Mitbestimmung und Grundgesetz. Der Verfassungsstreit über das Mitbestimmungsgesetz 1976
Rüdiger Robert
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Zusammenfassung
Der Verfassungsstreit über das Mitbestimmungsgesetz 1976 war vorläufiger Höhe-und Endpunkt der seit Mitte der sechziger Jahre andauernden Auseinandersetzungen um die Ausweitung der Unternehmensmitbestimmung. Der Aufsatz skizziert die Entwicklung dieses Streites und kommentiert die wichtigsten Normen des Mitbestimmungsgesetzes von 1976. Die Kritik der Gewerkschaften und Arbeitgeber an diesem Gesetz wird aufgear-beitet. Im Anschluß daran werden die Verfassungsbeschwerden der Arbeitgebervereinigungen und Unternehmen gegen die erweiterte Mitbestimmung dargestellt und mit den Argumenten der Gewerkschaften konfrontiert. Es folgt eine Einschätzung der Verfassungsbeschwerden unter dem Gesichtspunkt ihrer Auswirkungen auf das politische Klima und sozio-ökonomische Kräfteverhältnis. Das Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 1979 wird in wesentlichen Punkten wiedergegeben und einer kritischen Würdigung unterzogen.
I. Vorbemerkung
Mitbestimmung ist eine Forderung unserer Zeit, eine Forderung, in der ähnlich wie im Demokratisierungsbegriff das Streben nach Veränderung der uns umgebenden gesellschaftlichen Realität in denkbar knappster Form seinen Niederschlag gefunden hat. Diese Einschätzung der Mitbestimmung verweist darauf, daß sie nicht Ausdruck sozialer Statik und Harmonie ist, wie es das Konzept der Sozialpartnerschaft vermuten läßt Mitbestimmung ist aber auch nicht bloßes Vehikel sozialistischer Umwälzungsvorstellungen, letztlich nur dazu geeignet, bei ausreichender Mobilisierung der Arbeitnehmerschaft als zeitlich befristetes Instrument zur Überwindung des Kapitalismus zu dienen Mitbestimmung ist vielmehr integraler Bestandteil eines stetig voranzutreibenden Prozesses des Ausbaus und der Festigung der Demokratie. Sie verändert und stabilisiert zugleich das Gesamtsystem. Mitbestimmung in der Wirtschaft spielt dabei eine wesentliche Rolle. Obwohl außerstande, allein eine grundlegende Umwälzung gesellschaftlicher Verhältnisse herbeizuführen, schränkt sie — sofern echte Mitbestimmung und nicht nur Mitwirkung vorliegt — die Machtbefugnisse der Kapitaleigner und ihres Managements ein und stärkt die Fähigkeit der Arbeitnehmer zur Selbstorganisation
Ausgehend von dieser Beurteilung der Mitbestimmung wird im folgenden die in den letzten Jahren festzustellende . Verrechtlichung'des Konflikts um die Ausweitung der Unternehmensmitbestimmung analysiert. Sie hat ihren bislang sichtbarsten und gravierendsten Ausdruck in den Verfassungsbeschwerden von 30 Arbeitgeberverbänden und 9 Unternehmen sowie in dem Widerstand der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz gegen das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer vom 4. 5. 1976 gefunden. Die entsprechenden Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht stehen im Mittelpunkt des vorliegenden Aufsatzes.
Inhalt I. Vorbemerkung II. Historische Aspekte des Verfassungsstreits III. Der Gegenstand des Verfassungsstreits: Das Mitbestimmungsgesetz 1976 IV. Die Kritik der Gewerkschaften, Arbeitgeber und Anteilseigner am Mitbestimmungsgesetz 1976 1. Die Kritik der Gewerkschaften 2. Die Kritik der Arbeitgeber und Anteilseigner V. Die Verfassungsbeschwerden der Arbeitgeberverbände und Unternehmen 1. Erarbeitung und Zeitpunkt der Verfassungsbeschwerden 2. Der Inhalt der Verfassungsbeschwerden 3. Die Begründung der Verfassungsbeschwerden e VI. Die Erwiderung der Gewerkschaften auf die Verfassungsbeschwerden VII. Verfassungsbeschwerden, politisches Klima und Kräfteverhältnis VIII. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1. Die Urteilsfindung 2. Der Urteilsspruch 3. Die Urteilsbegründung IX. Bilanz des Verfassungsstreits über das Mitbestimmungsgesetz 1976
II. Historische Aspekte des Verfassungsstreits
Abbildung 2
Schaubild 2:
Quelle: DGB -Bundesvorstand (Hrsg), Gewerkschaften und Mitbestimmung, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1977, S. 372
Schaubild 2:
Quelle: DGB -Bundesvorstand (Hrsg), Gewerkschaften und Mitbestimmung, Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1977, S. 372
Der Gang — vornehmlich der Arbeitgeber — nach Karlsruhe ist kein historischer Zufall. Er ist im Gegenteil Ausdruck einer bestimmten Phase der Auseinandersetzungen um die Mitbestimmung im westlichen Nachkriegsdeutschland.
In den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des . Dritten Reiches" bestand ein breiter Konsens zwischen den Parteien, aber auch in der Bevölkerung über die Notwendigkeit von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften auf allen Ebenen der Wirtschaft, insbesondere auch in den Unternehmensorganen. Selbst Vertreter der Großkonzerne erklärten, sich den . Forderungen einer neuen Zeit nicht verschließen zu wollen. Angesichts drohender Demontagen und weitgehend ungesicherter Eigentumsverhältnisse stimmten sie der Einführung der paritätischen Mitbestimmung in der Eisenund Stahlindustrie zu. Sie kam auf dem Wege von Betriebsvereinbarungen zustande. Ursächlich für diesen Fortschritt in der Mitbestimmungsfrage war die Position der Schwäche, in der sich die Kapitalseite nach dem Zweiten Weltkrieg befand. Diese Schwäche war derart groß, daß sich zunächst kein Raum für eine mit rechtlichen Argumenten geführte Mitbestimmungsdebatte bot. Das galt insbesondere für einen verfassungsrechtlichen Disput über die Mitbestimmung. Die dazu notwendige Voraussetzung wurde zudem erst mit der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahre 1949 geschaffen.
Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland geriet die Mitbestimmungsforderung in die Defensive. Auf der Zielebene trat an die Stelle des Strebens nach einer demokratisch-sozialistischen Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung das neoliberal geprägte, der Mitbestimmung distanziert gegenüberstehende Leitbild der . sozialen Marktwirtschaft". Auf politisch-institutioneller Ebene gelang es den bürgerlichen Parteien unter Führung der CDU/CSU, 1949 die erste westdeutsche Nachkriegsregierung zu bilden. Zugleich erfolgte ein allmähliches Wiedererstarken der Unternehmerverbände. Die endgültige Wende zur Restauration mündete Anfang der fünfziger Jahre in eine offene Konfrontation zwischen Kapital und Arbeit über die Mitbestimmung.
Das Montanmitbestimmungsgesetz von 1951 bestätigte gleichwohl die paritätische Besetzung der Aufsichtsräte sowie die Wahl von Arbeitsdirektoren in die Vorstände der Eisen und Stahl erzeugenden Industrie. Darüber hinaus wurde diese Regelung auf die Unternehmen des Bergbaus ausgedehnt. Der Gefahr, die der Montanmitbestimmung durch die Bildung weder Kohle noch Stahl produzierender Konzernobergesellschaften drohte, wurde mit der Verabschiedung des Mitbestimmungsergänzungsgesetzes 1956 entgegengewirkt. Während im Montanbereich der mitbestimmungspolitische Status quo Anfang der fünfziger Jahre verteidigt werden konnte, setzten sich mit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 diejenigen gesellschaftlichen Kräfte durch, die die Mitbestimmung auf systemkonforme Mitwirkung zu reduzieren suchten. Sie erzwangen für den nicht-montanmitbestimmten Bereich der Wirtschaft die drittelparitätische Besetzung des Aufsichtsrates — zwei Drittel Kapitaleignervertreter, ein Drittel Arbeitnehmervertreter. Ferner erwirkten sie bei der Neuregelung der betrieblichen Mitbestimmung ganz im Sinne von Partnerschaftsvorstellungen die gesetzliche Verankerung der Grundsätze der . vertrauensvollen Zusammenarbeit" und der . Friedenspflicht" für Betriebsrat und Arbeitgeber.
Juristische Argumente spielten bei der Auseinandersetzung um die gesetzliche Fixierung der Mitbestimmung in der Konsolidierungsphase der Bundesrepublik nur eine untergeordnete Rolle. Die Frage nach einem möglichen Gegensatz von Mitbestimmung und Tarifautonomie wurde noch kaum aufgeworfen.
Diskutiert wurde hingegen die Frage nach der Vereinbarkeit der Montanmitbestimmung mit den Artikeln 14 und 15 des Grundgesetzes.
