I.
„De quelle Allemagne parlez-vous?" Von welchem Deutschland ist eigentlich die Rede? Relativ oft in den letzten Jahren hat das deutsche Publikum diese Fragen an die französischen Medien gestellt. Und immer wieder tauchte dabei auch der Name von Le Monde auf. Das war im Herbst 1974 so, als ein deutsch-französisches Mißverständnis in der Agrarpolitik zu einer unerquicklichen Presse-kampagne führte. Das war im Sommer und Herbst 1977 so, als die Entführung von Herbert Kappler aus Italien, der Tod von drei Häftlingen der Baader-Meinhof-Gruppe im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim, die Entführung einer Lufthansa-Maschine und die Befreiung der Geiseln in Mogadischu, schließlich der Mord an Hanns Martin Schleyer in wenigen Wochen die deutsche Realität in den Mittelpunkt französichen Interesses rückte. Le Monde war eine der Zeitungen, die am ausführlichsten über die dramatischen Vorgänge und ihre Hintergründe berichteten.
Doch gerade die Berichterstattung im Sommer und Herbst 1977 brachte Le Monde den Vorwurf ein, sie sei antideutsch. Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte ironisch: „Liebevolle Beschäftigung mit den Hauptfiguren der bundesdeutschen Terroristenszene ist eine weitere sonderbare Reaktion einiger französischer Massenmedien auf das Geschehen im Nachbarland; sie ist insbesondere eine Spezialität der Zeitung , Le Monde'." Der SPIEGEL zürnte: „Wenn freilich die 23 Toten unserer linksextremen Terrorszene auf das Konto rechter Ultras gingen, dann könnten wir wohl in , Le Monde'die Rezepte aus dem reichen Erfahrungsschatz Eurer exzellenten Polizei finden, mit solchem Spuk fertig zu werden. Auch dann würde noch stimmen, was Ihr in Eurer Verblendung leugnet — daß , Le Monde', antigermanisch'ist." Am weitesten ging das EG-Magazin mit seinen Vorwürfen gegen die „linksextremistische und nihilistische" Zeitung: „Die antideutsche Welle im Gefolge des Schleyer-Dramas wurde von , Le Monde'weder zufällig noch improvisiert in Bewegung gesetzt. Die bei dieser Gelegenheit bewiesene Gehässigkeit hat Methode. Verantwortliche französische Stellen versichern, den Beweis dafür zu besitzen, daß hinter dieser Kampagne der wohldurchdachte kommunistische Plan stecke, die Franzosen wieder an das Gespenst der bösen Deutschen zu gewöhnen. , Le Monde'säte Mißtrauen, um das deutsch-französische Verhältnis zu belasten und Frankreich schließlich in die Bahn des Neutralismus zu drängen."
• Daß sich das deutsche Interesse gerade auf Le Monde richtet, ist natürlich kein Zufall. Denn dieses Blatt gilt allgemein als das beste, kompletteste und einflußreichste Presseorgan Frankreichs. Keine andere französiche Zeitung berichtet auch nur annähernd so häufig über die Bundesrepublik wie Le Monde. Das gilt nicht nur für die politische Aktualität, sondern auch für die Bereiche Wirtschaft, Soziales und Kultur. Diese Feststellung gilt auch für „Normaljahre", in denen die Aufmerksamkeit der Journalisten nicht durch spektakuläre Ereignisse auf den deutschen Nachbarn gelenkt wird. Dazu kommt die Erfahrung, daß Le Monde in Frankreich auch eine besondere politische Funktion erfüllt. Alfred Grosser hat sie so definiert: „Sie nimmt einen ganz speziellen Platz im politischen Leben Frankreichs ein, einen Platz, wie ihn keine Zeitung in Großbritannien, den Vereinigten Staaten oder der Bundesrepublik hat: Sie dient als Gesprächsforum des politischen Milieus mit sich selbst." Die Bedeutung von Le Monde ergibt sich also allein schon aus der Aufmerksamkeit, die man ihr im In-und Ausland schenkt. Ihre Haltung zur Bundesrepublik ist damit in doppelter Hinsicht interessant: Einmal spiegelt sie die Denkweise bestimmter politischer und intellektueller Kreise in Frankreich wider, zum anderen hat sie mit Sicherheit Einfluß auf diese Diskussion.
II.
