I. Einleitung
Eine vieldimensionale Entwicklungspolitik setzt in einem demokratischen Staat einen möglichst weitgehenden Konsens breiter Schichten der Bevölkerung und ihrer gesellschaftlichen Gruppen sowie der Parteien voraus. Ein Idealzustand wäre erreicht, wenn die Masse engagierter, informierter und kritisch mitdenkender Bürger die Entwicklungspolitik in ihrem Gesamtkonzept tragen würde. Von diesem Zustand ist man freilich in der Bundesrepublik Deutschland und in den meisten Industrieländern noch weit entfernt. Entwicklungshilfe ist für viele ein überflüssiger Luxus, für andere die Gelegenheit zu guten Taten, die allerdings keine spürbaren Opfer bedeuten. Die engagierten Entwicklungspolitiker bilden eine Randgruppe, welche bisher trotz aller Offentlichkeitskampagnen und moralisierender Appelle die bestehenden Barrieren nicht überwinden konnte. Wahrscheinlich erklärt sich das daraus, daß es bisher kaum gelungen ist, dem einzelnen und seinen Interessenverbänden sowie den Parteien den vitalen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in der Dritten Welt auf der einen Seite und der Lohntüte, dem Einfamilienhaus und dem jährlichen Urlaub im Süden auf der anderen zu verdeutlichen. Es ist wesentlich, diesen Zusammenhang, ja die Interessenverflechtung zwischen Nord und Süd über den Kreis der professionellen Entwicklungspolitiker hinaus transparent zu machen. Für die Erreichung eines auf Erweiterte Fassung eines Referats, gehalten im Rahmen des Entwicklungspolitischen Kongresses ENTWICKLUNG — GERECHTIGKEIT — FRIEDEN (veranstaltet vom Deutschen Evangelischen Kirchentag, dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken, der Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst und dem Katholischen Arbeitskreis Entwicklung und Frieden), Bonn-Bad Godesberg, 24. bis 27. Januar 1979.
Dieser Text berücksichtigt zu den behandelten Fragen den Verlauf der Diskussion in den Plenarsitzungen des Kongresses. solchen Erkenntnissen basierenden, möglichst umfassenden Grundkonsenses kommt den Zusammenschlüssen der verschiedenen gesell-schaftlichen Gruppen, die sich in zunehmendem Maße mit Entwicklungspolitik befassen, eine Schlüsselstellung zu
II. Traditionelle und andere Instrumente der Entwicklungshilfe
1 Gewisse traditionelle Instrumente der Entwicklungshilfe — wie z. B. Kapital-und technische Hille — sind nicht unbedingt von einem spezifischen gesamtgesellschaftlichen Konsens abhängig; sicherlich nicht mehr als zahlreiche andere finanzielle Aufwendungen des Staates. Das Parlament repräsentiert routinemäßig auch insofern den Volkswillen und sanktioniert durch Billigung des Staatshaushalts Zuwendungen an die Länder der Dritten Welt. Diese Zuwendungen stellen „Opfer" an Realeinkommen dar, die aber bisher niemandem weh tun.
Andere entwicklungspolitisch wirksame Maßnahmen sind viel einschneidender. Sie stellen nicht nur — wie die „traditionellen" Hilfszuwendungen — eine zusätzliche finanzielle Belastung aller Steuerzahler dar, sondern sie treffen direkt bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Das ist insbesondere der Fall bei dem Abbau von Einfuhrschranken für industrielle und landwirtschaftliche Erzeugnisse aus den Entwicklungsländern. Die damit verbundenen Opfer an eigener Produktionsstruktur können Arbeitnehmer, Unternehmer und Landwirte in ihrer Existenzgrundlage bedrohen. Die insofern bestehenden Interessendivergenzen zwischen den betroffenen Gruppen einerseits und den übrigen Bevölkerungsgruppen andererseits können nur gesamtgesellschaftlich, und zwar durch Konsens, ausgeglichen werden. Dabei kommt es auf eine möglichst breite Verteilung der Lasten an.
Trotz mancher Gegenargumente, die nicht bagatellisiert werden sollten
Nichts kennzeichnet die gesamtgesellschaftliche Bezogenheit einer auf die eigentliche Problemsubstanz ausgerichteten Entwicklungspolitik deutlicher als die Frage der Marktöffnung. Deswegen steht dieses Problem exemplifizierend im Vordergrund der folgenden Darlegungen, wobei auch auf den gegenwärtigen Stand der internationalen Interdependenz-Diskussion kurz einzugehen ist.