Der Bundestagsausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht kam anläßlich der Beratung des Mitbestimmungsergänzungsgesetzes 1955 jedoch zu dem Schluß, daß weder eine Vergesellschaftung im Sinne des Art. 15 GG noch eine entschädigungspflichtige Enteignung im Sinne des Art. 14 Abs. 3 GG vorliege Die breite Zustimmung, die diese Auffassung fand, erklärt, weshalb es seinerzeit nicht zu einem Verfassungskonflikt über die Mitbestimmung kam. Im übrigen konnte die Kapitalseite aufgrund der Rückgewinnung gesellschaftlicher Machtpositionen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre auch ohne einen solchen Konflikt ein für sie zufriedenstellendes , mitbestimmungspolitisches Containment'erzwingen. Der Phase der gesetzlichen Verankerung der Mitbestimmung bis 1956 folgte eine lange Phase der mitbestimmungspolitischen Stagnation. In ihr hatte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DBG) keine Chance, seine Forderungen zur Mitbestimmung „.. . gegenüber dem mächtigen Bündnis von Industrie, Regierung Adenauer und Mehrheit von CDU/CSU und FDP in Bundestag und Bundesrat" durchzusetzen. Die Hoffnung auf . Wohlstand für alle'und die Illusion von der Existenz einer . nivellierten Mittelstandsgesellschaft'ließen für eine Demokratisierung der Wirtschaft keinen Spielraum. Juristische Expertisen und Argumente für und wider die Mitbestimmung waren daher überflüssig und unterblieben.
Unter dem Druck des unübersehbaren Erfolges der . sozialen Marktwirtschaft'vollzog der DGB 1963 eine programmatische Neuorientierung. Der Gedanke an eine ordnungspolitische Gesamtalternative zur Marktwirtschaft wurde aufgegeben. An seine Stelle trat das Streben nach einer evolutionären Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Ziel, .. alle Bürger an der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Willensbildung gleichberechtigt teilnehmen zu lassen" Im Rahmen dieser Konzeption wurde und wird die Mitbestimmung weniger als Instrument denn als Eigenwert gesehen. Ihre Verwirklichung — vor allem in Form der paritätischen Mitbestimmung auf Unternehmensebene — gilt als unverzichtbarer Beitrag sowohl zum Aufbau einer gerechteren Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung als auch zur Festigung des demokratischen Rechtsstaates. Mitte der sechziger Jahre führten das Ende des vielfach als Wunder betrachteten Höhen-fluges der . sozialen Marktwirtschaft', die allgemeine Bildungsmisere, die Notstandsgesetzgebung und der Vietnam-Krieg zu einem Wiederaufleben systemkritischer, auf gesamtgesellschaftliche Demokratisierung drängender Kräfte. Damit gewann die Forderung nach Mitbestimmung erneut an Aktualität.
Auf einer Großkundgebung in Dortmund gin-gen die Gewerkschaften 1965 zur mitbestimmungspolitischen Offensive über. 1968 legten sie den Entwurf eines . Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Großunternehmen und Großkonzernen'vor. Die Große Koalition, 1t. Kaltefleiter das . Kartell der Al-ternativlosigkeit reagierte darauf lediglich mit der Verabschiedung eines weiteren Gesetzes zur Sicherung der Montanmitbestimmung, der sog. Lex Rheinstahl, und der Bil-dung der sog. Biedenkopf-Kommission. Sie erhielt den Auftrag, die bisherigen Erfahrungen mit der Mitbestimmung auszuwerten. Die schleppende Behandlung des Mitbestimmungsproblems durch die Regierung Kiesinger hatte zur Folge, daß es zur vollen mitbestimmungspolitischen Konfrontation zwischen Kapital und Arbeit erst mit der Bildung der sozial-liberalen Koalition 1969 kam. Sie schuf eine gesellschaftliche Situation, in der die Arbeitgeberverbände keine Möglichkeit mehr sahen, eine Ausweitung der Mitbestimmung auf Unternehmensebene zu verhindern. Dennoch ließ das entsprechende . Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer'— u. a. wegen koalitionsinterner Meinungsverschiedenheiten — bis 1976 auf sich warten.
Die rechtlichen Vorbehalte gegen die geplante Ausweitung der Unternehmensmitbestimmung nahmen parallel zur Verschärfung des Mitbestimmungskonfliktes zu. Seit Ende der sechziger Jahre bestimmte der Streit über die Vereinbarkeit der paritätischen Mitbestimmung mit dem Grundgesetz in erheblichem Maße die mitbestimmungspolitische Diskussion. Mehr und mehr kam es zu einer . Verrechtlichung'der Auseinandersetzungen um die Verwirklichung des Grundsatzes der . Gleichberechtigung und Gleichgewichtigkeit von Arbeitnehmern und Anteilseignern in Großunternehmen. Angezweifelt wurde insbesondere die Vereinarkeit der paritätischen Mitbestimmung mit ier Eigentumsgarantie sowie mit der Koali-ionsfreiheit und Tarifautonomie des Grundjesetzes. Verschiedene — zumeist bestellte — Gutachten bestätigten die von Arbeitgebersei-e vorgebrachten verfassungsrechtlichen Belenken Die Bundesregierung sah sich darlufhin veranlaßt, ihrerseits Gutachter zu beiteilen um den im Februar 1974 von ihr rerabschiedeten Gesetzentwurf zur Mitbeitimmung auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen zu lassen. Im Dezember 1974 befaßte ich auch der Bundestagsausschuß für Arbeit rnd Soziales im Rahmen einer ganztägigen Anhörung von Sachverständigen mit der Fra-je der Vereinbarkeit der vorgesehenen Neure-jelung der Unternehmensmitbestimmung mit lern Grundgesetz. Nicht zuletzt aufgrund die-ses Hearings erfolgte eine Überarbeitung des Regierungsentwurfs. Die rechtlichen, auf eine Xbschwächung der Mitbestimmung zielenden Erwägungen der Arbeitgeber fanden hierbei in erheblichem Umfang Berücksichtigung.
Trotz der vehement geführten juristischen Kampagne vermochte die Kapitalseite aber eine Ausweitung der Unternehmensmitbestimmung nicht zu verhindern. Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 wurde im Gegenteil einvernehmlich von allen drei im Bundestag vertretenen Fraktionen verabschiedet. Obwohl die Arbeitgeberverbände besser organisiert waren als in den fünfziger Jahren, von juristischer Seite maßgeblich unterstützt wurden und sich im Aufwind einer allgemeinen Reformmüdigkeit befanden, sahen sie sich erstmals seit mehr als zwanzig Jahren in der Mitbestimmungsfrage spürbar in die Defensive gedrängt. Vor diesem Hintergrund muß der Gang der Kapitalseite zum Bundesverfassungsgericht nach Karlsruhe als ein Versuch gesehen und beurteilt werden, das mitbestimmungspolitische Gesetz des Handelns wieder in den Griff zu bekommen.
III. Der Gegenstand des Verfassungsstreits: Das Mitbestimmungsgesetz 1976
Abbildung 3
Schaubild 3:
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Auf dem Weg in den Gewerkschaftsstaat?, 2. überarb. und erg. Auflage, Köln 1974, S. 88
Schaubild 3:
Quelle: Institut der deutschen Wirtschaft (Hrsg.), Auf dem Weg in den Gewerkschaftsstaat?, 2. überarb. und erg. Auflage, Köln 1974, S. 88
Jas . Gesetz über die Mitbestimmung der Ar-
eitnehmer von 1976 enthält im wesentlichen olgende Bestimmungen:
— Erfaßt werden Unternehmen mit eigener Rechtspersönlichkeit, die in der Regel mehr ils 2 000 Arbeitnehmer beschäftigen. Ausgelommen sind sog. Tendenzunternehmen, z. B. iie Massenmedien. Die Montanmitbestim-nung wird von der neuen gesetzlichen Rege-ung nicht berührt. Für Unternehmen und Konzerne, die weniger als 2 000 Arbeitnehmer geschäftigen, gilt die drittelparitätische Besetung des Aufsichtsrats nach dem Betriebsverassungsgesetz fort.
— Der Aufsichtsrat setzt sich aus der glei-chen Anzahl von Anteilseignerwie Arbeit-
ehmervertretern zusammen. Die Arbeitneh-nerbank wird je nach Größe des Aufsichtsrats mit unternehmensangehörigen Arbeitneh-nervertretern und Vertretern von Gewerkschaften im Verhältnis von 4: 2, 6: 2 oder 2 : 3 besetzt. Die Sitze der unternehmensangehörigen Arbeitnehmervertreter werden auf Arbeiter, Angestellte und leitende Angestellte entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbelegschaft verteilt. Dem Aufsichtsrat müssen mindestens ein Arbeiter, ein Angestellter und ein leitender Angestellter angehören. — Die Wahl der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer erfolgt durch Urwahl oder durch Wahlmänner. Es gelten die Grundsätze der Verhältniswahl. Bei der Urwahl wählen die Arbeiter und die Angestellten — letztere unter Einbeziehung der leitenden Angestellten — jeweils getrennt die auf sie entfallenden unternehmensangehörigen Aufsichtsratsmitglieder. Die Gewerkschaftsvertreter werden gemeinsam gewählt. Bei der Wahl der Aufsichtsratsmitglieder durch Wahlmänner werden zunächst die Wahlmänner in getrennten Wahlgängen von Arbeitern und Angestellten gewählt. Die leitenden Angestellten nehmen an den Wahlen innerhalb der Angestelltengruppe teil. Die Wahlmänner wählen sodann die unternehmensangehörigen Aufsichtsratsmitglieder und die Gewerkschaftsvertreter nach den gleichen Regeln wie bei der Urwahl.
— Der Aufsichtsratsvorsitzende und sein Stellvertreter werden von den Aufsichtsratsmitgliedern mit Zwei-Drittel-Mehrheit ge-wählt. Wird die Zwei-Drittel-Mehrheit nicht erreicht, so wählen die Aufsichtsratsmitglieder der Anteilseigner den Aufsichtsratsvorsitzenden und die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer den Stellvertreter jeweils mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen.
