obwaltenden Umständen kaum ernstlich hoffen kann, eine einseitige Erstschlagsfähigkeit gegenüber den USA zu gewinnen, sieht sie eine reale Chance, die westeuropäischen NATO-Staaten durch speziell auf Europa ausgerichtete Denuklearisierung-, Rüstungsverringe-rungs-, Reichweitenbegrenzungs-und Überwachungsübereinkünfte mehr oder minder von ihrer amerikanischen Führungsmacht sicherheitspolitisch abzukoppeln. Dem muß — noch mehr als einer Festschreibung und Ausweitung der regionalen Disparitäten — entschlossen entgegengewirkt werden.

III. Optionen der westlichen Politik

1. Zielsetzungen für eine Regelung wechselseitiger Sicherheit Die Regierungen der NATO-Staaten haben bislang noch kein umfassendes Konzept für eine Sicherheitsregelung von Ost und West formuliert. Es gibt bisher nur Teilelemente eines solchen Konzepts, die insbesondere im Rahmen von SALT II und III sowie von MBFR zur Diskussion stehen. Grundsätze der vorbeugenden Konfliktentschärfung und Verpflichtungen zum Gewaltverzicht sind in zahlreichen vertraglichen und anderen internationalen Dokumenten des letzten Jahrzehnts, insbesondere auch in der KSZE-Schlußakte vom 1. August 1975, festgelegt worden.

Die Lücken in den bisherigen Bemühungen sind offenkundig. Die Versuche, Fragen der „militärischen Sicherheit" zu regeln, blieben nicht nur hinsichtlich ihrer sachlichen Ergebnisse begrenzt (wie die geringe rüstungsund konfliktdämpfende Wirkung von SALT I deutlich gezeigt hat und wie auch die gegenüber dem Ansatz von 1977 stark reduzierten Resultate von SALT II ausweisen). Auch die verschiedenen Ebenen des militärischen Kräfteverhältnisses sind bisher nur sehr selektiv als mögliche Bereiche von Ost-West-Sicherheitsregelungen in Aussicht genommen worden: Neben der global-strategischen Ebene hat nur ein — recht willkürlicher — Ausschnitt der europäischen Gefechtsfeld-Dimension, nämlich die vorderen Bereitstellungsräume des Mittelabschnitts von NATO und Warschauer Pakt, zur Verhandlung gestanden. Die Gefechtsfeld-Situation ist weder im Blick auf Europa insgesamt noch für andere Schauplätze zwischen Ost und West auch nur andiskutiert worden. Die kontinental-strategifen sehen Probleme sind aus dem sicherheitspolitischen Dialog der Regierungen völlig ausgeklammert geblieben.

Das Stück-für-Stück-Herangehen ist vor allem durch zwei Überlegungen motiviert. Zum einen bedarf es eines fühlbaren Entscheidungsdrucks, wenn sich Politiker zum Handeln bewogen sehen sollen. Das führt meistens dazu, daß nur diejenigen Probleme aufgegriffen werden, die gerade aktuell und dringlich erscheinen, wohingegen längerfristige Erfordernisse außer Betracht bleiben. Zum anderen gilt allen Fachleuten die Sicherheitspolitik als eine sachlich so komplexe und zwischenstaatlich so kontroverse Materie, daß die gleichzeitige Erörterung aller wesentlichen Faktoren zwischen Ost und West als ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen erscheint. Nur stückchenweise, so heißt es, könne man hoffen, die bestehenden Schwierigkeiten zu klären und zu überwinden. Die Kehrseite ist freilich, daß bei den Teilverhandlungen beide Seiten durch die Ungewißheiten hinsichtlich der außerhalb der Erörterung liegenden Rahmenbedingungen verunsichert werden und dann ein bindendes Abkommen entweder völlig zu vermeiden oder aber mit absichernden Sondervorteilen akzeptabel zu machen suchen.

