Zusammenfassung
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/79, S. 35— 37
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Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/79, S. 35— 37
Frappierend, wie unbefangen Gerhart Binder an den Anfang seiner Replik ein Zitat von K. D. Erdmann über die Objektivität in der Geschichtswissenschaft stellt. Als ob es nicht seit inzwischen 70 Jahren eine Diskussion über die Problematik der Werturteilsfreiheit in der Sozialwissenschaft gebe
Beispiel 1: der 4. August 1914 In unseren Randbemerkungen zur SPD und ihrer eigenen Geschichtsbetrachtung
Einem „objektiven" Wissenschaftler stünde es auch gut zu Gesicht, wenigstens am Rande die Rolle des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Albert von Südekum zu berücksichtigen, der dem Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg zusicherte, seine Partei denke nicht an Streiks oder Sabotage gegen den Krieg, und der damit den Entschluß zum Überfall auf das neutrale Belgien und Luxemburg erleichterte. Eine Erwähnung hätte auch die Taktik Eduard Davids und Ludwig Franks verdient, die entschlossen waren, gegen ihre Fraktion den Kriegskrediten zuzustimmen 3).
Und wenn von den anderen Parteien der Internationale die Rede ist, dann erfordert die „Objektivität" ja wohl auch, die unterschiedliche Ausgangslage zum Beispiel in Frankreich zur Kenntnis zu nehmen (von Belgien gar nicht zu sprechen). Frankreich war eindeutig Opfer eines Angriffskriegs. Und trotzdem hatten sich die französischen Sozialisten ausbedungen, daß die Regierung als Voraussetzung einer „Union sacree" Garantien gebe: Daß sie keinen Vorwand für Grenzzwischenfälle liefern und nicht von sich aus den Krieg erklären werde 4). Von alledem war beim „Burgfrieden" nichts zu hören.
Aber genug zu Binders Versuch der Ehrenrettung für die Burgfriedenspolitik der Sozialdemokratie. Sie wäre — wie gesagt — nicht nötig gewesen. In dem einen Satz, in dem wir den August 1914 erwähnen, geht es — von Binder zwar richtig zitiert, aber offenbar nicht gelesen — nicht um Kritik an der Sozialde-mokratie, sondern um den „andauernden Versuch der Konservativen, die Sozialdemokratie als staatsfeindlich zu verleumden", und um deren Versuch der „Rechtfertigung gegen diesen ständigen Verdacht"
Beispiel 2: die Revolution von 1918 „Eilfertig und pauschal" ist nach Binder auch unsere Formulierung von der „Unentschlossenheit der Mehrheitssozialdemokratie in der Revolution von 1918“
Denkt man diesen Ansatz zu Ende, dann bleibt als Erklärung für die Politik der Ebert und Scheidemann nur die der SED-
Historiker: die mehrheitssozialdemokratischen Politiker hätten bewußten „Verrat" an ihren politischen Zielen begangen
Beispiel 3: die SPD 1933 Die Zustimmung der in Berlin verbliebenen SPD-Reichstagsmitglieder zur Hitlerschen „Friedensresolution" — laut Erich Matthias „ein Vertrauensvotum für die Hitlersche Politik"
Um nicht wieder dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, man urteile aus dem Nachhinein leichtfertig, soll dazu ein Zeitgenosse sprechen: Kurt Schumacher nannte 1945 die Haltung des von Binder als Zeuge aufgeführten Leipart und seiner Anhänger in der Partei-und Gewerkschaftsführung'eine „Geisteshaltung, die mit der Taktik der Anpassung und des Nachgebens das Größtmögliche erreichen"
Zu Berufsverboten und „Systemveränderern"
Sind die Nichtanstellung der Sozialdemokratin Charlotte Niess in Bayern wegen ihrer Mitgliedschaft in einer willkürlich als „verfassungsfeindlich" eingestuften Juristenvereinigung und die Abweisung von DKP-Mitgliedern vom Vorbereitungsdienst für Berufe, in denen der Staat das Ausbildungsmonopol hat, keine Berufsverbote? Ist die Entlassung eines kommunistischen Lok-Führers aus dem Staatsdienst kein Berufsverbot, weil er ja zu einer Privatbahn gehen kann? Oder ist dieses Wort nur deshalb ein Unwort, weil es auch von Kom-munisten verwandt wird? Wer die Untersagung einer bestimmten Berufstätigkeit wegen der bloßen Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei verteidigt, stellt sich nicht nur in einen Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht, sondern nimmt die Berufsverbotspraxis auch des Kaiserreichs, auch der Nationalsozialisten in Schutz. Was nützt der richtige Hinweis darauf, daß zwischen dem Deutschen Reich und der Bundesrepublik „Welten" liegen. Soll das heißen, die Arbeiterbewegung habe ihren Kampf ausgekämpft, die liberale Bewegung habe auf ganzer Linie schon gesiegt? Dann allerdings wäre die Forderung nach Veränderung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher — auch politischer — Strukturen tatsächlich als „staatsfeindlich" unter Acht und Bann zu stellen. Dann gäbe es wirklich keine Parallele zwischen dem Kampf der Bebelschen Sozialdemokratie und denen, die sich heute für „strukturverändernde Reformen" aussprechen, also eine „Systemveränderung" anstreben.
Aber muß sich ein demokratischer Staat nicht immer wieder in Frage stellen lassen? Sind hierzu nicht gerade Hinweise auf unsere totalitäre Vergangenheit notwendig, damit den Anfängen gewehrt werden kann? Was wäre geschehen, wenn niemand gegen die neuen „schwarzen Listen" über Organisationen und Publikationen in den Fländen von Grenzbehörden — Uberwachungsmittel, die nicht zufällig an die entsprechenden Listen aus der Zeit des Sozialistengesetzes erinnern —, die Stimme erhoben hätte?
Binder sieht in den heute als „Systemveränderer" gescholtenen offenbar nur Neofaschisten und Kommunisten, bei denen der Unterschied zur Sozialdemokratie von 1878 auf der Hand liege. Doch wird nicht heute allzu oft allein schon die Forderung nach voller Ausschöpfung der Verfassung als „Systemveränderung" diffamiert? Wie sonst sollen denn Versuche interpretiert werden, der „sozialen Marktwirtschaft" Verfassungsrang zu geben? Und welche Bezeichnungen hätte die SPD zu erwarten, wenn sie mit ihrem Godesberger Programm Ernst machen würde, zum Beispiel mit ihrer Forderung nach Demokratie in allen Lebensbereichen
Gerhart Binder gibt vor, eine „Lanze" zugunsten der SPD zu brechen. Doch welche SPD hat/er im Sinn? Offenbar nur die von Auer, nicht die eines Bebel, die von Noske, nicht die einer Luxemburg, die von Löbe und Lei-part, nicht die eines Kurt Schumacher. Zu der von ihm beanspruchten Objektivität gehört aber das gesamte Spektrum der Sozialdemokratie — sonst wird das linke Auge blind.
Klaus Lantermann, Dipl. -Politologe, geb. 1942, Studium der Publizistik und Politologie in Bonn und Berlin; Redakteur. Gemeinsame Veröffentlichungen: Kleine Geschichte der Sozialistischen Internationale, Bonn-Bad Godesberg 1977; Verbieten, aussperren, diffamieren. Hundert Jahre Sozialisten-gesetz und verwandte Praktiken, Köln/Frankfurt (Main) 1978. Karl-Ludwig Günsche, geb. 1941, Studium der Germanistik, Psychologie und Zeitungswissenschaft; politischer Redakteur.
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