Um Pattsituationen zwischen den zahlenmäßig gleich starken Aufsichtsratsbänken der Anteilseigner und der Arbeitnehmer aufzulösen, erhält der Aufsichtsratsvorsitzende den Stichentscheid, wenn sich auch bei erneuter Abstimmung über denselben Gegenstand Stimmengleichheit ergibt.
— Der Aufsichtsrat bestellt die Mitglieder des Vorstands mit einer Mehrheit von zwei Dritteln. Kommt die Zwei-Drittel-Mehrheit nicht zustande, wird ein Vermittlungsausschuß eingeschaltet, dem der Aufsichtsratsvorsitzende, sein Stellvertreter und je ein weiterer Vertreter der Arbeitnehmer und der Anteilseigner angehören. Der Ausschuß hat dem Aufsichtsrat einen Vorschlag für die Bestellung zu unterbreiten, über den Vorschlag, der andere Vorschläge nicht ausschließt, beschließt der Aufsichtsrat mit der Mehrheit der Stimmen seiner Mitglieder. Wird auch diese Mehrheit nicht erreicht, so hat bei einer erneuten Abstimmung der Aufsichtsratsvorsitzende den Stichentscheid.
Als gleichberechtiges Mitglied des Vorstands wird ein Arbeitsdirektor bestellt. Die Regelung ist der des Mitbestimmungsergänzungsgesetzes von 1956 nachgebildet. Die Bestellung und Abberufung des Arbeitsdirektors ist nicht an die Zustimmung der Mehrheit der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat gebunden.
IV. Die Kritik der Gewerkschaften, Arbeitgeber und Anteilseigner am Mitbestimmungsgesetz 1976
1. Die Kritik der Gewerkschaften Für den DGB war das Ergebnis der jahrelangen Bemühungen um eine Ausweitung der Unternehmensmitbestimmung zwiespältig. Auf der einen Seite hat Heinz Oskar Vetter von einem weiteren Schritt . in der langen und mühevollen Auseinandersetzung um die volle Gleichberechtigung der Arbeitnehmer im Wirtschaftsleben" gesprochen, auf der anderen Seite haben die Gewerkschaften wiederholt hervorgehoben, daß das Mitbestimmungsgesetz von 1976 allzusehr am gesellschaftlichen Status quo orientiert ist. Ein verfassungsrechtliches Problem hat der DGB in der neuen gesetzlichen Regelung zunächst nicht zu erkennen vermocht.
Positive Ansätze im Mitbestimmungsgesetz von 1976 sehen die Gewerkschaften
— in der Effektivierung der Interessenvertretung der Arbeitnehmer durch vermehrten Einfluß auf die Bestellung von Vorstandsmitgliedern, — in der verstärkten Aufsichtsratsrepräsentanz der Gewerkschaften. Die Folge werde eine größere Unabhängigkeit und Verhandlungsstärke der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat sein, — in Veränderungen im Vorfeld der Unternehmensorgane. Dadurch werde es zu einer Intensivierung der Beziehungen zwischen dem Vorstand einerseits und den Betriebsräten und den Gewerkschaften andererseits kommen.
Bemängelt hat der DGB an dem Mitbestimmungsgesetz von 1976, daß es keineswegs die geforderte und von der Regierung in Aussicht gestellte gleichberechtigte und gleichgewichtige Mitbestimmung gewährleistet. Nach Meinung des DGB bietet es nur . beschränkte Lösungsmöglichkeiten für Probleme wie Sicherheit der Beschäftigung, Schutz vor gesundheitlichem Verschleiß, mehr Gerechtig-keit bei Lohn und Leistung, soziale Kontrolle von Rationalisierungen"
Insbesondere kritisieren die Gewerkschaften
— die Sondervertretung der leitenden Angestellten. Sie unterlaufe die Parität und drohe zu einem Kristallisationskern für eine neue Spaltung innerhalb der Arbeitnehmerschaft zu werden, — den Stichentscheid des Aufsichtsratsvorsitzenden. Er dokumentiere in besonders augenfälliger Weise, daß der Letztentscheid der Anteilseignerseite . durch einen ganzen Festungsgürtel von gesetzlichen Vorkehrungen abgesichert'sei, — das Wahlverfahren. Es knüpfe mit der Festschreibung der Verhältniswahl nicht an wesentliche Errungenschaften der Gewerkschaftsbewegung wie das Prinzip der Industriegewerkschaft und der Einheitsgewerkschaft an, sondern begünstige Entsolidarisierungstendenzen und Minderheitsgruppen.
Die unverkennbare Distanz, mit der die Gewerkschaften dem neuen Mitbestimmungsgesetz gegenüberstehen, hat sie zu einer doppelten Konsequenz veranlaßt.
Zum einen setzen sie sich für die volle, wenn auch illusionslose Ausschöpfung der erweiterten Mitbestimmungsregelungen ein. Zu diesem Zweck haben sie in den vergangenen Jahren die Schulung von Mitarbeitern und Kollegen vorangetrieben, Einfluß auf die erst 1977 von der Bundesregierung verabschiedete Wahlordnung zum Mitbestimmungsgesetz genommen, sich nachhaltig gegen eine Stärkung der Position der Gruppe der leitenden Angestellten in den Unternehmen gewandt und eine dominierende Stellung bei den ersten Aufsichtsratswahlen nach dem neuen Gesetz angestrebt und erreicht. So haben in den Mitgliedsgewerkschaften des DGB organisierte Kandidaten in 457 Unternehmen von insgesamt 2 747 Sitzen für Arbeitnehmervertreter (ohne leitende Angestellte) 2 361 Sitze erhalten. Das sind ca. 86 v. H.
Zum anderen fordern die Gewerkschaften nach wie vor die gesetzliche Verankerung der paritätischen Mitbestimmung. Sie gilt ihnen unverändert als ein Eigenwert, der seine Rechtfertigung aus der Idee der Verwirklichung elementarer Verfassungsprinzipien erhält, als ein Eigenwert, der dem Wesen des demokratischen und sozialen Rechtsstaats entspricht. Verwirklicht wissen will der DGB die paritätische Mitbestimmung auch künftig in Form des von ihm vorgelegten und bereits erwähnten Gesetzentwurfs aus dem Jahre 1968. Der Entwurf lehnt sich eng an das Modell der Montanmitbestimmung an.
2. Die Kritik der Arbeitgeber und Anteils-eigner Arbeitgeber und Kapitaleigner beanspruchen wie die Gewerkschaften für sich, Befürworter der Mitbestimmung zu sein. Allerdings geht es ihnen dabei nicht um den Aufbau einer Gegenmachtposition, wie sie der DGB anstrebt, sondern um eine Integration der Arbeitnehmerschaft in das bestehende System und damit eine Festigung ihrer Machtposition in Wirtschaft und Gesellschaft. Die Kapitalseite hält deshalb eine drittelparitätische Besetzung des Aufsichtsrates letztlich für ausreichend. Sie tut dies um so mehr, als sie der Auffassung ist, daß auch ohne die von den Gewerkschaften geforderte Parität die vielbeschworene . Gleichberechtigung und Gleichgewichtigkeit von Kapital und Arbeit'in der Bundesrepublik verwirklicht ist. Zum Beweis werden u. a. das Betriebsverfassungsrecht, die Tarifautonomie und das Streikrecht, das Arbeitsrecht, das System der sozialen Sicherung, die Gewerkschaftsunternehmen sowie der Gewerkschaftseinfluß in der Politik angeführt Es liegt in der Konsequenz dieser Argumentationsweise, daß Arbeitgeber und Anteilseigner das Mitbestimmungsgesetz von 1976 ablehnen. Nach Auffassung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) können die vorgenommenen Abstriche von der Parität die geltend gemachten Einwände wohl abmildern, in ihrer Substanz aber nicht entkräften. Unter institutionellen Gesichtspunkten bringe das neue Gesetz keine ausreichende und zufallssichere Absicherung des Letztentscheidungsrechts des Eigentums. In ordnungspolitischer Hinsicht bewirke es eine nachhaltige Verschiebung des bestehenden Kräftegleichgewichts zugunsten der Gewerkschaften. In funktionaler Hinsicht sei die Entscheidungsfähigkeit der Unternehmen belastet, weil das Übergewicht des Eigentums erst in zweiter Instanz — nämlich bei der Auflösung von Pattsituationen — zum Zuge komme
Stimmungsgesetz als ein vom Bundestag ordnungsgemäß beschlossenes und daher gültiges Gesetz anzuwenden. Das schließt nicht aus, daß eine Reihe von Unternehmen sich durch Änderung der Rechtsform, Ausgliederung von Unternehmensteilen oder Sitzverlegung ins Ausland der Anwendung der neuen gesetzlichen Bestimmungen entzogen hat. Auch sind zahlreiche Satzungen mit dem Ziel geändert worden, die Rechte des Aufsichts-Aus dieser Kritik des Mitbestimmungsgesetzes haben Arbeitgeber und Anteilseigner ähnlich wie die Gewerkschaften eine doppelte Konsequenz gezogen — nur mit umgekehrtem Vorzeichen.