In den Fragen der „politischen Sicherheit" ist der Fortschritt dem Augenschein zufolge größer. Zahlreiche Spielregeln des friedlichen internationalen Zusammenlebens sind einvernehmlich beschlossen worden; ihre Einhaltung kann daher von den beteiligten Staaten wechselseitig als Test der Entspannungswilligkeit angesehen und behandelt werden. In der Praxis sind freilich Schwierigkeiten da-durch entstanden, daß die Warschauer-Pakt-Staaten bei so wichtigen Prinzipien wie dem Einmischungsverbot, dem Selbstbestimmungsrecht und teilweise auch dem Gewaltverzicht eine abweichende Auslegung geltend machen. Darüber hinaus macht es den unvoreingenommenen Betrachter nachdenklich, daß die Teilnehmerstaaten der KSZE zwar ausdrücklich auf das Recht des Gewaltgebrauchs verzichtet haben, daß aber praktisch-militärische Maßnahmen, welche die Möglichkeit zu erfolgversprechendem politischem und militärischem Gewaltgebrauch (d. h. zum Ausüben von Druck bzw. zum Vortragen eines Überraschungsangriffs) in Europa vermindern würden, auf unüberwindlichen Widerstand stoßen. Die Herstellung von Krisen-

Stabilität (oft auch als „Ausgewogenheit" oder „Gleichgewicht" bezeichnet) auf allen militärischen Ebenen muß jedoch als notwendige, unerläßliche Verwirklichung des verbal postulierten Gewaltverzichtsgrundsatzes gelten. Bei Ost-West-Verhandlungen über einen Zustand wechselseitig gewährleisteter Sicherheit kann es, wenn dieses Ziel nicht verfehlt werden soll, nicht um militärische Einzelvorteile gehen. Entscheidend ist vielmehr, daß keine der beiden Seiten (die jeweils gegeneinander als bündnismäßige Einheiten aktionsfähig bleiben müssen) gegenüber der anderen Optionen einer ungestraften Pression oder Aggression gewinnt. Denn solange die macht-und ordnungspolitischen Gegensätze zwischen Ost und West fortbestehen (wie sie beispielsweise in der östlichen Formel von dem sich laufend intensivierenden „ideologischen Kampf" oder in der östlichen Praxis einer antiwestlichen gesellschaftlichen Abschirmungspolitik ihren sinnfälligen Ausdruck finden), läßt sich nicht selbstverständlich davon ausgehen, daß ein risikofrei verfügbares überlegenes Gewaltpotential in keiner Reiz-oder Krisenlage zur Durchsetzung des eigenen Willens gegenüber der als Widersacher betrachteten anderen Seite benutzt werden könnte. Daher bedarf es einer Struktur der wechselseitigen Beziehungen, bei der das drohende Gewaltpotential der einen Seite durch das drohende Gewaltpotential der anderen Seite zuverlässig und dauerhaft paralysiert wird. Ausgehend von der Gewißheit, daß dann die jeweils andere Seite vernünftigerweise von ihrem Gewaltpotential keinen Gebrauch machen kann, entsteht viel leichter ein entspanntes, vielleicht irgendwann einmal sogar vertrauensvolles Verhältnis zwischen den Gegnern, als wenn die Sorgen wegen mangelhafter Sicherheitsgarantien bestimmend blieben.

