Ulrich Lohmars Buch über das „hoheitliche Gewerbe" will für das Engagement aller werben, die Demokratie und Effizienz nicht für einen Gegensatz halten. Beide Begriffe stehen auch im Mittelpunkt seiner Meditationen und ironisch-sarkastischen Aperus (mehr Farbtupfer als ausgeführte Gemälde) über das bürokratische System, das in den letzten Jahrzehnten seinen Einfluß auf vielfältige Weise gefestigt hat — auch durch den noch wachsenden Anteil von Angehörigen des öffentlichen Dienstes in den Parlamenten.
Lohmar gliedert die Nutzer der öffentlichen Verwaltung in vier Klassen: — die oberste Klasse der Wirtschaftsmanager, Parteiführer, großen Persönlichkeiten läßt den Verkehr mit Behörden von ihren Mitarbeitern besorgen (oder Beamte helfen sich wechselseitig); , — eine Schicht, die über Beziehungen zur Verwaltung verfügt (Vertreter von Interessenverbänden, Abgeordnete, Leiter von Forschungsinstituten USW.);
— eine große Gruppe, die den Routineweg geht;
— endlich der Normalbürger, der der Bürokratie mit einer Mischung von Angst, schlechtem Gewissen und Hoffnung gegenübersteht. Lohmar gibt alle landläufigen Vorurteile und Kritikmuster wieder, wenn er vom „Belastungszugriff von oben", der „Gängelung" auf der unteren Staatsebene, dem „rechtlichen Übergewicht der öffentlichen Hand", dem „verwalteten Jemand", der „geschickten Anpassung" und Übernahme auch parteipolitischer Anti-Beamten-Ideologien (zum Beispiel durch Verbeamtung der Parlamente, Informationsabhängigkeit der Abgeordneten, Gemeinwohl-Argumentationen) vom „Klassenkampf der öffentlichen Hand", dem „Korpsgeist der Beamten" spricht.
Leider wird von Lohmar nicht zwischen dem Prozeß der Bürokratisierung (als einem allgemeinen gesellschaftlichen Phänomen) und der besonderen Berufsrolle des Angehörigen des öffentlichen Dienstes — differenziert nach seiner jeweiligen Aufgabe (Berufsanforderung) — unterschieden. Bürokratisierung ist in großen Firmen wie Siemens, BASF oder IBM, in Parteien, Gewerkschaften, Interessen-verbänden mindestens ebenso verbreitet wie in der staatlichen Verwaltung.
Auf der anderen Seite gibt es sehr viele grundverschiedene Berufsrollen der Beamten und Angehörigen des öffentlichen Dienstes. Der Postbeamte oder der Bahnschaffner, der Verkehrs-oder Liegenschaftsreferent einer Großstadt, der Ministerialbeamte oder Leiter von Großprojekten der Forschungs-und Technologieförderung haben jeweils ein sehr unterschiedliches Selbstverständnis, jeweils andere Bezugsfelder und Aufgaben.
Unsere junge Demokratie hat viele Tabus zu überwinden, die auch die Beamtenreform-Diskussion belasten und eine ehrliche Diskussion verhindern:
— Die Erinnerungslücke der Hitlerjahre: Hitler fiel vom Mond, der deutsche Normalbürger hatte nichts mit ihm zu tun. Es handelte sich um einen Betriebsunfall der deutschen Geschichte. Die deutsche Beamtenschaft hat Hitler loyal gedient; Hitler kam legal zur Macht, konnte sich auf die Beamten verlassen. •— Das Generationen-und Studententabu:
Neuartige Wertbilder und radikale Demokratieerwartungen werden sich schon geben, wenn die Jungen erst einmal dreißig sind und im Beruf stehen. Auseinandersetzung lohne nicht. Man sieht ja, wohin es führt: zu Terrorismus ä la Baader-Meinhof. Angefangen hat es mit der Anti-Atombewegung, dem Vietnam-Protest und der Friedensforschung.