III. „Eigeninteresse'
Vorweg aber einige Bemerkungen zu dem Stichwort „Eigeninteresse". Für manche handelt es sich dabei um ein ausgesprochenes Reizwort. Schon in dem bloßen Hinweis auf das Geberinteresse wollen sie eine „Spekulation auf das Eigeninteresse des deutschen Steuerzahlers" und ein „Kalkül mit dem Egoismus" sehen
In die gleiche Richtung geht es, wenn Unicef wegen einer Inseratenserie unter dem Motto „Buy a good feeling" kritisiert wird
Wenn eines der Hauptziele der Entwicklungspolitik darin besteht, einen internationalen sozialen Ausgleich zu erreichen, so stellt sie Dienst an der Zukunft aller Menschen — gleichgültig ob Geber oder Nehmer — dar. Es ist völlig legitim und moralisch einwandfrei, die sich in diesem Zusammenhang abzeichnende „Perspektive der eigenen Zukunft"
IV. Die mittel-und langfristige Perspektive: weltweite Interdependenz
Die mittel-und langfristige Perspektive Die in den nächsten Jahrzehnten auf die Menschheit zukommenden Probleme sind so komplex, daß keine demokratische Regierung sie ohne gesamtgesellschaftlichen Konsens lösen könnte. Für die Industrieländer wird es um weitaus mehr als etwa nur um die Erhöhung der öfientlichen finanziellen Hilfe gehen (z. B. um die Erreichung des magischen 0, 7-Prozent-Ziels) oder einen spezifischen Ressourcentransfer z. B. auf dem Rohstoffsektor oder in anderem Zusammenhang, sondern um die Einpassung in eine kontinuierlich wachsende weltweite Interdependenz, der sich kein Land entziehen kann. Die — im eigenen Interesse und im Geiste internationaler Solidarität — zu treffenden Entscheidungen
Globale Interdependenz der armen und der reichen Länder beinhaltet nicht nur, daß der Wohlstand der Industrieländer eine unerläßliche Voraussetzung für jede Hilfe an die Dritte Welt darstellt. Vielmehr bedeutet dieses Konzept auch umgekehrt — und das wird noch immer nicht klar genug erkannt —, daß ein unaufhaltsamer Prozeß zunehmender Abhängigkeit der reichen Länder von den armen in Gang gekommen ist. Moderne Forscher sprechen in diesem Zusammenhang bereits von „reverse dependency" 9). Treffend hieß es daher im Kommunique über den Bonner Gipfel im Juli 1978: „Ein Erfolg unserer Bemühungen um eine Stärkung unserer Volkswirtschaften kommt den Entwicklungsländern zugute, und ihr wirtschaftlicher Fortschritt wird uns zugute kommen." 10)
Die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit der Industrieländer von den Märkten der Entwicklungsländer findet ihren Ausdruck in den Exporten der Industrieländer. Z. B. haben sich die deutschen Exporte in die Entwicklungsländer zwischen 1962 und 1977 verfünffacht, und 1977 ging bereits
Die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit der Industrieländer von den Märkten der Entwicklungsländer findet ihren Ausdruck in den Exporten der Industrieländer. Z. B. haben sich die deutschen Exporte in die Entwicklungsländer zwischen 1962 und 1977 verfünffacht, und 1977 ging bereits ein Fünftel der Exporte der Bundesrepublik in die Dritte Welt. Die nicht Erdöl erzeugenden Entwicklungsländer konnten ihrerseits 1977 gegenüber der Bundesrepublik einen Überschuß von etwa 2, 9 Milliarden D-Mark erzielen (gegenüber einem deutschen Überschuß von noch 5, 3 Milliarden D-Mark im Jahre 1974)
Untersuchungen, die auf Veranlassung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit durchgeführt wurden, haben ergeben, daß gegenwärtig durch den Export in die Entwicklungsländer
Was den Bereich der OECD-Länder angeht, so kam eine von der Universität Pennsylvania im Auftrag von UNCTAD im Jahr 1976 erarbeitete Studie
Der Süden als Wachstumsmaschine Auch wenn gewisse Zweifel an diesen mit Hilfe nicht unproblematischer ökonometrischer Methoden ermittelten Größenordnungen erlaubt sind, so kann doch der tendenziellen Richtigkeit der Aussage der Studie kaum widersprochen werden. Amerikanische Wissenschaftler vom Overseas Council in Washington haben in Anlehnung an die vorerwähnte Untersuchung das Schlagwort vom „Süden als der Wachstumsmaschine“ geprägt. Ihre Kernthese lautet: Der Fortschritt der Entwicklungsländer muß schon deswegen in den Mittelpunkt der Wirtschaftspolitik der Industrieländer gestellt werden, um den künftigen Fortschritt von Nord und Süd zu sichern
Die hinter dem Stichwort stehende „Marktöffnung" Philosophie wird in der Studie insbesondere in folgenden Thesen zusammengefaßt: — Die Billig-Importe aus den Entwicklungsländern wirken inflationären Tendenzen in den Industrieländern entgegen. — Die Exporte der Industrieländer in die Entwicklungsländer dienen der Sicherung von Arbeitsplätzen in den Industrieländern. — Da Handel aber eine Zweibahnstraße ist, hängt die Entwicklung der Exporte der Entwicklungsländer von einer Öffnung der Märkte der Industrieländer ab. Erst durch Exporte können sich die Entwicklungsländer die Kaufkraft für ihre Importe verschaffen.