Ist Le Monde nun wirklich antideutsch, wie das deutsche und andere Kritiker behaupten? Eines dürfte nur schwer zu bestreiten sein: daß Le Monde — aus welchen Gründen auch immer — häufig Beiträge aus der eigenen Redaktion wie von außerhalb des Hauses veröffentlicht hat, die zumindest den Eindruck erwecken mußten, Le Monde beurteile die Bundesrepublik nach überwunden geglaubten Schemata, die eher feindlichen Ressentiments als dem Bemühen um objektive Beurteilung entsprechen. Im Einzelfall mag das nach dem Zusammentreffen von Zufällen oder nach journalistischer Unvollkonmmenheit aussehen. Die Häufung solcher „Zufälle" und „Unvollkommenheiten" legt jedoch eher den Schluß nahe, daß sich dahinter ein bestimmtes Bild von Deutschland verbirgt. Vier Beispiele sollen diese Vermutung konkretisieren.
Erstes Beispiel: Am 18. August 1976 meldete Le Monde unter einer sechszeiligen, fetten Überschrift, im britischen Observer hätten deutsche Anwälte, Schriftsteller und Arzte versichert, Ulrike Meinhof sei nach versuchter Vergewaltigung in ihrer Gefängniszelle erwürgt worden. Zwei Tage später erschienen das amtliche Dementi und ein Hinweis auf das Obduktionsergebnis des Gerichtsmedizinischen Instituts Stuttgart. Diese Meldung war Le Monde aber nur ein paar versteckte Zeilen ohne Überschrift wert. Journalistischer Sorgfalt hätte es entsprochen, zumindest ein gewisses Gleichgewicht in der Präsentierung zu wahren, um gleiche Aufmerksamkeit zu wek-
ken.
Zweites Beispiel: Wie fast die gesamte französische Presse sprach auch Le Monde monatelang von unmenschlichen, folterähnlichen Haftbedingungen für die Baader-Meinhof-Häftlinge in Stammheim. Diese Information wurde auch dann nicht korrigiert, als deutsche Zeitungen (etwa der SPIEGEL) ausführlich die wirklichen Zustände und die Privilegien der Baader-Meinhof-Häftlinge beschrieben. Noch am 1. September 1977 druckte Le Monde einen anonymen „Augenzeugenbericht" aus Stammheim, in dem eine der Gefangenen das Gefängnispersonal in äußerst rüdem Ton brutaler Tätlichkeiten beschuldigte. Am 26. Oktober 1977 korrigierte sich dann Le Monde. Während es am 1. September noch in einem redaktionellen Vorspann zum „Augenzeugenbericht" geheißen hatte, eine „sexuelle Beziehung zwischen Andreas und Gudrun" (gemeint sind Baader und Ensslin) habe den Wärtern als Vorwand für Ausschreitungen gedient, war am 26. Oktober zu lesen: „Jedermann weiß, daß Andreas Baader und Gudrun Ensslin in Stammheim so lebten, daß man von ehelichem Zusammenleben sprechen kann." Der Leser erfuhr nun, daß Baader und seine politischen Freunde Fernseher, Radio, Plattenspieler und bis zu 200 Bücher in ihrer Zelle hatten. Vieles deutet darauf hin, daß diese durch die deutsche Presse längst publik gemachte Information bewußt zurückgehalten wurde.
Drittes Beispiel: Le Monde gefällt sich immer wieder in beziehungsreichen Anspielungen auf vermeintlich typisch deutsche Eigenschaften (d. h. Untugenden), die suggestiv als Mittel der Meinungsbildung benutzt werden. Am 27. September 1974 etwa, als Bonn sich mit Paris über die europäischen Agrarpreise stritt, war unter der Überschrift „Ein neues Deutschland" auf der Titelseite von Le Monde in einem Kommentar folgendes zu lesen: „Kündigt die Brutalität, mit welcher der deutsche Kanzler seine europäischen Partner zum Gleichschritt zu zwingen versucht, an, daß, daß das , neue Deutschland'dank eines natürlichen Hangs gewisse Charakterzüge des . schlechten Deutschlands'von ehemals wiederfindet? Möchte Schmidt ein neuer . Eiserner Kanzler'sein?" Diese Technik, Fragen so zu stellen, daß durch Stil und Formulierung die Antwort suggeriert wird, findet sich immer wieder, wenn im „Bulletin" der ersten Monde-Seite deutsche Fragen kommentiert werden. So auch am 18. August 1977, als Le Monde dem Argument, das Grundgesetz verbiete eine Auslieferung Kapplers an Italien, die ironische Frage entgegensetzte: „Könnten die Hüter der nach dem Krieg in der Bundesrepublik etablierten Rechtsordnung mit Bestimmtheit sagen, daß alle Vorschriften des Grundgesetzes seit 28 Jahren immer skrupulös respektiert worden sind?" Der gleiche Ton herrschte am 18. November 1977 nach der Auslieferung von Rechtsanwalt Claus Croissant: „Die BRD hat also binnen weniger Monate zwei ihrer Bürger wieder: den Kriegsverbrecher Kappler, den Italienern dank einer in Deutschland höchst anerkannten sportlichen Leistung entrissen, und Croissant, den . entarteten Sohn', der vor Gericht gestellt wird." Da das tägliche Bulletin nicht namentlich gezeichnet, dafür von der Direktion der Zeitung gebilligt ist, drückt es die offizielle Meinung von Le Monde aus.