—• Das Großparteientabu: Nur den großen Parteien ist es erlaubt, Politik zu machen, Kandidaten für die Parlamente aufzustellen, nach Dauerproporz in allen öffentlichen Institutionen vertreten zu sein. Schon die FDP ist eigentlich überflüssig; auf jeden Fall die vielen Bürgeraktionen und freien Wählergemeinschaften. Wenn schon Demokratie, dann eine geordnete, überschaubare, berechenbare, verbeamtete Demokratie. Pluralität in der Politik ist vom Übel. Das führt zu Zuständen wie in Weimar! — Das Pragmatismustabu: Es besteht ein Defizit an Rationalität, Pragmatismus, hausbakkenem gesunden Menschenverstand, pragmatisch-direkter Humanität. Das Gefühl, etwas zu bedeuten, kam den Deutschen zuerst auf literarisch-geistigem Weg, nicht, wie bei den Engländern, im Wirtschaftsleben, oder wie bei den Franzosen, in der Staatsidee. Mit dieser historischen Hypothek ist hier jede Politik, auch die Dienstrechts-und Beamtenreform, belastet. Gesucht wird nach Idealzielen, perfekt-bürokratischen Großmodellen, Gesamtreformen — nicht nach praktischem Verwaltungsverstand, kleinen Verbesserungen, pragmatischen Lösungen. Reformen müssen höhere Werte, wissenschaftlichen Geist und Sinn-erfüllung zum Ziel haben; sie müssen professoral aufgedonnert sein, -für die Sache (nicht für den Bürger) und die Ewigkeit gemacht sein. Noch immer ist die landläufige Meinung: Pragmatiker wie Schmidt oder Genscher mögen für die Tagespolitik ganz brauchbar sein, aber Idee und Zugkraft fehlen ihnen und damit das Zeug zum großen Politiker. Viel zu oft wird von Verwaltungs-und Informationsorganisation statt von Humanität am Arbeitsplatz, wird von Aufgabenplanung und -koordinierung statt von Motivation und Verständnis der Mitarbeiter für die konkrete einzelne Tagesaufgabe gesprochen. Etwas mehr Bescheidenheit und Realismus auch in der Diskussion der Dienstrechts-und Verwaltungsreform wären gut. Zu viele Reformruinen stehen schon herum! — Das Beamtentabu: Beamte müssen eine selbstlose asketische Elite sein, gleichsam der letzte Rest apolitischer, fachneutraler, nicht sozial-wissenschaftlich zerredeter Staatlichkeit. Beamte sollten ein rocher de bronze im Gezänk der politischen Gruppen, Meinungen, Parteien sein, sentimentaler Restposten an historisch verklärtem Preußentum. Beamte haben anders zu sein als die übrige Gesellschaft. Der Chef des Beamtenbundes kann nicht wie irgendein Filmstar oder Wirtschaftsführer ein Interview im Playboy geben und Forderungen wie ein Gewerkschaftsführer stellen. Es gehört sich einfach nicht, daß Beamte wie alle anderen Gruppen der Gesellschaft egoistisch für ihre materiellen Interessen eintreten, Beförderungschancen und Sozialvorteile wahrnehmen und auch geringere Arbeitszeit, billige Ferienreisen und Eigenheim oder Zweitwohnung am Tegernsee haben wollen. Das alles ist unmöglich, ist Verletzung eines Tabus. Ein wenig preußische Askese muß sein!
Der öffentliche Dienst hätte nie so ausgeweitet, so aufgebläht, so viele Privilegien durchsetzen können, wenn Parlamente und Öffentlichkeit dies nicht lange Zeit gebilligt hätten. Es ist scheinheilig, ja verlogen, wenn jetzt plötzlich der Eindruck erweckt wird in der Diskussion der letzten Jahre, daß alle anderen Interessengruppen die lauteren, uneigennützigen Verfechter des Gemeinwohls gewesen wären und nur die Beamten unangemessene Forderungen stellten.