— Die Vorteile der Marktöffnung übertreffen die Nachteile erheblich.
Die Studie erkennt an, daß einige Industriezweige in den Industrieländern durch die Marktöffnung schwer betroffen werden, meint aber, daß dieses Problem durch strukturelle Anpassungsmaßnahmen in den Industrieländern lösbar ist. Konklusion: „Das größte Reservoir der Welt an Produktionskapazität stellen die noch unterentwickelten und ungenutzten menschlichen und physischen Ressourcen der Entwicklungsländer dar. Durch Anhebung der Kaufkraft dieser Völker und durch Entwicklung neuer Märkte für Arme und Reiche kann der Warenaustausch innerhalb und zwischen allen Ländern verstärkt werden."
Das Problem der Marktöffnung wird — worauf Mahbub ul Haq in seinem bereits erwähnten Artikel (siehe Fußnote 9) aufmerksam macht — mittel-und langfristig nur dann richtig gesehen, wenn man es mit dem der (zu verstärkenden) weltweiten geographischen Verteilung der industriellen Erzeugung in Zusammenhang bringt. Die komparativen Vorteile der traditionellen Industrieländer haben sich in manchen Industriezweigen vermindert. Dabei spielen neben anderen Faktoren vor allem die Arbeitskosten eine entscheidende Rolle. Wenn die Entwicklungsländer versuchen, aus dieser Lage entsprechende Konsequenzen zu ziehen, so folgen sie dabei nur dem Prinzip der internationalen Arbeitsteilung. Das gilt vor allem für die Erzeugung von Halb-und Fertigwaren. Nach einer von Mahbub ul Haq genannten Zahl könnten die Entwicklungsländer ihre Devisenerlöse um jährlich 24 Milliarden Dollar steigern, falls die Industrieländer sämtliche Zolltarif-und sonstigen Handelsschranken abbauen würden. (Die in Frage stehende Größenordnung wird deutlich, wenn man der erwähnten Zahl die 14, 7 Milliarden Dollar gegenüberstellt, welche die OECD-Länder im Jahre 1977 an öffentlicher Entwicklungshilfe aufgebracht haben.)
V. Das Konzept der vollständigen Konkurrenz nur eine „heroische Prämisse"?
Wenn die Entwicklungsländer die weitere Öffnung — in jedem Fall aber die Offenhaltung im bisherigen Umfange — der Märkte der Industrieländer für die Ausfuhr verarbeiteter Erzeugnisse fordern, so läuft das — so Hans Dietrich Genscher — nur darauf hinaus, daß sie Grundprinzipien der bestehenden Weltwirtschaftsordnung auch dann angewendet wissen wollen, wenn es den Industrieländern unbequem ist
Freilich ist das Konzept der vollständigen Konkurrenz in der Praxis nicht mehr als eine „heroische Prämisse"
Eine Entwicklungscharta der Gewerkschaften Die — vom Deutschen Gewerkschaftsbund mitgestaltete und gebilligte — „Entwicklungscharta" des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften vom Mai 1978
So soll die industrielle Expansion in den Entwicklungsländern nach der Charta in erster Linie auf die Bedürfnisse der heimischen Bevölkerung abgestellt werden. Wörtlich: „Die eigentliche Aufgabe der Industrie in den Entwicklungsländern besteht nicht nur oder vor allem darin, Waren für den Handel mit den reichen Ländern zu erzeugen, sondern vor allem darin, Waren für die Menschen in den Entwicklungsländern herzustellen. Hierzu ist
VI. Die Rolle der Gewerkschaften
die Kauikraft der gesamten Bevölkerung in den Entwicklungsländern erheblich zu steigern.“ (Uber das „Wie" sagt die Charta nichts.) Gefördert werden soll auch ein umfassender Handel der Entwicklungsländer untereinander.
Die Ausfuhren in die Industrieländer sollen so „angepaßt" werden, „daß die Entwicklungsländer soviel Devisen verdienen, daß sie für lebenswichtige Einfuhren bezahlen können".