Auf der einen Seite haben sie sich der Notwendigkeit nicht verschlossen, das Mitberats und damit den Einfluß der Arbeitnehmer zu begrenzen
Auf der anderen Seite haben Arbeitgeber und Kapitaleigner den Kampf um die Zurücknahme der politisch gewollten Erweiterung der Mitbestimmung mit rechtlichen Mitteln aufgenommen. Zwei Wege sind dabei beschritten worden. Erstens hat die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz einen Vorlagebeschluß des Landgerichts Hamburg erwirkt, welches das Mitbestimmungsgesetz 1976 in Teilen für verfassungswidrig hielt und demgemäß das Bundesverfassungsgericht angerufen hat. Zugleich hat die Schutzvereinigung Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf eingereicht, in dem die neue Mitbestimmungsregelung für grundgesetzkonform erklärt wurde. Zweitens hat die BDA die aus ihrer Sicht bestel verfassungsrechtlichen Bedenken gege Mitbestimmungsgesetz 1976 auf ihr Standsfestigkeit geprüft und als Ergebn ser Prüfung 30 Arbeitgeberverbände Unternehmen zu getrennten Verfassu schwerden veranlaßt. Diese am 29. 6 eingereichten Verfassungsbeschwerdei hen im Mittelpunkt der nachfolgender führungen.
V. Die Verfassungsbeschwerden der Arbeitgeberverbände und Unternehmen
1. Erarbeitung und Zeitpunkt der Verfassungsbeschwerden
Die Verfassungsbeschwerden der Arbeitgeberverbände und Unternehmen sind nur wenige Stunden vor Ablauf der gesetzlich festgelegten Frist beim Bundesverfassungsgericht eingereicht worden, d. h. knapp ein Jahr nach dem Inkrafttreten des Mitbestimmungsgesetzes. Die Wahl des Zeitpunktes ist von den Gewerkschaften als ein besonderer Affront empfunden worden, da sie Mitte 1977 eigentlich ihre Beziehungen zur Gegenseite hatten vertiefen wollen, um gemeinsam mit ihr nach Lösungen für die Probleme am Arbeitsmarkt zu suchen. Die BDA hat jedoch überzeugend dargelegt, daß dem Zeitpunkt der Einreichung der Verfassungsbeschwerden kein spezielles politisches Motiv zugrunde gelegen hat Eine abschließende Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des neuen Mitbestimmungsgesetzes konnte in der Tat erst nach dessen Fertigstellung, d. h. nach dessen Verabschiedung, in Angriff genommen werden. Die Anfertigung des zu diesem Zweck bei den Professoren Peter Badura (München), Fritz Rittner (München) und Bernd Rüthers (Konstanz) in Auftrag gegebenen und recht umfangreichen Gutachtens erforderte erhebliche Zeit. Das war insofern von Bedeutung, als wiederum erst aufgrund der Auswertung dieses Gutachtens die Verfassungsbeschwerdeschriften aufgesetzt werden konnten. Zugleich mußte die politische Zweckmäßigkeit der Mitbestimmungsklagen geprüft werden. Darüber bestand zunächst kein restloses Einvernehmen bei den Arbeitgebern Schließlich war es er lieh, die Verfassungsbeschwerden in zeitaufwendigen Verfahren mit den inst 39 Beschwerdeführern abzustimmen, el Klagen eingereicht werden konnten. 2. Der Inhalt der Verfassungsbeschwer Der verfassungsjuristische Angriff gege Mitbestimmungsgesetz 1976 ist vom her dadurch gekennzeichnet, daß er alle graphen als grundgesetzwidrig bezeichn für die Mitbestimmung wesentlich sine reine Organisationsvorschriften bleiben rührt. In Frage gestellt werden im ein: die Vorschriften über — den Geltungsbereich des Gesetzes, — die Zusammensetzung des Aufsicht; — die Wahl des Aufsichtsratsvorsitz und seines Stellvertreters, — die Beschlußfassung des Aufsichtsrat — die Bestellung und Abberufung vor gliedern der Geschäftsleitung und — die Bestellung des Arbeitsdirektors. Die entsprechenden Vorschriften ver nach Ansicht der Beschwerdeführer — die Arbeitgeberverbände in ihrem C recht auf freie Koalitionsbildung un deren gegnerfreie und -unabhängige keit (Art. 9 Abs. 3 GG), — die Unternehmen in ihren Grundre aus ihrem Eigentum (Art. 14 Abs. 1 ihrer Vereinigungsfreiheit (Art. 9 A GG), ihrer Berufsfreiheit (Art. 12 A GG), ihrer wirtschaftlichen Handlung heit (Art. 2 Abs. 1 GG) und ihrer 1 tionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG). Die Beschwerdeführer haben deshalb beim Bundesverfassungsgericht beantragt, das Mitbestimmungsgesetz in seinen wesentlichen Regelungen für mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig zu erklären. Hilfsweise ha-ben sie das Bundesverfassungsgericht ersucht festzustellen, . ob und gegebenenfalls in welcher Auslegung die Vorschrift des § 33 MitbestG über die Bestellung eines Arbeitsdirektors mit dem Grundgesetz vereinbar ist".
3. Die Begründung der Verfassungsbeschwerden Unter der Überschrift . Dokument des Wider-stands' hat der Präsident der BDA, Otto Esser, die Verfassungsbeschwerden als die allerletzte Chance bezeichnet, eine ordnungspolitisch verhängnisvolle Entwicklung zu stoppen Bernd Rüthers hat diese Auffassung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausführlich begründet Er geht davon aus, daß . starke staatsfreie und gegnerunabhängige Gewerkschaften' ein sozialer Eckstein für eine pluralistische, freiheitlich-demokratische Staatsverfassung sind. Gewerkschaften in diesem Sin-ne, integrationspflichtig und auf die Wahrnehmung ihrer Rolle als Tarifträger fixiert, hält er in der Bundesrepublik für gegeben. Mit dem neuen Mitbestimmungsgesetz werde aber ein Funktionswandel, eine neue Epoche der Gewerkschaften eingeleitet. Ihr politischer und theoretischer Standort, ihre Aufgaben, ihr Selbstverständnis, ihre Konfliktfähigkeit und ihre gegnerischen Fronten und Positionen würden neu bestimmt. Die Folge werde eine Entfremdung der Gewerkschaften von ihrer eigentlichen Aufgabe sein, für die soziale Sicherung der Arbeitnehmer zu sorgen. Letztlich werde es zu einer Veränderung des gesamtgesellschaftlichen Kräftegleichgewichts kommen. Die parlamentarische Demokratie drohe überrollt zu werden. Die Ausführungen Rüthers gehen nicht nur von einem einseitigen, angelsächsischem Den-ken entlehnten Gewerkschaftsverständnis aus, sie unterstellen auch die von der Pluralismustheorie postulierte Gleichgewichtslage der Gesellschaft als existent. Darüber hinaus wird diese Gleichgewichtslage zum von der Verfassung bezweckten Ideal erklärt. Jede Abweichung vom gesellschaftlichen Status quo wird so zur Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das gilt auch für das Mitbestimmungsgesetz 1976.
In der juristischen Fachsprache liest sich die Begründung für die Verfassungsbeschwerden freilich anders: . nüchterner'und . differenzierter'.
Badura, Rittner und Rüthers kommen in ihrem Gutachten, das den Verfassungsbeschwerden beigefügt ist, zu dem Ergebnis, das Mitbestimmungsgesetz unterstelle alle betroffenen Gesellschaften einer grundgesetzwidrigen Defacto-Parität im Aufsichtsrat. Zudem enthalte auch das Betriebsverfassungsgesetz 1972 Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats in unternehmerischen Angelegenheiten, die qualitativ und funktional als Erscheinungsformen der paritätischen Mitbestimmung anzusehen seien. Von daher sei sogar ein Übergewicht der Arbeitnehmerseite gegeben
Die Klage der Arbeitgeberverbände stellt vor allem auf die Behauptung der Minderung bzw. Beseitigung der Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie ab. Durch die Parität im Aufsichtsrat würden die Mitglieder der Geschäftsleitung in ihrer persönlichen Stellung von Arbeitnehmern und Gewerkschaften abhängig. Das müsse sich auf die Willensbildung in den Arbeitgebervereinigungen auswirken, zumal die mitbestimmten Unternehmen dort besonders großen Einfluß hätten. Die Arbeitgebervereinigungen könnten deshalb nicht länger frei vom Einfluß der Arbeitnehmerseite agieren. Zusätzlich werde die Lage durch die Ungewißheit erschwert, wie die Vorschrift über den Arbeitsdirektor zu handhaben sei.
Die beschwerdeführenden Unternehmen legen in ihrer Klage den Akzent auf die Behauptung, der Eingriff des Gesetzgebers in die Willensbildung der Unternehmen verletze sie in ihrem Grundrecht auf Eigentum und in ihrer Vereinigungsfreiheit. So stelle die in Form der Parität institutionalisierte Kooperation von Kapital und Arbeit eine verfassungswidrige , Organverfremdung'dar. Auf die geltende eigentumsund gesellschaftsrechtliche Ordnung der großen Unternehmen werde ein unzulässiges , Quasi-Anstalts-Statut'aufgepfropft. überdies werde die Funktionsfähigkeit der Unternehmen in einer Weise gefährdet, die dem Grundgesetz widerspreche, sei doch im paritätisch besetzten Aufsichtsrat eine Polarisierung und damit ein Entscheidungspatt zwischen den Vertretern der Anteilseignerseite und den Vertretern der Arbeitnehmerseite zu befürchten. Insgesamt sei der Eingriff des Gesetzgebers in die Struktur der Unternehmen derart groß, daß das gesamte unternehmerische Handeln erfaßt werde und von daher auch ein Verstoß gegen die Gewerbe-und Unternehmerfreiheit, die allgemeine wirtschaftliche Handlungsfreiheit sowie das Koalitionsrecht vorliege.
