Vor einem Jahr forderte die Ständige Konferenz der Kultusminister die Lehrer auf, Nationalsozialismus und Widerstand im Geschichtsunterricht künftig mit „besonderer Intensität" zu behandeln. Was hatte die Kultusminister dazu veranlaßt? Hatten sie durch eine repräsentative Untersuchung aufgedeckt, daß die Lehrer es bisher an dieser „besonderen Intensität" hatten fehlen lassen? Einer solchen Untersuchung bedurfte es anscheinend nicht. Der Intensitätsmangel schien offensichtlich zu sein, nachdem im Herbst 1977 bekannt geworden war, daß neun jüngere Bundeswehroffiziere am Schluß einer privaten Feier in angetrunkenem Zustand symbolisch Juden verbrannt hatten. Diese skandalöse Entgleisung einiger Jungoffiziere brachte zunächst den Verteidigungsausschuß des Bundestages zu der Erkenntnis, daß es sich hier eigentlich nicht um Antisemitismus, sondern eher um Unbildung handele, an der letztlich der Geschichtsunterricht schuld sei, weil er nicht umfassend und gründlich genug über die NS-Zeit aufkläre. Diese Auffassung machte sich dann die Kultusministerkonferenz zu eigen und entschloß sich zu einer administrativen Lehrerschelte. Es war übrigens nicht die erste. Schon 1960, dann 1962 hatten die Kultusminister auf neonazistische Aktivitäten ähnlich reagiert.
So gesehen, scheinen die KMK-Beschlüsse für die Politiker vor allem eine Entlastungsfunktion zu haben. Der Schwarze Peter wird weitergereicht und landet am Schluß regelmäßig bei den Lehrern: berichten die Massenmedien über neonazistische Aktivitäten, dann fühlen sich die für die innere Sicherheit Verantwortlichen herausgefordert und wenden sich ihrerseits über die Kultusminister und Schulverwaltungen an die Lehrer, anscheinend in der Erwartung, die professionellen Pädagogen müßten mit dem Naziproblem doch eines Tages irgendwie fertig werden, wenn sie sich nur ein bißchen mehr anstrengen würden.
Nun tut man den Kultusministern gewiß Unrecht, wenn man ihre Beschlüsse zur Intensivierung des Geschichtsunterrichts als leichtfertige Maßregelung und unnötige Belastung der Lehrer versteht. Man darf davon ausgehen, daß hinter diesen Beschlüssen die verstündlich^ Sorge steckt, die vereinzelt auftretenden Entgleisungen und Ausschreitungen könnten nur die sichtbare Spitze eines neonazistischen Eisbergs sein. Zwar hat Bundesinnenminister Baum erklärt: „Der organisierte Rechtsextremismus stellt wegen scharfer Ablehnung durch die ganz überwiegende Mehrheit der Bürger, des bisher niedrigsten Mitgliederstandes, der Gruppenstreitigkeiten und der Aufspaltung keine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar." Doch leider ist auch festzustellen, daß die neonazistischen Tätlichkeiten ständig zunehmen und in ihrer Form militanter und brutaler werden Und an die scharfe Ablehnung „durch die ganz überwiegende Mehrheit der Bürger", wie Minister Baum behauptet, mag man auch nicht so recht glauben, wenn man bedenkt, daß nach einer Untersuchung der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen immerhin ein Drittel der bundesdeutschen Bevölkerung zu rechtsextremen Auffassungen neigt Zumindest ist ungeklärt, wie groß die unorganisierte Anhängerschaft ist, die auch für den Verfassungsschutz unbemerkt hinter der aktiven Neonazi-Minderheit steht und deren Aktivitäten gutheißt. Obgleich es zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl übertrieben wäre, von einer „Hitlerwelle" zu sprechen, so ist es doch richtig, energisch den Anfängen zu wehren und staatlicherseits Maßnahmen zu treffen, die eine Ausweitung neonazistischer Aktivitäten verhindern. Dabei dürfen sich diese Maßnahmen nicht nur direkt gegen Ausschreitungen der organisierten Minderheit richten, sondern müssen auch vorsorglich verhindern, daß so etwas wie eine heimliche Gefolgschaft entsteht. Insofern ist es ratsam, gerade die Jugend durch entsprechende Präventivmaßnahmen im Auge zu behalten. Die Frage ist allerdings, ob die Kultusminister genug getan haben, wenn sie ihre Maßnahmen auf Intensitätsappelle an die Lehrerschaft beschränken, ohne zugleich konkrete Unterstützung für eine effektivere politische Bildung anzubieten.
Wie eine solche Unterstützung konkret aussehen könnte und welche Voraussetzungen zu ihrer Realisierung geklärt sein müßten, soll im weiteren wenigstens thesenhaft zur Diskussion gestellt werden.
Zuvor allerdings bleibt noch zu begründen, daß eine solche Unterstützung der Lehrer überhaupt nötig ist, zumal wenn sie Geld kostet. Haben bei uns in der Bundesrepublik die Schulreformer sich doch so daran gewöhnt, daß man zwar für Schulbauten und deren technische Ausstattung kräftig zahlen muß, daß aber der Unterricht selbst durchaus mit den üblichen „Bordmitteln" gemacht werden kann, bisweilen ergänzt durch Empfehlungen und Unterrichtsmodelle.
Nun sind Lehrer unbestreitbar in der Lage, auch zeitgeschichtliche Themen wie Nationalsozialismus und Widerstand mit Lehrbuch und Quellenheft und hin und wieder mit ein paar Matrizenabzügen aus ihrer Privatbibliothek zu behandeln. Die Frage ist nur, ob sie so mit „besonderer Intensität" unterrichten, d. h. auf das Verhalten ihrer Schüler tatsächlich Einfluß nehmen können. Eine solche Frage mag auf den ersten Blick befremden, möchte man doch meinen, daß die Intensität der Einflußnahme eher von der Persönlichkeit des einzelnen Lehrers abhängt und weniger vom Unterrichtsmaterial. Sicher gibt es Schüler — zumindest bis zu einem gewissen Alter —, die einem Lehrer zuliebe bereit sind, sich mit seinen Denk-und Verhaltensmustern zu identifizieren und diese zu imitieren. Doch eine solche mittelbare Verhaltensprägung wäre gerade in diesem Fall fatal. Die Sache selbst muß zur Wirkung kommen. Der Lehrer kann diese Wirkung unterstützen, nicht ersetzen. Die Sache selbst — und das ist der entscheidende Punkt! — läßt sich aber mit den üblichen Lehrmitteln nicht sinnfällig genug verwirklichen. Geht man davon aus, daß Nationalsozialismus und Widerstand für unsere Schüler Geschichte sind, müßte vor einer Analyse und kritischen Bewertung unbedingt die Vergegenwärtigung der zu Geschichte gewordenen Zeit stehen. An dieser ersten, für den Lehrer schwierigsten Hürde des politisch bildenden Geschichtsunterrichts entscheidet sich bereits alles weitere: Ohne eine nacherlebbare Vorstellung, wie man im „Dritten Reich“ miteinander umgegangen ist, fehlt dem Schüler das anthropozentrische Bezugssystem, das er braucht, um einzelne Ereignisse jener Zeit aus der Sicht der damals Lebenden verstehen zu können.
Als Einstieg und Anstoß müßten deshalb erst einmal die gängigen Denk-und Verhaltensmuster der NS-Zeit verdeutlicht werden. Dabei ist ganz entscheidend, daß sie nicht bloß genannt und gelernt werden, sondern für den Schüler nacherlebbar in Handlung umgesetzt erscheinen. So genügt es nicht, Schülern zu erzählen, daß beispielsweise körperliche Züchtigung im „Dritten Reich" eine traditionsbedingte, häufig und offiziell praktizierte Bestrafung war. Erst wenn eine Vorstellung davon entsteht, wie Eltern, Lehrer, Ausbilder und Aufsichtspersonen im Glauben, das Rechte zu tun und in voller Übereinstimmung mit ihren moralischen Einstellungen Jugendliche prügelten, wie erniedrigend das für die Bestraften sein konnte, welche Ängste sich beim einzelnen von klein auf festsetzten — erst dann kann Schülern von heute ansatzweise begreifbar werden, wie Duckmäusertum, Selbstentwürdigung und blinder Gehorsam Menschen bestimmen und beherrschen konnten und wie aus diesen Verängstigten selbst wieder neue Angstmacher wurden.
Dieses und ähnliches nacherlebbar zu vergegenwärtigen, dürfte für den einzelnen Lehrer eine glatte Überforderung sein. Abgesehen davon, daß er bei der augenblicklichen Schulsituation und Stundenaufteilung im Idealfall wöchentlich 40 Minuten für Situationsdarstellungen zur Verfügung hätte, und auch die wären noch auseinandergerissen und auf verschiedene Tage verteilt, fehlen ihm schlicht die Mittel zu einer solchen Präsentation. Wenn man bedenkt, wie gerade jüngere Lehrer nach einem Buch wie „Der Geschichtsleh-B rer erzählt" von Herbert Mühlstädt greifen, das sachlich fehlerhaft und ideologisch einseitig ist, das aber wenigstens mal den Versuch zur Vergegenwärtigung der Realität der Zeit macht, wird der Mangel an Konkretisierungshilfen offensichtlich. Hier kann auch das Angebot der Landesbildstellen nur bedingt Abhilfe schaffen. Manches von dem, was es da zu entleihen gibt, ist veraltet; das meiste ist überdies rein dokumentarisch und allzu belehrend, vor allem aber nicht von der professionellen Machart, wie sie der Schuler von den Massenmedien gewohnt ist. Eindrücke, die Filme wie , Holocaust' oder , Als Hitler das rote Kaninchen stahl' hinterlassen, können selbst informationsreiche Unterrichtsfilme und erst recht nicht selbstfabrizierte Geschichten eines noch so versierten und darstellerisch begabten Lehrers erreichen.