Forderung nach einer Sozialklausel Besonders hervorzuheben ist die Forderung nach einem „Minimum an gerechten Arbeitsnormen", darunter auch das Verlangen nach Mindestlöhnen und nach Einhaltung von Höchstarbeitszeiten.
Am weitesten ist das Konzept von den „gerechten Arbeitsnormen" in einer vom Textilausschuß der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) im April 1978 zur Aufnahme in das Allgemeine Zoll-und Handelsabkommen (GATT) vorgeschlagen Sozialklausel entwik-kelt worden
Entwicklungspolitisch besonders relevant ist der einschlägige Passus in einer Erklärung über „Vollbeschäftigung und Wachstum", welche kurz vor dem Gipfeltreffen der sieben Staats-und Regierungs-Chefs im Juli 1978 von den Vertretern der Gewerkschaftsverbände aus den sieben Ländern abgegeben wurde
Heinz O. Vetter auf dem Entwicklungspolitischen Kongreß Auf dem Entwicklungspolitischen Kongreß der beiden Kirchen im Januar d. J. bekannte sich der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Heinz O. Vetter, erneut „uneingeschränkt zur Solidarität mit der Bevölkerung in den Entwicklungsländern und damit auch zu Opfern für diese Menschen". Aber die neue Weltwirtschaftsordnung dürfe „nicht losgelöst von einer neuen Weltsozialordnung angestrebt werden". Er bezog sich dabei ausdrücklich auf die Entwicklungscharta des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften, von der er keinerlei Abstriche machte.
Auch bei dieser Gelegenheit bezeichnete er die Aufnahme „von Sozialklauseln in internationale Handels-und Wirtschaftsverträge mit dem Ziel, die Lage der Arbeitnehmer in den Entwicklungsländern zu verbessern und mehr Arbeitsplätze zu schaffen", als vordringlich
Zu deutschen Auslandsinvestitionen meinte Vetter: „Die deutschen Gewerkschaften (haben) kein Verständnis für die'Förderung von Investitionen aus öffentlichen Mitteln, ohne daß sie mit sozialen Auflagen verbunden werden". Es gäbe — so Vetter — zahlreiche Klagen über „das unsoziale und gewerkschaftsfeindliche Verhalten ausländischer Unternehmen, und deutsche Unternehmer bilden dabei keine Ausnahme". Die Unternehmer verschanzten sich oft hinter der nationalen Gesetzgebung in den Entwicklungsländern.
Während Vetter vor dem vollbesetzten Plenum des Kongresses der Kirchen sprach, ließ die Gewerkschaft Textil-Bekleidung als ihren „Beitrag zum Dialog" ein Papier verteilen, welches in harter Terminologie in die Debatte eingreift. Darin heißt es u. a., daß sich bisher „die Geschäfte des internationalen Kapitals und Handels in und mit den Entwicklungsländern überwiegend nach frühkapitalistischen Regeln vollzogen" haben, die „der Bevölkerung in den Entwicklungsländern in sozialer Hinsicht nur geringe Verbesserungen gebracht" hätten. Den Unternehmern wird vorgeworfen, daß sie „aus den Industrieländern in die Entwicklungsländer flüchten, um dort ohne soziale Bindungen und Verpflichtungen zu geringmöglichsten Kosten produzieren zu lassen".
