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Die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen | APuZ 18/1979 | bpb.de

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APuZ 18/1979 Artikel 1 Rüstung und Unterentwicklung Die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen

Die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen

Dieter O. A. Wolf

/ 42 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Wer ist in Ost und West im „Eventualfall" für die ungeheuer komplexe und in ihrer Konsequenz für die Menschheit unvorstellbar weitreichende Entscheidung zum Einsatz nuklearer Waffen verantwortlich? Die Vereinigten Staaten haben sich bereit erklärt, unter gewissen Bedingungen („time and circumstances permitting") ihre NATO-Verbündeten vor dem Einsatz nuklearer Mittel zu konsultieren. Trotz dieser grundsätzlichen Bereitschaft ist es in erster Linie der amerikanische Präsident, der die Befugnis zum Einsatz von Nuklearwaffen hat. Dies trifft auch teilweise auf Großbritannien zu; der Einsatz dieser Waffen fällt in die Zuständigkeit des Premierministers, doch kann ein beträchtlicher Teil der englischen taktischen Nuklearwaffen nur mit Genehmigung der Vereinigten Staaten zum Einsatz freigegeben werden, da diese von den USA geliefert wurden und der Kontrolle durch die USA unterliegen. Gleichwohl ist Großbritannien befugt, seine „nationale" Nuklearkapazität ohne US-Zustimmung einzusetzen. Die französische Außen-und Sicherheitspolitik ist darauf ausgerichtet, ein Höchstmaß an nationaler Unabhängigkeit zu entfalten. Obwohl die Glaubwürdigkeit einer effektiven französischen Abschreckung im Alleingang dahingestellt bleiben kann, ist das nationale Potential immerhin schon so stark, daß zumindest konventionelle Angreifer abgeschreckt werden können. Die Befugnis zum Einsatz der Waffen liegt in den Händen des französischen Staatspräsidenten. Die Bundesrepublik Deutschland ist sicherheitspolitisch in die „nukleare Entscheidung" der USA „eingebunden". Der potentielle Einsatz von Nuklearwaffen verweist auf das sicherheitspolitische Dilemma der Bundesrepublik: Im Interesse einer glaubhaften Abschreckung muß der Bundesrepublik einerseits daran gelegen sein, daß im Falle eines großangelegten Angriffes die nukleare Eskalation rechtzeitig eingeleitet wird; andererseits ist gerade sie bei ihrer geostrategischen Lage genötigt, alle Mittel einzusetzen, um einen Konflikt vor dem überspringen der Atomschwelle zu beenden bzw. zumindest zu versuchen, die Eskalation auf einer möglichst niedrigen Stufe zu halten. Dieses Dilemma deutet auch auf das besondere „nationale Interesse" hin, auf den potentiellen Kernwaffen-einsatz der Verbündeten einen möglichst weitgehenden Einfluß zu nehmen. Auch die sowjetischen Politiker und Militärs halten den nuklearen Krieg für eine Katastrophe, doch geht die Sowjetunion grundsätzlich von der Führbarkeit eines nuklearen Krieges und somit auch von einem Kriegsbild aus, das durch den frühzeitigen Einsatz nuklearer Mittel bestimmt wird. Es wird auf sowjetischer Seite angenommen, daß als Folge der beiden Seiten zur Verfügung stehenden nuklearen Mittel ein konventioneller Krieg aller Wahrscheinlichkeit nach in einen nuklearen eskalieren wird. Die Befugnis zum Einsatz von Nuklearwaffen dürfte in der Sowjetunion bei Partei-und Staatschef Leonid Breschnew liegen. Es ist kaum anzunehmen, daß die Volksrepublik China in absehbarer Zeit die „nukleare Parität" mit den USA oder der Sowjetunion erreichen wird. China macht auf dem Weg zu einer glaubwürdigen strategischen und taktisch-nuklearen Abschreckung Fortschritte. Die „Kommando-und Kontrollkette" hinsichtlich dieser Waffen ist jedoch im einzelnen nicht bekannt. Entscheidungen in bezug auf den Einsatz von Nuklearwaffen dürften durch den Vorsitzenden des Politbüros und solche Mitglieder dieses Gremiums, die über besondere Machtpositionen in Partei und Staat verfügen, getroffen werden.

I. Vorbemerkung

INHALT I. Vorbemerkung II. Die Vereinigten Staaten 1. Kriegsrechte des US-Präsidenten 2. Delegation von präsidentiellen Befugnissen III. NATO-Konsultation IV. Großbritannien V, Frankreich VI. Sowjetunion und China

Die Zusammenarbeit der westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten auf dem Gebiet der Verteidigungsund Sicherheitspolitik ist primär eine Folge gemeinsamer Sicherheitsinteressen. Die NATO hat hier insgesamt gesehen — trotz aller nationalstaatlichen Interessen und unterschiedlichen Machtpotentiale — einen hohen Grad von Kooperation erreicht.

Das von allen NATO-Partnern akzeptierte Konzept für die Verteidigung Westeuropas beruht bekanntlich auf der Doktrin der abgestuften Abschreckung („flexible response"). Die Eskalation der konventionellen Verteidigung über den Gebrauch taktisch-nuklearer Waffen bis hin zum Einsatz des strategisch-nuklearen Potentials der USA wird von der Intensität des gegnerischen Angriffes abhängig gemacht. Nukleare Waffen werden von der NATO nur dann eingesetzt, wenn ohne sie die Abwehr einer Aggression aussichtslos wäre. Dies schließt aber ein, daß auch ein überlegener konventioneller Angriff bereits den Einsatz von Nuklearwaffen auslösen könnte. Hierin liegt ein faktisch unlösbarer Widerspruch für die Bundesrepublik Deutschland: Im Interesse einer glaubhaften Abschreckung muß der Bundesrepublik einerseits daran gelegen sein, daß im Falle eines großangelegten Angriffes die nukleare Eskalation rechtzeitig eingeleitet wird. Andererseits ist gerade sie bei ihrer geostrategischen Lage genötigt, alle Mittel einzusetzen, um einen Konflikt vor dem überspringen der Atomschwelle zu beenden bzw. zumindest zu versuchen, die Eskalation auf einer möglichst niedrigen Stufe zu halten. Schon dieses sicherheitspolitische Dilemma der Bundesrepublik deutet auf ihr besonderes „nationales Interesse" hin, auf den Kernwaffeneinsatz der Verbündeten einen möglichst weitgehenden Einfluß zu nehmen.

Es gibt keine nationale Militärstrategie der Bundesrepublik Deutschland. Die Militärdoktrin und die Operationspläne der Bundeswehr sind in das NATO-Bündnis eingebettet, und Teile der Bundeswehr sind schon im Frieden dem NATO-Oberkommando unterstellt. Ob-wohl die Bundesrepublik in Übereinstimmung mit den Bündnispartnern versuchen kann, die auch für die hiesige Region primär geltenden US-Vorstellungen zu modifizieren, zeigte die bisherige Praxis, daß sich im wesentlichen immer wieder die amerikanischen Vorstellungen durchsetzten. Gewiß: die Vereinigten Staaten beteiligen ihre Verbündeten u. a. an der nuklearen Zielplanung in der nuklearen Pla-nungsgruppe der NATO. Sie beteiligen sie auch am Einsatz von Nuklearwaffen („nuclear sharing").

Die verschiedenen Absprachen (wie z. B. die „Athener Richtlinien" von 1962), die den potentiellen Einsatz von Nuklearwaffen zum Schutze des NATO-Bereiches politisch absichern, geben einen ungefähren Anhaltspunkt, in welchen Situationen ein Einsatz nuklearer Mittel notwendig erscheinen könnte bzw. bis zu welchem Grad eine politische Konsultation unter den NATO-Verbündeten hierüber möglich ist. Die USA und Großbritannien haben sich bereit erklärt, unter gewissen Bedingungen („time and circumstances permitting") ihre Verbündeten zu konsultieren und ihre strategischen Streitkräfte zur Abwehr von Bedrohungen des Atlantischen Bündnisses einzusetzen. Hierdurch machen die USA ihre Nuklearwaffen — wenn auch unter dem Vorbehalt des nationalen Einsatzbefehls — der Abschrek-B kungspolitik des Bündnisses zum Schutz Westeuropas dienstbar.

Trotz dieser grundsätzlichen Bereitschaft zur Konsultation der Verbündeten ist es in erster Linie der amerikanische Präsident, der im „Eventualfall" für die ungeheuer komplexe und in ihrer Konsequenz für die Menschheit unvorstellbar weitreichende Entscheidung zum Einsatz nuklearer Waffen den Ausschlag gibt. Dies erklärt sich schon rein innenpolitisch aus den Bemühungen um die Stärkung der Effektivität des amerikanischen Regierungssystems gegenüber den totalitären Staaten, denen schnelleres Reaktionsvermögen und größere Entschlossenheit in ihren sicherheitspolitischen Handlungen nachgesagt wird. Die Westeuropäer sind sicherheitspolitisch in die Entscheidung der amerikanischen Führungsmacht „eingebunden" und somit von Verhalten und Glaubwürdigkeit der US-Entscheidungsträger, vornehmlich des Präsidenten, abhängig. Westeuropa hofft darauf, daß die Abschreckung „funktioniert" und der US-Präsident im Notfall die „richtige Entscheidung" trifft. Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung liegt daher auf den „Nuklearbefugnissen" des amerikanischen Präsidenten.

II. Die Vereinigten Staaten

Kriegsrechte des US-Präsidenten Die Autorität des Präsidenten der USA, im Rahmen des amerikanischen Potentials über den Einsatz von Nuklearwaffen zu entscheiden, ergibt sich vor allem aus seiner verfassungsmäßigen Rolle als „Oberbefehlshaber der Streitkräfte": „Der Präsident soll Oberbefehlshaber des Heeres und der Marine sowie der Miliz der einzelnen Staaten sein . . 1).

Der War Powers Act vom 7. November 1973 stellt zwar einen Versuch des amerikanischen Kongresses dar, die allgemeinen „Kriegsrechte" des Präsidenten zugunsten des Kongresses einzuschränken. Im wesentlichen handelt es sich hier jedoch um den konventionellen Sektor und weniger um die nukleare Entscheidungsproblematik. Der War Powers Act soll gewährleisten, daß beide Gewalten am Entscheidungsprozeß über Krieg und Frieden beteiligt werden und nach Möglichkeit der „nationale Wille" seinen Niederschlag findet. Der Präsident wird überdies bis zu einem gewissen Grad zur Konsultation und zur Preisgabe von Informationen — beides neuralgische Punkte sowohl im Verhältnis zwischen Präsident und Kongreß als auch im Verhältnis USA und Westeuropa — verpflichtet. Die Verabschiedung des Gesetzes machte die latenten Gefahrendeutlich, die in der bisherigen Interpretation und Handhabung der Kriegsrechte durch den Präsidenten lagen; sie war von der Besorgnis des Kongresses über die Machtanhäufung des Präsidenten und von der Überzeugung getragen, daß im politischen Entscheidungsprozeß eines demokratischen Systems eine funktionierende und „ausgleichende" Legislative erforderlich ist. Obwohl dieser War Powers Act dem Präsidenten gewisse Restriktionen auferlegt, berührt er keinesfalls seine nukleare Entscheidungs-,, Freiheit". Überdies bleibt generell seine Befugnis, im Falle der Beeinträchtigung der nationalen Sicherheit eine sofortige Reaktion herbeizuführen, unberührt

Die Frage, welche politisch-militärischen Aktionen als Krieg und demzufolge als Prärogative von Präsident und Kongreß zu betrachten sind, ist von jeher streitig gewesen. Hier ist eine differenzierende Betrachtungsweise notwendig, die angesichts der vielfältigen Erscheinungsformen internationaler Konflikte in der Gegenwart — vom schwelenden Spannungszustand des Kalten Krieges bis hin zum „all out war" unter Einsatz thermonuklearer Vernichtungswaffen — an die Stelle des herkömmlichen Schwarzweißbildes von Krieg und Frieden treten muß. Auch dürfte es der Zweckbestimmung der Kriegserklärungsklausel und ihrer Stellung im Verfassungsganzen eher entsprechen, wenn nicht jede geringfügige Feindseligkeit und jedweder Einsatz der Streit-kräfte im Ausland dem doch recht schwerfälligen Entscheidungsprozeß des Kongresses unterliegt.

