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Auf welchem Auge blind? Gerhart Binder und die „Objektivität" in der Geschichtswissenschaft | APuZ 12/1979 | bpb.de

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APuZ 12/1979 Artikel 1 Carl Schurz und die Deutschamerikaner Le Monde und die Bundesrepublik Deutschland Der Aufsatz: 100 Jahre Sozialistengesetz -ein Lehrstück. Stellungnahme zu dem Beitrag von Karl-Ludwig Günsche und Klaus Lantermann in B 41/78 Auf welchem Auge blind? Gerhart Binder und die „Objektivität" in der Geschichtswissenschaft

Auf welchem Auge blind? Gerhart Binder und die „Objektivität" in der Geschichtswissenschaft

Karl-Ludwig Günsche /Klaus Lantermann

/ 7 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 12/79, S. 35— 37

Frappierend, wie unbefangen Gerhart Binder an den Anfang seiner Replik ein Zitat von K. D. Erdmann über die Objektivität in der Geschichtswissenschaft stellt. Als ob es nicht seit inzwischen 70 Jahren eine Diskussion über die Problematik der Werturteilsfreiheit in der Sozialwissenschaft gebe Noch erstaunlicher aber, wie weit Binder sich in dem Bemühen, die Sozialdemokratie gegen vermutete Kritik zu verteidigen, von seiner eigenen Vorgabe entfernt.

Beispiel 1: der 4. August 1914 In unseren Randbemerkungen zur SPD und ihrer eigenen Geschichtsbetrachtung findet sich kein Wort der Kritik an der Burgfriedenspolitik der Sozialde August 1914 In unseren Randbemerkungen zur SPD und ihrer eigenen Geschichtsbetrachtung 2) findet sich kein Wort der Kritik an der Burgfriedenspolitik der Sozialdemokratie. Bei allem Verständnis für die Lage dieser Partei vor dem Ersten Weltkrieg wäre sie jedoch angemessen gewesen — wenn dies das Thema gewesen wäre. Binder jedoch, der vom eigenen Anspruch her „objektive" Wissenschaftler, nimmt ungefragt die Sozialdemokratie gegen angebliche „Pauschalkritik" in Schutz. Seine Darstellung, die er dann ja wohl als „differenziert" bezeichnen würde, spricht von der „Verzweifelten Lage" der Sozialdemokratie, der „Welle des Nationalismus" auch in anderen Ländern, vom „Kampf gegen das autokratische System der russischen Zaren" — alles Argumente der Burgfriedensbefürworter im Jahre 1914. Kein Wort hingegen zum Standpunkt der Minderheit, die ja’ nur wegen der traditionellen Fraktionsund Parteidisziplin zunächst noch mit der Mehrheit stimmte. Kein Wort zum Beispiel zur Position von Hugo Haase, immerhin Fraktions-und Parteivorsitzender und wahrlich kein „linker Spinner".

Einem „objektiven" Wissenschaftler stünde es auch gut zu Gesicht, wenigstens am Rande die Rolle des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Albert von Südekum zu berücksichtigen, der dem Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg zusicherte, seine Partei denke nicht an Streiks oder Sabotage gegen den Krieg, und der damit den Entschluß zum Überfall auf das neutrale Belgien und Luxemburg erleichterte. Eine Erwähnung hätte auch die Taktik Eduard Davids und Ludwig Franks verdient, die entschlossen waren, gegen ihre Fraktion den Kriegskrediten zuzustimmen 3).

Und wenn von den anderen Parteien der Internationale die Rede ist, dann erfordert die „Objektivität" ja wohl auch, die unterschiedliche Ausgangslage zum Beispiel in Frankreich zur Kenntnis zu nehmen (von Belgien gar nicht zu sprechen). Frankreich war eindeutig Opfer eines Angriffskriegs. Und trotzdem hatten sich die französischen Sozialisten ausbedungen, daß die Regierung als Voraussetzung einer „Union sacree" Garantien gebe: Daß sie keinen Vorwand für Grenzzwischenfälle liefern und nicht von sich aus den Krieg erklären werde 4). Von alledem war beim „Burgfrieden" nichts zu hören.

Aber genug zu Binders Versuch der Ehrenrettung für die Burgfriedenspolitik der Sozialdemokratie. Sie wäre — wie gesagt — nicht nötig gewesen. In dem einen Satz, in dem wir den August 1914 erwähnen, geht es — von Binder zwar richtig zitiert, aber offenbar nicht gelesen — nicht um Kritik an der Sozialde-mokratie, sondern um den „andauernden Versuch der Konservativen, die Sozialdemokratie als staatsfeindlich zu verleumden", und um deren Versuch der „Rechtfertigung gegen diesen ständigen Verdacht" Wie wichtig dieses Motiv bei der Zustimmung zu den Kriegskrediten war, läßt sich beispielsweise in Hedwig Wachenheims Sammlung der Schriften und Reden Ludwig Franks nachlesen