Und noch etwas gilt es immer gleichzeitig zu bedenken: Selbst ein gut gemachter Film wie , Aus einem deutschen Leben' erreicht diese Wirkung nicht, weil sein Stoff zu speziell ist. Ähnlich ist es bei den Hitlerfilmen: Die Schüler sehen Hitler, reagieren auf Hitler: entsetzt, kopfschüttelnd, unentschieden, Beifall grölend. Aber sie verstehen „das Ganze" nicht. Und „das Ganze" können sie deshalb nicht verstehen, weil Hitler und die anonyme Masse nicht „das Ganze" waren. Um „das Ganze" verstehen zu können, muß der Schüler zunächst einmal exemplarisch erfahren, welche Denk-und Verhaltensweisen den All-tag der Nazizeit bestimmt haben. Durch sie bekommt er gleichsam eine Art historische Koordinatenverschiebung, die ihm die Abweichung heutiger Denk-und Verhaltensweisen von denen der NS-Zeit anzeigt. So dürfte es ihm leichter fallen, Menschen unter dem Nazi-regime verstehen zu lernen, was keineswegs heißen soll, daß er damit auch ihre Ta-ten akzeptiert.
Man kann sich fragen, ob ein solcher Einstieg in die Behandlung von Nationalsozialismus und Widerstand die erwünschte Konsequenz aus dem KMK-Beschluß ist. Geht es bei der Forderung nach „besonderer Intensität"
nicht schlicht darum, Schülern umfassendere und gründlichere Kenntnisse zu vermitteln?
In dieser Annahme wird bestärkt, wer Dieter Boßmanns Veröffentlichung liest, die — was den Kenntnisstand der Schüler aller Schularten betrifft — in mehr als 3 000 Schulaufsätzen zum Thema „Was ich über Hitler gehört habe..." die „blanke Kata-strophe" zu dokumentieren scheint. Nach Boßmanns sortierter Auswahl könnte man denken, es gäbe Schüler, die alles in allem die Vorstellung hätten: Hitler habe als Italiener den Dreißigjährigen Krieg geführt, die erste Mondlandung gemacht und die Nazis in die Gaskammern geschickt.
Demnach müßte man sich in der Tat beunruhigt fragen, was mit dem Geschichtsunterricht los ist. Doch so haarsträubend, wie man vermuten möchte, ist die Ahnungslosigkeit unserer Schüler — Gott sei Dank — nicht! Der Hamburger Landesschulrat Wolfgang Neckel hat in einer Fernsehsendung klargestellt, daß der bestürzende Eindruck, den Boßmanns Sammlung hinterlasse, sich wesentlich abschwäche, wenn man die einzelnen Aufsätze einmal im ganzen gelesen hätte, und nicht nur die schlimmen Stellen.
In diesem Zusammenhang sollte man sich auch daran erinnern, daß Schüleräußerungen über lebende Politiker (Willy Brandt, Rainer Barzel und F. J. Strauß) uns durch ähnlich krauses Zeug schockiert haben. Und nicht viel anders sieht es aus, wenn Funk und Fernsehen Straßeninterviews machen und Passanten nach Anlaß und Sinn von Gedenkund Feiertagen fragen. Aus den beiläufig gegebenen Antworten läßt sich ohne viel Mühe ein Popanz der Unkenntnis und Dummheit aufbauen, über den man nur lachen und den Kopf schütteln kann.
Um herauszubekommen, was Schüler tatsächlich über Nationalsozialismus und Wider-stand wissen, eignen sich Reihenbefragungen und Aussätze, wie sie Boßmann gesammelt hat, wenig. Häufig sind an der vermeintlichen Unkenntnis Unkonzentriertheit und Formulierungsschwächen schuld. Nicht unwichtig ist auch, wann und in welchem Zusam-* menhang ein solcher Aufsatz geschrieben wird und welchen Stellenwert er für die Zeugnisse hat. Schließlich gibt es so etwas wie einen passiven Kenntnisschatz, der bei dieser Art, Wissen abzufragen, überhaupt nicht zur Geltung kommt. Trotz dieser Bedenken gegen Boßmanns Katastrophenalarm muß man wohl zugeben, daß es mit dem Geschichtswissen unserer Schüler nicht gerade zum besten steht, vor allem dann nicht, wenn man es mit “ den Kenntnissen unserer Eltern und Großeltern vergleicht. Davon ist aber nicht speziell die NS-Zeit betroffen. Das gilt ganz allgemein für geschichtliche Daten und Fakten, obgleich diese alle gut leserlich im Geschichtsbuch stehen und sicher auch im Unterricht angemessen zur Sprache kommen. Woran liegt das? Möglicherweise stecken gedächtnispsychologische Gründe dahinter. Während man sich früher Geschichte geflissentlich einbimste und durch ständiges Wiederholen schließlich alle nur irgendwie überlieferten Krönungen, Schlachten, Friedensschlüsse und Hinrichtungen herunterbeten konnte, verzichten die Lehrer heute mit Recht auf so einen sinnleeren Drill. Aber was haben sie'an Gedächtnishilfe ersatzweise anzubieten? Es ist hier nicht der Platz, im einzelnen auf schulpraktische Anregungen der Gedächtnispsychologie einzugehen, doch eines sollte man in diesem Zusammenhang wenigsten bedenken: Wissensvermittlung im Unterricht muß möglichst über mehrere „Eingangskanäle" (Kodierung von Schriftzeichen, bewegten Bildern, Tönen u. a.) erfolgen. Und das aus doppeltem Grund: Zum einen steht fest, daß je mehr Eingangskanäle bei der Wissensvermittlung vom Schüler benutzt werden können, auch die Assoziationsmöglichkeiten für ihn entsprechend größer sind. Je mehr Assoziationen er hat, um so größer ist wieder die Chance, daß das vermittelte Wissen dauerhaft gespeichert wird. Zum anderen gibt es in großen Lerngruppen, wie sie heute an unseren Schulen üblich sind, ganz unterschiedliche Lerntypen, die entsprechend unterschiedliche Eingangskanäle favorisieren. Will man als Lehrer nicht nur einem bestimmten Lerntyp, z. B.dem „verbalen Buchtyp", gerecht werden, sondern möglichst der ganzen Gruppe, muß auch die Wissensvermittlung über entsprechend vielfältige Methoden erfolgen. Dementsprechend müßte ein Unterricht, der eine wirklich effektive Wissenvermittlung anstrebt, audiovisuelle Medien einsetzen, am besten einen vielfältigen Medienverbund.
Damit kann ein früherer Faden wieder aufgenommen werden: Man mag den KMK-Appell verstehen wie man will: um eine sinnfällig konkretisierende Vergegenwärtigung der NS-Zeit kommt man letztlich kaum herum; es sei denn, man wollte lediglich die Quantität vergrößern — mehr Unterrichtsstunden, mehr Fakten, mehr Lernerfolgskontrollen —, ohne dabei auf die Effizienz zu achten und die nötigen mediendidaktischen Konsequenzen zu ziehen.
Mit einem solchen Unterricht, der nach wie vor an einer tiefergreifenden politischen Bil-dung vorbeizielen würde, wäre man allerdings leicht aus dem Schneider. Hervorragende Quellenhefte und gediegene Darstellungen gibt es genug. Weniger reichhaltig scheint das Angebot an Unterrichtsmodellen zu sein. Nach der Zusammenstellung von Kurz und Graeff fällt auf, daß in den Jahren von 1958 bis 1976 beispielsweise zum Thema „Bundesrepublik" 521 Unterrichtsmodelle, zum Thema „Nationalsozialismus und Widerstand" dagegen nur 60 veröffentlicht wurden. Von diesen 60 stammen wiederum nur 14 aus den siebziger Jahren. Doch würde sich höchstwahrscheinlich an der Behandlung der NS-Zeit nicht viel ändern, wenn es nur mehr und nicht prinzipielle andere Unterrichtshilfen wären.
Ein bloßes Verstärken der bisherigen Unterrichtspraxis könnte den beabsichtigten Lernerfolg eher ins Gegenteil verkehren und bei vielen Schülern Abwehrhaltungen aufbauen Zugleich würden gerade jene davon profitieren, die sich aus Sympathie zum Neonazismus ohnehin gern mit dem Nationalsozialismus beschäftigen. Gibt es doch gerade unter den Schülern, die speziell über die NS-Zeit ausgezeichnete Schulkenntnisse nachweisen, nicht wenige, die irgendeinen Posten in einer rechtsradikalen Jugendorganisation bekleiden. Gerade an diesen Schülern aber ist abzulesen, wie erzieherisch fragwürdig es ist, Nationalsozialismus und Widerstand im Unterricht gleichsam wie geschichtliche Leichname zu sezieren und auf ihre Funktionsmechanismen hin zu untersuchen. Eine solche vorwiegend an kognitiven Lernzielen orientierte Behandlung dieser Themen gleicht einem pädagogischen Schildbürgerstreich: Sie ist trotz sachlicher Akribie und aufklärender Analyse für eine tiefergreifende Verhaltensänderung weitgehend ineffektiv.