Andererseits wird der Sinn einer formellen Kriegserklärung auch für den Fall eines plötzlich ausbrechenden größeren Krieges durch die Realitäten der heutigen Zeit zumindest in Frage gestellt, denn der Kern der militärischen Doktrin ist die Abschreckung; sie setzt voraus, daß im Fall eines Nuklearangriffs, in dem es schließlich um Minuten gehen kann, eine sofortige Reaktion erfolgen und damit der normale Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß entfallen muß. Aber auch im Fall eines konventionellen Angriffs — zumindest bei einem Kriegsfall im NATO-Bereich — sind sofortige Gegenmaßnahmen zur wirkungsvollen Abschreckung notwendig. So sind Flexibilität und sorgfältig ausgewählte Gegenmaßnahmen von höchster Relevanz. Kriegserklärungen eignen sich also für diese Fälle nicht.

Die amerikanische Verfassung gibt bis heute unverändert dem Kongreß die entscheidende Befugnis, den Krieg zu erklären, dem Präsidenten aber die Macht, als Oberbefehlshaber der Streitkräfte den militärischen Apparat einzusetzen. Somit steht also dem Kongreß generell im Kriegsverlauf keine Befugnis zu, in die Führung der Operationen einzugreifen. Zum besseren Verständnis sollte hinzugefügt werden, daß gewisse Randbefugnisse von Legislative und Exekutive, die aus sonstigen Normen des Verfassungsganzen hergeleitet werden, besonders das exekutive Zuständigkeitsspektrum für militärische Aktionen und insbesondere ausländische Truppeneinsätze ergänzen (Stichwort: „executive agreements"). Tritt man insgesamt der herrschenden Rechtsauffassung bei, so liegt es nahe, daß die Kriegführung keiner Einschränkung durch den Kongreß unterworfen ist, ja jeder dahin zielende legislative Versuch als verfassungswidrig und rechtsunwirksam betrachtet werden kann.

Inhalt und Umfang der Befugnisse des Präsidenten als des Oberbefehlshabers der Streitkräfte sind heute allerdings — nicht zuletzt als Folge der exekutiv-legislativen Auseinandersetzung um den Südostasienkonflikt — heftig umstritten. Nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte der „Commander-in-Chief clause" sind sie auf den rein militärischen Oberbefehl beschränkt. Der Präsident soll in Friedens-und Kriegszeiten Inhaber der obersten und ungeteilten Befehls-und Kommandogewalt über die bewaffneten Streitkräfte sein. Darüber hinausgehende Kompetenzen (besonders in militär-, außen-und sicherheitspolitischen Bereichen) können aus der Verfassungsbestimmung nicht hergeleitet werden.

Der Präsident ist in seiner Eigenschaft als Ober-befehlshaber berechtigt, alle taktischen und strategischen Anordnungen und Maßnahmen zu treffen, die jeder militärische Befehlshaber treffen würde. Dazu gehören Truppenbewegungen, die Durchführung militärischer Operationen, Spionage-und Sabotageaktionen im Konfliktfall, ferner der Einsatz von Mensch und Material einschließlich der Entscheidung über Bombardierungen im Falle bewaffneter Auseinandersetzungen. Gleichfalls dürfte hierher die ausschließliche Verantwortlichkeit des Präsidenten für die Auswahl und Entwicklung von Waffensystemen gehören, wie die Anordnung von Präsident Kennedy im Jahre 1962 deutlich gemacht hat, den bemannten Bomber RS-70 entgegen den Vorstellungen des Kongresses nicht zu entwickeln, obwohl der Kongreß bereits Haushaltsmittel zur Verfügung gestellt hatte. Gleiches gilt für das Veto Carters im Jahre 1978, der sich gegen die Entwicklung und den Einsatz weiterer nuklear angetriebener Flugzeugträger und somit gegen den Beschluß des Kongresses, die Rüstungsausgaben für NATO-Aufgaben zugunsten eines weiteren Nuklear-Flugzeugträgers zu kürzen, aussprach.

Im Rahmen der Oberbefehlshaber-Befugnisse spielt der Überraschungsangriff eine besondere Rolle. Art. 51 der Satzung der Vereinten Nationen verbrieft das Recht der Staaten auf individuelle und kollektive Selbstverteidigung im Falle eines bewaffneten Angriffs. Dem völkerrechtlichen Selbstverteidigungs-und Selbsthilferecht entspricht die innerstaatliche Befugnisnorm der Verfassung, die den Präsidenten ermächtigt, Überraschungsangriffe auf die USA abzuwehren („to repel sudden at-tacks"). Auch diese präsidentielle „sudden re-pulse power“ beschränkt sich jedoch auf unaufschiebbare Abwehrmaßnahmen, während die Entscheidung über aufschiebbare Abwehr-maßnahmen beim Kongreß verbleibt. Der Überraschungsangriff stellt die mögliche und in der Sicherheitspolitik oft diskutierte Form eines Angriffs dar, die schnellstes Reaktionsvermögen und größte Entschlossenheit im sicherheitspolitischen Handeln verlangt. Die heutige waffentechnologische Entwicklung hat überdies die Grenzen zwischen unaufschiebbaren defensiven und offensiven Maßnahmen weitgehend verwischt, so daß die Notstandsbefugnisse des Präsidenten auch einen Vergeltungsschlag gegen einen drohenden Angriff (etwa einen nuklearen Raketenangriff auf ame31 rikanisches Gebiet) decken dürften. Dies allerdings nur unter der sehr eng auszulegenden Voraussetzung, daß ohne eine solche Maßnahme den Vereinigten Staaten ein nicht wiedergutzumachender Schaden entstehen würde.

Inhalt und Grenzen der vorgenannten „sudden repulse power" sind nicht immer klar zu bestimmen. Unbestritten ist aber, daß die Entscheidung darüber, ob ein abwehrbedürftiger Uber-raschungsangriff auf die USA vorliegt und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, im Interesse raschen und entschlossenen Handelns nur vom Präsidenten getroffen werden kann, der dabei über ein hohes Maß gerichtlich nicht überprüfbaren Ermessens verfügt. Es erhebt sich allerdings im Zusammenhang die Frage, ob nicht auch hier eine neuer Weg der Beteiligung des Kongresses gefunden werden müßte, und sei es auch nur in Form eines wesentlich verbesserten Informations-und Konsultations-Systems.

Die „sudden repulse power" war ursprünglich nur für Uberraschungsangriffe auf das Gebiet der Vereinigten Staaten bestimmt. Sie gewährt dem Präsidenten daher in erster Linie die Befugnis, die Souveränität und territoriale Integrität der Nation zu schützen und zu wahren. Fraglich ist dagegen, ob sie auch eine Reaktion auf einen Angriff auf amerikanische Streitkräfte im Ausland oder amerikanische Schiffe auf hoher See erfaßt. Während die Lehre dies früher entschieden verneint hat — wohl in dem Bestreben, einer uferlosen Ausweitung der präsidentiellen „emergency powers“ zu begegnen —, zeigt sie neuerlich mehr die Tendenz, diese Frage zu bejahen. Heute wird überwiegend auch ein Überraschungsangriff auf ame-rikanische Staatsangehörige und ihr Vermögen im Ausland, auf amerikanische Diplomaten und Truppen im Ausland als ausreichend erachtet, um die Defensivbefugnisse des Präsidenten auszulösen. Allerdings bewegen sich diese im letzteren Falle in einem erheblich engeren Rahmen, so daß etwa eine Eskalation von Feindseligkeiten mit dem Risiko eines großen Konflikts oder Krieges die präsidentiellen Kompetenzgrenzen überschreiten dürfte. Die Frage ist im Vietnamkonflikt aus Anlaß des nordvietnamesischen Angriffs auf die amerikanische „Pueblo* aktuell geworden. Es ist unbestritten, daß hier eher ein Fall des Schutzes amerikanischer Rechte und Interessen im Ausland als ein Fall der Wahrung der ter--ritorialen Integrität und politischen Unabhängigkeit der Nation vorlag.

Angesichts der zunehmenden Bündnisverpflichtungen der Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkieg hat die Frage zu grundlegenden Auseinandersetzungen Anlaß gegeben, inwieweit ein Angriff auf ein verbündetes Land einem Angriff auf die Vereinigten Staaten selbst gleichzustellen ist. Bei sachgerechter Auslegung der „sudden repulse power" des Präsidenten dürfte kein Zweifel daran bestehen, daß in einem solchen Fall höchstens ein Angriff auf amerikanische Interessen im Ausland vorliegt, nicht jedoch (selbst bei weitest-möglicher Deutung von Wortlaut und Zweck von Verteidigungsbündnissen) ein Angriff auf die territoriale Integrität und Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten. Vielmehr kann hier die Berechtigung und Verpflichtung des Präsidenten, Überraschungsangriffe abzuwehren, nur dahin gehend ausgelegt werden, daß Aktionen, die für den betroffenen Bündnisstaat ein bewaffneter Angriff auf dessen Staatsgebiet sind, für die Vereinigten Staaten eine Bedrohung oder Gefährdung ihrer sicherheitspolitischen Belange bilden. Diese dürfte im allgemeinen nicht so unmittelbar und gegenwärtig sein, daß es erforderlich wäre, den konstitutionellen Entscheidungsprozeß darüber, ob die Verteidigung der verletzten Interessen den Preis eines — zum Einsatz aller Kräfte der Nation verpflichtenden — Krieges „lohnt“, aus Dringlichkeitsgründen dem Präsidenten zu überantworten

Die militärische und geographische Lage des angegriffenen Verbündeten spielt für die verfassungsrechtliche Befugnisaufteilung eine ebenso erhebliche Rolle wie die Art und Schwere der Aggression und das militärische Gewicht des Aggressors. Während ein Angriff auf den Nachbarstaat Kanada die Sicherheit der amerikanischen Nation mit einem so erheblichen Risiko belasten könnte, daß sofortiges Handeln ohne Zwischenschaltung des langwierigen Entscheidungsprozesses der Legislative geboten wäre, dürfte ein Angriff auf ein Land des Femen Ostens zweifellos weniger dringliche und unabweisliche Verteidigungsaktionen erfordern.