Es geht vor allem darum, einer drohenden Überforderung des Staates durch einen gut vorbereiteten pragmatischen Abbau öffentlicher Aufgaben vorzubeugen und wieder mehr die gesellschaftlichen Selbstregulierungsmechanismen, die Privatinitiative, zu nutzen. Bürgernähe wird von vielen als die Zurücknahme der Aufgabenerfüllung in die Gesellschaft selbst interpretiert. Das bedeutet auch mehr Stiftungen, Privatschulen, Stiftungs-Universitäten vielleicht. Anders sieht es eine Richtung, die weiterhin eine aktive Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse durch den Staat fordert, allerdings unter einer stärkeren Beteiligung auch des einzelnen Bürgers. Bürgernähe wird danach als aktives Mitwirken am staatlichen Handeln verstanden (Stichwort: Partizipation). Alle Parteien werden sich mit diesen Fragen beschäftigen müssen. Aber nicht nur dort wird man z. B. Überlegungen anzustellen haben: — wie der Bürger stärker in die politisch-administrativen Entscheidungsprozesse einbezogen werden kann, ohne jedoch die Möglichkeiten einer wirklichen Beteiligung des Bürgers — wie dies nur allzu häufig geschieht — zu überschätzen; — wie dem Gesichtspunkt einer möglichen Überforderung des Staates und einer Begrenzung staatlicher Aufgaben stärker Rechnung getragen werden kann; — wie Politik für den Bürger durchschaubar gemacht werden kann, indem die wechselseitigen Bezüge, die Schwierigkeiten und begrenzten Möglichkeiten staatlichen Handelns stärker verdeutlicht werden; — wie bessere Voraussetzungen für eine politisch-programmatische Verwaltungsführung geschaffen werden können.
Die Umsetzung solcher Überlegungen in konkretere Zielsetzungen und Maßnahmen wird nur in einem langwierigen, ständigen Dialog und einem allmählichen Reformprozeß möglich sein. Zunächst wird es darum gehen müssen, Problembewußtsein zu wecken, Tendenzen in politisch-administrativen Aussagen zu beeinflussen und erste Ansätze und Ideen für Maßnahmen zu finden, die diesen allgemeineren Überlegungen entsprechen.
Zu solchen Maßnahmen könnte z. B. gehören, die Öffentlichkeit stärker über die wechselseitigen Zusammenhänge des politisch-administrativen Handelns zu informieren. Zwingend erforderlich ist, alle Gesetzesinitiativen des Bundestages und der Landtage nach Dringlichkeit, Bürokratiefolgen, Alternativen hin zu überprüfen.
Notwendig sind auch Überlegungen, inwieweit die in Anlehnung an die Leitidee eines „kooperativen Föderalismus" entstandenen Politikverflechtungen, Finanzierungsvermaschungen (Gemeinschaftsaufgabe) und Abstimmungsverfahren in ihren negativen Erscheinungsformen abgebaut werden können. Inwieweit sich hier eine andere, mehr die Autonomie in den Gebietskörperschaften betonende Konzeption des föderativen Systems durchsetzen kann, läßt sich noch nicht absehen. Es können jedoch gewisse Tendenzänderungen in den Aussagen zum Verhältnis Bund, Länder und Gemeinden festgestellt werden, z. B. in dem Bericht der Enquetekommission.
Keiner der Kritiker — auch Professor Lohmar nicht — schlägt vor, sofort das Berufsbeamtentum abzuschaffen und durch nach Marktlage bezahlte Manager und Angestellte zu ersetzen. Seit Max Webers Nachweis, daß die Form der bürokratisch-rationalen Herrschaft immer noch gegenüber allen anderen Herrschaftsformen die effizienteste und den Problemen der modernen Industriekultur angemessenste ist, gibt es keine Analyse neueren Datums, die Wesentliches zu Max Weber hinzugefügt hätte. Auch in Zukunft wird es Beamte geben müssen, vielleicht andere, mit anderen Leitbildern, anderer Ausbildung, anderem Selbstverständnis — weniger Staat im Staate, mehr Bürgeranwalt, Dolmetscher zwischen Staatsinteresse und Bürgersorgen, Bürgerängsten, Bürgerfragen.