Nach übereinstimmender Auffassung aller 39 Beschwerdeführer läuft das Mitbestimmungs-gesetz 1976 auf eine gesellschaftspolitische Neuordnung der Wirtschaftsund Arbeitsverfassung’ hinaus, die sich mit den Grundsätzen und Richtlinien der Verfassung nicht in Einklang bringen läßt. Nicht zuletzt stelle sie das . verfassungsstaatliche Grundverhältnis staatlicher Beeinflussung und Kontrolle wirtschaftlicher Tätigkeit und wirtschaftlicher Macht in Frage'. Zugleich wird betont, das Grundgesetz sei nicht in dem Sinne . neutral", daß es die Grundlagen der Wirtschaftsverfassung einer sachlich ungebundenen Entscheidung des Gesetzgebers überlassen hätte. Das Vorliegen einer derartigen Entscheidung glauben die Beschwerdeführer aber mit Badura, Rittner und Rüthers konstatieren zu müssen. Es kann daher nicht verwundern, daß sie das neue Mitbestimmungsgesetz auch als eine Verfassungsänderung ohne verfassungsänderndes Gesetz bezeichnet haben
VI. Die Erwiderung der Gewerkschaften auf die Verfassungsbeschwerden
Der DGB hat in seiner Erwiderung auf die Verfassungsbeschwerden die unterschiedlichen Stoßrichtungen gegeißelt, die sich nach seiner Meinung hinter der ordnungspolitisch geführten Argumentation der Kapitalseite gegen das Mitbestimmungsgesetz verbergen. Die Gewerkschaften sehen in den Verfassungsbeschwerden nicht nur einen Angriff gegen ihre Position und ihr Selbstverständnis, sondern auch einen Angriff gegen jede Form wirksamer Mitbestimmung — einschließlich der Montanmitbestimmung —, ja einen Versuch, durch einseitige Interpretation das Grundgesetz auf die Interessen der Unternehmer zu verpflichten und so jede weitere sozialstaatliche Entwicklung zu verhindern
Um einem entsprechenden Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorzubeugen, hat der DGB nachdrücklich auf die Geschichte des Grundgesetzes und der Mitbestimmung hin-gewiesen. So hebt er hervor, daß die Mitbestimmung für die , Väter des Grundgesetzes" kein Problem gewesen sei, im Gegenteil: „Unter allen gesellschaftlichen Gruppen bestand ein breiter Konsens über die Notwendigkeit von Mitbestimmungsrechten der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften auf allen Ebenen der Wirtschaft, insbesondere auch in den
Unternehmensorganen" Von daher sei es absurd, Bestimmungen des Grundgesetzes heute gegen die Mitbestimmung anzufüh-ren.
Energisch hat sich der DGB auch gegen die These vom angeblich bestehenden Gleichgewicht zwischen Arbeit und Kapital gewandt. Weder könne in einer Demokratie, in der ein kleiner — jeglicher demokratischer Legitimation entbehrender — Kreis von 600 Personen nahezu alle wesentlichen die Wirtschaft betreffenden Entscheidungen fälle, von der Existenz eines solchen Gleichgewichts gesprochen werden, noch sei ein derartiges Gleichgewicht der Kräfte grundgesetzlich garantiert. Folglich entziehe es sich auch juristischer Bestimmbarkeit
Auch hat der DGB den unterparitätischen Charakter des Mitbestimmungsgesetzes aufgezeigt. Zum einen verweist er darauf, daß der Begriff der Parität eine funktionale und nicht nur bloß formale — zahlenmäßige — Betrachtungsweise erfordere. Von Parität könne nur gesprochen werden, wenn weder die Arbeitnehmer-noch die Anteilseignerseite imstande sei, „. . . eine von ihr gewünschte Entscheidung ohne die Zustimmung der anderen oder doch eines Teils von ihr durchzusetzen, umgekehrt aber auch die andere Seite daran hindern (könne, R. R.), ihre Ziele durchzusetzen". Zum anderen betonen die Gewerkschaften, daß selbst bei funktionaler Parität im Aufsichtsrat das Übergewicht der Anteilseigner im Unternehmen bestehenbleibe, weil der Aufsichtsrat nur eines unter mehreren mit Entscheidungsbefugnissen ausgestatteten Unternehmensorganen sei. Auch unter dem Gesichtspunkt einer Einbeziehung der Arbeitnehmerrechte nach dem Betriebsverfassungsgesetz vermag der DGB keine mitbestimmungsrechtliche Parität, geschweige denn Überparität zugunsten der Arbeitnehmer zu erkennen. Den Vertretern der sog. Kumulationslehre wirft er vor, Rechte aus dem Betriebsverfassungsgesetz und dem Mitbestimmungsgesetz zu addieren, obwohl dies wegen der Unterschiedlichkeit der angesprochenen Mitbestimmungsebenen nicht möglich sei
Der Behauptung der Kapitalseite, das neue Mitbestimmungsgesetz höhle die Tarifautonomie aus, so daß die Arbeitgeberverbände nicht mehr unabhängig entscheiden könnten, im übrigen aber auch die Gewerkschaften arbeitskampfunfähig würden, hält der DGB die Praxis der Montanmitbestimmung entgegen. Zugleich wehrt er sich gegen die These von der Verfassungswidrigkeit der angeblichen Zerstörung der Tarifautonomie. So habe der Parlamentarische Rat ein Nebeneinander von Mitbestimmung, Tarifautonomie und Sozialisierung für durchaus grundgesetzkonform gehalten. Das , Prinzip der Gegnerfreiheit'genieße zudem keinen Verfassungsrang. Es sei als ein historisch gewachsenes Schutzrecht für die Arbeitnehmer anzusehen und könne deshalb nicht zur Abwehr von Forderungen nach einem Ausbau der Mitbestimmung dienen. Nicht zuletzt sei das Grundrecht der Koalitionsfreiheit systemneutral. Es gelte ebenso für Arbeitgeber, die mit der Kapitalseite identisch seien, wie für . mitbestimmte'Arbeitgeber
Gegen die These, das Mitbestimmungsgesetz von 1976 verletze sowohl die Verfügungsmacht der Anteilseigner über ihr Eigentum als auch die Institutsgarantie des Eigentums, argumentiert der DGB, das treffe nicht einmal für den Fall der paritätischen Mitbestimmung zu. Die verfassungsrechtliche Eigentumsgarantie gebe kein Recht auf . bequeme Entscheidungen'in einem Gesellschaftsorgan, auch nicht im Aufsichtsrat. Herrschaftsmacht im pluralistisch organisierten Großunternehmen* einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung bedürfe „. . . wegen der mit ihrer Ausübung notwendig verbundenen Herrschaft über Menschen einer besonderen demokratischen Legitimation und Sozialbindung" Eben diese könne durch die paritätische Mitbestimmung gewährleistet werden.
Nachdrücklich hat der DGB zu dem Vorwurf der verfassungswidrigen Änderung der Wirtschaftsordnung durch das Mitbestimmungsgesetz Stellung genommen. Er hebt hervor, daß das Grundgesetz nach Entstehungsgeschichte, Aufbau und Wortlaut keine bestimmte Wirtschaftsordnung festlege. Dies sei auch vom Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung bestätigt worden. Der wirtschaftspolitischen Offenheit des Grundgesetzes entspreche es, daß die Montanmitbestimmung seit ihrem Bestehen praktisch keinen verfassungsrechtlichen Einwänden ausgesetzt gewesen sei. Was aber für die Montanmitbestimmung gelte, müsse erst recht für das Mitbestimmungsgesetz 1976 zutreffen. Daran könne auch der rechtstheoretisch wie methodisch unzulässige Versuch nichts ändern, u. a. durch einseitige Inanspruchnahme von Grundrechten für die Kapitalseite und Vernachlässigung von Grundrechten für die Arbeitnehmerseite einen Schutzwall zugunsten der Kapitaleigner zu errichten, der faktisch auf eine Beschneidung der ordnungspolitischen Entscheidungskompetenz des demokratisch legitimierten Gesetzgebers hinauslaufe.
Die deutliche Zurückweisung der Verfassungsbeschwerden durch den DGB gipfelt in der Aufforderung an das Bundesverfassungsgericht, ein positives Urteil nicht nur zum Mitbestimmungsgesetz von 1976, sondern auch zur paritätischen Mitbestimmung zu fällen, ein Urteil, „. . . das die Offenheit der wirtschaftsund gesellschaftspolitischen Entwicklung, den Sozialstaatsauftrag und die parlamentarischen Gestaltungsbefugnisse respektiert"
VII. Verfassungsbeschwerden, politisches Klima und Kräfteverhältnis
Der Verfassungsstreit um das Mitbestimmungsgesetz hat das politische Klima und Kräfteverhältnis in der Bundesrepublik merklich belastet.