Viertes Beispiel: Am 2. September 1977 publizierte Jean Genet in Le Monde seinen vieldiskutierten Artikel „Gewalt und Brutalität", der fast einhellig als antideutsch eingestuft wurde. Darin hieß es zum Beispiel: „Wenn die USA nicht . physisch in Deutschland präsent wären, wenn ihre Ambitionen nicht diese Aufgeblasenheit erreicht hätten, wenn Europa nicht Westdeutschland — offen oder versteckt — die Rolle des Polizisten gegenüber dem Osten zugewiesen hätte, dann wäre diese Nadel Rote Armee Fraktion im zu fetten Fleisch Deutschlands weniger unmenschlich." Drei Tage vor der Entführung Schleyers behauptete Genet: „Niemals lassen die Mitglieder der RAF, nach allem was wir von ihnen wissen, ihre Gewalt zur reinen Brutalität werden." Und: „Jedes Mitglied der RAF akzeptiert, fordert, verlangt, total und bis zu Folter und Tod, eine der Inseln in diesem westlichen Archipel Gulag zu sein." Schon einen Tag später steuerte der mehrfach durch antideutsche Beiträge in Le Monde hervorgetretene General Francois Binoche (ganz im Sinne Genets) folgende Erkenntnis zur Diskussion bei: „Die Rehabilitierung Deutschlands, seines Volkes und seines Chefs ist nur noch ein dialektisches Problem, das leicht gelöst werden kann. Es führt über die Rechtfertigung des . Führers'. Man ist schon dabei, daran gibt es keinen Zweifel, die deutschen Historiker sind am Werk, und die Dokumente fehlen ihnen nicht, um ihre neue Sicht, ihre neue Moral abzusichern." Die Bundesrepublik als kapitalistischer Gulag, verwurzelt in der Nazitradition— auch dieses Deutschlandbild wurde in Le Monde mehrfach an exponierter Stelle verkündet.
III.
Die Liste solcher Beispiele ließe sich verlängern. Doch damit ist noch keine schlüssige Antwort auf die Frage möglich, ob Le Monde eine antideutsche Grundeinstellung hat. Nur eines läßt sich mit Gewißheit sagen: Redakteure von Le Monde haben in den letzten Jahren (und vor allem 1977) wiederholt in ihrer Zeitung ein Deutschlandbild verkündet, das weder auf ausreichender Kenntnis, noch auf sachgerechter Analyse, noch auf dem Bemühen um Verständnis beruhte; zudem öffnete Le Monde willig seine Spalten außenstehenden Autoren, die die deutsche Realität überzeichneten und damit (gewollt oder ungewollt) eine latente antideutsche Stimmung förderten. Wie lassen sich solche Erscheinungen in Le Monde erklären?
Ein erstes Motiv ist in einem Grundproblem der französischen Medien zu suchen: dem Selbstverständnis der Journalisten. Vielen scheint das Vermitteln der eigenen Meinung vorrangig vor der Darstellung der Fakten. Gerade in der Presse, nicht zuletzt in Le Monde, ist eine Ideologisierung festzustellen, die sich eher verstärkt. Kritiker von Le Monde haben darauf hingewiesen, daß unter der Dominanz des politischen Engagements die Objektivität leidet, weil die Trennung von Nachricht und Meinung bewußt fallengelassen wird und au-ßerdem häufig Ideologie das fehlende Wissen der Fakten und ihrer Zusammenhänge ersetzt Dieses Phänomen geht so weit, daß etwa Philippe Tesson, bis Juni 1978 Direktor des Quotidien de Paris, den Journalisten vorwarf, ihren Beruf zu diskreditieren: „Nicht weil sie Überzeugungen haben, was eine begrüßenswerte Sache ist, sondern weil der Eifer des Engagements bei ihnen den beruflichen Eifer ersetzt. Dieser Beruf leidet gefährlich unter der minimalen Distanz, die die Journalisten in ihrem Beruf zu ihrem politischen Engagement zu halten wissen." In gewissem Umfang gilt dieser Vorwurf auch für Le Monde, und eine solchermaßen motivierte intellektuelle Unredlichkeit läßt sich gerade bei der Deutschland-Berichterstattung beobachten. Sie ist sicher mit dafür verantwortlich, daß alte Klischeevorstellungen ungeprüft weiterbenutzt werden: sie erklärt auch eine gewisse Sorglosigkeit in der Übernahme von Werturteilen, die man selbst mangels Sachkenntnis nicht überprüfen kann.