Die Frage kam besonders während der Beratungen aus Anlaß der Ausarbeitung des NATO-Beistandspaktes 1949 zur Erörterung. Artikel 5 des Abkommens bildete den Gegen-stand ausführlicher Diskussionen. Die Haltung des Kongresses in dieser Frage war klar. Der auswärtige Ausschuß des Senates wies ausdrücklich darauf hin „Nichts im Vertrag, einschließlich der Bestimmung, daß ein Angriff gegen einen als ein Angriff gegen alle angesehen wird, mehrt oder mindert die verfassungsmäßigen Rechte von Präsident und Kongreß oder ändert das Verhältnis zwischen diesen beiden . .

Erläuternd fügte der Ausschuß hinzu, daß ein Angriff auf Paris oder Kopenhagen nicht in gleicher Weise eine Reaktion der Vereinigten Staaten erfordere wie ein Angriff auf New York; der amerikanische Entscheidungsprozeß würde in entsprechenden Krisensituationen schnell genug ablaufen, um die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zum Schutz der Vereinigten Staaten zu treffen, die sich aus einem bewaffneten Angriff gegen eine Partei des Vertrages ergäben. Er berief sich dabei unter anderem auf den Wortlaut des entscheidenden Artikels 5 des Vertragswerks, der jedem Vertragspartner in Erfüllung seiner Beistandspflicht das weite Ermessen einräumt, „. . . diejenigen Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, zu ergreifen, die er für erforderlich erachtet..

Da nach dem Gesagten aus einer völkerrechtlichen Beistandsverpflichtung in keinem Fall eine Übertragung von Befugnissen zur Kriegserklärung auf den Präsidenten abgeleitet werden kann, ergibt sich eindeutig, daß die Entscheidung über den militärischen Einsatz unter solchen Bündnisverpflichtungen der Prärogative des Kongresses vorbehalten ist, soweit eben nicht die „sudden repulse power" des Präsidenten in inhaltlich begrenztem Umfang Defensivmaßnahmen zum Schutz bedrohter oder verletzter Interessen der Vereinigten Staaten gebietet.

Im Gegensatz zu der weniger auf die nukleare als auf die allgemeine Problematik zielenden War-Powers-Diskussion hat es bisher in den USA noch keine grundsätzliche Debatte über eine mögliche Beschränkung der präsidentiellen Gewalt im Bereich der Entscheidung und des Einsatzes von Nuklearwaffen gegeben. Es wurde allerdings verschiedentlich vorgeschlagen, die bestehenden Kompetenzen des Kongresses im Bereich der War-Powers-Legislation dahin gehend auszuweiten, daß auch die Ent

Scheidung des Präsidenten zum Einsatz von Nuklearwaffen der legislativen Zustimmung bedarf. Im Rahmen dieser Diskussion wurde betont, daß eine mögliche Einsatzbeschränkung nicht unbedingt das gesamte nukleare Waffen-spektrum umfassen müsse, sondern es auch durchaus denkbar sei, z. B. diejenigen Nuklearwaffensysteme auszuschließen, die auf Grund der derzeitig geltenden Doktrin der NATO für die Verteidigung frei verfügbar bleiben müssen, überdies wurde besorgt darauf hingewiesen, daß die US-Militärstrategie zwar einen Erstschlag ausschließe, nicht jedoch (nach verfassungsmäßigem Kriegsbeginn) den Erstgebrauch von Nuklearwaffen. Im Klartext: der Präsident sei nach dem Beginn eines konventionellen Krieges rechtlich durchaus in der Lage, sich kraft eigenen Entschlusses für den Einsatz nuklearer Waffen zu entscheiden. Die furchtbaren, überhaupt nicht vorausschaubaren Implikationen einer nuklearen Kriegsführung verlangten jedoch die Überprüfung der Frage, ob nicht eine größere Kontrolle und Mitwirkung des Kongresses in solchen Fällen notwendig ist.

Die amerikanische „Kriegsrechts-Problematik" behandelt eine Frage, die nur scheinbar ein rein innerstaatliches Verfassungsproblem der USA darstellt. Die „War Powers" haben vielmehr auf Grund der spezifischen Ausprägung des Gewaltenteilungsprinzips in der amerikanischen Verfassung weitaus größere Bedeutung für den innen-und außenpolitischen Entscheidungsprozeß des amerikanischen Staates als entsprechende Regelungen im Verfassungssystem anderer Länder. Die Kontroverse um die Kriegsinitiativund Kriegsführungsbefugnis zieht vitale sicherheitspolitische Konsequenzen nach sich, die weit über die Grenzen des amerikanischen Kontinents hinausstrahlen. Sie wirken sich in erster Linie auf Westeuropa aus, für das wegen seiner geographischen Lage im Schnittpunkt der rivalisierenden Großmachtinteressen das reibungslose und „rationale" Spiel der politisch-militärischen Gleichgewichtsfaktoren eine Bedingung seines Über-lebens in Freiheit und Menschenwürde ist. Vor allem die Bundesrepublik Deutschland, die in besonderem Maße vom nuklearen Schutz ihres wichtigsten militärischen Verbündeten abhängt und damit auf dessen politische Glaubwürdigkeit und die Schnelligkeit, Rationalität und Effizienz seiner Entscheidungsfindung angewiesen ist, berühren die hier behandelten Fragen unmittelbar und existentiell.

Ein Rückblick in die jüngste Geschichte vertieft das Verständnis für die Gesamtproblema-tik. Zunächst ist die Kompetenzaufteilung zwischen Legislative und Exekutive nach der Verfassung von 1787, die im Kern eine Verfassung für Friedenszeiten ist, keineswegs so klar umrissen, wie dies zur Vermeidung von Zuständigkeitskonflikten erforderlich wäre. Zum anderen werden Geist und Text der Verfassung anerkanntermaßen nicht den gewandelten Realitäten gerecht, mit denen das nukleare Zeitalter den Entscheidungsträger konfrontiert. Beeindruckende Fortschritte auf dem Gebiet der Waffentechnologie und — nicht zuletzt dadurch bedingt — zunehmend komplexere Bündnisverpflichtungen der Vereinigten Staaten im Welt-gefüge haben vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg das von den Verfassungsvätern angestrebte Gleichgewicht zwischen gesetzgebender und ausführender Gewalt unaufhaltsam zugunsten eines deutlichen Übergewichts des Präsidenten und der von ihm geführten bürokratischen und militärischen Staatsapparatur verlagert. Der Stärkung außenpolitischer Effizienz gegenüber totalitären Staatswesen war dabei oft nur allzu willfährig die konstitutionelle Komponente des außenpolitischen Entscheidungsprozesses geopfert worden. Dem Präsidenten wurden als Oberbefehlshaber der Streitkräfte gewisse „inherent rights" zugebilligt, die vor allem in Zeiten internationaler Krisen mit nuklearer Eskalationsgefahr den sog. „shared powers" (Mitwirkungs-und Kontrollrecht des Kongresses) vorgehen mußten. Während diese Verlagerung des Machtgleichgewichts zwischen Präsident und Kongreß im Bereich der auswärtigen Gewalt zunächst angesichts der Bedrohung der Welt durch das Nuklearpotential der beiden Supermächte einleuchtend und begrüßenswert erschien (so im Falle des amerikanischen Eingreifens in Korea, in der Kuba-Krise und anfänglich in Vietnam), zeichnete sich später eine deutliche Überforderung der präsidentiellen Einsatzbefugnis ab.

Erst gegen Ende des Indochina-Krieges sollte die Neubesinnung auf die weise Vernunft gewaltenteiliger Herrschaft folgen. Der Verlauf des Vietnam-Krieges und speziell der Truppeneinsatz in Kambodscha mit den sich daraus ergebenden politischen Folgen hat eine Wende auf dem Gebiet der umstrittenen „War Powers" eingeleitet. Gefördert nicht zuletzt auch durch die Auswirkungen der Watergate-Affäre, hatte der Kongreß die Gelegenheit, den von den Gründungsvätern intendierten Verfassungsrechtsrahmen und damit das exekutiv-legislative Gleichgewicht wiederherzustellen. Da aber die Frage der „Kriegsrechte''heute auch vom Kongreß nicht mehr allein als eine Frage des Rechts, sondern zugleich unter machtpolitischen Gesichtspunkten verstanden wird, können daraus auch latente Gefahren für die Sicherheit der atlantischen Verbündeten entstehen.

Beeinflußt wird das Verhältnis von Legislative und Exekutive auf dem Gebiet der „War Powers" auch dadurch, daß die amerikanische Judikative unter Berufung auf den konstitutionellen Gewaltenteilungssatz seit jeher gezögert hat, Fragen primär politischen Inhalts juristisch zu entscheiden („political question doctrine"). Dies aber bedeutet, daß sie die von den beiden anderen Gewalten getroffenen Entscheidungen als nicht-justiziabel und damit letztlich rechtlich unanfechtbar betrachtet. Die Selbstbeschränkung amerikanischer Gerichte gegenüber politischen Fragen, die meistens im Bereich der Außen-und Sicherheitspolitik liegen, ist zwar nicht expressis verbis im Verfassungstext verankert, geht jedoch auf eine lange Tradition in der Verfassungswirklichkeit der Vereinigten Staaten zurück. De facto ist dabei der Exekutive in außen-und sicherheitspolitischen Fragen stets entscheidend der Rücken gestärkt worden. 2. Delegation von präsidentiellen Befugnissen Wie bereits dargestellt, liegt die grundsätzliche Verantwortung für die Führung eines Krieges in den Händen des amerikanischen Präsidenten. Anhand der militärpolitischen Geschichte der Vereinigten Staaten läßt sich belegen, daß dieser des öfteren präsidentielle Befugnisse auf nachgeordnete Behörden, Beamte und Offiziere delegiert hat. Die Übertragung von Kommandobefugnissen beispielsweise auf militärische Führer ist bereits mehr die Regel als eine Ausnahme. Typisches Beispiel ist die Freistellung der Wahl zwischen alternativen Strategien, Taktiken oder Waffensystemen Diese Möglichkeit der Übertragung von Zuständigkeiten resultiert wiederum primär aus der Interpretation der bereits zitierten „ Commander-in-Chief" -Klausel.