Die Alternative darf allerdings nicht ein missionarischer Gesinnungsunterricht sein. Zwischen beiden Extremen müßte ein sachlich anthropozentrischer, Erfahrung vermittelnder Geschichtsunterricht seinen Platz haben. Dazu im folgenden einige Überlegungen und Anregungen:
Zielt die Behandlung von Nationalsozialismus und Widerstand vor allem auf Verhaltensänderung bei Schülern ab, kommt es für den Lehrer sehr darauf an, einen möglichst direkten Zugang zur Lerngruppe zu finden. Damit sind nicht die üblichen Vorüberlegungen bei der Unterrichtsplanung gemeint, daß sich der Lehrer vergewissert, welche Vorkenntnisse und intellektuelle Fähigkeiten seine Schüler haben, welche Arbeitsmethoden sie beherrschen und wie sie motiviert sind. Gemeint ist vielmehr, wie man Schülern von vornherein verständlich machen kann, daß die Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich" für sie nicht ein Apportieren von Daten und Fakten, sondern in erster Linie eine Art Begegnung mit sich selbst ist. Zweckmäßig wäre wohl ein Einstieg, der möglichst konkret vergegenwärtigt, wie menschliches Verhalten von Denkmustern und Erfahrungen bestimmt ist und zugleich offenbart, daß bestimmte Verhaltens-mechanismen, die in der NS-Zeit auftraten, auch heute wirksam sind. Dazu einige grundsätzliche Gedanken.
Jeder Mensch macht von klein auf Erfahrungen, und je jünger er ist, um so einprägsamer sind sie meistens. Er gerät in die unterschiedlichsten Situationen, in denen beispielsweise seine Erwartungen erfüllt oder enttäuscht werden, wo er Zuneigung empfindet oder abgewiesen wird, wo man sich um ihn kümmert, ihn beschützt, verteidigt oder im Stich läßt, bedroht, angreift, wo man ihn anerkennt, verehrt oder lächerlich macht, erniedrigt. Entscheidend für sein künftiges Verhalten ist zunächst einmal, wie er in der jeweiligen Situation mit seinen Erfahrungen fertig wird und welche Rolle diese in seinen Erinnerungen spielen. Wichtig ist weiter, ob sich bestimmte Erfahrungen häufen und in welchen Intervallen das geschieht, ob sie wieder verblassen oder zu „empfindlichen Punkten" werden. Schließlich hängt für das Verhalten sehr viel davon ab, ob sich Erfahrungen subjektiv sinnvoll zusammenfügen und sich im Eindruck wechselseitig ergänzen und verstärken, oder ob sie in der Vereinzelung stehen bleiben, sich überspielen lassen und sich sogar gegenseitig ausschließen.
Solche Erfahrungen, die zunächst als spontane Impulse das Verhalten gleichsam wellen-artig beeinflussen, hinterlassen bei entsprechend nachhaltigem Eindruck Bewußtseinsspuren. An solche Spuren können sich — gleich oder später — assoziativ erfahrungskonforme Denkmuster hängen, die dann als Einstellungen menschliches Verhalten normieren, stabilisieren und gegebenenfalls nachträglich rechtfertigen.
Oft bleiben solche durch Erfahrung verursachten Bewußtseinsspuren zunächst unbesetzt, bis sie auf ein passendes Denkmuster treffen. Plötzlich fällt es einem wie Schuppen von den Augen: Irgendwie hat man schon immer geahnt, das müßte so sein. Jetzt weiß man es. Denkmuster, die mit persönlichen Erfahrungen in ihrer Bedeutung deckungsgleich sind, können Verhalten so verfestigen, daß dies nach außen als unumstößliche Überzeugung erscheint Es ist aber auch durchaus möglich, daß Denkmuster ohne entsprechende subjektive Erfahrung einfach übernommen werden. Manches, wonach beispielsweise Kinder sich richten, haben sie nicht selbst erfahren, sondern von Älteren gehört. Häufig werden solche vermittelten Erfahrungen durch nachträgliche eigene Erfahrung gefestigt. Sie können aber auch als unbestätigt wieder aufgegeben und durch andere Erfahrungen ersetzt werden.
Hier ergeben sich für einen aufmerksamen Lehrer gute Ansatzmöglichkeiten, auf Schülerverhalten erzieherisch Einfluß zu nehmen. Wie eine solche Einflußnahme durch Unterricht aussehen könnte, wird später zu zeigen sein. Zunächst einmal muß erläutert werden, was in diesem Zusammenhang unter Denkmuster konkret zu verstehen ist. Dabei darf man sich wohl zweckmäßigerweise auf eine Beschreibung solcher Denkmuster beschränken, die sich in der NS-Zeit als beherrschende Einstellungen auf zwischenmenschliches Verhalten ausgewirkt haben. Dazu gehören sowohl systemkonforme Denkmuster als auch — zum Verständnis des Widerstands — systemkonträre. Typisch für den Nationalsozialismus sind Denkmuster, die zu einem monistischen Weltverständnis gehören, wie es vor allem von Ernst Haeckel und später von Ernst Krieck verbreitet wurde. Grundprinzip ist die Natur, das All-Leben. Entsprechend ist der Mensch ein Naturwesen, ein Organismus, wie Pflanzen und Tiere auch. Der Mensch verdankt sein Dasein allein der Natur. So wie alles Lebendige ist er rein kausal determiniert, unterliegt der „eisernen Logik der Natur" Zu dieser Logik gehört es, daß Schwächliches, Krankes mitleidslos ausgemerzt, dagegen biologisch Schönes, Starkes, Gesundes geschützt und gezüchtet wird. Von solchen mehr allgemeinen Mustern werden speziellere abgeleitet, wie: Zwischen Mensch und Tier besteht prinzipiell kein Unterschied. Oder: Der Mensch erfindet nichts, er entdeckt nur Ähnlich monistische Denkmuster findet man übrigens auch bei den dogmatischen Leninisten, die allerdings statt des Naturprinzips die Materie für die „prima causa" halten. Konträr dazu stehen Denkmuster, die zu einem dualistischen Weltverständnis gehören: Leben ist nicht kausal, sondern final zu begreifen. Der Mensch ist ein Gottesgeschöpf, ein geistiges Wesen, das in der Natur sich selbst begegnet, Gestalt gewinnt, das sich ihrer Versuchung aber auch widersetzen muß, das nicht zur bloßen Natur herabsinken darf, das mit der Natur im Konflikt liegt, sie unter Kontrolle bringen muß, ja das die Natur sogar überwinden kann.
Eine andere Gruppe von Denkmustern, die für den Nationalsozialismus bezeichnend ist, aber nicht ausschließlich für ihn, betont am Menschen das Partikulare: Das Einzelleben ist für sich nichts, es dient der Art, der Rasse, dem Volk, dem Vaterland. „Wenn sein Bestand vonnöten wäre, würde es nicht untergehen. Eine Fliege legt Millionen Eier, die alle vergehen. Aber die Fliegen bleiben." Hierzu passen auch schlagwortartig formulierte Denkmuster wie „Du bist nichts, dein Volk ist alles" u. ä. Konträr zu solchen Vorstellungen, nach denen das einzelne überhaupt nur für das Ganze existiert, stehen Denkmuster, die am Menschen das Individuum betonen. Wer so dachte, gehörte — nicht nur für die Nazis — zu den „vaterlandslosen Gesellen". Individualistische Denkmuster, wie sie hier verkürzt genannt werden sollen, heben auf das Besondere, Einmalige, Einzigartige des Menschen ab. Jeder ist in seiner Art eine Welt für sich. In der Gemeinsamkeit wird die Vielfältigkeit, Andersartigkeit als das eigentlich Wesentliche betont. Experimente mit Menschen sind verwerflich.. Die Todesstrafe ist inhuman.