Der Vorwurf ideologisch bestimmter Parteilichkeit gilt sicher nur für einen Teil der Monde-Redaktion. ’ Gerade in der Berichterstattung über die Bundesrepublik kann der Leser die Heterogenität der Redaktion verfolgen. Redakteure von Le Monde machen gar keinen Hehl daraus, daß sie in zwei politisch definierbare Gruppen zerfallen, die sich gelegentlich in ihrem eigenen Blatt Positionskämpfe liefern. Bei namentlich gezeichneten wie bei ungezeichneten Beiträgen läßt sich oft ohne große Schwierigkeiten feststellen, aus welchem „Lager" der Verfasser kommt. Das fällt vor allem beim „Bulletin" (erste Spalte der Titelseite) auf: Die Tendenz im Urteil über die Bundesrepublik schwankt je nach Autor zwischen kritischem Verständnis und spöttischem Unverständnis. So kann es also von Zufälligkeiten (Abwesenheit eines Redakteurs) oder internen Machtverhältnissen (Auftrag an einen bestimmten Redakteur) abhängen, wie das Deutschlandbild von Le Monde ausfällt. In jedem Falle drückt es aber in der Form des „Bulletins" die offizielle Meinung der Zeitung aus. Natürlich gilt der gleiche Effekt für andere Rubriken, für Aufmachung, Plazierung oder redaktionellen Vorspann. Der genannte „Zufallsfaktor" spielte im Sommer und Herbst 1977 eine größere Rolle als gewöhnlich, da die Korrespondentenstelle in Bonn für ein paar Monate nicht fest besetzt war, eine wichtige Informationsquelle für die Zentralredaktion also praktisch ausfiel.
Wenn sich ein gewisser „Ideologiejournalismus" auch in Le Monde breit macht, dann ist die zugrunde liegende Ideologie eindeutig auf der politischen Skala links anzusiedeln. Da die französische Linke der Bundesrepublik im allgemeinen nicht sehr freundlich gesonnen ist, sie zudem kaum kennt, tragen ihre Werturteile auch zur Verzerrung des Deutschlandbilds von Le Monde bei. In sozialistischen wie kommunistischen Kreisen ist ausgeprägtes Mißtrauen an der Tagesordnung; Vokabeln wie Ausnahmegesetze, politische Justiz, Hexenjagd auf Intellektuelle, Meinungsterror sind häufig, wenn es um die Bundesrepublik geht. Hinzu kommt eine ausgeprägte Furcht vor dem deutschen Industriepotential und vor einer Vorrangstellung der Mark. Auch der traditionelle Antiamerikanismus der Linken kommt zum Tragen; er wird auf die Bundesrepublik übertragen, da sie als Musterschüler der USA und als ihr Steigbügelhalter in Europa gilt. Auffallend ist auch die Bereitschaft, jedes Aufflackern nationalistischer Regungen jenseits des Rheins als neonazistische Gefahr zu interpretieren, ohne nach der
Bedeutung solcher Erscheinungen zu fragen. Gerade im Jahr 1977 waren derartige Denkschemata auch in Le Monde häufiger als sonst zu finden, wohl weil die Parlamentswahlen vom März 1978 bereits ihre Schatten vorauswarfen. Da sich Le Monde eindeutig für das Linksbündnis von Kommunisten, Sozialisten und Linksliberalen entschieden hatte, wurde auch Außenpolitik stets von links interpretiert und unter dem Vorzeichen eines möglichen Regierungswechsels gesehen. Kritik am politischen System der Bundesrepublik war damit zugleich Kritik an einem System, das man für Frankreich nicht wollte. Deutschland war so etwas wie ein Buhmann der innenpolitischen Diskussion. Stammheim wurde zum Symbol einer sich selbst auffressenden Konsumgesellschaft, die deutsche Sozialdemokratie zu einer Partei von Pseudolinken, die mit Hilfe von Radikalenerlaß und ähnlichen subtilen Methoden die echte Linke unterdrückt. Wer ein sozialistisches Frankreich wollte, für den war Bonn zudem ein potentieller Störenfried, der eine Linksregierung an der Seine mit Hilfe der mächtigen Mark boykottieren oder gar zum Scheitern bringen konnte.