Der United States Code (amtliche Gesetzes-sammlung der USA) enthält ferner eine Vorschrift, die besagt, daß „.. .der Präsident der Vereinigten Staaten befugt ist, den Leiter eines Ministeriums oder einer Behörde ... bzw. einen Beamten, der mit Rat und Zustimmung des Senates ernannt werden muß, ohne Ge-nehmigung, Ratifikation oder eine andere präsidentielle Aktion zu ermächtigen . . . eine jegliche Funktion auszuüben, die dem Präsidenten durch Gesetz überschrieben wurde .. . In der amerikanischen Rechtsprechung wird generell anerkannt, daß die oben angesprochenen Bestimmungen grundsätzlich ein präsidentielles Recht zur Befugnisdelegation einräumen. Ein weiteres Gesetz sollte in diesem Zusammenhang noch Beachtung finden, nämlich das Atom-Energie-Gesetz vom Jahre 1954: „Der Präsident kann von Zeit zu Zeit die Atomenergiekommission anweisen ... im Interesse der nationalen Verteidigung ... nukleares Material und Nuklearwaffen dem Verteidigungsministerium zur Nutzung zu überlassen, so wie es dies für erforderlich erachtet . . Auch hieraus läßt sich ableiten, daß der US-Präsident grundsätzlich die Entscheidung über den Einsatz nuklearer Waffen delegieren kann. Ob und unter welchen Umständen eine solche Delegation bereits erfolgt ist, läßt sich naturgemäß nicht feststellen, da die Einzelheiten höchster Geheimhaltung unterliegen. Gleichwohl ist diese Frage, da sie letztlich auch die Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen betreffen könnte, von hohem öffentlichen Interesse; sie hat daher in den USA des öfteren zu Diskussionen Anlaß gegeben. Eine der großen Auseinandersetzungen über diese Frage fand 1964 während der Präsidentschaftswahlen in den USA statt. Der republikanische Senator Barry Goldwater schlug zu dieser Zeit vor, kleine nuklear-taktische Waffen konventionellen Waffen gleichzusetzen und entsprechende Einsatzbefugnisse auf militärische Führer zu delegieren Goldwaters Vorschlag wurde von Johnson, der besonders auf die politische Bedeutung von Kernwaffen verwies, entschieden abgelehnt: „Es gibt keine konventionellen Nuklearwaffen. In 19 gefahrvollen Jahren hat keine Nation das Atom gegen eine andere eingesetzt. Der Einsatz ist auch heute eine politische Entscheidung allerhöchster Rangordnung . . . Kein Präsident der Vereinigten Staaten kann auf die Verantwortung für eine solche Entscheidung verzichten.

Auch der damalige Verteidigungsminister Robert S. McNamara machte auf mögliche schwerwiegende Konsequenzen aufmerksam und betonte, daß der Präsident der Vereinigten Staaten der Mann bleiben müsse, bei dem die letzte Entscheidungsgewalt verbleibt Andererseits wird gelegentlich die Frage aufgeworfen, ob nicht der Präsident selbst Überlegungen anstelle, auf die alleinige Verantwortlichkeit über die „ultimate decision" zu verzichten.

Natürlich wird und sollte die Entscheidungsbzw. Delegationsproblematik immer wieder öffentlich diskutiert werden, aber letztlich wird, wie schon angedeutet, die Öffentlichkeit nie erfahren, ob es jemals zu einer wirklichen Entscheidungsbeteiligung bzw. Delegation von Entscheidungsbefugnissen des Präsidenten gekommen ist oder kommen kann. Offizielle amerikanische Stellungnahmen betonten zwar bisher wiederholt, daß nur der Präsident über den Gebrauch nuklearer Waffen entscheiden könne und gewisse Kontrollen dies gewährleisten würden.

Andererseits ist es aber nur zu offensichtlich, daß die militärischen Realitäten und Bedingungen im nuklearen Zeitalter die Notwendigkeit einer vorherigen Übertragung von Zuständigkeiten (allerdings nur unter gewissen, sorgfältig definierten Bedingungen) für den Krisenfall verlangen.

Es wäre nur eine logische Vorsichtsmaßnahme, wenn ein „Contingency-Plan" (Notfall-Planung) vorhanden wäre, der — besonders im Falle eines Überraschungsangriffes — eine sofortige Reaktion gewährleisten würde. Auch bei im Ausland stationierten, durch potentielle Nuklear-Angriffe bedrohten US-Truppen wäre es verständlich, wenn der Präsident für den Fall eines Überraschungsangriffes und eines damit verbundenen Zusammenbruches der Nachrichtenverbindungen eine vorherige Befugnisdelegation zum Einsatz nuklearer Waffen vorsähe.

III. NATO-Konsultation

Die westlichen Militärstrategien sind seit langem auf die Nuklearpotentiale eingestellt. Die NATO-Verbündeten erhielten nukleare Trägermittel, deren nukleare Gefechtsköpfe aber in der alleinigen Verfügungsgewalt der USA bleiben.

Im Falle eines den europäischen NATO-Be-reich betreffenden Konfliktes ist die Entscheidungsbefugnis des US-Präsidenten über den Einsatz von amerikanischen Nuklearwaffen ähnlich unbeschränkt wie im innerstaatlichen Bereich der USA. Hier kann allerdings die präsidentielle Verfügungsgewalt einem „Konsultations-Verfahren" (Mitwirkung an den Planungen und Entscheidungen über den Einsatz und die Einsatzbedingungen für das Nuklearpotential der NATO) unterworfen werden, welches den nuklearen Entscheidungsprozeß und die US-Politik unter Umständen kompliziert.

Die Vereinigten Staaten sind die Führungsmacht in einem militärischen Bündnis, dessen Staaten sich durch ausgeprägte innen-und außenpolitische Eigenständigkeit auszeichnen. Die NATO ist keine supranationale Organisation, die den Mitgliedern gegen ihren Willen bestimmte Verhaltensweisen vorschreiben kann. Nicht einmal die Form des Beistandes (Art. 5 des NATO-Vertrages) ist den Staaten in einer bindenden Form vorgeschrieben. Konsultationen gewinnen in diesem Rahmen zunehmend an Bedeutung für die Solidarität der Allianz. Sie dienen der rechtzeitigen Koordinierung nationalstaatlicher Überlegungen und Maßnahmen und sollen vor allem gewährleisten, daß einseitiges Handeln ohne Absprache mit den anderen Verbündeten ausgeschlossen ist bzw. daß nicht Schritte ohne Rücksicht auf deren Interessen unternommen werden. Das oberste Gremium der NATO ist der Nordatlantikrat, eine politische Versammlung von Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten. Er übt seine Befugnisse auf zivilem wie auf militärischem Gebiet aus und tritt zusammen — als Ministerrat in zivilen Angelegenheiten, — als Ausschuß für Verteidigungsplanung (Defense Planning Committee, DPC), Ständiger Ausschuß für Nukleare Verteidigungsfragen (Nuclear Defense Affairs Committee, NDAC) oder Nukleare Planungsgruppe (Nuclear Planning Group, NPG).

Der ständig tagende NATO-Rat bietet die Plattform für Diskussionen und die Koordinierung von Sicherheitsfragen. Der Ausschuß für Verteidigungsplanung (DPC) ist hier die oberste Instanz für militärische Fragen. In den NPGund DPC-Gremien kam es zu einem relativ weitgehenden Einvernehmen in Fragen des Zeitpunktes, der Ziele, der Art und des Freigabeverfahrens der einzusetzenden nuklearen Mittel. Das Defense Planning Committee hat schon vor Jahren grundlegende Dokumente verabschiedet. Ohne Zweifel gibt es ein relativ hohes Mitspracherecht, jedoch keine Mitbestimmung. Während alle Mitglieder in allen Gremien gleichberechtigt sind, ist die Verfügungsgewalt über US-Kernwaffen aller Art ausschließlich dem Präsidenten der USA, über britische Kernwaffen ausschließlich dem britischen Premierminister vorbehalten.

Gemeinsame Sicherheitsinteressen und Konsultationen sind zwar Mittel, um Politik und Entscheidung der Mitgliedsregierungen in der Allianz zu koordinieren; die souveräne Entscheidungsfreiheit der Partner (besonders auch im Sinne des Art. 5, der keine automatische Beistandsverpflichtung vorsieht) bleibt jedoch eine Schwäche, mit der die NATO leben muß.

Die Präsenz von amerikanischen Truppen auf dem europäischen Kontinent („Geiselfunktion") ist für die gemeinsame Sicherheit unentbehrlich. Die US-Soldaten verkörpern einerseits die Entschlossenheit und Fähigkeit zum konventionellen („physische Präsenz") und nuklearen Schutz („nuklearer Schirm") der Allianz, andererseits stellen sie auch ein Bindeglied zwischen den nuklear-taktischen Waffen in Europa und den nuklear-strategischen Mitteln der USA dar.

Die Tatsache, daß Nuklearwaffen von auf alliiertem Boden stationierten Trägermitteln aus gestartet werden können bzw. diese nuklearen Mittel sogar auf NATO-Gebiet zum Einsatz kommen können, verlangt eine überaus enge Konsultation und Planung zwischen der Supermacht USA und den europäischen NATO-Verbündeten. In diesem Rahmen bleibt die Bundesrepublik als nichtnuklearer Staat vom NATO-Bündnis und den USA abhängig, weil andere kollektive Formen nuklearer Kooperation (bilateral mit Frankreich oder Großbritannien; europäische Nuklearstreitmacht) vorerst aus politischen und militärischen Gründen nicht in Betracht kommen. Die Bundesrepublik Deutschland paßte sich in vergangenen Jahren dem Konzept der nuklearen Mitwirkung unter Aufrechterhaltung der Option auf Beteiligung an einer alliierten (europäischen) Nuklearstreitmacht an. Da sie mit dem schon erwähnten Dilemma fertig zu werden hat, zur Sicherung ihres Bestandes auf eine Verteidigung mit Nuklearwaffen angewiesen zu sein, obwohl ein entsprechender Einsatz eine weitgehende Zerstörung ihres Territoriums mit sich brächte, richtet sie sich in Anpassung an die derzeitig gültige NATO-Strategie primär auf die Optimalisierung der Abschreckung, die nach Möglichkeit jeden Konflikt verhindern soll.

Die generellen Richtlinien für das Konsultationsverfahren über den Einsatz von Nuklearwaffen lassen sich im wesentlichen aus drei NATO-Entscheidungen ableiten. Die erste wurde 1962 anläßlich des Athener Treffens des NATO-Rats getroffen („Athens Guidelines"). Sie bestätigte die nukleare Schutzverpflichtung der USA, bestimmte die politischen Richtlinien für den Einsatz von Kernwaffen, betonte die grundsätzliche Konsultationspflicht der Nuklearmächte vor dem Einsatz ihrer Waffen, brachte aber keine wesentlichen Fortschritte in der Frage der Mitsprache. Die Entwicklung wurde anläßlich der zweiten Entscheidung 1968 in Den Haag durch Mitglieder der Nuklearen Planungsgruppe (Nuclear Planning Group, NPG) sowie der dritten Entscheidung 1969 in London während eines Minister-treffens der NPG weitergeführt (Information, Konsultation, Planung, Assignierung). Die USA wurden hierbei vertraglich verpflichtet, vor der Freigabe und dem Einsatz von für die NATO vorgesehenen taktischen Nuklearwaffen (theater nuclear forces) bis zu einem gewissen Grad ein Konsultationsverfahren durchzuführen. Das Zustandekommen eines solchen „Konsultations-Procedere" setzt voraus, daß der US-Präsident nicht durch Zeit und Umstände (time and circumstances permitting") zu raschem Handeln gezwungen wird.

Vor der Behandlung des im o. a. Sinne so wichtigen Zeitfaktors sollen zum Verständnis der Gesamtproblematik die einzelnen Reaktionsformen der Allianz kurz dargestellt werden.