Eine weitere Gruppe von Denkmustern, der man im Nationalsozialismus begegnet, zielt auf die Fremdbestimmung des Menschen: Nach dem „aristokratischen Prinzip der Natur"
drückt sich ihr Wille in der Person des Führers aus, der seine Mission vom „Schöpfer des Universums" erhält Entsprechend sind die Menschen — vulgärdarwinistischen Vorstellungen ähnlich — hierarchisch gegliedert. Am Ende stehen die rassisch minderwertigen Untermenschen, an der Spitze die „arische Rasse" mit ihren „blonden Bestien", die den Willen der Natur am deutlichsten erkennen lassen. „Heteronome" Denkmuster, wieder verkürzt gesagt, finden sich auch bei dogmatischen Leninisten: Die Partei ist die Elite. Sie hat immer recht. Es kommt nur auf das richtige Bewußtsein an. Solche Denkmuster in die gleiche Reihe mit entsprechenden Denkmustern der Religionsgemeinschaften zu stellen, mag wie Blasphemie erscheinen. Aber gerade diese strukturelle Ähnlichkeit ist es ja, die trotz aller substantiellen Unterschiede in der NS-Zeit viele meinen ließ, die Nazis hätten auf ihre Art auch einen Glauben. Und Ernst Krieck, einer der nationalsozialistischen Chefpädagogen, hat es geradezu perfekt verstanden, nationalsozialistisches Denken mit christlichen Vorstellungen zu verkleiden: Aus dem Naturprinzip wurde Gottvater, die Rassenseele erhob er zum Heiligen Geist, aus dem völkischen Einheitsstaat machte er die Kirche, weihte Hitler zum auserwählten Werkzeug der Vorsehung, zum Meldegänger Gottes, und machte den 9. November zum Karfreitag der Bewegung. Konträr dazu stehen Denkmuster, die von der Selbstbestimmung des Menschen ausgehen: Jeder muß für sich selbst entscheiden, was gut und wichtig sein soll, und er allein ist für seine Entscheidung verantwortlich. Niemand kann ihm diese Entscheidung abnehmen. Du bist, was du sein willst 16). Schließlich seien noch als vierte Gruppe „militante" Denkmuster genannt, in denen das Kämpferische auf eine brutal-aggressive Auseinandersetzung mit dem Gegner verkürzt wurde: „Wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens verdient das Leben nicht." 17) Brutalität macht Eindruck. Terror erspart Argumente. Jugend muß gewalttätig, herrisch, unerschrocken sein. Das herrliche Raubtier muß aus ihren Augen blitzen. Die Welt soll sich vor ihr erschrecken 18). Das Gegenstück dazu sind „pazifistische" Denkmuster, dere Brutalität macht Eindruck. Terror erspart Argumente. Jugend muß gewalttätig, herrisch, unerschrocken sein. Das herrliche Raubtier muß aus ihren Augen blitzen. Die Welt soll sich vor ihr erschrecken Das Gegenstück dazu sind „pazifistische" Denkmuster, deren Maxime die Gewaltlosigkeit ist.
Mit diesen vier Gruppen, die weder systematisch geordnet noch vollständig sind, ist das Arsenal nationalsozialistischer Denkmuster und der dazu konträren Vorstellungen keineswegs erschöpft. Diese Beispiele sollten lediglich zeigen, was in diesem Zusammenhang konkret unter Denkmuster zu verstehen ist und einige von ihnen in Erinnerung bringen.
Auffällig ist nun, wie im Bewußtsein des einzelnen diese persönlichen Denkmuster ganz bestimmten Erfahrungen zugeordnet werden.
Dabei können die Situationen, die zu einer solchen Erfahrung geführt haben, durchaus sehr unterschiedlich gewesen sein. Wer beispielsweise auf Versammlungen erfahren hat, daß er nur zu brüllen und kräftig mit der Faust auf den Tisch zu schlagen braucht, um anderen zu imponieren, der findet sich in monistischen Denkmustern bestens placiert. Doch auch wer im Krieg unmittelbar miterleben mußte, wie Menschen wahllos und massenweise vernichtet wurden, wird sich möglicherweise an monistische Denkmuster hängen, die ihm diese Ungeheuerlichkeit als ganz „natürlich" erscheinen lassen und sein Gewissen entlasten. Dagegen wird jemand, der mit seinem „eigenen Schweinehund"
ringt oder unter der Hemmungslosigkeit und Brutalität anderer zu leiden hat und sich mit ihnen nicht arrangieren will, eher dualistischen Denkmustern zuneigen. Ob einem bereits als Kind durch unerbittliche Strenge der Wille gebrochen wurde oder ob man als „Freiwilliger" enttäuscht aus dem verlorenen Krieg zurückkommt oder als Arbeitsloser sich überflüssig und abgeschoben fühlt: in jedem Fall wird man in „partikularen" Denkmustern eine Erklärung für sein unverschuldetes Schicksal finden und dabei solche bevorzugen, die einem zugleich in der „Volksgemeinschaft" einen Ausweg aus der Bedeutungslosigkeit und Hoffnungslosigkeit verheißen. Andere wieder, die viel Zustimmung und Zuneigung empfangen und in ihren Aktivitäten erfolgreich sind, werden ein starkes Selbstgefühl entwickeln und sich eher in „individualistischen" Denkmustern wiedererkennen 19). Wer ständig bemuttert und in Abhängigkeit gehalten wird, kann genauso wie jemand, der sich aus einer unabwendbaren Gefahr plötzlich gerettet sieht, seine Erfahrung am besten auf „heteronome" Denkmuster beziehen. Wem es dagegen gelingt, sich in einer für ihn entscheidenden Situation selbst zu helfen und durchzusetzen, sucht eher nach „autonomen“ Denkmustern. Lebt man in einer Umwelt, in der man sich nur mit der Faust behaupten kann, fühlt man sich durch „militante" Denkmuster bestätigt. Dabei macht es prinzipiell keinen Unterschied, ob man selbst brutal zuschlagen kann oder —-in Kombination mit „partikularen" und „heteronomen" Denkmustern — es anderen überläßt, gewalttätig zu werden. Pazifistische Denkmuster schließlich könnten sowohl jemandem entsprechen, dem es gelungen ist, sich argumentativ zur Wehr zu setzen, als auch einem, der Gewalt erleiden mußte und sie verabscheut. Beim Letzteren würde man wahrscheinlich auch auf „individualistische" Denkmuster treffen. Dagegen ließe sich schwer voraussagen, ob er eher „heteronomen" oder „autonomen" Denkmustern zuneigt. Es wäre möglich, daß er seine pazifistische Haltung in Beziehung zu einem göttlichen Gebot setzt. Es wäre aber auch genauso gut denkbar, daß er den Entschluß, keine Ge-walt anzuwenden, sich selbst zuschreibt.
Vermutungen darüber anzustellen, wie dieser Zuordnungsmechanismus im einzelnen ablaufen mag, würde wohl in der Sache kaum weiterführen. Gewiß verläuft dieser Prozeß nicht linear, wie das letzte Beispiel schon angedeutet hat. Früher Erlebtes und Gedachtes wird die Auswahl neuer Denkmuster beeinflussen, intellektuelles Vermögen und Urteilsfähigkeit ebenfalls. Auch die Art der persönlichen Erfahrung spielt dabei sicher eine Rolle, je nachdem, ob sie grundlegend oder flüchtig, komplementär oder gegenläufig war. Bemerkenswert ist allerdings, daß es allem Anschein nach für Funktion und Bedeutung von Denkmustern völlig gleich ist, welche Qualität sie haben Primitive Denkmuster können genausogut wie hochdifferenzierte zur unerschütterlichen Überzeugung werden. Entscheidend ist dafür allein die Intensität der persönlichen Erfahrung Diese irrationale Verankerung hat zur Folge, daß sowohl die Denkmuster selbst wie auch das durch sie programmierte Verhalten durch rationale Argumente überhaupt nicht mehr zu beeinflussen sind. Die Reaktion des Bewußtseins auf solche Versuche ist in etwa immer die gleiche: Mögen andere an dem, was man für richtig und wichtig hält, noch soviele Widersprüche und Ungereimtheiten entdecken, man hat doch schließlich selbst erfahren, daß es zumindest im Prinzip so ist. Ausnahmen gibt es natürlich immer. Während es bei bloß übernommenen Denkmustern, die an keiner persönlichen Erfahrung hängen, durchaus in der Regel möglich ist, durch vernünftige Erwägungen und begründete Einwände Einfluß zu nehmen, ist dies bei erfahrungsgestützten Denkmustern, die häufig auf Anhieb in ihrer Rigidität gar nicht zu erkennen sind, aussichtslos. Dieser irrational gespeiste Mechanismus kann anscheinend, wenn überhaupt, nur noch durch gegenläufige Erfahrungen außer Funktion gesetzt werden. Wenn das so stimmt, ergeben sich daraus für die pädagogische Praxis bestimmte Konsequenzen, die an anderer Stelle im Zusammenhang mit methodischen Anregungen formuliert werden sollen. Hier bleibt — mit Blick auf die Lerngruppe — festzuhalten, daß alles, was über die Auswirkung von persönlichen Erfahrungen und Denkmustern auf das Verhalten des Menschen der NS-Zeit gesagt wurde, prinzipiell gilt, also auch für den Schüler. Außerdem darf man wohl davon ausgehen, daß Jugendliche heute ähnliehe persönliche Erfahrungen machen. Und selbst die erwähnten Denkmuster scheinen im . großen und ganzen den Zusammenbruch des Dritten Reiches überlebt zu haben. Gibt es doch Jugendliche, — die ihre subjektiv empfundene Nichtigkeit ausgerechnet durch Gefolgschaft in einer Volksgemeinschaft aller Deutschen aufheben und sich dadurch aufwerten wollen, wie der Bund Heimattreuer Jugend, « — die dem einzelnen als „naturbestimmtem Organismus" einen Platz in der Gesellschaft zuweisen wollen, den er aufgrund seiner Anlagen und des allgemeinen Bedarfs zu erfüllen hat, wie Nationalrevolutionäre und Volkssozialisten, — die Toleranz als Schwäche empfinden, die „radikal durchgreifen" und „aufräumen", die auf die Freiheit der Bundesrepublik „scheißen" und Blut „knüppeldicke fließen" lassen wollen, wie verschiedene rechtsextreme Grüppchen
Zugegeben: diese Jugendlichen, die fest an monistischen, partikularen, heteronomen und militanten Denkmustern hängen, sind eine Minderheit. Doch sollte man dabei nicht vergessen, daß Jugendliche mit solchen Denkmustern immer nur eine Minderheit waren, auch vor und im Dritten Reich.