Beispiel 2: die Revolution von 1918 „Eilfertig und pauschal" ist nach Binder auch unsere Formulierung von der „Unentschlossenheit der Mehrheitssozialdemokratie in der Revolution von 1918“ Aus welchem Faktum aber will er das Gegenteil ablesen? In welcher Phase des Umsturzes soll denn die Sozialdemokratie aktiv und entschlossen gewesen sein? Binder verzichtet auf Belege für seinen Vorwurf. Zu Recht, sonst hätte er sich mit der Rolle der Mehrheitssozialdemokratie bei den Streiks, Eberts Festhalten an der Monarchie, seiner eher passiven, nichtsdestotrotz verhängnisvollen Partnerschaft mit dem Militär befassen müssen. Hält Binder tatsächlich den Verzicht auf eine grundlegende Umgestaltung des Wirtschaftssystems, des Beamtenrechts, der Besitzverhältnisse — nach Auffassung einer Reihe auch der Sozialdemokratie nahestehender Wissenschaftler notwendige Voraussetzung für einen Erfolg der ersten deutschen Republik — für ein Zeichen von Entschlossenheit?

Denkt man diesen Ansatz zu Ende, dann bleibt als Erklärung für die Politik der Ebert und Scheidemann nur die der SED-

Historiker: die mehrheitssozialdemokratischen Politiker hätten bewußten „Verrat" an ihren politischen Zielen begangen

Beispiel 3: die SPD 1933 Die Zustimmung der in Berlin verbliebenen SPD-Reichstagsmitglieder zur Hitlerschen „Friedensresolution" — laut Erich Matthias „ein Vertrauensvotum für die Hitlersche Politik" auch Otto Wels'Rückzug aus dem Büro der Sozialistischen Arbeiter-Internationale als Reaktion auf zwei antifaschistische Resolutionen der SAI vor allem aber die „Anbiederungspolitik der (sozialdemokratischen) Gewerkschaftsführer" — läßt es durchaus zu, von „Anpassungsversuchen eines Teils der SPD-Führung selbst gegenüber Hitler" zu sprechen. Nicht das von Binder zitierte Wehklagen Theodor Lei-parts über eine Hitler-Rede hat 1933 die politische Entwicklung beeinflußt, sondern sein tatsächlicher Kurs gegenüber dem Faschismus

Um nicht wieder dem Vorwurf ausgesetzt zu werden, man urteile aus dem Nachhinein leichtfertig, soll dazu ein Zeitgenosse sprechen: Kurt Schumacher nannte 1945 die Haltung des von Binder als Zeuge aufgeführten Leipart und seiner Anhänger in der Partei-und Gewerkschaftsführung'eine „Geisteshaltung, die mit der Taktik der Anpassung und des Nachgebens das Größtmögliche erreichen" wollte.

Zu Berufsverboten und „Systemveränderern"

Sind die Nichtanstellung der Sozialdemokratin Charlotte Niess in Bayern wegen ihrer Mitgliedschaft in einer willkürlich als „verfassungsfeindlich" eingestuften Juristenvereinigung und die Abweisung von DKP-Mitgliedern vom Vorbereitungsdienst für Berufe, in denen der Staat das Ausbildungsmonopol hat, keine Berufsverbote? Ist die Entlassung eines kommunistischen Lok-Führers aus dem Staatsdienst kein Berufsverbot, weil er ja zu einer Privatbahn gehen kann? Oder ist dieses Wort nur deshalb ein Unwort, weil es auch von Kom-munisten verwandt wird? Wer die Untersagung einer bestimmten Berufstätigkeit wegen der bloßen Mitgliedschaft in einer nicht verbotenen Partei verteidigt, stellt sich nicht nur in einen Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht, sondern nimmt die Berufsverbotspraxis auch des Kaiserreichs, auch der Nationalsozialisten in Schutz. Was nützt der richtige Hinweis darauf, daß zwischen dem Deutschen Reich und der Bundesrepublik „Welten" liegen. Soll das heißen, die Arbeiterbewegung habe ihren Kampf ausgekämpft, die liberale Bewegung habe auf ganzer Linie schon gesiegt? Dann allerdings wäre die Forderung nach Veränderung gesellschaftlicher, wirtschaftlicher — auch politischer — Strukturen tatsächlich als „staatsfeindlich" unter Acht und Bann zu stellen. Dann gäbe es wirklich keine Parallele zwischen dem Kampf der Bebelschen Sozialdemokratie und denen, die sich heute für „strukturverändernde Reformen" aussprechen, also eine „Systemveränderung" anstreben.

Aber muß sich ein demokratischer Staat nicht immer wieder in Frage stellen lassen? Sind hierzu nicht gerade Hinweise auf unsere totalitäre Vergangenheit notwendig, damit den Anfängen gewehrt werden kann? Was wäre geschehen, wenn niemand gegen die neuen „schwarzen Listen" über Organisationen und Publikationen in den Fländen von Grenzbehörden — Uberwachungsmittel, die nicht zufällig an die entsprechenden Listen aus der Zeit des Sozialistengesetzes erinnern —, die Stimme erhoben hätte?