Für den Fall eines gegnerischen Angriffs sieht die NATO-Verteidigung eine abgewogene, differenzierte Reaktion vor:

Die NATO hat im Rahmen der Strategie der „Flexible Response" drei Reaktionsformen ausgearbeitet, die je nach Lage nacheinander oder gleichzeitig in Betracht kommen. Für den Angreifer dürfen Art, Ausmaß und Zeitpunkt der jeweiligen Reaktionsform nicht kalkulierbar sein. Er muß mit einer Konfliktausweitung und -Verschärfung rechnen, deren Risiken für ihn nicht abschätzbar sind. 1. Die „Direktverteidigung" (konventionelle Kriegführung unter nuklearer Bedrohung) soll dem Aggressor verwehren, seine angestrebten Ziele zu erreichen, und zwar auf der Stufe des militärischen Konfliktes, den der Angreifer gewählt hat. Hier wird der Angreifer bereits mit der Gefahr der (nuklearen) Eskalation konfrontiert. Die Schwelle zwischen konventioneller und nuklearer Kriegführung soll deutlich markiert werden (Konzept der Pause), bevor die Intensität des Konfliktes gesteigert wird (Eskalation). 2. Die „Vorbedachte Eskalation" (Konventionelle Kriegführung mit selektivem Kernwaffeneinsatz) soll einem Angriff dadurch begegnen, daß die Qualität des Abwehrkampfes durch den Einsatz nuklearer Waffen gesteigert oder der Konflikt räumlich ausgedehnt wird. Dem Angreifer soll durch den politisch kontrollierten selektiven Einsatz nuklearer Waffen (demonstrativ oder gezielt) deutlich gemacht werden, daß Gewinnchance und Risiko für ihn nicht mehr in einem tragbaren Verhältnis stehen. Außerdem kann der Angreifer auch dort getroffen werden, wo er besonders verwundbar ist, oder mit Mitteln, die denen des Angreifers überlegen sind. Der selektive Nuklearwaffeneinsatz soll der Begrenzung des Konfliktes dienen. 3. Die „Allgemeine Nukleare Reaktion" (allgemeine nukleare Kriegführung) richtet sich vor allem gegen das strategische Potential des Angreifers und bedeutet den Einsatz der nuklear-strategischen Waffen der NATO. Ihre Androhung ist das stärkste Abschreckungsmittel, ihre Anwendung die stärkste militärische Reaktion der NATO.

In all jenen Nuklear-Entscheidungen, die im o. a. Sinne zu treffen sind, soll die Ansicht des von der Entscheidung am meisten betroffenen NATO-Verbündeten besonders berücksichtigt werden. Hier kann es sich um ein Land handeln, von dessen Territorium aus nukleare Waffen eingesetzt werden bzw. das von „nuklearen Konsequenzen" selbst betroffen wird, das die nuklearen Gefechtsköpfe zur Verfügung stellt oder das die notwendigen Trägermittel bemannt bzw. zur Verfügung stellt.

Der Faktor „Zeit" spielt bei der Interpretation und Handhabung eines solchen Informations-

und Konsultationsprozesses eine besondere Rolle. Die Ermittlung möglicher Warn-und der sich daraus ergebenden Vorbereitungszeiten muß auf der Grundlage der dem Gegner zur Verfügung stehenden Angriffsoptionen erfolgen, wobei die unter realistischen Bedingungen denkbar kürzeste Warnzeit entscheidenden Einfluß auf die eigenen Überlegungen haben sollte. Die Länge der Warnzeit hängt im wesentlichen von der Zielsetzung der gegnerischen Aggression und damit vom Kräftebedarf und dem Umfang der erforderlichen militärischen Vorbereitungen des Angreifers, aber auch von den eigenen Aufklärungsmöglichkeiten ab. Die Länge der Vorbereitungszeit nähert sich der Warnzeit um so mehr, je entschlossener die politische Führung des Bündnisses reagiert. In Anbetracht derartig schwieriger Entschlüsse würde jedoch praktisch immer eine Zeitdifferenz auftreten, die wiederum in Abhängigkeit zu den Intentionen des Gegners steht, d. h., im Falle einer bevorstehenden „Großangelegten Aggression" wird die Reaktion der NATO schneller zu erwarten sein als bei einem mit allen Mitteln der Tarnung und Täuschung vorbereiteten Überraschungsangriff. Es dürfte stets sehr schwierig sein, für diese Zeiten verbindliche Werte als Grundlage für die eigenen Planungen zu schaffen, da die beeinflussenden Faktoren in den jeweiligen Situationen unterschiedliche Größenordnungen annehmen werden und die Wachsamkeit bzw. die kritische Beurteilung der Lage und Reaktion sicherlich vom jeweiligen politischen Klima abhängen. In diesem Rahmen spielt die wiederholt zitierte amerikanische Vorbehalt-Klausel „ . . time and circumstances permitting . . ." eine überragende Rolle.

Es besteht also kein Zweifel daran, daß der US-Präsident die NATO-Verbündeten dann entsprechend konsultieren würde, wenn es „Zeit und Umstände erlauben". Erfordert jedoch das „nationale Interesse" und somit der Schutz amerikanischen Territoriums und Lebens bzw. auch der Schutz alliierter Streitkräfte ein sofortiges Handeln der USA, so dürfte die amerikanische Entscheidung ohne Beteiligung der europäischen Verbündeten getroffen werden. Diese Aussage wiegt angesichts der modernen sowjetischen Trägersysteme und der im „Ernstfall" zur Verfügung stehenden sehr beschränkten Zeit um so schwerer. Eine möglichst wirksame Abwehr/Reaktion verlangt — auch im Bündnisinteresse — die Einschränkung des Konsultationsverfahrens. Um es expressis verbis zu wiederholen: Die Vereinigten Staaten und auch jeder andere NATO-Partner, der über eigene Nuklearwaffen verfügt, wie Großbritannien und Frankreich, sind frei, dann ohne vorherige Konsultation der Verbündeten eine unabhängige Entscheidung zu treffen, wenn die Lage (z. B. im Falle eines Überraschungsangriffes) kein entsprechendes Konsultationsverfahren zuläßt bzw. eine sofortige Reaktion (auch in „subjektiver Perzeption") nötig ist.

Die Notwendigkeit eines solchen amerikanischen Vorgehens wird von den NATO-Mitgliedern anerkannt. Dies resultiert u. a. ganz einfach aus der Tatsache, daß hier möglicherweise die stark divergierenden Interessen und subjektive Bedrohungsvorstellungen der Beteiligten einen Konsens verhindern. Eine schnelle Reaktionsbereitschaft dürfte unter diesen Voraussetzungen kaum herzustellen sein. Die NATO — und dies darf in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden — ist eben eine internationale und keine supranationale Organisation. Die Interessen der amerikanischen Supermacht und jene der mittleren und kleinen europäischen Staaten machen es in sensiblen Bereichen sehr schwierig, zu einer Übereinstimmung zu gelangen. Um es mit den Worten des ehemaligen US-Verteidigungsmi-nisters und heutigen Energieministers James Schlesinger zu sagen: „The nuclear power or powers have the responsibility for making the decision on whether or not nuclear weapons will be used."

Jedes Ersuchen einer Regierung oder eines hohen NATO-Befehlshabers um die Freigabe von Nuklearwaffen und jede Möglichkeit des Einsatzes durch eine Nuklearmacht zur Verteidigung von NATO-Bereichen soll im „Regelfall" sofort den einzelnen NATO-Regierungen und dem DPC (Defense Planning Committee) mitgeteilt werden. Das DPC stellt jenes Forum dar, in welchem die Regierungen der Mitgliedstaaten ihre Ansichten, insbesondere über zu erreichende politische oder militärische Ziele, die Methode des Einsatzes und die möglichen Konsequenzen eines Einsatzes bzw. eines Nicht-Einsatzes darstellen können. Die Stellungnahmen der o. a. Organe werden der betroffenen Nuklearmacht mitgeteilt, und die Entscheidung dieser Macht wird wiederum den verbündeten Regierungen, dem NATO-Rat und den hohen NATO-Befehlshabern übermittelt. Uber die mögliche Zeitdauer solcher Konsultationsverfahren sind naturgemäß keine offiziellen Daten verfügbar.

So ist also der SACEUR (Supreme Allied Commander Europe, Oberster in Alliierter Befehlshaber Europa) nicht befugt, Nuklearwaffen auf dem „NATO-Befehlsstrang" einzusetzen — es sei denn, daß in der dargelegten Weise Konsultationen mit den NATO-Regie-rungen und der NATO (durch DPC) direkt geführt wurden und eine entsprechende Entscheidung getroffen wurde. Ein umgekehrter Weg ist übrigens nicht möglich, da kein NATO-Organ das Recht hat, gegenüber SA-CEUR den Einsatz nuklearer Waffen anzuordnen. Die Freigabe der Nuklearwaffen zum Einsatz wiederum kann allerdings nur durch den US-Präsidenten bzw.den englischen Premierminister erfolgen. Geben diese die Nuklearwaffen frei, so stellt die Freigabe gleichwohl — wie bereits betont wurde — keinen Einsatz-befehl dar. Der SACEUR behält damit die Möglichkeit, die Nuklearwaffen nach seinem Ermessen einzusetzen. In anderen Worten: Da der US-Präsident im NATO-Rahmen nur über die Freigabe der nuklearen Gefechtsköpfe, nicht jedoch über ihren Einsatz entscheiden kann, ist er — technisch betrachtet — auch nicht befugt, SACEUR diesbezügliche Einsatz-befehle zu erteilen. Hier ergeben sich allerdings Widersprüche. SACEUR ist sowohl Oberster NATO-Befehlshaber (und somit dem NATO-DPC verantwortlich) als auch Ober-kommandierender der US-Streitkräfte in Europa (und somit dem US-Präsidenten unterstellt). In dieser „national-amerikanischen Eigenschaft" kann ihm der US-Präsident — unabhängig von NATO-Entscheidungen — auf dem „nationalen Befehlsstrang" die Anordnung zum Einsatz von Nuklearwaffen erteilen. So hat also letztlich der US-Präsident immer dann die Möglichkeit, Nuklearwaffen einzusetzen, wenn er es für richtig hält.

Auch die Frage der präsidentiellen Befugnis zur Dislozierung amerikanischer nuklearer Gefechtsköpfe bei NATO-Verbündeten läßt sich nicht eindeutig beantworten. Nach dem „Atomic-Energy-Act" von 1954 erscheint einerseits die Befugnis des US-Präsidenten, nukleare Gefechtsköpfe in das Einsatzland zu verlegen, untersagt. Andererseits verfügt das gleiche Gesetz: „Jede Bestimmung dieses Kapitels oder jede Aktion der Atomenergiekommission wenn soll dann außer Kraft gesetzt werden, sie mit Bestimmungen oder internationalen Abkommen kollidiert, die nach dem 30. August 1954 abgeschlossen wurden."

Es ist überdies wahrscheinlich, daß von dieser Ermächtigung zum Abschluß entgegenstehender internationaler Absprachen nach dem 30. August 1954 bereits Gebrauch gemacht worden ist, d. h., daß bereits von den Waffen („earmarked for NATO") die in den USA für Krisenfälle abrufbereit gehalten werden, Teile nach Westeuropa verlegt wurden. Ferner dürfte anzunehmen sein, daß die Befugnisse des Präsidenten in seiner Eigenschaft als Oberbefehlshaber der Streitkräfte die Bestimmungen des Atomic-Energy-Act zumindest dann überspielen, wenn das „nationale Interesse" oder das „überleben" der USA auf dem Spiel stehen.