Unter diesen Umständen kann die Erzielung von Rüstungs-Stabilität nur ein nachrangiger Gesichtspunkt sein. Das Problem der Krisen-Stabilität rührt an die Existenz, während sich Rüstungs-Stabilität möglicher-, wenn auch nicht notwendigerweise günstig beim Geldbeutel bemerkbar macht. Ein Rüstungswettlauf zwischen Ost und West ist aus vielerlei Gründen höchst unerwünscht und sollte daher nach Möglichkeit ausgeschlossen werden. Militärische Instabilität dagegen droht die Krisenbereitschaft der überlegenen Seite zu steigern und ihr Verhalten! im Krisenfall hart — mithin kriegsträchtig — zu machen. Einer derartigen Möglichkeit entgegenzuwirken, muß die oberste Priorität des außenpolitischen Handelns sein. Wenn freilich Krisen-Stabilität erreicht und dauerhaft gewährleistet ist, besteht eine optimale Aussicht auf die Erzielung auch von Rüstungs-Stabilität: Wer von der eigenen Rüstung keine offensiven und defensiven Vorteile mehr zu erwarten hat, kann sich relativ leicht mit der anderen Seite über ein Anhalten der militärtechnischen Entwicklungen verständigen.

Eine weit verbreitete These besagt, daß Rüstungswettläufe um jeden Preis verhindert werden müßten, Weil sie andernfalls den Krieg entzündeten. Diese Auffassung hat sich jedoch in dieser Form empirisch nicht bestätigen lassen. Die Beziehung zwischen Wettrüsten und Kriegsausbruch ist komplizierter. In einem zwischenstaatlichen System, in dem Elemente der Krisen-Stabilität keine Bedeutung haben, erhöht wechselseitiges Wettrüsten Spannung und Kriegswahrscheinlichkeit. Die Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg bietet ein klares Beispiel hierfür. Sobald jedoch ein Staatensystem durch einen organisierten Dualismus (durch das Gegeneinander zweier permanenter Bündnisse) bestimmt ist, zwischen denen Krisen-Stabilität entsteht, verliert das Moment des Rüstungswettlaufs seinen Einfluß auf den Verlauf der Beziehungen und wird zu einem Faktor von untergeordnetem Rang

Krisen-Stabilität hat eine „Ausgewogenheit" sowohl in politischer als auch in militärischer Hinsicht zur Voraussetzung: Zum einen muß ein Nebeneinander von zwei etwa gleichwertigen Allianzen vorhanden sein; zum anderen müssen die militärischen Mittel, deren sich beide Seiten bedienen können, zur Verbindung jeder militärischen Option mit einer angemessenen „strafenden" Folgewirkung führen, damit der positive Anreiz zum Gewaltgebrauch durch eine stärkere negative Konsequenz gekontert wird. Dies heißt zugleich, daß die als „Entspannung" bezeichnete Beziehungsstruktur der Konflikteindämmung und Teilzusammenarbeit zwischen Ost und West zwar in „normalen" Zeiten ihren Wert besitzt, aber für den Fall einer akuten Krise (der sich angesichts der Fortexistenz des grundlegenden Ost-West-Konflikts nicht mit letzter Sicherheit ausschließen läßt) keine Gewähr für Kriegsverhütung und Pressionsverhinderung bietet. Diese Einsicht findet seit dem Harmel-Bericht von 1967 ihren Niederschlag in der NATO-Formel, daß „Entspannung" und „Sicherheit" bei beiden nebeneinanderstehenden, nicht auseinander abzuleitenden Ziele des Bündnisses darstellen.

2. Möglichkeiten der westlichen Verhandlungsführung Die westlichen Möglichkeiten, bei Verhandlungen mit den Warschauer-Pakt-Staaten über Probleme der wechselseitigen Sicherheit Fortschritte im Sinne eigener Ziele zu erreichen, bestimmen sich zum einen aus der Relation der wechselseitig einzubringenden militärischen Trümpfe (wer viel anzubieten hat, kann viel verlangen) und zum anderen aus dem sowjetischen Interesse an bestimmten Tagesordnungspunkten (die abgelehnt oder gegen einen angemessenen Preis akzeptiert werden können). Außerhalb des SALT-Bereichs verfügt die westliche Seite über relativ wenige militärische Verhandlungsobjekte, die sie ohne weiteres zur Disposition stellen könnte, um damit der UdSSR bestimmte Verzichte attraktiv zu machen. Anders sieht die Lage aus, wenn die USA und ihre Verbündeten auch das militärische Potential einbeziehen, das sich im technologischen Stadium des Entwurfs und der Entwicklung befindet und daher in absehbarer Zeit rüstungstechnische Wirklichkeit werden kann. Die sowjetische Seite hegt im Blick hierauf ernste Sorgen:

Die militärische Innovationsfähigkeit des Westens gilt in Moskau als überlegen; sie soll nicht zur Auswirkung kommen, weil sie das derzeit erreichte Kräfteverhältnis möglicherweise entscheidend zu westlichen. Gunsten verschieben könnte.