Die Gewerkschaften haben zeitweise nicht ausgeschlossen, wegen dieses Streits einen grundsätzlichen Wandel ihrer Zielvorstellungen und ihrer Strategie vorzunehmen. Für sie waren und sind die Mitbestimmungsklagen Ausdruck eines von Arbeitgeberseite inszenierten . Klassenkampfes von oben Eugen Loderer, Vorsitzender der IG Metall, hat dazu erklärt, Sozialisierungsund Gemeinwirtschaftsforderungen seien unausweichlich, wenn der Gedanke einer echten Mitbestimmung durch Richterspruch zunichte gemacht würde Heinz O. Vetter hat auf die Grenzen einer vorrangig über Parteien und Parlament betriebenen Reformpolitik hingewiesen. Der DGB solle deshalb künftig stärker seine Eigenständigkeit betonen und sich auf seine eigene Kraft verlassen
Deutlich härter sind die Tarifauseinandersetzungen geworden. Das schlechte politische Klima in der Mitbestimmungsfrage hat sich offenbar auf die . Logik des Arbeitskampfes'übertragen Die Stimmung in den Lohnrunden 1978 und 1979 war von vornherein . verkorkst'. Selbst der mehr als 40tägige Stahlarbeiterstreik um die Jahreswende 1978/79 ist nicht frei geblieben von den Auseinandersetzungen um das Mitbestimmungsgesetz. Es sei — so die keineswegs unwidersprochen gebliebene Argumentation der Arbeitgeberseite — den Gewerkschaften bei diesem Streik nicht nur um den Einstieg in die 35-StundenWoche gegangen, sondern auch darum, ihre angezweifelte Konfliktfähigkeit in der paritätisch mitbestimmten Montanindustrie unter Beweis zu stellen
Die spektakulärste Folge der Mitbestimmungsklagen war der Rückzug der Gewerkschaften aus der Konzertierten Aktion, vom . Tisch der kollektiven Vernunft', im Juli 1977. Dieser . Warnschuß an die Arbeitgeberseite‘ hat die Struktur des wirtschaftspolitischen Willensbildungsprozesses in der Bundesrepublik spürbar verändert und die Suche nach Möglichkeiten zum Abbau der Arbeitslosigkeit erschwert. Der Zwang, in der Beschäftigungsfrage zusammenzuarbeiten, hat die Tarifparteien 1978 jedoch auf höchster Ebene wieder zusammengeführt. Der DGB-
Bundeskongreß hatte zuvor offiziell den Weg für direkte Gespräche zwischen dem DGB-
Vorsitzenden Vetter und dem Arbeitgeberpräsidenten Esser freigegeben. Eine erste Zusammenkunft hat im Juni 1978 stattgefunden.
Nennenswerte Ergebnisse sind nicht erzielt worden.
Ebenfalls betroffen vom Austritt der Gewerkschaften aus der Konzertierten Aktion war die Bundesregierung. Seit Herbst 1977 hat sie sich deshalb mehrmals bemüht, durch Spitzengespräche des Bundeskanzlers mit Vertretern der Wirtschaft und der Arbeitnehmerorganisationen ein funktionales Äquivalent für die Konzertierte Aktion zu schaffen.
Auch das Verhältnis zwischen den politischen Parteien ist durch die Verfassungsbeschwerden belastet worden. Die in der Mitbestimmungsfrage 1976 vorübergehend gefundene Übereinstimmung ist zerbrochen.
Die SPD hat die gewerkschaftliche Kritik an den Mitbestimmungsklagen weitgehend zu ihrer eigenen gemacht, ohne die Rechtmäßigkeit der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts anzuzweifeln. Hans Koschnick hat so-gar die These des . Klassenkampfes von oben'aufgegriffen Herbert Wehner hat Befürchtungen hinsichtlich der Festigkeit und Elastizität des bundesdeutschen Sozialgefüges ausgesprochen und Bundeskanzler Schmidt hat die Mitbestimmungsklagen als einen . schlimmen Fehler'bezeichnet, mit dem , von konservativer Seite politisches Porzellan zerschlagen worden'sei
Wesentlich milder auf die Verfassungsbeschwerden hat die F. D. P. reagiert. Sie hat einerseits betont, es sei das unverzichtbare Recht eines jeden Bürgers, das Bundesverfassungsgericht anzurufen, andererseits hat sie die Mitbestimmungsklagen als ein überflüssi-ges Nachkarten'bezeichnet Ohne Erfolg sind die wiederholten Appelle an die Tarif-parteien geblieben, sich Klarheit über ihre Ziele und Absichten im Mitbestimmungsbereich zu verschaffen und so eine Basis für die Rückkehr zur Konzertierten Aktion zu finden. Die CDU/CSU hat in ihren Stellungnahmen zu den Verfassungsklagen deren politische Dimension weitgehend außer acht gelassen und sich auf den Standpunkt zurückgezogen, daß jedermann das Recht habe, sich an das Bundesverfassungsgericht zu wenden Lediglich der Arbeitnehmerflügel der Union hat im Streit um die Verfassungsbeschwerden eine mitbestimmungsund gewerkschaftsfreundliche Haltung eingenommen. So hat sich Norbert Blüm eindeutig von den Klagen der Arbeitgeber distanziert, umgekehrt aber den Rückzug der Gewerkschaften aus der Konzertierten Aktion nicht uneingeschränkt begrüßt Die CSU hat den Gewerkschaften wegen der Art und Weise, in der sie die Verfassungsbeschwerden verurteilt haben, . ungeheuerliche Anmaßung', ja . verantwortungslose Scharfmacherei'vorgeworfen
Zu einem offenen Konflikt zwischen Regierung und Opposition ist es über die Frage des Beitritts des Bundestages zum Mitbestimmungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gekommen. Die Opposition hat betont, der Bundestag sei derartigen Verfahren in der Vergangenheit nur beigetreten, wenn Rechte und Pflichten des Parlaments, seiner Fraktionen oder einzelner Mitglieder berührt worden seien. Insofern liege ein — im übrigen als überflüssig, schädlich, intolerant und undemokratisch bezeichneter — Bruch mit der Tradition vor. Die Koalition hat demgegenüber argumentiert, es gelte, das Mitbestimmungsgesetz vor dem höchsten deutschen Gericht gegen die Klagen der Arbeitgeber zu verteidigen. Mit der knappen Mehrheit ihrer Stimmen hat sie schließlich den Beitritt des Bundestages zu dem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht durchgesetzt.
Die Verfassungsbeschwerden haben nicht zuletzt Spannungen innerhalb der Koalition zur Folge gehabt. Während der ehemalige Bundes-wirtschaftsminister Friderichs (F. D. P.) beim Auszug der Gewerkschaften aus der Konzertierten Aktion bemüht war, diese Institution um jeden Preis zu retten, ließ Bundeskanzler Schmidt verlautbaren, er habe Verständnis für die Verärgerung der Gewerkschaften. Noch deutlicher wurde der Konflikt zwischen den Koalitionspartnern durch die Weigerung des sozialdemokratischen Arbeitsministers Ehrenberg, sich aus Gründen der Solidarität mit dem DGB an der für Anfang Juli 1977 geplanten und von Friderichs nachhaltig befürworteten Sitzung der Konzertierten Aktion zu beteiligen.
Die außerordentliche Sprengkraft der Verfassungsbeschwerden gegen das Mitbestimmungsgesetz 1976 hat sich mithin auch an den Reaktionen der politischen Parteien gezeigt. Sie ist weit über eine bloße Belastung des Verhältnisses zwischen BDA und DGB hinausgegangen. Selten in der bundesdeutschen Geschichte — wenn überhaupt jemals zuvor — hat sich das Bundesverfassungsgericht deshalb vor eine dermaßen schwierige Entscheidung gestellt gesehen.
VIII. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
1. Die Urteilsfindung Die Phase der Urteilsfindung durch das Bundesverfassungsgericht war gekennzeichnet
durch die Anfertigung und Vorlage neuer Gutachten zum Mitbestimmungsgesetz 1976 sowie durch eine mehrtägige mündliche Verhandlung.
Im Namen der Bundesregierung hat sich der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung geäußert. Er hat ein Rechtsgutachten der Professoren Kübler, Schmidt und Simitis als Gegengutachten zu dem Gutachten der Pro-fessoren Badura, Rittner und Rüthers vorgelegt. Stellung genommen haben ferner die Senate von Berlin, Bremen und Hamburg sowie der Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Senate haben ein Rechtsgutachten durch Professor Zweigert und ein wirtschaftswissenschaftliches Gutachten durch Professor Kappler erstellen lassen und übergeben. Deren Wertungen und Ergebnisse ha-ben sie sich zu eigen gemacht. Antragsschriften, Gutachten, Äußerungen und Gegenäußerungen erreichten schließlich einen Umfang von ca. 2 000 Seiten
In einer dreieinhalbtägigen mündlichen Verhandlung hat das Bundesverfassungsgericht den Versuch gemacht, sich einen direkten Eindruck von der Argumentation und dem Engagement der Prozeßgegner zu verschaffen. Neue Argumente sind dabei nicht zutage getreten. Bemerkenswert war, daß die Strategie der Bundesregierung in erster Linie darauf angelegt war, die Verfassungsmäßigkeit des Mitbestimmungsgesetzes 1976 zu belegen. Der DGB war darüber hinaus bestrebt, auch weitergehende Mitbestimmungsmodelle — insbesondere das der paritätischen Mitbestimmung — zu verteidigen.
Das Bundesverfassungsgericht ist nach Abschluß der mündlichen Verhandlungen An-fang Dezember 1978 in seine internen Beratungen eingetreten. Das mit Spannung erwartete Urteil ist am 1. 3. 1979 verkündet worden.
2. Der Urteilsspruch Der Urteilsspruch des Karlsruher Gerichts ist kurz und gewichtig.
Im Namen des Volkes wird verkündet:
In den Verfahren über — die Verfassungsbeschwerde von 9 Unternehmen,
— die Verfassungsbeschwerde von 29 Arbeitgebervereinigungen — die Verfassungsbeschwerde der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz e. V., — den Aussetzungsund Vorlagebeschluß des Landgerichts Hamburg vom 10. 4. 1978 hat das Bundesverfassungsgericht — Erster Senat — unter Mitwirkung des Präsidenten
Benda und der Richter Haager, Böhmer, Simon, Faller, Hesse, Katzenstein und Niemeyer auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 28., 29., 30. 11. und 1. 12. 1978 durch Urteil für Recht erkannt:
I. Die Verfassungsbeschwerden werden zurückgewiesen.
II. § 7 Abs. 1 und 2 über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats in Verbindung mit § 31 über die Bestellung und Abberufung der Vorstandsmitglieder des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer vorn 4. 5.