In dem Papier wird gefordert, „die Zugangs-möglichkeiten zu den Märkten der Industrieländer zu differenzieren"
Als beispielhaft „für eine geordnete und ausgewogene .. . Regelung der internationalen Industrialisierungsund Handelspolitik" betrachtet die Gewerkschaft Textil-Bekleidung das Welt-Textilabkommen. Dieses Abkommen bietet — so die Gewerkschaft — „einen geordneten Rahmen, der den Entwicklungsländern" nicht nur eine Absatzsicherung, sondern auch eine Absatzsteigerung in den Industrieländern garantiert
Die Argumentation der Gewerkschaften bietet viele Angriffsflächen. Was z. B. die Verweisung der Entwicklungsländer auf die Versorgung ihrer eigenen Märkte angeht (ein Pro-blem, welches diese Länder natürlich auch selbst voll erkennen), so wird — abgesehen von anderen Gesichtspunkten — die Bedeutung des Exports als Devisenbringer unterschätzt. Die Forderung nach einem „Minimum an gerechten Arbeitsnormen" läuft auf den Versuch einer Einflußnahme auf die soziale Gesetzgebung der Entwicklungsländer hinaus, die in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen pflegen, daß auch die westlichen Industrieländer mehr als ein Jahrhundert gebraucht haben, um das gegenwärtige hohe Niveau ihrer Sozialgesetzgebung zu erreichen. Für die Entwicklungsländer stellt die Haltung der westlichen Gewerkschaften nichts anderes als eine kaschierte Form des Protektionismus dar. In dieser Sicht sprächen die Gewerkschaften zwar vom Kampf gegen die soziale „Ausbeutung". In Wirklichkeit käme es ihnen aber darauf an, den Entwicklungsländern ihren derzeit wichtigsten Wettbewerbs-vorteil zu nehmen, nämlich ihre billigeren Arbeitskosten
Bezeichnend für die in manchen Gewerkschaftskreisen zur Zeit herrschende Mentalität ist es, wenn kürzlich der Vorsitzende der Gewerkschaft Textil-Bekleidung nicht nur triumphierend erklärte, der Importdruck habe dank der sogenannten Selbstbeschränkungsabkommen bereits „gewaltig nachgelassen", sondern es „hoffnungsvoll" nannte, daß sich Staatsanwaltschaften gebildet hätten, welche schwerpunktmäßig illegale Einfuhren bekämpften
VII. Politiker-Meinungen zum Stichwort Marktöffnung
Unmißverständlich sprach sich Bundespräsident Walter Scheel in seiner entwicklungspolitisch wichtigen Ansprache bei der Eröffnung des Entwicklungspolitischen Kongresses für Marktöffnung aus. Die Argumente gegen die Marktöffnung sind für Scheel Vorurteile, welche „die aufgeschlossenen Menschen in ihrem Willen verunsichern, etwas gegen Armut und Not in der Dritten Welt zu tun“. Wir müssen die Konkurrenz der Entwicklungsländer ertragen lernen: „Wird beispielsweise wirklich eine Gruppe von Industriebetrieben in unserem Lande von der Konkurrenz aus Südostasien bedroht, so darf es nicht heißen: dieser fremde Anbieter muß von unserem Markt verschwinden." Scheel übersieht nicht, daß bei uns Arbeitsplätze berührt werden. Aber er weist darauf hin, „daß wir — wie die Erfahrung lehrt — durch die Entwicklung der Dritten Welt insgesamt weit mehr Arbeitsplätze gewinnen als verlieren . . . Wir selbst sind in hohem Maße auf den Weltmarkt angewiesen. Ohne Außenhandel wäre es mit unserer Wohlfahrt schnell zu Ende."
Weniger spezifisch, aber doch deutlich äußerte sich Helmut Kohl im Plenum des Kongresses, wenn er alle politischen Kräfte und gesellschaftlichen Gruppen einlud, „mit uns zusammen über das von uns vorgeschlagene Konzept der internationalen sozialen Marktwirtschaft nachzudenken; und vor allem, sich mit uns einzusetzen für die strukturpolitischen Maßnahmen im Inland, die zur Verwirklichung einer marktwirtschaftlichen internationalen Ordnung erforderlich sind — und diese Maßnahmen mitzutragen".
Besonders drastisch hat wiederholt (außerhalb des Kirchenkongresses) Helmut Schmidt zu dem Problem Stellung genommen. Seiner Meinung nach wurde den Entwicklungsländern die Technologie doch wohl nicht in der Illusion geliefert, „daß sie daraus ein Museum für europäische Technologie machen ... Wir /haben doch wissen müssen, daß sie Technologie und Investitionen mit relativ billiger Arbeitskraft kombinieren würden"
Nicht weniger deutlich ist der Standpunkt Herbert Wehners, der sich nachdrücklich zur internationalen Arbeitsteilung bekennt, da sie viel mehr an Arbeitsplätzen geschaffen als vernichtet habe. Er zitiert Untersuchungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, wonach bis 1985 in den deutschen Verbrauchsgüterindustrien fast ein Fünftel der Beschäftigten Folge preiswerter Importe aus Entwicklungsländern ihre Arbeitsplätze verlieren wird. Aber er rechnet damit, daß die Entwicklungsländer durch ihre Industrialisierung zu interessanten Absatzmärkten für die alten Industriestaaten werden und daher durch ihre wachsende Aufnahmefähigkeit für hochwertige Erzeugnisse zur Arbeitsplatzsicherung in den Industriestaaten beitragen
Auch Rainer Offergeld, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, bekennt sich entschlossen zur Marktöffnung: „Auch wer annimmt, unsere -Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern schade uns, weil wir Konkurrenten von morgen aufbauen, der irrt. Unsere größten* Handelspartner sind die indu-strialisierten Länder, obwohl sie auch unsere schärfsten Konkurrenten sind. Je weiter also die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas entwickelt sind, desto mehr können sie zu beider Nutzen mit uns Handel treiben."