Die NATO-Planungen schließen ein, daß der SACEUR durch den Präsidenten ermächtigt ist, unter gewissen, sorgfältig festgelegten Bedingungen den Einsatz nuklearer Waffen anzuordnen. Einerseits ist — wie betont — der NATO-Befehlshaber den im „NATO Defense Planning Committee" vertretenen Regierungen verantwortlich. Andererseits ist er auch Oberbefehlshaber der US-Truppen in Europa und somit voll in die amerikanische „Befehlskette" eingegliedert. Uber die sensitive Frage, ob der SACEUR z. B.den Gebrauch amerikanischer taktischer Nuklearwaffen in einem Sinne anordnen könnte, der nicht mit den Wünschen des US-Präsidenten übereinstimmt, läßt sich kaum spekulieren. Es darf hier als sicher angenommen werden, daß prä-sidentielle Anordnungen Priorität genießen.

IV. Großbritannien

Großbritannien ist mit seinen gesamten Streitkräften, einschließlich also seiner nuklearen Rüstung, primär auf die Allianzpolitik und nicht auf den Ausbau einer unabhängigen Nuklearstreitmacht ausgerichtet. Gerade die Zusammenarbeit in der NATO sowie der Rückhalt durch das US-Abschreckungspotential werden als lebenswichtig für die Aufrechterhaltung der Sicherheit des Vereinigten Königreiches angesehen. Die besondere Komponente (Eigenständigkeit) besteht im wesentlichen nur darin, daß die britische strategische Nuklearkapazität zwar der NATO zur Assignierung gemeldet ist, aber dann zurückgezogen und unabhängig verwendet werden kann, wenn höchste „nationale Interessen" auf dem Spiel stehen sollten.

Im Unterschied zur französischen Position ist britischerseits von Bedeutung, daß Probleme der nuklearen Zusammenarbeit in Westeuropa nicht von der NATO getrennt behandelt werden. Allerdings ist in diesem Zusammenhang wesentlich, daß dem Vereinigten Königreich aufgrund seiner speziellen Übereinkommen über die nukleare Zusammenarbeit mit den USA die Weitergabe der von den Vereinigten Staaten zur Verfügung gestellten nuklearen Informationen an Dritte ohne eine amerikanische Zustimmung verboten ist. Hinzu kommt, daß ein Teil der britischen Nuklear-ausrüstung amerikanischen Ursprungs ist.

Die Aufrechterhaltung einer unabhängigen englischen Nuklearkapazität ist nicht nur eine Frage des nationalen Prestiges (Statussymbol) bzw.der „Unabhängigkeit" von den Vereinigten Staaten, sondern stellt auch einen zusätzlichen westlichen Abschreckungsfaktor dar. Obwohl die Mitglieder des NATO-Ausschusses für Verteidigungsplanung (DPC) hier ebenfalls das bereits angesprochene NATO-Konsultationsverfahren festgelegt haben, gilt auch im Falle Großbritanniens, daß das vorgesehene Procedere nur dann seine praktische Anwendung findet, „.. . if time and circumstances permit." Die letzte Entscheidung über den Einsatz von Nuklearwaffen verbleibt somit auch hier bei der Nuklearmacht Großbritannien.

Die englischen Nuklearkapazitäten (Gefechts-köpfe und Trägermittel) wurden in sehr enger Zusammenarbeit mit den USA entwickelt. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der englischen taktischen Nuklearwaffen kann nur mit Genehmigung der Vereinigten Staaten zum Einsatz freigegeben werden, denn diese nuklearen Gefechtsköpfe wurden von den USA geliefert und unterliegen damit nach amerikanischem Recht der Kontrolle durch die USA. Überdies erfordert der Einsatz der der NATO assignierten englischen Nuklearwaffen das schon dargestellte NATO-Konsultationsverfahren. Obwohl Großbritannien demzufolge in gewisser Weise in seiner Handlungsfreiheit eingeschränkt ist und zudem — bedingt durch Aspekte der „special relationship" mit den Amerikanern — auch eine gewisse Abhängigkeit von der amerikanischen Entscheidung gegeben sein dürfte, ist Großbritannien gleichwohl befugt und auch in der Lage, einen Teil seiner Nuklearkapazität ohne US-Zustimmung einzusetzen, wenn — wie oben angeführt — das „nationale Interesse" auf dem Spiel steht Dieses britische „Vetorecht" wird auch durch einen besonderen britischen Verbindungsstab in Omaha deutlich.

Die Verfügungsgewalt über den Einsatz dieser nuklearen Waffen liegt theoretisch beim britischen Parlament. Da jedoch dem von seinem Kabinett beratenen Premierminister die Verantwortung für die Verteidigung Großbritanniens übertragen wurde, ist es praktisch der Premierminister, der in diesem Rahmen die Befugnis zum Einsatz von Nuklearwaffen besitzt. Dies heißt letztlich, daß der Premierminister notfalls allein entscheiden kann. Die Befugnisaufteilung zwischen Parlament und Regierung kann dem folgenden Zitat entnommen werden: „Die höchste Verantwortung für die nationale Verteidigung liegt bei dem Premierminister und dem Kabinett, die dem Parlament verantwortlich sind. Verteidigungsprobleme ... werden im Auftrage des Kabinetts unter dem Vorsitz des Premierministers vom Ausschuß für Verteidigung und Uberseepolitik behandelt."

Aber auch hier erhebt sich die Frage der Delegation der Verfügungsgewalt bzw. inwieweit geheime „Notfall-Pläne" vorhanden sind, die es, z. B. unter extremen Umständen, hohen militärischen Führern erlauben, über den Gebrauch von Nuklearwaffen selbständig zu entscheiden. In den fünfziger Jahren, als die nukleare Überlegenheit des Westens noch offensichtlich war, hatten sich englische und amerikanische Experten für eine gewisse „Flexibilität" der nuklearen Entscheidung ausgesprochen. Die Befehlshaber sollten — nicht zuletzt auch in Anbetracht der ungeheuren konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion — in die Lage versetzt werden, in gewissen Situationen grundsätzlich über den Einsatz nuklearer Mittel selbst zu entscheiden: „ .. . anläßlich der NATO-Konferenz in Athen im Mai 1972 wurde in Anerkennung der Problematik (der konventionellen Schwäche des Westens, d. Verf.) der Vorschlag eingebracht, NATO-Befehlshaber durch vorherige Befugnisdelegation in die Lage zu versetzen, unter bestimmten Voraussetzungen den Einsatz taktisch-nuklearen Waffen anzuordnen."

Aber die aufkommende Zeit der „nuklearen Parität" zwischen Ost und West, die Doktrin der „flexible response" (und somit auch der Verstärkung der westlichen konventionellen Streitkräfte) sowie die Ideen des Krisenmanagements verlangten ein engmaschiges Kontrollsystem. Die politische und militärische Kontrolle der Nuklearwaffen sollte auch im Konfliktfall gewährleistet sein. Es mußte sichergestellt werden, daß jede Eskalation in den Nuklearbereich hinein solange wie möglich verzögert wird.

Diese Prämissen verlangen die Konzentration der Einsatzbefugnisse beim Premierminister und geben höchstens Raum für eine „Notfall" -Planung bzw. die Delegation der Verfügungsgewalt unter ganz besonders festgelegten Bedingungen. So dürften z. B. nur einige englische Befehlshaber unter entsprechenden Voraussetzungen, wie der totalen Unterbrechung des „command and control" -Verfahrens in einer Krisensituation, zum Einsatz nuklearer Waffen befugt sein.

V. Frankreich

Das allgemeine NATO-Verteidigungsproblem und die Frage der „nuklearen Mitsprache" werden durch das Ausscheiden Frankreichs aus der Militärorganisation der NATO zusätzlich kompliziert.

Die französische Außen-und Sicherheitspolitik ist darauf ausgerichtet, ein Höchstmaß an nationaler Unabhängigkeit zu entfalten. Frankreich ist daher 1966/67 aus der integrierten Militärorganisation der NATO ausgeschieden, bleibt jedoch Teil der politischen Allianz. Man kann davon ausgehen, daß Frankreich weder bereit noch in der Lage ist, seine Verteidigungspolitik völlig außerhalb der NATO zu betreiben. Frankreich besteht zwar deklamatorisch weiterhin auf der absoluten Autonomie seiner Verteidigung, insbesondere der „force de frappe", doch kam es 1976 zu einer Neuformulierung der französischen Verteidigungskonzeption durch Staatspräsident Giscard d'Estaing, die faktisch den de Gaulle’schen Isolationismus in einigen Aspekten rückgängig machte. Das „distanzierte Verhältnis" zur NATO dürfte jedoch — trotz verbesserter punktueller Zusammenarbeit — andauern. So nahm der französische Staatspräsident z. B. 1978 ostentativ nicht an der jährlichen Tagung des Nordatlantikrates in Washington teil.

Bei einem Angriff auf NATO-Verbündete bleibt entsprechend dem NATO-Vertrag die Entscheidungsfreiheit Frankreichs über Zeitpunkt und Art seines militärischen Beitrags voll erhalten. So würde sich eine mögliche französische Bereitschaft zur militärischen Mitarbeit in der NATO erst im Krisenfalle, nicht jedoch schon in Friedenszeiten erweisen. Frankreich gehört zwar auch der WEU (Westeuropäische Union) an, doch ist seine Mitgliedschaft in der WEU für die NATO nur von begrenzter Bedeutung. Der WEU-Vertrag enthält im Gegensatz zum NATO-Pakt zwar eine automatische Beistandsklausel (Art. 4), ist jedoch militärisch ohne große Relevanz, da die WEU kein eigenes europäisches Verteidigungskonzept entwickelt hat. Nach der Schaffung der NATO wurden die militärischen Funktionen, die sich aus dem Brüsseler Pakt (Vorgänger der WEU) ergeben, dem Obersten Alliierten Befehlshaber der NATO in Europa (SACEUR) übertragen, da alle Signatarstaaten des Brüsseler Paktes auch Mitglieder der NATO sind. Die französische Verteidigung ist zwar von dem deutschen Vorfeld und dem strategischen Schutzschild der Vereinigten Staten abhängig, läßt sich jedoch nicht schon im Frieden als Konstante in das NATO-Kon-zept einbauen. Frankreich hat indessen zugesagt, den im NATO-Vertrag und auch im WEU-Vertrag vorgesehenen Beistand im Falle eines „unprovozierten Angriffs" zu leisten.

Abschreckung aus französischer Sicht heißt Verhinderung eines jeglichen, d. h. nicht nur nuklearen Konfliktes durch die Drohung mit einem eventuellen überraschenden Einsatz des französischen Nuklearpotentials. Obwohl die Glaubwürdigkeit einer effektiven französischen Abschreckung im Alleingang dahingestellt kann, ist das nationale Potential immerhin schon so stark, daß zumindest konventionelle Angreifer abgeschreckt werden könnten. Im Gegensatz zur NATO-Doktrin ist die Eskalation nicht „abgestuft", sondern für den Angreifer völlig unkalkulierbar.

Das unter Staatspräsident Charles de Gaulle entwickelte Konzept einer teilautonomen Sicherheitspolitik wurde bisher konsequent aufrechterhalten. Frankreichs Haltung läßt sich am besten mit de Gaulles eigenen Worten wiedergeben: „Frankreich muß seine eigene nationale Verteidigung haben, wie das bisher immer der Fall gewesen ist; auch wir müssen über die sogenannten Kernwaffenabschrek-kungsmittel verfügen, die heute der hauptsächlichste, wenn nicht der einzige Schutz der Völker sind, die frei bleiben wollen. Ohne sie wären wir keine europäische Macht mehr, keine souveräne Nation, sondern lediglich ein integrierter Satellit."