1976 ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
3. Die Urteilsbegründung In seiner Urteilsbegründung hat sich das Bundesverfassungsgericht zunächst ausführlich mit der rechtlichen und tatsächlichen Qualität des Mitbestimmungsgesetzes 1976 auseinandergesetzt.
Es kommt dabei zu dem für die Beschwerdeführer negativen Ergebnis, daß eine paritätische oder gar überparitätische Mitbestimmung nicht vorliegt. Als Beleg verweisen die Karlsruher Richter u. a. auf die Zweitstimme des im Regelfall von der Kapitalseite gewählten Aufsichtsratsvorsitzenden.
Sie heben ferner die Wahl und die Zusammensetzung des Aufsichtsrates hervor, die tendenziell ein geschlosseneres Abstimmungsverhalten und damit stärkere Durchsetzungsmöglichkeiten der Arbeitseigner, als der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat begünstigten.
Eine klare Absage erteilt das Gericht den Vertretern der , Kumulationslehre'. Durch das zweifache Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer im Konzern — nämlich auf der Ebene der Konzernmutter und der Ebene der Konzerntöchter — werde eine Potenzierung der Mitbestimmung nicht bewirkt. Zu demselben Schluß komme man, wenn die Mitbestimmung nach dem Betriebsverfassungsgesetz in die Betrachtung einbezogen werde. Zwar gewähre das Betriebsverfassungsgesetz dem Betriebsrat Mitbestimmungsrechte, die als paritätisch bezeichnet werden könnten; dieser Einfluß der Arbeitnehmer sei aber durch das Mitbestimmungsgesetz weder begründet noch verändert worden. Angesichts des leichten Übergewichts der Anteilseignerseite im Aufsichtsrat könne von paritätischer oder überparitätischer Mitbestimmung unter dem Mitbestimmungsgesetz nur gesprochen werden, wenn die Veränderung der Zusammensetzung des Aufsichtsrats in Verbindung mit den nach dem Betriebsverfassungsgesetz bestehenden Mitbestimmungsrechten zu einer Steigerung des Gewichts der Arbeitnehmerseite führe, die insgesamt gesehen Parität oder Überparität zur Folge hätte. Das sei jedoch nicht der Fall.
Ebenso eindeutig wie die Zurückweisung der These von der Parität oder gar Überparität ist die Stellungnahme des Bundesverfassungsgerichts zu der von der Kapitalseite behaupteten Verletzung der Tarifautonomie. Art. 9 Abs. 3 GG — so das Gericht — gehöre nicht zu den . klassischen'Grundrechten. Die Koalitionsfreiheit sei erst unter den Bedingungen moderner Industriearbeit entstanden, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt hätten. Bei der Auslegung dieses Grundrechts könne deshalb nur bedingt auf einen traditionell feststehenden Inhalt zurückgegriffen werden. Ganz im Sinne der Gewerkschaften stellen die Karlsruher Richter sodann fest, daß das Mitbestimmungsgesetz nicht in den grundgesetzlich geschützten Kernbereich der Koalitionsfreiheit eingreift:
„Sie (die Bestimmungen des Gesetzes, R. R.) lassen die Gründungs-und Beitrittsfreiheit sowie die Garantie staatsfreier Koalitionsbetätigung unberührt. Sie fügen dem Tarifvertrags-system nicht in verfassungswidriger Weise eine weitere Form der Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen hinzu. Sie schränken den Grundsatz der Gegnerunabhängigkeit nicht unzulässig ein. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, daß sie zur Funktionsunfähigkeit der Tarifautonomie führen werden."
Im übrigen gesteht das Gericht zu, daß sich die Koalitionen der Arbeitgeber von innen her gewerkschaftlichem Einfluß ausgesetzt sehen können. Es sei aber nach dem Zweck zu fragen, dem die Unabhängigkeit der Arbeitgeber als Tarifpartei zu dienen habe. Dieser Zweck bestehe vor allem in der Wahrung der Interessen der Mitgliedsunternehmen. Auf eben diese Interessen seien auch die Angehörigen der Vertretungsorgane der mitbestimmten Unternehmen — nicht zuletzt die Arbeitsdirektoren — verpflichtet. Die Rechtsordnung stelle Mittel bereit, eine Nichteinhaltung dieser Pflicht zu verfolgen. Das Gericht setzt voraus, daß die Vertreter mitbestimmter Unternehmen sich auch in den Arbeitgeberkoalitionen dieser Rechtspflicht gemäß verhalten. Interessen der Gegenseite wahrzunehmen, sei ihnen ausdrücklich untersagt.
Eine bemerkenswerte Auslegung des Grundgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht auch bei der Prüfung der Frage vorgenommen, ob durch das Mitbestimmungsgesetz die Eigentumsgarantie verletzt werde. In seiner ablehnenden Entscheidung geht das Gericht davon aus, daß das Eigentum einen besonders ausgeprägten Schutz genießt, soweit die Funktion des Eigentums als Element der Sicherung der persönlichen Freiheit des einzelnen angesprochen ist. Dagegen sei die Befugnis des Gesetzgebers zur Inhalts-und Schrankenbestimmung um so weiter, je mehr das Eigentumsobjekt in einem sozialen Bezug und in einer sozialen Funktion stehe. Maßgebend hierfür sei der in Art. 14 Abs. 2 GG Ausdruck findende Gesichtspunkt, daß Nutzung und Verfügung in diesem Fall nicht lediglich innerhalb der Sphäre des Eigentümers blieben, sondern Belange anderer Rechtsgenossen berührten, die auf die Nutzung des Eigentums-objekts angewiesen seien. Insgesamt sei mithin der Gestaltungsbereich des Gesetzgebers bei sozialem Bezug und bei sozialer Funktion des Eigentums im Blick auf dessen Sozialbindung relativ weit.
Was das Ausmaß zulässiger Sozialbindung des sogenannten Anteilseigentums an größeren Unternehmen durch das Mitbestimmungsgesetz angehe, komme es nicht zuletzt auf die Eigenart dieses Eigentums an. Sie zeige sich bereits darin, daß es in aller Regel in der Gemeinschaft mit anderen an einer Gesellschaft bestehe, folglich dem einzelnen Rechtsinhaber nicht stets die autonome Durchsetzung seines Willens ermögliche. Vor allem bedürfe es zur Nutzung des Anteilseigentums immer der Mitwirkung der Arbeitnehmer; die Ausübung der Verfügungsbefugnis durch den Eigentümer könne sich überdies auf deren Daseins-grundlage auswirken. Sie berühre damit die Grundrechtssphäre der Arbeitnehmer.
Das Verfassungsgericht bezweifelt nicht, daß die Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes die Verfügungsbefugnisse der Anteilseigner in Großunternehmen einschränken. Das geschehe allerdings, ohne in die Substanz des Anteilseigentums einzugreifen. Auch werde das vermögensrechtliche Element des Anteils-eigentums — wie das Beispiel der Montanindustrie zeige — allenfalls in zweiter Linie und dann nicht in nennenswertem Umfang beschränkt. Von daher kommen die Karlsruher Richter zu dem Schluß, daß sich die Begrenzung des Anteilseigentums bei den Unternehmen, die durch das Mitbestimmungsgesetz erfaßt werden, durchaus in den Grenzen einer verfassungsrechtlich zulässigen Sozialbindung hält.
Im Hinblick auf die Wirtschaftsordnung geht das Bundesverfassungsgericht im Gegensatz zu den Beschwerdeführern davon aus, daß das Grundgesetz . keine unmittelbare Festlegung und Gewährleistung" einer derartigen Ordnung enthält. Anders als die Weimarer Reichsverfassung normiere es auch nicht konkrete verfassungsrechtliche Grundsätze der Gestaltung des Wirtschaftslebens. „Es überläßt dessen Ordnung vielmehr dem Gesetzgeber, der hierüber innerhalb der ihm durch das Grundgesetz gezogenen Grenzen frei zu entscheiden hat, ohne dazu einer weiteren als seiner allgemeinen demokratischen Legitimation zu bedürfen."
Mit dieser Aussage knüpft das Bundesverfassungsgericht an frühere Entscheidungen zur Verfassungsmäßigkeit wirtschaftsordnender Gesetze an. Ausdrücklich wiederholt es seinen u. a. bereits im Investitionshilfeurteil 1954 geäußerten Standpunkt, daß das Grundgesetz wirtschaftspolitisch neutral sei. Der Gesetzgeber dürfe jede ihm sachgemäß erscheinende Wirtschaftspolitik verfolgen, sofern er dabei das Grundgesetz, insbesondere die Grundrechte beachte. Ihm komme also eine weitgehende Gestaltungsfreiheit zu.
Die relative Offenheit der Verfassungsordnung ist nach Meinung des Gerichts notwendig, „. . . um einerseits dem geschichtlichen Wandel Rechnung zu tragen, der im besonderen Maße das wirtschaftliche Leben kennzeichnet, andererseits die normierende Kraft der Verfassung nicht aufs Spiel zu setzen". Allerdings dürfe die Berücksichtigung der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers nicht zu einer Verkürzung der in den Einzelgrundrechten garantierten individuellen Freiheiten führen, ohne die nach der Konzeption des Grundgesetzes ein Leben in menschlicher Würde nicht möglich sei.