Auf dem Entwicklungspolitischen Kongreß der Kirchen zählte Offergeld die Frage der Marktöffnung zu den besonders „konfliktträchtigen“ Problemen und stellte die Forderung, „den offenen Markt bei uns auch dann zu verteidigen, wenn man vor der Betriebsversammlung eines betroffenen Unternehmens spricht".
Die Haltung der Unternehmer umriß der Präsident des Deutschen Industrie-und Handelstages, Otto Wolff von Amerongen, vor dem Plenum des Kongresses. Kernpunkt: „Es ist auch ein Gebot der Redlichkeit und Glaubwürdigkeit, daß man nach großen Erfolgen beim Export von Anlagen und Maschinen dann keine Maßnahmen gegen die damit hergestellten Produkte ergreift, wenn sie auf die Märkte der Industrieländer vordringen. Im übrigen halte ich die Furcht vor den Industriegütern Entwicklungsländern überzogen. für Gerade der inter-und intraindustrielle Austausch macht den wesentlichen Teil des Welthandels zwischen den industrialisierten Ländern aus."
VIII. Bereitschaft zum Strukturwandel
Marktöffnung ist gleichbedeutend mit ständigem Strukturwandel. Strukturwandel beinhaltet Verlust bestehender und Schaffung neuer Arbeitsplätze. Es bedarf keiner besonderen Phantasie, um sich der damit verbundenen — oft schweren — Opfer bewußt zu werden, die nicht nur von den Unternehmern, sondern vor allem von den Arbeitnehmern zu bringen sind. Die Versuchung könnte naheliegen, die Arbeitsplätze durch staatliche Interventionen zu erhalten. Aber (wie es Graf Lambsdorff einmal formuliert hat): „Auf längere Sicht wäre jedoch Konservierung eher kontraproduktiv. Trotz steigender Kosten würde der Schutz der Arbeitsplätze letztlich nicht gelingen."
Wie es in einem, im Januar 1979 vorgelegten Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats (Vorsitzender Prof. Hans K. Schneider) des Bundesministeriums für Wirtschaft über „Staatliche Interventionen in einer Marktwirtschaft" heißt, ist Strukturpolitik kein „Ziel an sich"
Vielmehr müsse sie der Ergänzung, erforderlichenfalls der Korrektur der marktwirtschaftlichen Steuerung dienen. Der Beirat warnt vor strukturpolitischen Sonderprogrammen und fordert, daß sich die Strukturpolitik den allgemeinen wirtschaftlichen Zielen unterzuordnen habe. Das Auftreten von Uberkapazitäten dürfe nicht fast automatisch eilige staatliche Ad-hoc-Strukturhilfen auslösen. Nach dem Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe" sei die Bereitschaft zu fördern, durch eigene Leistung zu bestehen. Der Wettbewerb dürfe auch in Krisenfällen nicht ausgeschaltet werden. Staatliche Eingriffe sollten sich daher an dem Ziel orientieren, den Anpassungsprozeß „sozial erträglich" zu gestalten, ihn aber nicht zu schnell ablaufen zu lassen. Die langfristig kostengünstigen Betriebe müßten erhalten bleiben.
Wie die internationalen Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte gezeigt haben, haben „vorsorgliche und nachträgliche Korrekturen" anzupassender Produktionsstrukturen in keinem System so reibungslos funktioniert wie in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung
Auf der bereits erwähnten Veranstaltung der SPD mit Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen am 1. Februar d. J. (siehe Fußnote) stellte Helmut Schmidt nicht in Abrede, daß Strukturschwierigkeiten bei Kohle und Stahl im Ruhrgebiet zu überdurchschnittlich hohen Arbeitslosenzahlen geführt haben. Schmidt warnte aber vor einer wachsenden Feindschaft gegen die Technik und vor einem allgemeinen Zivilisationspessimismus: „Wer menschengerechte Arbeitsplätze bei steigendem Lebensstandard will, muß wissen, daß dies alles ohne Technik und Forschung, Innovation und Fortschritt nicht geht." Für Schmidt sind die deutschen Erzeugnisse auf den Weltmärkten schon die teuersten, und sie müßten daher zumindest auch „die besten, die modernsten, die schnellsten und die zuverlässigsten sein".
In klarem Widerspruch dazu vertrat der DGB-Vorsitzende, Heinz O. Vetter, bei gleicher Gelegenheit die These, daß die Technik nicht länger allein unter der — am Gewinnstreben orientierten — Verfügungsgewalt der Arbeitgeber bleiben dürfe.