De Gaulles Grundargumente lassen sich kurz zusammenfassen: 1. Wenn es zu einer engeren Verschmelzung kommen soll, dann muß innerhalb der NATO ein Dreier-Direktorium (USA, Frankreich, Großbritannien) geschaffen werden, das die Stimme der Europäer darstellt und den USA die Möglichkeit zu diktatorischem Vorgehen nimmt. (Dieser Gedanke, von de Gaulle zuerst 1958 und zuletzt im Januar 1962 vorgetragen, wurde nicht nur von den USA und Großbritannien, sondern auch von den anderen Partnerstaaten als diskriminierend zurückgewiesen.) 2. Einer solchen Verschmelzung müsse man sich aber widersetzen, solange die Nuklear-streitkräfte der USA wie Großbritanniens dem Bündnis nicht integriert seien und ihr Einsatz daher ausschließlich vom Willen des US-Präsidenten bzw.des britischen Premierministers abhänge. 3. Es fehle innerhalb des Bündnisses völlig an der für eine Vertiefung nötigen politischen Konsultation vor Beschlüssen; vielmehr würden die Alliierten immer wieder vor einsame amerikanische Beschlüsse gestellt, obwohl diese z. T. durchaus vitale Interessen des gesamten Bündnisses berühren. So bestehe ständig die Gefahr, daß die europäischen Partner in Konflikte verwickelt würden, die sie entweder vorher nicht gewollt hätten oder gar nur sie ausreichenden ablehnten, weil ohne politischen Einfluß im Bündnis seien (etwa Kuba, Dominikanische Republik, Vietnam). 4. Die Größe Frankreichs verlange angesichts dieser Tatbestände die volle nationale Unabhängigkeit; das bedeutet: keine Unterordnung in irgendeiner Weise und eigene Kernstreitkräfte (force de frappe). 5. Aus dieser Position heraus könne Frankreich auch den Interessen der anderen am besten dienen, indem es auf dem Gebiet der Entspannung vermittelnd tätig sei und so die harte Konfrontation der beiden sinnlosen Militärblöcke entschärfe

Nur mit Hilfe einer nationalen unabhängigen Nuklearkapazität glaubt so Frankreich seine Unabhängigkeit (besonders auch im Verhältnis zu den USA) aufrechterhalten zu können. Ob die „besondere" Rolle Frankreichs langfristig für die Westeuropäer von positiver Bedeutung sein kann oder ob sich Frankreich militärisch in Zukunft wieder stärker in den Rahmen Westeuropas oder der NATO einordnen wird, bleibt abzuwarten.

Die Verfassung der V. Französischen Republik bestimmt, daß der Präsident der Republik Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist (Art. 15). Artikel 16 der Verfassung spezifiziert den Charakter der präsidentiellen Verantwortlichkeit für die Republik und Nation und bestimmt, daß der Präsident der französischen Republik voll und ganz für die nationale Verteidigung verantwortlich ist. Um Unklarheiten zu vermeiden, wurde 1964 ein Dekret erlassen, welches verdeutlicht, daß die letztgültige Entscheidung über die Kontrolle und den Einsatz von Nuklearwaffen in den Händen des Präsidenten liegt. Aufgrund der Bestimmungen weiterer Erlasse (z. B. eines Erlasses von 1971) ist zu vermuten, daß diese Befugnis auch den Bereich der taktisch-nuklearen Waffen (Pluton-Waffensystem, mit einer Reichweite von etwa 100 km) abdeckt. Es gibt derzeitig keine Beschränkung der französischen nuklearen Handlungsfreiheit durch Verträge oder andere Verpflichtungen. Frankreich hat zwar wiederholt die Möglichkeit einer nuklearen Kooperation (das schon erwähnte nukleare amerikanisch-englisch-französische Triumvirat Ende der fünfziger Jahre; auf der „force de frappe" basierende europäische nukleare Streitmacht Anfang der sechziger Jahre) in Erwägung gezogen, sich aber aufgrund gravierender eigener Vorbehalte und nationaler Egoismen schließlich für den Fortbestand einer nationalen Unabhängigkeit der nuklearen Entscheidung entschlossen. Dies ist einer der Hauptgründe, warum Frankreich im Jahre 1967 die integrierte Militärstruktur der NATO verließ. Gerade aber die Entwicklung der modernen Waffentechnologie (besonders der taktisch-nuklearen Waffen) wirft sowohl für Frankreich als auch die NATO-Partner schon aus Gründen der begrenzten Reichweite Probleme auf. Da es keine Vereinbarung mit der Bundesrepublik Deutschland oder der NATO gibt, bleiben diese Waffen auch auf französischem Territorium stationiert. Sollte sich Frankreich hier zu einer engeren Zusammenarbeit und damit zu einer wirkungsvolleren Stationierung z. B.des taktischen Pluton-Systems (ca. 120 km Reichweite) und engerer Koordinierung mit den NATO-Einsatzplänen entscheiden, so könnte dies in der Konsequenz auch Einfluß auf die französischen Entscheidungen zum Einsatz von Nuklearwaffen haben.

VI. Sowjetunion und China

Da es in der Sowjetunion fast keine allgemein zugänglichen Quellen über den nuklearen Entscheidungsprozeß innerhalb des Militär-und Staatsapparates gibt, ist eine einigermaßen zutreffende Aussage über diese Frage schwierig. Man ist hier weitgehend auf Vermutungen angewiesen.

Allgemein sei zur Qualität des nuklearen Entscheidungsprozesses in der Sowjetunion angemerkt: Aus westlichen Analysen des sowjetischen Entscheidungsverhaltens spricht oftmals die Befürchtung, daß sich das sowjetische Verhalten, das derzeit als „rational" anzusehen ist, sich in Zukunft zum Negativen hin ändern könnte. (Nicht zuletzt damit werden hohe westliche Verteidigungsausgaben begründet.) In diesem Zusammenhang darf aber nicht unerwähnt bleiben, daß offenbar auf Seiten der Sowjetunion ähnliche Bedenken hinsichtlich des US-Entscheidungsprozesses im militärischen Bereich bestehen.

Auch sowjetische Politiker und Militärs halten den nuklearen Krieg für eine Katastrophe, doch geht die Sowjetunion grundsätzlich von der Führbarkeit eines nuklearen Krieges und somit auch von einem Kriegsbild aus, das durch den frühzeitigen Einsatz nuklearer Mittel gekennzeichnet ist. Die sowjetische Militärstrategie unterstellt dabei nicht nur die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung, sondern auch die Möglichkeit einer nuklearen Kriegführung und des „Sieges" in einem Nuklearkrieg. Sowjetischerseits wird daher angenommen, daß aufgrund der auf beiden Seiten zur Verfügung stehenden nuklearen Mittel ein konventioneller Krieg aller Wahr-scheinlichkeit nach in einen nuklearen eskalieren würde. Somit beginnt auch jedes Manöver des Warschauer Paktes mit der Annahme, daß bereits taktische Nuklearwaffen eingesetzt worden sind.

Die offizielle sowjetische Literatur gibt, wie angedeutet, praktisch keine Auskunft darüber, welche Institutionen bzw. Personen über die Autorität zum Einsatz taktischer und strategischer Nuklearwaffen verfügen. Auch der sowjetischen Verfassung läßt sich zu dieser Problematik nichts wirklich Sachhaltiges entnehmen. Nur soviel steht fest: Der eigentliche Machtträger in der in der Sowjetunion ist die Kommunistische Partei (KPdSU). Art. 6 der sowjetischen Verfassung besagt auch entsprechend: „Die führende und lenkende Kraft der sowjetischen Gesellschaft, der Kern ihres politischen Systems, der staatlichen Organe und gesellschaftlichen Organisationen ist die Kommunistische Partei der Sowjetunion . . . (Sie) legt die Linie der Innen-und Außenpolitik der UdSSR fest..."

Der entscheidende Faktor ist somit die Kommunistische Partei. Höchstes Organ der KPdSU ist der Parteikongreß. Dieser wählt ein Zentralkomitee (ZK), welches wiederum die Mitglieder des Präsidiums (früher Politbüro) bestimmt. Das Präsidium ist die bestimmende Macht und stellt das maßgebende politische Führungsinstrument dar.

Malcolm Mackintosh präzisiert den Sachverhalt, wobei er zu dem nachstehenden Schluß gelangt: „Es ist klar, daß das Politbüro das Entscheidungsgremium in bezug auf Verteidigung und Auswärtige Politik darstellt ... und traditionell ist es der General-oder Erste Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, der die Verantwortung für die Leitung der sowjetischen Außen-und Verteidigungspolitik übernimmt. Dies trifft heute auf Breschnew zu und war zutreffend für Chruschtschow und Stalin .... Unseren Kenntnissen des sowjetischen Systems nach können wir davon ausgehen, daß nur das Politbüro die Entscheidung über Krieg und Frieden, über die Entsendung von Truppen in das Ausland (wie im Falle der CSSR 1968) . . . und den Gebrauch nuklearer Wallen treffen kann (Herv. d. V.)"

Die eigentlichen Grundsatzentscheidungen in der Sowjetunion sind einem kleinen Kreis von Politikern vorbehalten, in dem wiederum Generalsekretär L. Breschnew dominiert. Obwohl Breschnew nicht in bester gesundheitlicher Verfassung ist, dürfte davon auszugehen sein, daß die KPdSU versucht, den Generalsekretär als „Integrationsfigur" so lange wie möglich in seinen Ämtern zu halten.

Es ist also anzunehmen, daß die Verfügungsgewalt zum Einsatz von Nuklearwaffen in den Händen des Präsidiums (Politbüros) und somit letztlich wahrscheinlich in der Kompetenz der derzeitigen Schlüsselfigur, des Partei-und Staatschefs Leonid Breschnew, liegt. Weitere Differenzierungen hinsichtlich des Entscheidungsprozesses sind dem von außen urteilenden Beobachter kaum möglich. Allenfalls läßt sich sagen, daß der KGB (der sowjetische Staatssicherheitsdienst) einen beträchtlichen Einfluß auf die nukleare Entscheidung ausüben dürfte, da nukleare Waffenlager von KGB-Truppen kontrolliert und bewacht werden. überdies ist der KGB für den Kommunikationsaustausch zwischen der Führungsschicht der Partei und dem Militär zuständig. Auch über sowjetische „Contingency-Plans" (Planungen für den Notfall) gibt es keine Informationen. Es kann jedoch — besonders nach den militärisch-strategischen Überlegungen von Sokolowski — nicht ausgeschlossen werden, daß der „Feld-Kommandeur" unter besonders spezifizierten Bedingungen befugt ist, über den Einsatz nuklearer Mittel selbst zu entscheiden.