Das Gros der Jugend ist dagegen in seinen Denkmustern keineswegs so festgelegt. Zwar gibt es bestimmte Trends, doch die Fluktuation zwischen ihnen ist beträchtlich. Und selbst wer sich heute zu den Neonazis zählt, kann sich morgen schon wieder von ihnen distanzieren: Oft genügt es, mit dabeizusein, wenn die „Führer" Brutalität praktizieren, um nach dieser persönlichen Erfahrung beiläufig übernommene militante Denkmuster über Bord zu werfen und seine Einstellung zu überdenken.
So unsinnig es deshalb ist, den Großteil unserer Jugendlichen nach ihrem jeweiligen Denkmustergefüge verschiedenen Gruppen und Grüppchen zuzuordnen und damit ihr Verhalten festzuschreiben, so lassen sich doch zu den Trends durchaus einige kennzeichnende Angaben machen. Typisch für einen dieser Trends sind Ungeduld und Unzufriedenheit mit bundesdeutschen Verhältnissen. Dabei kann sich der Unwille gegen sehr Unterschiedliches richten, vor allem aber gegen Leistungsdruck, Konkurrenzverhalten, Entpersönlichung, Bürokratismus, Fremdbestimmung, allgemeine Unsicherheit und Perspektivlosigkeit. Das gilt unabhängig davon, ob die jeweiligen Gründe dieses Unwillens als gesellschaftliche Mißstände tatsächlich existieren oder ob sie nur aus punktuellen persönlichen Erfahrungen gefolgert werden. Unter den Jugendlichen, die diesem Trend folgen, sind u. a. Aufstiegs-orientierte, die keine Chance bekommen; Schulmüde, Arbeitslose, seelisch Vernachlässigte, Abgeschobene, um die sich keiner kümmert, für die keiner Zeit hat und die deswegen dies „superdreckige Leben" satthaben unsichere Haltlose, die sich und ihrem Leben keinen Sinn geben können, die aus Langeweile „einen alle machen, nur so" Ängstliche und Verängstigte, die hochgradig sicherheitsbedürftig sind, die meinen: „Unter Hitlers Führung brauchte man nicht, wie heute, Angst zu haben, daß, wenn man nach Hause kommt, das Kind erdrosselt oder die Mutter vergewaltigt worden ist. . ," Sie alle sehen sich — mehr oder weniger bewußt — durch partikulare, heteronome und teilweise auch militante Denkmuster in ihren persönlichen Erfahrungen bestätigt. Unter ihnen gibt es viele, die wahrscheinlich nie Neonazis werden, die aber mit den Rechtsradikalen — ähnlich wie zur NS-Zeit — partiell in ihren Denkmustern übereinstimmen. Dadurch bilden sie für den Rechtsextremismus eine Art „weiches Potential", auch wenn sie mit dem organisierten Neonazismus in der Sache nichts gemein haben
Ein anderer Trend, der häufig in Gesellschaftsanalysen geflissentlich übersehen wird, obgleich ihm ein Großteil der Jugendlichen nachweislich folgt, orientiert sich an „demokratischen Tugenden", wie sie beispielsweise in den Grund-und Menschenrechten zum Ausdruck kommen. Seine Anhänger bleiben allerdings nach außen weitgehend unauffällig und werden deshalb leicht als Angepaßte und Unpolitische abqualifiziert und mit Ignoranten und Opportunisten kurzerhand gleichgesetzt. Dabei wären gerade sie ein beachtliches Potential für den Ausbau einer demokratischen Basis unter den Jugendlichen. Leider wird dieses Potential noch immer nicht entsprechend genutzt, was durch die besonders hohe Fluktuation zum Ausdruck kommt: Manche Jugendliche, die sich in ihren „demokratischen Erwartungen" enttäuscht sehen, wandern nach verschiedenen Richtungen wieder ab. Je nachdem, wie sie mit ihren persönlichen Erfahrungen fertig werden, landen sie bei den Radikalen oder den Resignativen, die ihrerseits wieder eine Art Potential für Radikale sind. Repräsentative Untersuchungen könnten klären, wie sich die verschiedenen Trends prozentual verteilen. Für die konkrete Unterrichtssituation dürfte das kaum von Bedeutung sein. Es genügt zu wissen, mit welchen Trends man es zu tun hat. Wie die Verteilung in der jeweiligen Lerngruppe aussieht, muß der unterrichtende Lehrer selbst feststellen. Einen solchen Überblick gewinnt man wohl am besten durch ein offenes Gespräch mit den Schülern. Dabei sollte man als Lehrer seine Absicht nicht verschweigen, auch wenn sich dadurch der eine oder andere Schüler vorsichtiger äußert. Es geht ja nicht darum, Nachrichtendienst zü spielen und Kriterien zu finden, nach denen man Schüler klassifizieren und abstempeln kann.
In diese Gefahr geraten, Hartmut und Thilo Castner, wenn sie annehmen, „daß viele dieser verwöhnten Wohlstandskinder in gewisser Weise dem jungen Hitler gleichen oder unter ähnlichen frühkindlichen Fehlentwicklungen leiden wie er: Sie kapitulieren allzu schnell vor größeren Schwierigkeiten, suchen die Schuld für eigenes Versagen bei anderen, nicht bei sich selbst, und erwarten von der Umwelt fortgesetzt Beistand und Aufmerksamkeit." Wenn die Gebrüder Castner auf diese Weise von Wohlstandskindern sprechen, verlieren sie ihren an sich bedenkenswerten pädagogischen Ansatz aus den Augen und geraten, ob sie wollen oder nicht, durch die Typisierung in die Sackgasse sozialer Vorurteile. Dabei sei unbestritten, daß Jugendliche sich so verhalten können und es auch tun. Aber deswegen ergeben sich aus einem solchen Verhalten, hinter dem die unterschiedlichsten persönlichen Erfahrungen und Denkmuster stecken können, noch keine Merkmale für einen Steckbrief vom „Wohlstandskind".
Fragwürdig und irreführend ist darüber hinaus der Vergleich mit dem jungen Hitler. Dadurch kann leicht der Blick für das eigentliche Problem verstellt werden: Wer unter den Jugendlichen nach kleinen Hitlern sucht, wird möglicherweise gerade das „weiche Potential"
übersehen, das zwar nichts typisch Hitlerisches hat, dessen Denkmuster aber partiell mit denen der Neonazis übereinstimmt und mit dem man deswegen trotz seiner sonstigen Andersartigkeit durchaus rechnen muß. Dieses Potential, das außerordentlich heterogen und unbeständig ist, läßt sich aber nur als Ganzes und auch dann nur näherungsweise erfassen. Das bloße Vorhandensein von „nazistischen" Denkmustern sagt nämlich noch nichts darüber aus, wie sie im einzelnen Jugendlichen placiert und verankert sind und welche Auswirkung sie auf sein soziales Verhalten haben.
So gesehen, ist diese verhaltensorientierte Betrachtungsweise für Gruppenzuordnungen und statistische Erhebungen kaum brauchbar 28). Sie ist es aber sehr wohl für die Behandlung von Nationalsozialismus und Widerstand im Unterricht. Hier können nämlich diese Denkmuster thematisiert und im Verhalten der Menschen jener Zeit konkretisiert werden und damit für die Schüler in einer Art Spiegelung zur Selbstbegegnung beitragen, ohne daß der Lehrer den einzelnen in der Lerngruppe als mehr oder weniger nazi-gefährdet einstufen müßte.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Ansatz für die Unterrichtspraxis? Zunächst einmal brauchen die Schüler Unterrichtsmaterialien, die viel stärker als bisher die Alltagswelt der NS-Zeit berücksichtigen. Der Einstieg ginge dann nicht, wie üblich, über die staatspolitische Ebene des „Drit Sie ist es aber sehr wohl für die Behandlung von Nationalsozialismus und Widerstand im Unterricht. Hier können nämlich diese Denkmuster thematisiert und im Verhalten der Menschen jener Zeit konkretisiert werden und damit für die Schüler in einer Art Spiegelung zur Selbstbegegnung beitragen, ohne daß der Lehrer den einzelnen in der Lerngruppe als mehr oder weniger nazi-gefährdet einstufen müßte.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesem Ansatz für die Unterrichtspraxis? Zunächst einmal brauchen die Schüler Unterrichtsmaterialien, die viel stärker als bisher die Alltagswelt der NS-Zeit berücksichtigen. Der Einstieg ginge dann nicht, wie üblich, über die staatspolitische Ebene des „Dritten Reiches" oder retrospektiv über die Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik, sondern unmittelbar über konkrete Alltagserlebnisse, an denen sich Argumentations-und Verhaltensweisen ehemaliger . Volksgenossen'gleichsam hautnah beobachten lassen. Für eine Vermittlung besonders geeignet wären Simulationen, die eine didaktisch akzentuierte, Interesse weckende Story enthalten. Um solche Geschichten auch wirklichkeitsgetreu nachstellen zu können, fehlt es allerdings noch vielfach an brauchbaren Recherchen. Gute sachliche Hilfestellung könnten da Dokumentationen leisten, wie sie das Münchener Institut für Zeitgeschichte seit Ende 1977 veröffentlicht. Eine Dokumentation beispielsweise, deren Ziel es ist, „die ganze Skala der Verhaltensweisen, von unverlangter Denunziation und frewilliger Erbötigkeit über die verschiedensten Modalitäten der Anpassung bis hin zu passivem, spontanem und aktivem Widerstand abzubilden, gerade auch in ihren anonymen Kleinformen" 29), bietet für eine Simulation von „Widerstand und Verfolgung" wertvolle Anregungen 30). Der Rückgriff auf den Alltag dient hier nicht nur als didaktische Brücke, sondern erweitert auch zugleich die Kenntnis von Widerstandsformen. Dementsprechend wäre unter Widerstand im weiteren Sinne nicht nur die Aktivität illegaler Widerstandszellen zu verstehen, sondern auch eine vielfältige und keineswegs immer gleich auf den Sturz des NS-Regimes gerichtete Volksopposition 31). Erst aus einer solchen, am Einzelmenschen orientierten Makroperspektive des Alltags können Schüler annähernd eine Vorstellung davon bekommen, aus welch unterschiedlichen Einstellungen heraus man damals mitmachte, denunzierte oder sich widersetzte, und was dem „einfachen Volksgenossen" an Rückgrat zumutbar war und was nicht.