Binder sieht in den heute als „Systemveränderer" gescholtenen offenbar nur Neofaschisten und Kommunisten, bei denen der Unterschied zur Sozialdemokratie von 1878 auf der Hand liege. Doch wird nicht heute allzu oft allein schon die Forderung nach voller Ausschöpfung der Verfassung als „Systemveränderung" diffamiert? Wie sonst sollen denn Versuche interpretiert werden, der „sozialen Marktwirtschaft" Verfassungsrang zu geben? Und welche Bezeichnungen hätte die SPD zu erwarten, wenn sie mit ihrem Godesberger Programm Ernst machen würde, zum Beispiel mit ihrer Forderung nach Demokratie in allen Lebensbereichen Hieße dies nicht letztlich Bestimmung durch die Mehrheit auch in der Wirtschaft? Oder wie steht es mit der „Bändigung der Macht der Großwirtschaft" als „zentrale Aufgabe-einer freiheitlichen Wirtschaftspolitik" oder der Forderung nach „Investitionskontrolle" — alles keine „Systemveränderungen"?

Gerhart Binder gibt vor, eine „Lanze" zugunsten der SPD zu brechen. Doch welche SPD hat/er im Sinn? Offenbar nur die von Auer, nicht die eines Bebel, die von Noske, nicht die einer Luxemburg, die von Löbe und Lei-part, nicht die eines Kurt Schumacher. Zu der von ihm beanspruchten Objektivität gehört aber das gesamte Spektrum der Sozialdemokratie — sonst wird das linke Auge blind.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. u. a. Christian von Ferber, Der Werturteilsstreit 1909/1959. Versuch einer wissenschaftlichen Interpretation, in: Ernst Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, Köln/Berlin 1967, S. 165 ff.

  2. Karl-Ludwig Günsche/Klaus Lantermann, 100 Jahre Sozialistengesetz, in: Aus Politik und Zeit-geschichte, B 41/78, S. 31.

  3. Vgl. Julius Braunthai, Geschichte der Internationale, Bd. 2, Berlin/Bad Godesberg 19742, S. 39 ff.

  4. Günsche/Lantermann, ebenda.

  5. Hedwig Wachenheim (Hrsg.), Ludwig Frank. Ein Vorbild der deutschen Arbeiterjugend. Aufsätze, Reden, Briefe, Berlin o. J.

  6. Günsche/Lantermann, ebenda.

  7. Z. B. Heinrich Potthoff, Die Sozialdemokratie von den Anfängen bis 1945, Bonn-Bad Godesberg 1974, S. 77: „Die von den sozialdemokratischen Volksbeauftragten erstrebte parlamentarisch-demokratische Republik hätte nur dann die gewünschte tragfähige Basis bekommen, wenn die Demokratie nicht vor den Kasernen, Bürogebäuden und Fabriktoren halt gemacht hätte, sondern die Strukturen und Machtverhältnisse in Bürokra-. tie und Wirtschaft tiefgreifend aufgebrochen worden wären."

  8. Z. B. Grundriß der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin (Ost) o. J., 2. Aufl., S. 110.

  9. Erich Matthias, Sozialdemokratie und Nation. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der sozialdemokratischen Emigration in der Prager Zeit des Parteivorstandes 1933— 1938, Stuttgart 1952, S. 17.

  10. Vgl. Braunthai, Bd. 2, S. 404.

  11. Ebenda, S. 405.

  12. Günsche'Lantermann, S. 31.

  13. Besonders anschaulich bei Gerhard Beier, Das Lehrstück vom 1. und 2. Mai 1933, Frankfurt/Köln 1975.

  14. Zit. nach Arno Scholz/Walther G. Oschilewski, Turmwächter der Demokratie. Ein Lebensbild von Kurt Schumacher, 2. Bd., Berlin 1953, S. 96.

  15. Vgl. Grundsatzprogramm der SPD, hrsg. vom Vorstand der SPD, Bonn o. J., S. 7.

  16. Ebenda, S. 20.

  17. Ebenda, S. 22.

Weitere Inhalte

Klaus Lantermann, Dipl. -Politologe, geb. 1942, Studium der Publizistik und Politologie in Bonn und Berlin; Redakteur. Gemeinsame Veröffentlichungen: Kleine Geschichte der Sozialistischen Internationale, Bonn-Bad Godesberg 1977; Verbieten, aussperren, diffamieren. Hundert Jahre Sozialisten-gesetz und verwandte Praktiken, Köln/Frankfurt (Main) 1978. Karl-Ludwig Günsche, geb. 1941, Studium der Germanistik, Psychologie und Zeitungswissenschaft; politischer Redakteur.