Es ist kaum anzunehmen, daß die Volksrepublik China in absehbarer Zeit die „nukleare Parität" mit den USA oder der Sowjetunion erreichen wird. Das Land macht jedoch auf dem Weg zu einer glaubwürdigen strategischen und taktisch-nuklearen Abschreckung Fortschritte, so daß auch hier die Frage nach dem nuklearen Entscheidungsprozeß zunehmend an Interesse gewinnt: Wie leicht oder schwer macht sich die chinesische Führung die Entscheidung über den Einsatz des Nuklearpotentials? Liegt die Nuklearbefugnis in den Händen eines einzelnen oder wird kollektiv entschieden? Auch für China gilt aber, daß es hierzu fast keine Informationen gibt und man sich nur an einigen wenigen Anhaltspunkten orientieren kann.

Die Macht wird in China durch das Politbüro der KPCh (und dessen „Ständigen Ausschuß") verkörpert. Diese zentrale Parteiinstanz scheint die tatsächliche Kontrolle auch über den Staat und die militärische Bürokratie auszuüben. Jedoch wirkt sich für Entscheidungsprozesse komplizierend aus, daß das Politbüro auch die zentralen und regionalen Militär-gruppierungen, die zivile Bürokratie und die Massenorganisationen repräsentiert. Daraus ergeben sich Verflechtungen der Machtstrukturen und ideologische Trennungslinien (wie „radikal" und „gemäßigt"), so daß immer auch mit dynamischen Verschiebungen der Stärke-verhältnisse zu rechnen ist. Von Außenstehenden können solche Veränderungen jedoch nur schwer erkannt und beurteilt werden.

Auf der Ebene des geschriebenen Rechtes finden sich nur die folgenden Regelungen: Sowohl die Parteisatzung als auch die Staatsverfassung bestimmen, daß die Führung der Streitkräfte der Kommunistischen Partei Chinas zukommt, deren jeweiliger Parteivorsitzender Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist Im Wortlaut der Verfassung: „Die kommunistische Partei Chinas bildet den Führungskern des gesamten chinesischen Volkes" (Art. 2).

„... Der Vorsitzende des Zentralkomitees der kommunistischen Partei Chinas hat die Befehlsgewalt über die Streitkräfte des Landes" (Art. 15)

In der Satzung der Partei heißt es: „Staatsorgane, Volksbefreiungsarmee und Miliz müssen die zentrale Führerschaft der Partei anerkennen" (Art. 7). Mao Tse-tung war zweifellos die zentrale Figur auch im militärischen Entscheidungsprozeß. Die Frage, wie derzeit die Machtverhältnisse in der Volksrepublik China gestaltet sind, läßt sich dagegen kaum beantworten. Die direkte Verantwortung für die militäri-.sehen Angelegenheiten und die Militärpolitik liegt zwar in den Händen der Militärkommission des Zentralkomitees der KPCh, die dem Politbüro und dem Ständigen Ausschuß verantwortlich ist. Entscheidungen in bezug auf den Einsatz von Nuklearwaffen dürften jedoch nur durch den Vorsitzenden des Politbüros und solche Mitglieder dieses Gremiums, die über besondere Machtpositionen in Partei und Staat verfügen, getroffen werden. Obgleich der Vorsitzende wohl eine Art Schiedsrichterrolle innehat, sind in den vergangenen Jahren aufgrund der erwähnten verschiedenen Machtzentren und der wechselseitigen Überlappungen viele Entscheidungen auf einer eher kollektiven Basis getroffen worden. So ist es auch — je nach den Machtverhältnissen — durchaus möglich, daß die Entscheidungsgewalt des Politbüros mit der Militärkommission geteilt werden muß. In diesem Zusammenhang ist zü betonen, daß das Militär einen nicht unerheblichen Anteil auch am generellen Entscheidungsprozeß hat. Das erklärt sich aus der militärischen Tradition der KPCh aus den Jahren 1927— 1949, aber auch daraus, daß etwa ein Viertel des gegenwärtigen ZK mit Personen besetzt ist, die militärische Positionen innehaben. Die Mitglieder und die organisatorische Struktur der Militärkommission, der das Ministerium für Nationale Verteidigung und die Volksbefreiungsarmee unterstehen, sind nur zum Teil bekannt

Nach den bisherigen Erkenntnissen scheint die Parteiführung bei der Delegation der Befugnis über Nuklearwaffen zu ihrem Einsatz sehr sorgfältig vorzugehen, um die zentrale Kontrolle zu gewährleisten. Die „Kommandound Kontrollkette" hinsichtlich dieser Waffen ist jedoch im einzelnen nicht bekannt. Sicher ist nur, daß sich die Volksrepublik China der furchtbaren Auswirkungen von Nuklearwaffen voll bewußt ist und eine dementsprechende Kontrolle ausübt bzw. eine Politik führt, die nukleare Konfrontationen zu vermeiden sucht. So ist seitens der politischen Führung wiederholt darauf hingewiesen worden, daß China diese Waffen keinesfalls zuerst einsetzen werde. Eine etwaige Delegation der Befugnisse zum Einsatz nuklearer Mittel auf hohe militärische Führer in außergewöhnlichen Lagen dürfte daher an streng und genau festgelegte Bedingungen geknüpft sein.

Fussnoten

Fußnoten

  1. US-Verfassung, Art. II, See. 2.

  2. Siehe hierzu: Dieter O. A. Wolf, Um die Kriegs-vollmacht des amerikanischen Präsidenten. Der War Powers Act vom 7. November 1973, in: Europa-Archiv, Folge 7/1974, S. 216 ff.

  3. Siehe zur allgemeinen „War-Powers" -Problematik: Dieter O. A. Wolf/Manfred A. Dauses, Die Kriegsrechte in den Vereinigten Staaten. Analyse der verfassungsrechtlichen und politischen Auseinandersetzung zwischen Präsident und Kongreß um die „War Powers", Berlin 1979. Unter besonderer Berücksichtigung des Vietnam-Konfliktes: Dieter O. A. Wolf, „Präsidenten-Krieg" in Vietnam? Kompetenzen, Entscheidungsverfahren und Verhalten von Präsident und Kongreß im Indochinakonflikt, München-Wien 1973.

  4. Don Wallace, The War-Making Powers: A Con-stitutional Flaw?, in: Cornell Law Review. Band 57 (1972), S. 719 ff, S. 744.

  5. Congress, the President, and the Power to Commit Forces to Combat, in: The Harvard Law Review, Band 81, No. 8, Juni 1968, S. 1771 ff.

  6. North Atlantic Treaty. Report of the Committee on Foreign Relations, 81st Congress, Ist session, US Senate Exekutive Report No. 8, 6. Juni 1949, S. 8.

  7. Hierzu etwa: E. May (ed.), The Ultimate De-cision. The President as Commander in Chief, New York 1960.

  8. United States Code (Section 301 of Title 3).

  9. Jetzt: Nuclear Regulatory Commission (NRC).

  10. Siehe: Goldwaters Military Views, in: The Nation vom 10. August 1964, S. 41; Our Defense, irr: Life vom 25. Sept. 1964, S. 10.

  11. Edward T. Folliard, Johnson Assails Rival’s A-Plan. Sees Peril in Shifting Control, in: The Washington Post v. 8. Sept. 64.

  12. Siehe: McNamara Reopens Nuclear Issue, in: The Washington Post v. 19. Sept. 1964, S. A 6.

  13. In Westeuropa befindet sich (unter US-Verschluß) eine beträchtliche Anzahl amerikanischer nuklearer Gefechtsköpfe (etwa 7 000). Die notwendigen nuklearen Trägermittel befinden sich im Rahmen der „programs of cooperation and stock-pile agreements" unter Kontrolle der NATO-Verbündeten. Die amerikanischen und britischen Streitkräfte in der Bundesrepublik und die Bundeswehr sind für eine mögliche Kriegführung mit taktischen Nuklearwaffen ausgerüstet.

  14. Nuclear Weapons and Foreign Policy. Hearings before the Subcommittee on US Security Agreements and Commitments Abroad and the Subcommittee on Arms Control, International Law and Organisation of the Senate Committee on Foreign Relations, 93d Cong., 2d sess., S. 157.

  15. CINCEUR = Commander in Chief Europe.

  16. „Earmarked Forces" = „vorgemerkte" Streitkräfte, deren Unterstellung unter einem NATO-Befehlshaber zu einem späteren Zeitpunkt (zur Assignierung) vorgesehen ist.

  17. Assigned Forces" (assignierte Streitkräfte) = voll aufgefüllte und präsente Verbände, die dem Kommando eines NATO-Befehlshabers unterstehen.

  18. Siehe hierzu etwa: A. J. Groom, British Think-ing About Nuclear Weapons, London 1974, bes. S. 595.

  19. Für die Ziel-und Einsatzplanung wurde in Omaha ein spezieller Stab errichtet — Joint Strategie Targeting Planning Staff (JSTPS).

  20. Britain, Official Handbook, Her Majesty’s Stationery Office, London 1974, S. 112.

  21. Groom, a. a. O., S. 517.

  22. Aus einer Rede von Charles de Gaulle in Chambery am 9. 10. 1960, zit. in: Karl Carstens und Dieter Mahnche (Hrsg.), Westeuropäische Verteidigungskooperation, München 1972, S. 74.

  23. Nach H. v. Siegler, Zusammenschlüsse und Pakte der Welt, Bonn 1977, S. 14.

  24. Siehe Verfassung der Sowjetunion vom 7. Oktober 1977 in: Archiv der Gegenwart 1978, S. 21389.

  25. Malcolm Mackintosh, The Soviet Military Influence on Foreign Policy, Survival (IISS), Septem-ber/Oktober 1973.

  26. Siehe hierzu etwa: James R. Towsend, Politics in China, Boston 1974, S. 288 ff., und William W. Whitson (Hrsg.), The Military and Political Power in China in the 1970s, New York 1972, S. 380 ff.

  27. Siehe Peking Review, Nr. 35— 36, v. 7. Sept. 1973, S. 26 ff.

  28. Towsend, a. a. O., S. 98.

Weitere Inhalte

Dieter O. A. Wolf, Dr. phil., geb. 1939; Bachelor of Arts, Postgraduate Diploma in International Relations; Politikwissenschaftler und Publizist, Bonn; freier wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, Forschungsinstitut für internationale Politik und Sicherheit, Ebenhausen (1970— 1975); Lehrbeauftragter an der Universität München (seit 1970) und der University of Maryland, European Division (seit 1978); Major d. R.; Mitglied des International Institute for Strategie Studies (IISS), London. Veröffentlichungen: „Präsidenten-Krieg" in Vietnam? Kompetenzen, Entscheidungsverfahren und Verhalten von Präsident und Kongreß im Indochinakonflikt, München und Wien 1973; Die Kriegsrechte in den Vereinigten Staaten. Analyse der verfassungsrechtlichen und politischen Auseinandersetzung zwischen Präsident und Kongreß um die „War Powers" (zus. mit Manfred A. Dauses), Berlin 1979; Sicherheit und Frieden. Politik zwischen Verteidigung und Rüstungskontrolle (hrsg. zus. mit Wolfgang Fechner), Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1979, Buchhandelsausgabe: Europa Union Verlag, Bonn 1979; Sicherheitspolitik. Ein Lehrund Studienbuch (zus. mit Günter Walpuski), München/Wien (erscheint im Juni 1979); Weltraum und Sicherheit (zus. mit Manfred A. Dauses und Hubert Hoose), Bad Honnef-Erpel (erscheint im Juni 1979).