Alltagssimulationen brauchen „Helden", mit denen Schüler sich emotional identifizieren können. Diese „Helden" haben allerdings nichts mit Personalisierung im Geschichtsunterricht zu tun, die von Klaus Bergmann und anderen mit Recht abgelehnt wird Diese „handelnden Personen" kommen nicht aus der historischen Ahnengalerie. Sie sind eher als Personifizierungen im Sinne von F. I. Lucas zu verstehen Erst über eine Identifikation mit solchen „Alltagshelden", und sei diese auch nur partiell und sporadisch, bekommen Schüler den nötigen Kontakt zum Geschehen. Erst dadurch spricht das Ganze sie persönlich an. Ohne Identifikationsmöglichkeit reagieren sie — wie gehabt — als „kognitives System".
Die Geschichte eines Gleichaltrigen, der als Sohn eines Parteigenossen und als Freund eines Juden oder Zeugen Jehovas eben wegen dieser Freundschaft fortschreitend in Konflikt gerät — mit Eltern, Nachbarn, Klassenkameraden, Lehrern, staatlichen Institutionen — und der erst mit zunehmender Rechtfertigung und Verteidigung seiner Freundschaft die volle Härte und Unmenschlichkeit des Systems zu spüren bekommt, wird wahrscheinlich den Schülern begreiflicher machen, was totalitäre Herrschaft für die davon Betroffenen bedeutet hat, als eine noch so gediegene Darstellung über die Ausschaltung von Parteien und Gewerkschaften und über die sich daran anschließende Gleichschaltung des gesamten öffentlichen Lebens.
Sicher sehr aufschlußreich für Schüler wäre auch die Geschichte der „Edelweißpiraten" Hieran ließe sich eindrucksvoll zeigen, wie Jugendliche durch nachhaltige persönliche Erfahrungen ihre Denkmuster und Verhaltensweisen weitgehend ändern können und dadurch — zumindest für Außenstehende — mit sich selbst in Widerspruch geraten: Hatten die „Edelweißpiraten" ursprünglich gerade aus Abneigung gegen das zackig Autoritäre und Militante der Hitlerjugend nach eigener, eher hündischer Freizeitgestaltung gesucht, so wurden sie durch die zunehmenden Schikanen und Repressionen des NS-Regimes allmählich selbst aggressiv. Die Folge war, daß sie antifaschistische Parolen verbreiteten, Flugblätter der Alliierten verteilten und sogar Hitlerjungen und SA-Leute überfielen und niederschlugen.
Durch die Begegnung mit solchen Alltagssituationen, in die man selbst hätte hineingeraten können, wird Schülern das Leben im NS-Staat nachvollziehbare Erfahrung. Von hier aus dürfte ihnen dann auch leichter fallen, sich zu fragen, wie sie sich selbst verhalten hätten, und Ansätze für eine eigenständige Beurteilung des Nacherlebten zu finden
Alltägssimulationen, wie sie im Unterricht gebraucht werden, sollten professionell gemacht sein. Das heißt nicht, daß sie Poesie sein müssen. Textsorten wie Tagebücher, Erzählungen, Romane und Dramen sind für den Geschichtsunterricht nur bedingt geeignet. Häufig ist das Sujet sehr speziell, die Sprache überhöht und interpretationsbedürftig. Vor allem aber muß man damit rechnen, daß die Fakten nicht gerade auf dem letzten Stand der Geschichtsforschung sind, ja manchmal unter Berufung auf die dichterische Freiheit bewußt ignoriert werden.
Immerhin gibt es eine Reihe von Autoren, die für die Behandlung von Nationalsozialismus und Widerstand im Unterricht zumindest wirksame Impulse geben können, wie beispielsweise Erich Maria Remarque (Drei Kameraden), Peter Martin Lampel (Verratene Jungen), Günter Grass (Katz und Maus), Walter Kempowski (Tadelloser und Wolff), Heinz Küpper (Simplicius 45), Melitta Marsch-mann (Mein Weg in die Hitlerjugend), Max von der Grün (Wie war das eigentlich? — Kindheit und Jugend im Dritten Reich), Hans Peter Richter (Damals war es Friedrich)
Simulationen, die regelrecht als Unterrichts-material eingesetzt werden sollen, müßten zunächst einmal in der Sache stimmen. Geschichtliche Details müßten zuverlässig recherchiert und jederzeit belegbar sein. Die „Story" dürfte auch für Insider keine sachli-chen Schwachstellen haben, insbesondere müßte sie den typisch neonazistischen Fang-fragen standhalten, auf die Lehrer häufig aus Unkenntnis nur mit moralischer Entrüstung zu antworten wissen Ungeklärtes und nicht mehr Klärbares, Kontroverses und Widersprüchliches müßte als solches deutlich erkennbar sein.
Außerdem müßten solche Simulationen didaktisch vorstrukturiert werden. Es genügt nicht, bloß „action" zu bieten und Emotionen zu erzeugen. Schüler brauchen vor allem Anlässe zum Sichhineinfühlen, Mitempfinden und Darübernachdenken.
Schließlich müßten diese Konkretisierungen im besten Sinne unterhaltsam sein, ohne zu moralisieren und ohne direkt zu belehren. Was zu sagen ist, müßte sich mittelbar im Mit-und Gegeneinander der handelnden Personen aussprechen.
Diese Anforderungen an eine professionelle Gestaltung von Alltagssimulationen gelten grundsätzlich für alle Vermittlungsformen, gleichviel ob das Medium nun Buch, Tonband oder Film ist. Ihnen zu genügen, dürfte in der Regel wohl nur einem Team möglich sein, in dem Historiker, Didaktiker und „Macher“ eng miteinander zusammenarbeiten. Bislang ist eine solche Produktionsform noch die Ausnahme obgleich doch seit Jahren bei allen nur möglichen Anlässen von Teamarbeit die Rede ist. Forchungsergebnisse, didaktische Modelle und literarische Produktionen zum Thema Nationalsozialismus und Widerstand stehen allzu häufig beziehungslos nebeneinander.
Entsprechend gibt es sachlich gediegene, aber sprachlich knochentrockene wissenschaftliche Publikationen, die Schüler nur abschnittweise und mit viel zusätzlicher Pädagogik in sich hineinwürgen können. Oder es gibt Unterrichtsmodelle, die lernpsychologisch geschickt Zugang zu Schülern schaffen, denen es aber an detaillierten und kurzweiligen Konkretisierungen fehlt. Oder aber es gibt packende Hörspiele und Fernsehfilme, wie Holocaust, die die Schüler durchaus gefühlsmäßig berühren und neugierig machen, die aber lernpsychologisch chaotisch und sachlich unzuverlässig sind Hier könnte eine institutionell koordinierte Teamarbeit für die Schule in einem erzieherisch wichtigen Bereich zur Chance werden, professionell gemachte Unterrichtsmaterialien zu bekommen, die endlich mal den geläufigen Kommunikationsformen unserer Gesellschaft entsprechen. Es ist wirklich nicht einzusehen, warum wir am Ende des 20. Jahrhunderts in der Schule manchmal so tun, als ob wir gerade erst die Buchdruckerkunst erfunden hätten!
Ausgehend von solchen Materialien, die ein Stück Alltag der NS-Zeit simulieren, könnte der Unterricht — möglicherweise im Medien-verbund — horizontal, vertikal oder auch in entsprechenden Kombinationen weitergeführt werden.