Von einem Konsens bezüglich all dieser — für das Problem der Marktöffnung relevanten — Probleme kann bis heute überhaupt noch nicht die Rede sein. Auch der Kongreß der Kirchen hat zu keinen wesentlichen Fortschritten in der Diskussion geführt. Er hat allenfalls bestätigt, daß den Gewerkschaften bezüglich der Probleme der Marktöffnung und der damit verbundenen Strukturmaßnahmen eine Schlüsselstellung zukommt.
In diesem Zusammenhang ist die bereits erwähnte Klausel in der Entwicklungscharta des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften vom Mai 1978 relevant, wonach die Anpassungs(sprich Restrukturierungs-) Politik „beschäftigungsorientiert" sein muß
Da die Herausforderung der Dritten Welt an die Industrieländer alle angeht, ist der Staat „auf das Verständnis, auf kritische Zustimmung, auf engagierte Unterstützung und die Opferbereitschaft der Bürger angewiesen"
IX. Agrarprotektionismus
Die Marktöffnung zugunsten der Entwicklungsländer auf dem Agrargebiet trifft auf noch weitaus größere Schwierigkeiten als die auf dem Industriesektor. Die Agrarpolitik gibt ein klassisches Beispiel für den spezifischen Konflikt zwischen den Interessen eines gesellschaftlichen Sektors und den Interessen der Gesamtgesellschaft bzw. zwischen Agrarpolitik und Entwicklungspolitik.
Wie die Welternährungsund Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) in ihrem neuesten einschlägigen Bericht feststellt
Die Spezialisten der FAO stellen resignierend fest, daß es schwer sei, die Tragweite der letzten Veränderungen protektionistischer Art „auch nur annähernd abzuschätzen", da die Definition des Begriffs Protektionismus wechselnden Interpretationen unterworfen ist, insbesondere soweit es sich um nicht-tarifäre Handelsbeschränkungen handelt. Die Maßnahmen werden laufend verändert und oft nicht veröffentlicht.
Ein Beispiel für einen hochperfektionierten Agrarprotektionismus liefert die EG. Zwar bekennt sie sich (ebenso wie ihre einzelnen Mit-
gliedstaaten) immer wieder mit Emphase zur Notwendigkeit der Entwicklungshilfe, aber auf dem Gebiet der Agrarpolitik wirken diese Deklamationen allenfalls wie Lippenbekenntnisse. Wenn Landwirtschaftsminister Josef Ertl auf der „Internationalen Grünen Woche" im Januar d. J. in Berlin einmal mehr die „oft gehörte Anschuldigung eines sogenannten deutschen oder EG-Agrarprotektionismus” als „absurd" zurückwies und von einer „weltoiienen und liberalen (!) Handelspolitik“ auf dem Agrargebiet sprach
Wie Hermann Priebe zutreffend feststellt, war das Marktordnungssystem der EG mit demGrundsatz des freien Warenverkehrs im EG-Raum zunächst ein gewisser Fortschritt gegenüber den früheren Agrarsystemen der einzelnen Mitgliedstaaten mit ihren vielfältigen, teilweise gegensätzlichen protektionistischen Maßnahmen
Daß die Aufrechterhaltung dieses Systems jährlich einen finanziellen Aufwand von mehr als 30 Milliarden DM erforderlich macht (wobei Lagerhaltung und Verschleuderung von Überschüssen einen nicht unwesentlichen Teil dieser Mittel beanspruchen), müssen sich europäische Entwicklungspolitiker immer wieder von den Entwicklungsländern entgegenhalten lassen.