Die sowjetische Politik zielt darauf ab, die „technologischen Optionen" der USA und ihrer Verbündeten einseitig zu verschließen.

Die Kampagne gegen die westliche Neutronenwaffe bietet ein eindrückliches Beispiel dafür, wie die Männer im Kreml sich der Propaganda und der Diplomatie bedienen, um militärische Systeme, die der NATO vielleicht einen erheblichen zeitlichen Vorsprung vor dem Warschauer Pakt verschaffen könnten, durch das Erregen politischer Widerstände zu Fall zu bringen, ohne daß die UdSSR dafür einen Preis zu entrichten hätte. Die Moskauer Deklaration vom 23. November 1978 und das Außenminister-Kommunique vom 15. Mai 1979 enthalten in gleicher Tendenz mehrere Forderungen, die waffentechnische Fortschritte auf westlicher Seite von einer Realisierung ausschließen sollen. Für die NATO-Staaten kommt es darauf an, sich die erworbenen technologischen Optionen nicht einfach aus der Hand schlagen zu lassen, sondern für einen eventuellen Verzicht in einem Prozeß des wechselseitigen Gebens und Nehmens östliche Gegenleistungen zu erwirken.

Die sowjetische Führung versucht, einer derartigen Nutzung westlicher Stärkemomente entgegenzuwirken. Einige der östlichen Abrüstungsvorschläge zielen darauf ab, nur die bereits eingeführten Waffensysteme (hinsichtlich deren die UdSSR quantitativ und teilweise auch qualitativ weithin überlegen ist) als Ver-handlungsobfjekte gelten zu lassen. Auch in der diplomatischen Praxis hat es die sowjetische Seite bisher in aller Regel abgelehnt, für noch nicht verwirklichte technische Möglichkeiten einen Preis zu zahlen. Eine Festschreibung der bestehenden Rüstungsrelationen soll nach sowjetischer Absicht eine zuverlässige, unveränderliche 'Ausgangsbasis für alle künftigen Rüstungsbegrenzungsund Abrüstungsgespräche schaffen.

Unter diesen Umständen erscheint es zweifelhaft, ob bloßes Drängen auf eine Einbeziehung der technologisch entwickelten, aber noch nicht serienmäßig produzierten WaffenSysteme Erfolg verspricht. Solange die westlichen Regierungen die Herstellung neuer Rüstungsgüter in der erklärten Absicht aussetzen, von der östlichen Seite für einen vorgesehenen Verzicht ein Honorar auszuhandeln, können die Leiter der sowjetischen Politik eine Regelung endlos hinauszögern und mit einiger Gewißheit erwarten, daß sich die Frage auf diese Weise von selbst in ihrem Sinne erledigt. Selbst wenn westliche Unterhändler schließlich noch eine Gegenleistung erwirken können, werden sie — für eine inzwischen entwertete, weil unwahrscheinlicher gewordene Sache — kaum allzu viel herausholen.