Horizontal würde bedeuten: auf der Alltags-ebene bleiben und Verhaltensweisen und die sie bedingenden persönlichen Erfahrungen und Denkmuster über einen größeren Zeitraum verfolgen, der etwa durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und den Zusammenbruch des Dritten Reiches begrenzt werden könnte. Dabei müßte sich dann — , auf den Punkt gebracht'— folgender Verlauf abzeichnen: Unter den Jungen und Jüngsten, die in den Ersten Weltkrieg freiwillig zogen, waren nicht wenige, die eine bedeutende Aufgabe auf ihr Volk und damit auf sich selbst zukommen sahen Für viele von ihnen wurde die wilhelminische Großmachtpolitik in der militärischen Aktion plötzlich persönlich erfahrbar. Was Elternhaus und Schule, häufig im Anschluß an preußische Tradition, an partikularen, heteronomen und teils auch militanten Denkmustern eingepaukt und bisweilen auch vorgelebt hatten, bekam für sie jetzt im gemeinsamen Kämpfen, Siegen und Sterben seine irrationale Verankerung. Erst diese gemeinsame Erfahrung, die für jeden zugleich eine tiefgreifende persönliche Erfahrung war, macht verständlich, warum die Dolchstoßlegende sie später mehr überzeugte als alle textkritischen Dokumentationen und wissenschaftlichen Darstellungen. Sie versuchten fortan auf ihre Weise das zu vollenden, was für sie zu existieren nie aufgehört hatte.
Diese militanten Großmachtjünger blieben allerdings eine Minderheit; ihnen galt jedoch die stille Sympathie größerer Bevölkerungsgruppen. Andere wieder hatten durch den Krieg andere Erfahrungen gemacht und nicht wenigen war der Kampf mit der Waffe als sinnloses Blutvergießen erschienen. Für sie war der militärische Zusammenbruch zugleich der Bruch mit der Tradition. Für sie bedeutete die Weimarer Republik, je nachdem wie sie mit ihren Erfahrungen fertig wurden, entweder Rückzug ins Privatleben oder Chance zur gesellschaftlichen Veränderung, sei es nun im liberalen, im sozialistischen oder in sonst einem anderen Sinne. Erst die Massenarbeitslosigkeit, die zu einer neuen Massenerfahrung wurde, brachte die Denkmuster wieder voll in Bewegung. Was viele sich bis dahin nicht eingestehen wollten, was man ihnen auf Wahlveranstaltungen von „Links" und „Rechts" in die Ohren gehämmert hatte, auf einmal wurde es für sie zur Gewißheit: Als einzelne waren sie ein hilfloses Nichts, um das sich im Notfall niemand kümmerte, dem niemand half, wenn er keine Arbeit mehr hatte und weder Miete noch Arzt bezahlen konnte. Mußte ihnen da nicht die nationalsozialistische Volksgemeinschaft — „Du bist nichts, dein Volk ist alles!" —, die im Unterschied zur anonymen klassenlosen Gesellschaft der Kommunisten ans Vaterland erinnerte, wie eine doppelt rettende Zuflucht erscheinen? Und konnten sie dann nach 1933 nicht selbst am eigenen Leib erfahren, daß sie in dieser Volksgemeinschaft wieder zu Brot, Sicherheit und Ansehen in der Welt kamen? Zeigte doch spätestens die Berliner Olympiade von 1936 eindrucksvoll dem Ausland, daß man wieder jemand war.
Die Härte und Brutalität, mit der das NS-Regime durchgriff und „eiskalt" ausmerzte, was nicht in die Volksgemeinschaft paßte, nahm man als das kleinere Übel hin. Wo gehobelt wird, sagte man sich, fallen Späne. Und schließlich geschah das ja alles im Namen des Volkes für das Volk, also auch für das einzelne Mitglied dieser Volksgemeinschaft. So gesehen stimmten in den dreißiger Jahren breite Volksschichten, ohne im eigentlichen Sinne Nazis zu sein, partiell mit nationalsozialistischen Denkmustern überein. Das oft beschworene Mitläufertum des „kleinen Mannes" war kein bloßes „Sich-in-sein-Schicksal-Fügen". Es war zumindest teilweise — wenn auch durch verschiedenartigste Denkmuster gerechtfertigte — irrationale Überein-stimmung. Erst der „totale Krieg" als Schlußphase des „Dritten Reiches" sorgte für eine neue und diesmal gegenläufige Massenerfahrung. Hatten viele bislang die militanten Denkmuster der Nazis akzeptiert, so machten ihnen die zynischen Duchhalteappelle, die selbst das Martyrium von Frauen und Kindern ignorierten, schockartig klar, daß die totale Aufopferung des ganzen Volkes nichts mehr mit ihrer Vorstellung vom heldenmütigen Kampf fürs Vaterland zu tun hatte.
Dieses Erschrecken, das zunächst ihre Abneigung gegenüber den extrem militanten Denkmustern der Naziführer weckte, erschütterte zunehmend auch ihre grundsätzliche Einstellung zum Nationalsozialismus. Erfuhren sie doch jetzt am eigenen Leib, daß sich monistische Denkmuster, wie die „Ausmerzung untauglichen Menschenmaterials", auch gegen sie selbst als „Verlierer" richten konnten. Ihr „Führer" jedenfalls war entschlossen, das ganze Volk, von dem ohnehin nur die „Minderwertigen" übrig geblieben waren, mit sich in den Abgrund zu reißen Wenn man auch nicht ausschließen kann, daß es unter ihnen Opportunisten gab, die nur ihre Haut retten wollten, so war doch bei den meisten der Bruch mit dem Naziregime durchaus glaubwürdig und durch persönliche Erfahrung bestärkt.
Dieser Bruch bedeutete allerdings nicht ohne weiteres Trennung von altgewohnten Denkmustern. Im Grunde dachten sie in vielem weiter wie zuvor; nur brachten sie ihre Vorstellungen nicht mehr mit nationalsozialistischen Anschauungen in Verbindung. Das war der einzige Unterschied.
So ist es zu erklären, daß ehemalige „Volksgenossen", obgleich sie von Hitler und sei-* nesgleichen nichts mehr wissen wollen, auch heute noch nach den Denkmustern, die sie früher einmal mit den Nazis gemein hatten, urteilen und handeln. Und diese Denkmuster haben sich gar nicht so selten auf Kinder und Enkel übertragen. Besonders deutlich wird dies in der Argumentation junger Nationaldemokraten, die, obgleich sie sich ernstlich dagegen verwahren, mit dem Rechtsradikalismus gleichgesetzt zu werden, doch eben partiell in gleichen Mustern denken. Das gilt mit verschiedenen Abstufungen auch für andere Jugendliche, die oft selbst gar nicht wissen, in welcher geistigen Nachbarschaft sie sich befinden. Für sie könnte die Begegnung mit Alltagssimulationen aus der NS-Zeit zu einer erfahrungsintensiven Konfrontation werden. Ohne sich selbst vor anderen bloßstellen zu müssen, könnten sie mehr Klarheit über sich gewinnen, indem sie mögliche Auswirkungen ihrer Denkmuster im Kontext des „Dritten Reiches" erleben.
Besonders aufschlußreich wäre sicher für sie, zu erfahren, was Schüler im „Dritten Reich" über Juden gedacht haben und wie diese Jugendlichen zu ihren Ansichten gekommen sind. Im Anschluß an eine solche Alltagssimulation müßte dann allerdings ein „horizontal" weitergeführter Unterricht den nationalsozialistischen Antisemitismus in seiner verdeckten und deswegen so verhängnisvollen Zweigleisigkeit durchschaubar machen. Das Verwirrende an diesem Antisemitismus war, daß sich beide Formen durch monistische Denkmuster beschreiben ließen und deswegen bei entsprechender Simplifizierung das gleiche zu meinen schienen.
In Wahrheit handelte es sich in dem einen Fall um sozialdarwinistischen Rassismus, der die Juden nicht allein traf. Auch Zigeuner und viele Osteuropäer wurden als rassisch minderwertig abqualifiziert. Diese „Untermenschen" standen an der untersten Stufe der nationalsozialistischen Herrenmenschenideologie und sollten als Arbeitssklaven beim Aufbau des „tausendjährigen Reiches" eingesetzt werden
Im anderen Fall handelte es sich um den Kampf gegen eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung. Hier galt der Jude nicht als rassisch minderwertiger Untermensch, sondern als Anti-Herrenmensch, als „Naturüberwinder", als Intellektueller, der in dualistischen, individualistischen, teils auch autonomen und pazifistischen Denkmustern dachte Der Jude war demnach Hitlers großer Gegenspieler, den dieser als eine Art „Großinquisitor der Natur" ein für allemal „ausmerzen" wollte.
War der rassistische Antisemitismus unter Parteigenossen in vielfältigen Abstufungen weit verbreitet und oft durch persönliche Ressentiments verinnerlicht, so beschränkte sich der „konspirative" Antisemitismus auf einen kleinen Kreis um Hitler, der aus einer geradezu pathologischen Angst auf eine systematische und vollständige Vernichtung der Juden drang. Hitlers Antisemitismus gewann aber innerhalb des NS-Regimes zunehmend an Bedeutung und duldete schließlich nur noch einen konsequent militanten Rassismus neben sich, der gleich dem „Führer" die „Endlösung" wollte.
Zwischen dem nationalsozialistischen Rassismus und dem latenten Antisemitismus breiterer Bevölkerungsschichten hatte es anfänglich durchaus Berührungspunkte gegeben. Während bei vielen die vage Abneigung gegenüber Juden auf übernommenen sozialen Vorurteilen beruhte, weil man einfach viel zu wenig vom jüdischen Volk wußte, gab es vor allem im verarmten Mittelstand auch erklärte Antisemiten, die aufgrund persönlicher Erfahrungen mit geschäftstüchtigen und karrierebewußten Juden meinten, diesen ihr Schick-sal zu verdanken.