Lohmar diagnostiziert bereits einen „Klassenkampf", der von der Öffentlichen Hand „gegen den privaten Teil der Gesellschaft inszeniert wird“. In den etablierten Bürokratien erwarteten nicht wenige Beamte, daß die politische Führung des Staates — also Parlamente und Regierungen — sie von jedem Legitimationsdruck befreiten, eben weil die öffentlichen Administrationen sich ja nur im vorgegebenen Rahmen von Verfassung, Gesetz, Recht bewegen können. Diese Diagnose ist überpointiert, überzogen, geht von einer bewußt forcierten Machtkampfhaltung der Beamtenschaft aus — die in der Art einer Prätorianergarde die letzten Bastionen der reinen, unverfälschten Staatlichkeit verteidigt. Nichts ist falscher: Auch in der Beamtenschaft gibt es unendlich viele Strömungen und Interessen, die sich teilweise in der eigenen Lobby für bestimmte Ministerien und Beamteninteressen in den Parlamenten widerspiegeln. Auch die effektive Macht der einzelnen Beamten wird hier übertrieben. Die Parlamentskontrolle und politische Aufsicht funktionierten viel besser, als es Ulrich Lohmar wahrhaben will.
Nach Galbraith ist eine wirklich durchgreifende Änderung unseres Verbraucherverhaltens im Sinne einer Abkehr von der herkömmlichen Verschwendungswirtschaft, mehr persönliche Initiative, Solidarität, Nachbarschaft, ehrliche und konsequente Entwicklungspolitik nur über die Beamtenschaft durchzusetzen, die immer noch wichtige Multiplikatoren sind, die Leitbilder setzen, stärker dem Gemeinwohl verhaftet sind als andere Berufsgruppen. Nicht mit einer Radikalkur und totalen Verunsicherung der Beamtenschaft werden deutlich bestehende Mängel, Privilegierungen oder das Fehlen sozialer Leistungseffizienz beseitigt, sondern durch . eine Art „Altbausanierung": einem pragmatisch überlegten, allmählichen Abbau von Innovationsbremsen und -hindernissen. Diese Beamtenreform der kleinen Schritte kann nur gelingen, wenn auch die Parlamentarier nicht mehr ihrer Neigung ungehemmt nachgeben, einfach allen Ansprüchen genügen zu wollen, Ziele nicht mehr zu geben und zu koordinieren, Konflikte nicht mehr klar zu entscheiden. Eine steigende Zahl offener, ja widersprüchlicher Gesetzesformulierungen verlagert immer mehr Entscheidungen auf die Verwaltung und die Gerichte. Auch dies führt zu den Klagen über wuchernde Bürokratie, Rechtswegestaat, Wirtschaft am bürokratischen Gängelband. Die Tagesordnung für eine Beamtenreform sollte alle Kritikpunkte und Meckerlisten berücksichtigen und an der Dienstrechts-und funktionalen Verwaltungsreform Bürgergruppen und Öffentlichkeit in breiter Form beteiligen. Das perfekte Totalmodell sollte nicht angestrebt werden, sondern mit praktikablem Verwaltungsverstand sollten mehrere Modelle und Alternativen im sozialen Experiment erprobt und bei Bewährung allgemein — je nach vorhandener Motivation und Anpassungskapazität —, zusammen mit den betroffenen Beamten und Bürgern, eingeführt werden. Ein wichtiger Anfang wäre bereits einfaches, verständliches Deutsch (statt der üblichen unverständlichen Verwaltungssprache), Abbau von Wartezeiten in Behörden, Verbesserung der Orientierung im Instanzenwirrwarr, Bürgertelefon mit der Pflicht zu Rat und Hilfeleistungen für die in der Mehrzahl verwaltungsunerfahrenen Bürger. Beamte sollten sich als „Bruder des kleinen Mannes" (Morstein-Marx), nicht mehr als unnahbarer „Geheimrat vom Staat" verstehen.