Von daher erscheint die Ansicht berechtigt, daß die NATO erst einmal „nachrüsten" müs-daß es widersinnig wäre, Rüstungsmaterial zu dem Zweck herzustellen, daß es anschließend wieder eingeschmolzen wird. Es läßt sich auch darauf verweisen, daß derartige Kalküle in den seltensten Fällen aufgehen: Was erst einmal fertiggestellt und eingeführt worden ist, wird für eine Militärmaschinerie allzu leicht zu einem festen Bedürfnis, das sich nur unter großen Mühen wieder abtrainieren läßt. Beides — das Zur-Disposition-Stellen und das Nachholen unausgeführter Rüstung — hat also seine Tücken. Dem Dilemma entgeht man wohl noch am besten, wenn man das eine tut und das andere nicht läßt: Neue Systeme sollten schon in die Verhandlungen eingebracht werden, bevor sie disloziert sind — aber zugleich sollte das Bemühen um ihre Einführung nicht unterbrochen werden. Auf diese Weise sähe sich die sowjetische Führung genötigt, die technologischen Optionen der NATO als etwas anzusehen und zu behandeln, was sich nur -durch baldige Verzichts-Gegenleistungen aufhalten läßt.

Die Unteilbarkeit der Sicherheit wirft eine Reihe von Verfahrensfragen auf. Kann man innerhalb des gegenwärtigen MBFR-Rahmens, der geographisch willkürlich begrenzt ist und hinsichtlich der einbezogenen militärischen Faktoren eine ebensolche Beliebigkeit aufweist, überhaupt denkbarerweise eine befriedigende Regelung von Problemen der wechselseitigen Sicherheit in Ost und West erwarten? Müßte man nicht wenigstens, einem französischen Entwurf in der UNO-Sonderge-

neralversammlung folgend, das gesamte europäische Territorium berücksichtigen? Wäre dies nicht zugleich die einzige Möglichkeit, wie die geographischen Asymmetrien auf beiden Seiten so weit zu reduzieren wären, daß die westlichen Bedenken gegen eine vorbehaltlose Einbeziehung aller Waffen entfallen könnten? Ein weiterer Problemkreis, aus dem sich vielleicht auch prozedurale Konsequenzen ergäben, ist mit dem Kissingerschen Stichwort der „linkages" bezeichnet: Es muß als höchst fraglich gelten, ob die Ost-West-

Entspannung in Europa funktionieren kann, wenn in überseee, etwa auf afrikanischem Boden, Konfrontation mit allen Mitteln bis hin zu denen des militärischen Zusammenstoßes betrieben wird.

Die wichtigste Verfahrensfrage der vorhersehbaren Zukunft ist freilich, wie der Dialog über das kontinental-strategische Kräfteverhältnis (die sogenannte „Grauzonenproblemanuklear-„taktischen" Komponente auf dem Gefechtsfeld scheint darauf zu verweisen, daß die „Grauzonen" -Waffen zusammen mit den Streitkräften behandelt werden sollten. Das aber wäre aus anderen Gründen höchst problematisch. Die wechselseitige Abschrekkung, die der Krisen-Stabilität zugrunde liegt, kommt letztlich auf der höchsten militärischen Ebene, also auf der Ebene der global-strategischen Kapazitäten beider Supermächte, zustande. Auch wenn der Grundsatz gilt, daß diese höchste Ebene nicht alle Ungleich-gewichte auf den unteren Ebenen unbeschränkt ausgleichen kann, so ist doch eine intakte global-strategische Abschreckung für die Wahrung der Sicherheit'im Ost-West-Verhältnis entscheidend: Nur auf dieser Ebene gibt es für die beiden Supermächte ein totales Risiko, das alle sonst zu erwartenden Vor-und Nachteile als vergleichsweise unbedeutend erscheinen läßt.