Die Nazis haben dies geschickt auszunutzen gewußt und sich zum Anwalt des „betrogenen und mißbrauchten Volkes" gemacht. Daß sie dabei in seinem Namen ihre eigene Rechnung mit den Juden begleichen wollten, ist der Öffentlichkeit so nicht bewußt geworden. Sie haben es ihr auch gar nicht erst zu erklären versucht. Das NS-Regime war darüber schließlich zufrieden, daß ihm das Volk bei seinem „großen und so notwendigen Werk" nicht auf die Finger guckte. Not und Belastung des Zweiten Weltkrieges haben dann das ihre dazu beigetragen, daß man die Juden ihrem Schicksal überließ. Sollten sie doch in den Zs tüchtig arbeiten. Was wirklich mit ihnen jeschah, wollte kaum einer genauer wissen.
Diese skizzierten „Vorgänge" müßten in der Alltagssimulation bereits keimhaft angelegt sein. Der „horizontal" weitergeführte Unterricht hätte sie dann schrittweise zu vergegenwärtigen. Solche der Alltagswelt verhafteten Betrachtungen erfordern noch wenig historische Detailkenntnisse. Zumindest ließen sich sehr elementare Simulationen denken, die nicht erst für Schüler der Abschlußklassen verständlich wären.
Denkbar wäre aber auch eine „vertikale" Weiterführung, die gleichsam aus der Alltags-ebene aufsteigen würde. Hätten die Schüler in der Alltagssimulation beispielsweise erfahren, wie Jugendliche in der NS-Zeit über Juden gedacht und geurteilt haben, wie sie sowohl ihnen selbst als auch deren Freunden und Feinden begegnet sind und wie sich diese unterschiedlichen Begegnungen wieder auf ‘ ihr Denken " und Verhalten ausgewirkt haben, dann könnten auf einer „offizielleren" Ebene verschiedene Auswirkungen der NS-Herr schäft auf die jüdische Bevölkerung thematisiert werden. Von hier aus käme man zu den gesetzlichen Grundlagen dieser Maßnahmen, wie z. B. zum Arierparagraphen und zu den Nürnberger Gesetzen. Daran könnte sich eine kritische Untersuchung des „völkischen" Rechtsstaates sowie seiner Legitimation durch die nationalsozialistische Weltanschauung anschließen. Dieses Beispiel ließe sich inhaltlich, dem Aufnahmevermögen der Schüler entsprechend, variieren. Dafür gäbe es genügend Materialien und Modelle Wichtig wäre nur, daß sich die Impulse für eine stufenweise, in die . Vogelperspektive’ aufsteigende Betrachtung zwangslos aus der Alltags-simulation ergeben.
Welche pädagogische Absicht hinter dem Simulationsansatz steckt, wurde bereits angedeutet: Es geht darum, Schülern einen möglichst direkten Zugang zur Geschichte der NS-Zeit zu vermitteln, um einerseits überhaupt einmal ihr Interesse zu wecken und andererseits ihnen vor Augen zu führen, daß sie das, womit sie sich auseinandersetzen sollen, persönlich betrifft. Deshalb auch der Einstieg aus ihrer Erfahrungsperspektive. Sie müssen sich in der Zeit, deren politische Ereignisse sie verstehen lernen sollen, überhaupt erst einmal zurechtfinden können. Bevor sie sich Zeitgeschichte in wissenschaftlichen Proportionen erarbeiten, sollten sie zunächst etwas über die geistigen Proportionen der Menschen wissen, die diese Geschichte gemacht haben. Und dazu gehören auch ganz wesentlich Menschen der Alltagswelt. Vielleicht ahnen Schüler dann wenigstens, welchen Anteil ihre Altersgenossen am „Dritten Reich" gehabt haben und fragen sich, was sie selbst zu unserer gegenwärtigen Geschichte beitragen. Wenn man bedenkt, daß wir es im Geschichtsunterricht in der Regel nicht mit künftigen Politprofis, sondern mit Staatsbürgern zu tun haben, dann sollten wir Geschichte nicht nur aus der Ebene großer, politischer Entscheidungen behandeln, sondern auch — und zuerst! — aus der Alltagsebene, aus der die meisten Schüler später „Politik"
machen werden.
Zu klären wäre jetzt noch die Frage, ob Simulationen der Alltagswelt überhaupt mit historischer Wirklichkeit vereinbar sind. Historische Wirklichkeit ist nämlich keineswegs identisch mit der ihr zugrunde liegenden Realität. Die Geschichtswissenschaftler bemühen sich ja gerade, das Wesentliche und Prinzipielle hervorzuheben, indem sie das Zufällige, Beiläufige, Alltägliche ausscheiden. Muß da der Blick auf Alltagsdetails nicht eher verwirren als erhellen? Verführt er Schüler nicht dazu, die Geschichte vor lauter Geschichten nicht zu sehen? Das wäre nur dann der Fall, wenn Alltagssimulationen nichts anderes als Abziehbilder der Vergangenheit wären. Aber das sind sie keineswegs. Im Gegenteil: Sie sollen die Alltagswelt in ähnlich vorsortierter Weise vergegenwärtigen, wie das die Geschichtsschreibung tut.
Das Ungewöhnliche an diesen Simulationen ist allerdings, daß sie wichtige politische Ereignisse der NS-Zeit und ihre Auswirkungen nicht als Sachverhalt vermitteln, sondern im Denken, Empfinden und Handeln von Alltagsmenschen auf elementare Weise erfahrbar machen. Dabei sollte im Unterricht den nonverbalen Ausdrucksformen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Schüler müssen lernen, auf solche Zeichen zu achten. Häufig lassen sich durch sie tiefere Einsichten vermitteln als durch Worte. Leider vernachlässigt die „Buch-Schule" diese Kommunikationswege. Vor allem versäumt sie es, die Empfindungsfähigkeit der Schüler zu entwickeln. Das gilt einmal mehr für den Geschichtsunterricht.
Wenn die Barbareien Dschingis Khans, die Sachsenkriege Karls des Großen, die Glaubenskämpfe und Hexenverbrennungen, die Schreckensherrschaft der Jakobiner genauso . durchgenommen'werden wie die Erfindung der Dampfmaschine; wenn Schmerzen und Leiden der Menschen kaum Erscheinung in treten und erst recht nicht nachempfunden werden; wenn nur das zählt, was die „Großen" gedacht und gesagt haben; wenn es vorwiegend darum geht, Sachfragen zu klären und Begriffe zu ordnen, und wenn das alles von der Unterstufe aufwärts bis zum Schulabschluß lehrplangemäß so praktiziert wird, dann dürfen sich Lehrer nicht wundern, daß Schüler „ganz cool" darüber diskutieren, ob die Nazis tatsächlich sechs Millionen Juden vergast haben oder nicht. Was kann man anderes erwarten von Schülern, die sich von klein auf daran gewöhnt haben, bei Mord und Totschlag in der Geschichte sich vor allem den Namen des Totschlägers zu merken?
Vielleicht ließe sich daran etwas ändern, wenn man beispielsweise bei der Behandlung der preußischen Geschichte, anstatt die politische Trickkiste Friedrichs II. auszubreiten, Schülern eine wirklichkeitsgetreue Alltagssimulation des Spießrutenlaufens vorführen würde. Wäre das nicht ein impulsstarker Ansatz, mit dem man die Unmenschlichkeit blinden Gehorsams demonstrieren könnte? Möglicherweise würden Schüler durch die Vergegenwärtigung einer solchen vermeintlichen gottgenehmen und deshalb mit gutem Gewissen befehlsgemäß durchgeführten Menschen-schinderei spontan begreifen, daß es im „Dritten Reich" ganz normale Alltagsmenschen geben konnte, die Mitmenschen über den „Prügelbock" legten und weisungsgemäß zu Tode peitschten
Allerdings wird man darauf achten müssen, Schüler durch derartige Simulationen gefühlsmäßig nicht zu überfordern. Den „Strafvollzug" im einzelnen zu zeigen, wäre sicher unzumutbar. Zumutbar dagegen wäre es, die am Strafverfahren Beteiligten in ihrem Denken, Empfinden und Urteilen sichtbar zu machen. In ihre „Rollen" sollten auch die neuesten Erkenntnisse der Sozial-und Tiefenpsychologie eingehen
Es müßte Schülern dabei auf sinnfällige Weise klar werden, daß bestimmte Denkmuster, Einstellungen und Verhaltensweisen eine lange Tradition haben, wenngleich diese menschlichen Ausdrucksformen zu verschiedenen Zeiten sehr unterschiedlich begründet und gerechtfertigt wurden.
Solche konkreten Einstiege über Alltagssimulationen sollen die Vielfalt der Geschichtspräsentation im Unterricht nicht verdrängen oder ersetzen. Sie sollen lediglich die weitgreifenden Satellitenbilder der Geschichtswissenschaft durch einige nachgestellte Nahaufnahmen ergänzen. Ihre Aufgabe ist es, Schülern Geschichte nicht nur denkbar, sondern auch erfahrbar zu machen. Das gilt im Grunde für alle Geschichtsthemen, vornehmlich aber für die Behandlung von Nationalsozialismus und Widerstand.