Im Falle des Mitbestimmungsgesetzes kommen die Karlsruher Richter zu dem Urteil, daß ein Verstoß des Gesetzgebers gegen diejenigen Einzelgrundrechte nicht vorliegt, welche die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen und Grenzen der Gestaltungsfreiheit der Legislative bei der Einführung einer erweiterten Mitbestimmung markieren. Die Berücksichtigung weitergehender Prüfungsmaßstäbe — etwa eines . institutioneilen Zusammenhangs der Wirtschaftsverfassung'oder eines . Schutz-und Ordnungszusammenhangs der Grundrechte'— lehnt das Gericht mit der Begründung ab, daß sich dafür keine Stütze im Grundgesetz finden lasse. Beide Maßstäbe sind von den Beschwerdeführern ins Spiel gebracht worden, um die bestehende Wirtschaftsordnung nach Möglichkeit durch höchstrichterliche Entscheidung festschreiben zu lassen.
IX. Bilanz des Verfassungsstreits über das Mitbestimmungsgesetz 1976
Das Bundesverfassungsgericht hat in dem Verfassungsstreit über das Mitbestimmungsgesetz 1976 ein bemerkenswert kluges Urteil gefällt. In überzeugender Weise hat es die Verfassungsbeschwerden gegen eines der wichtigsten, wenn auch noch so unvollkommenen parlamentarischen Reformprojekte der vergangenen Jahre zurückgewiesen. Gleich zu Beginn seiner Urteilsbegründung nimmt das Gericht eine weise Selbstbeschränkung vor, indem es formuliert:
„Prüfungsgegenstand sind allein die angegriffenen und zur Prüfung gestellten Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes; ob andere Regelungen einer Mitbestimmung der Arbeitnehmer mit dem Grundgesetz vereinbar wären, ist nicht zu entscheiden."
Dieser Erkenntnis entsprechend haben die Karlsruher Richter in den Kern ihres Spruches nur das aufgenommen, was wirklich zur Entscheidung stand. Das ist ein Sachverhalt, der mindestens ebensoviel Beachtung verdient wie die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht ohne Wenn und Aber die Vereinbarkeit der erweiterten Mitbestimmung nach dem Mitbestimmungsgesetz vom 4. 5. 1976 mit den Grundrechten der von dem Gesetz erfaßten Gesellschaften, der Anteilseigner und der Koalitionen der Arbeitgeber bejaht hat. Wenn überhaupt, dann ist eine Kompetenzüberschreitung des Gerichts lediglich in der Feststellung zu sehen, daß der Gesetzgeber zu einer Korrektur des Mitbestimmungsgesetzes verpflichtet ist, falls sich die Sozialparteien wider Erwarten nicht wie Partner, sondern wie Gegner verhalten und darunter die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems und der Unternehmen nachhaltig leidet.
Wesentlicher an dem Urteil ist, daß das Verfassungsgericht keine allgemeinen Grenzen für die Mitbestimmung in Unternehmen und Wirtschaft festgelegt hat. Möglicherweise liegt in diesem Punkt die eigentliche Niederlage für die Kapitalseite. Wiederholt ist behauptet worden, daß es den Arbeitgebern mit den von ihnen initiierten Klagen in Karlsruhe gar nicht um das Mitbestimmungsgesetz 1976 gegangen sei, sondern um ein Abblocken weitergehender Mitbestimmungsforderungen der Gewerkschaften. Wenn diese Vermutung richtig ist, dann haben sich die Verfassungs-Beschwerden auch und gerade unter diesem Gesichtspunkt als ein Fehlschlag erwiesen. Für die These des BDA-Präsidenten Otto Esser, das Gericht sei in der rechtlichen Beur-eilung des Mitbestimmungsgesetzes den Ver-assungsbeschwerden weitgehend gefolgt und iabe Grenzen für die Mitbestimmung aufge: eigt lassen sich bei einer näheren Durchsicht des Urteils keine Anhaltspunkte finden. Jnmißverständlich hat das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die von Esser mgesprochene Befugnis des Gesetzgebers zur nhaltsund Schrankenbestimmung des Eigen-ums bei Organisationsmaßnahmen sozialord-
ender Art festgestellt:
. Der Gesetzgeber hält sich jedenfalls dann in-lerhalb der Grenzen zulässiger Inhaltsund Schrankenbestimmung, wenn die Mitbestim-nung der Arbeitnehmer nicht dazu führt, daß iber das im Unternehmen investierte Kapital jegen den Willen aller Anteilseigner entschieden werden kann, wenn diese nicht auf Grund der Mitbestimmung die Kontrolle über iie Führungsauswahl im Unternehmen verlie-
en und wenn ihnen das Letztentscheidungs-
echt belassen wird. Das ist ... nach dem Mitbestimmungsgesetz der Fall." Zutreffend wäre die Auffassung der Arbeitgeber ledigich, wenn in der Urteilsbegründung die Fornulierung nicht Jedenfalls dann', sondern nur'gelautet hätte.
Völlig unangefochten ist die Montanmitbestimmung aus dem Verfassungsstreit 1976 ervorgegangen. Die Selbstbeschränkung des undesverfassungsgerichts hat bewirkt, daß die seit mehr als 30 Jahren bei Kohle, Eisen and Stahl praktizierte Form der paritätischen Mitbestimmung nicht einmal ansatzweise zur Disposition gestellt worden ist. Im Gegenteil, das Gericht hat zur Begründung für die Verassungsmäßigkeit des Mitbestimmungsgesetzes 1976 auf die Praxis der Montanmitbestimmung verwiesen. Umgekehrt enthält das Karlsruher Urteil keine verfassungsrechtliche Bestätigung der paritätischen Mitbestim-mung. Entsprechende Hoffnungen des DGB naben sich nicht erfüllt. Das Ziel der Ausdeh-nung der paritätischen Mitbestimmung auf die gesamte Wirtschaft können Gewerkschaften und SPD dennoch weiterverfolgen. Erst in einem erneuten Verfahren hätte das Bundesverfassungsgericht gegebenenfalls über die Vereinbarkeit der paritätischen Mitbestimmung mit dem Grundgesetz zu entscheiden.
Der Versuch der Kapitalseite, mit Hilfe der Verfassungsbeschwerden das mitbestimmungspolitische Gesetz des Handelns wieder in den Griff zu bekommen, ist gescheitert. Nach wie vor kann die Mitbestimmung als ein zugleich systemveränderndes und systemstabilisierendes Instrument einer Politik des stetigen Ausbaus und der Festigung der Demokratie propagiert und eingesetzt werden. Den Gewerkschaften ist damit ihr Hauptinstrument im Bemühen um die Verwirklichung einer besseren Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung belassen worden.
Die Tatsache, daß das Karlsruher Gericht es abgelehnt hat, der bestehenden marktwirtschaftlichen Ordnung Verfassungsrang einzuräumen und das Grundgesetz im Sinne eines Unternehmerstatuts auszulegen, hat den Gewerkschaften dringend notwendige politische Entlastung gebracht. Im Falle eines für sie negativen Urteils hätte sich die innergewerkschaftliche Opposition gegen die moderate Reformpolitik des DGB kaum mehr auffangen lassen und wäre die Diskussion über ein neues Grundsatzprogramm ohne Zweifel einseitig in Richtung auf ein radikales überdenken gewerkschaftlicher Zielvorstellungen und Strategie vorprogrammiert worden.
Zufrieden mit dem Urteil können auch der Gesetzgeber und die politischen Parteien sein. Das Verfassungsgericht hat den Auftrag des Gesetzgebers, die Gesellschaftsordnung im Rahmen des Grundgesetzes zu gestalten und fortzuentwickeln, ausdrücklich bestätigt. Zugleich hat es der Legislative Korrektheit des Handelns bei der Abfassung des Mitbestimmungsgesetzes 1976 bescheinigt.
In besonderem Maße aufatmen darf die sozial-liberale Koalition. Wenigstens eines der von ihr initiierten Reformwerke hat mit dem Karlsruher Spruch seine Zustimmung durch das höchste deutsche Gericht erfahren. Allzu oft war die Koalition in der Vergangenheit an die Grenzen des verfassungsrechtlich Zulässigen und Machbaren gestoßen oder hatte sie überschritten — so beim Grundlagenvertrag mit der DDR, bei der Reform des § 218, bei der Handhabung der Öffentlichkeitsarbeit und bei den Bundesausgaben. Nunmehr kann die SPD mit Genugtuung feststellen, daß sie immerhin ihren mitbestimmungspolitischen Kurs nicht revidieren muß. Die FDP kann wohlgemut behaupten, das Verfassungsgericht habe voll und. ganz die Position bestätigt, die von ihr in den parlamentarischen Beratungen des Gesetzes stets eingenommen worden sei. Und die CDU/CSU sieht sich von dem unangenehmen Verdacht befreit, gemeinsam mit der Koalition für ein verfassungswidriges Gesetz gestimmt zu haben.
Rüdiger Robert, Dr. phil., Dipl. Pol., geb. 1945; Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Soziologie an der FU Berlin und an der Universität Münster; Akad. Rat am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster. Veröffentlichungen: Unternehmenskonzentration und Wettbewerbspolitik in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 34— 35/1975; Gewerkschaftliche Organisation und innergewerkschaftliche Demokratie, in: Politische Bildung, Heft 3/1975; Konzentrationspolitik in der Bundesrepublik — Das Beispiel der Entstehung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen, Berlin 1976; Nahostkonflikt, in: Handwörterbuch Internationale Politik, hrsg. von Wichard Woyke, Opladen 1977; Die Unabhängigkeit der Bundesbank. Analyse und Materialien, Kronberg/Ts. 1978.
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