Nüchtern stellte schon vor einigen Jahren Professor E. Buchholz in der Anlage zu einem Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten vom Sommer 1973 folgendes fest
Für die Sicherstellung eines ausreichenden Selbstversorgungsgrades für Grundnahrungsmittel in den Industrieländern haben auch die Entwicklungsländer Verständnis. Was sie mit Erbitterung zur Kenntnis nehmen, ist das Inkaufnehmen laufender, gewaltiger Überschußproduktionen. Die auch von Buchholz erwähnte Tatsache, daß die — mit hohen Subventionen — in den Weltmarkt gepumpten Überschüsse den Entwicklungsländern potentielle Märkte wegnehmen, ist ein besonders bedenklicher Aspekt einer falschen Agrarpolitik. Die Zuckerpolitik ist in krasses, aber nicht das einzige Beispiel in diesem Zusammenhang. Wie der „FAO-Commodity Review"
Das Argument von der Notwendigkeit der Sicherstellung eines gewissen Selbstversorgungsgrades bietet keine überzeugende Begründung dafür, daß es immer noch nicht gelungen ist, alle Einfuhrhemmnisse für tropische Erzeugnisse (und zwar als Rohstoffe und in verarbeiteter Form) völlig abzubauen. Besonders passen die in weitem Umfange fort-geltenden Restriktionen für die Einfuhr verarbeiteter Agrarerzeugnisse nicht in das Konzept einer „weltoffenen und liberalen Handelspolitik" (Ertl). Die von den Industrie-ländern bisher für verarbeitete Produkte gemachten handelspolitischen Zugeständnisse werden von den Entwicklungsländern mit Recht als völlig unzureichend und als eklatanter Beweis dafür gewertet, daß es bei den „Reichen" im Grunde immer noch am politischen Wille fehle, den „Armen" eine faire Chance zum Aufbau arbeitsintensiver und devisenbringender Industrien zu geben. In dem auf dem Godesberger Kongreß im Namen des Präsidenten des Deutschen Bauern-verbandes, Constantin Freiherr Heereman, verlesenen Referat
Heereman erweckt den Eindruck, als ob irgend jemand die „schrankenlose Liberalisierung" des Agrarhandels fordere und bezeichnet gegenüber diesem — von niemandem vertretenen — Petitum die „ausreichende Berücksichtigung der zwingenden Nebenbedingungen, der . politischen Unsicherheit'und der . faktischen Verhältnisse'" als unerläßlich. Er spricht von „pragmatischen, auf die konkrete Situation zugeschnittenen Lösungen", ohne freilich auch nur andeutungsweise zu sagen, wo etwaige Kompromißmöglichkeiten liegen könnten.
Der Bauernverband ist sich natürlich der Tatsache bewußt, daß der Agrarprotektionismus in seinem gegenwärtigen Ausmaß nicht den Interessen der Gesamtgesellschaft und den Forderungen der Entwicklungsländer entspricht und damit immer unhaltbarer wird. Man spielt aber weiter auf Zeitgewinn und bietet an, den mit den Kirchen begonnenen Dialog
Die Kirchen sollen an der Aufklärungsarbeit auf dem Lande mitwirken, um wenigstens eine „Politik der kleinen Schritte" treiben zu können („aus unserer Sicht der einzig richtige Weg").
Diese Haltung bedeutet praktisch, daß man für absehbare Zukunft nicht bereit ist, substantielle Zugeständnisse zu machen. Es erscheint hoffnungslos, von den Landwirten zu erwarten, daß sie einer weiteren Marktöffnung zustimmen. Die entscheidende Frage ist die, ob die anderen gesellschaftlichen Gruppen eine solche Taktik noch jahrelang hinnehmen werden. Es geht nicht um eine „schrankenlose Liberalisierung des Agrarhandels", vor der Heereman warnt, sondern um substantielle, entwicklungspolitisch wichtige Teilzugeständnisse. Die Gesamtgesellschaft muß diese — nötigenfalls gegen partikularistische Interessen — durchsetzen. Es ist freilich eine spannende Frage: „Was muß noch geschehen, damit in der Agrarpolitik etwas geschieht?"
In dem Arusha-Programm der „Gruppe der 77", welches auf einer Ministertagung im Februar zur Vorbereitung der fünften UNCTAD-Session (im Mai in Manila) beschlossen wurde, ist erneut die Eliminierung des Protektionismus bei Fertigwaren und Agrarprodukten als eine der wichtigsten Forderungen aufgestellt worden
X. Verschlechterung des Status quo?
Die Plädoyers für eine weitere Marktöffnung auf industriellem und landwirtschaftlichen Gebiet beinhalten selbstverständlich auch die These der Olfenhaltung der Märkte, d. h.der Erhaltung wenigstens des Status quo. Die insofern bestehenden ernsten Gefahren werden immer deutlicher. Eine Zeitungsüberschrift* „Die Grenzen werden dicht gemacht“
Der Godesberger Kongreß der beiden Kirchen hat dazu beigetragen, das Problem der Marktöffnung bzw. -Offenhaltung transparenter zu machen. Konkrete Fortschritte waren nicht erwartet und sind nicht erreicht worden. Es bleibt zu hoffen, daß der begonnene Dialog weitergeht. Die Entwicklungsund Handels-politiker dürfen freilich für die von ihnen zu treffenden Entscheidungen nicht auf die Ergebnisse dieses Dialogs warten. Die fünfte UNCTAD-Session im Mai d. J. in Manila wird sie auch mit dem Problem der Marktöffnung konfrontieren. Das Gesamtproblem hat in besonders kompakter Form der Präsident der Weltbank, Robert S. McNamara, im September 1978 auf der Weltbank-Jahrestagung in Washington umrissen