Die global-strategische Abschreckung schlägt aber nur so weit auf die unteren militärischen Ebenen und die regionalen Konfliktfelder durch, wie sicherheitspolitische Kopplungen bestehen. Wegen des unmittelbaren geographischen Zusammenhangs besteht ein Kopplungsproblem zwischen der UdSSR und den anderen Warschauer-Pakt-Staaten nicht: Ostmitteleuropa ist das unmittelbare Vorfeld der Sowjetunion. Dagegen gibt es im Verhältnis der Westeuropäer zu den Nordamerikanern die Möglichkeit einer Abkopplung, denn erst der „künstliche" Zusammenhalt durch das nordatlantische Bündnis hat die Sicherheit beider Seiten miteinander verknüpft. Daher ist es unerläßlich, daß sich Westeuropa und die USA auch im Laufe der Ost-West-Verhandlungen über Sicherheit nicht auseinanderdividieren lassen. Einen denkbaren Ansatzpunkt dafür bilden die nicht voll identischen Interessen der Nordamerikaner und der Westeuropäer in strategischer Hinsicht. Sie ständig in wechselseitigem Einvernehmen zu koordinieren, wird die grundlegende Voraussetzung für einen erfolgversprechenden Dialog zwischen Ost und West sein. Die Koordination muß in dem abschreckungsentscheidenden Bereich der strategischen Rüstungen erfolgen — also bei der Abstimmung der global-strategischen Erfordernisse mit den euro-strategischen Notwendigkeiten. Eine Ausweitung von SALT III auf die Mittelstrekkensysteme in und um Europa unter Teilnahme der europäischen NATO-Partner wäre die logische Konsequenz.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Text: Izvestija, 17. 5. 1979.

  2. Text der Moskauer Deklaration: Europa-Archiv, 1/1979, D 14— 28 (deutschj/Pravda, 24. 11. 1978 (russisch). Zu den Auseinandersetzungen über die Vorschläge von Marschall Kulikov: Charles Andras, A Summit With Consequences, RFE, RAD Background Report/271, 14. 12. 1978, S. 1— 6; Patrick Moore, The Ceauescu Saga, RFE, ARD-Background Report/275, 20. 12. 1978, S. 1— 6, 8, 9 f„ 12 f.

  3. V. Sestov, Razoruzenie — kljuevaja problema mirovoj politiki, in: Mezdunarodnaja izn; 2/1979, S. 99, 105, 106.

  4. Charles Andras, a. a. O., S. 6— 9; Robert Rand, The China Factor in Soviet Policy Towards Eastern Europe, RL 76/79, 2. 3. 1979.

  5. Pierre Gallois, La defense de l'Europe face au Pacte de Varsovie, in: Le Monde des Conflits, Nr. 2 (Nov. /Dez. 1978), S. 1— 19.

  6. Text der Rede: Pravda, 3. 3. 1979.

  7. Vgl. Erich Weede, Threats to Detente. Intuitive Hopes and Counterintuitive Realities, in: European Journal of Political Research, 5 (1977), S. 407— 432. Zur Erläuterung des Sachzusammenhangs: Gerhard Wettig, Kriterien der Friedenssicherung in Europa, in; Beiträge zur Konfliktforschung, 3/1974, S. 13— 40.

Weitere Inhalte

Gerhard Wettig, Dr. phil., geboren 1934; Wissenschaftlicher Referent und stellv. Leiter des Forschungsbereichs Politik am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Die Rolle der russischen Armee im revolutionären Machtkampf 1917 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 12) Berlin 1967-, Entmilitarisierung und Wiederbewaffnung in Deutschland 1943— 1955. Internationale Auseinandersetzungen um die Rolle der Deutschen in Europa, München 1967; Politik im Rampenlicht, Frankfurt 1967; [zus. mit Ernst Deuerlein, Alexander Fischer und Eberhard Menzel: ] Potsdam und die deutsche Frage, Köln 1970; Europäische Sicherheit. Das europäische Staatensystem in der sowjetischen Außenpolitik 1966— 1972, Düsseldorf 1972; Frieden und Sicherheit in Europa. KSZE und MBFR, Stuttgart 1975; Die Sowjetunion, die DDR und die Deutschland-Frage 1965— 1976, Stuttgart 1977 2; Der Kampf um die freie Nachricht, Zürich 1977; Broadcasting and Detente, London 1977. 4