Offen oder versteckt antideutsche Tendenzen werden von der Chefredaktion auch damit erklärt, daß Le Monde versuche, eine möglichst große Breite an Meinungen und Informationen zu bieten. Das gilt vor allem für die Rubriken „Tribune libre" und „Point de Vue", die im Prinzip allen Meinungen offenstehen. Es ist unbestreitbar, daß gerade aufgrund solcher Beiträge Le Monde einen ausgesprochenen Forumcharakter hat und eine Art Tummelplatz für die französische (und vor allem Pariser) Intelligenz ist. Dabei gilt das Prinzip: Je origineller ein Autor oder sein Beitrag, desto wahrscheinlicher sein Abdruck. Autoren wie Jean Genet oder Jean-Paul Sartre würden wegen ihrer exponierten Stellung jederzeit abgedruckt, auch wenn sie nachweisbar falsche Tatsachen behaupten. Le Monde nimmt für sich in Anspruch, sich gegebenenfalls diskret zu distanzieren. Wenn etwa ein Jean Genet sich mit dem Terrorismus der Roten Armee Fraktion identifiziert, so ist das für Le Monde ein Beitrag zur Meinungsfreiheit, der die Redaktion in keiner Weise bindet. Es scheint jedoch, daß die Dosierung der Meinungen nicht ganz frei von Manipulationen ist. So schrieb Alfred Grosser, seit langen Jahren Leitartikler von Le Monde, schon 1961: „Die Auswahl der , Tribunes libres'entspricht nicht immer dem wirklichen Meinungsspektrum. Die Auswahl der Informationen ist oft gelenkt, wenn es sich um die Ver-einigten Staaten und Deutschland handelt. Kurz, auch Le Monde als Meister der Ehrlichkeit arrangiert sich gelegentlich mit der intellektuellen Unerbittlichkeit."
IV.
Trotz eindeutig erkennbarer antideutscher Tendenzen scheint es unzulässig, Le Monde insgesamt als antideutsch einzustufen. Ein solcher Schluß unterschlägt nämlich die zahlreichen Beiträge, die sich wohl kritisch, aber mit Sachverstand, Faktenwissen und dem spürbaren Bemühen um Verständnis mit der deutschen Realität auseinandersetzen. Das gilt in aller Regel für Beiträge aus Bonn, aber auch für eine Anzahl von Meinungsartikeln aus der Pariser Redaktion. Zudem darf nicht daß Monde auch übersehen werden, Le eine Reihe ganze unabhängiger Persönlichkeiten zu Wort kommen ließ, die um Sympathie für die Bundesrepublik warben.
Gerade die in Le Monde von Genet provozierte Debatte führte zu einer offenen Auseinandersetzung mit dem deutschen Nachbarn. Alfred Grosser hat mehrmals an exponierter Stelle in die Diskussion eingegriffen. Seine Philippika gegen die „französischen Trugbilder" begann zum Beispiel mit dem provokativen Satz: „Wenn es eine Europa-oder gar Weltmeisterschaft des nationalen Selbstbetrugs gäbe, hätten wir die besten Siegeschancen." Olivier Wormser, ehemaliger Botschafter Frankreichs in Bonn, hielt seinen Landsleuten unverblümt vor, sie verurteilten die Bundesrepublik, ohne sie zu kennen Vor allem aber bezog Andre Fontaine, Chefredakteur von Le Monde, eindeutig Stellung. In einem glänzenden Plädoyer für mehr Verständnis wies er auf die Hauptprobleme im deutsch-französichen Verhältnis hin: die unterschiedlichen Denkstrukturen und die mangelhafte Bereitschaft, sich in Mentalität und Reaktion des andern hineinzuversetzen Wenn Fontaine fragt: „Sollte etwa der Hang zur Dominierung ein deutsches Monopol sein, wie es paradoxerweise sogar gewisse linke Geister zu glauben scheinen?", dann richtet sich diese Frage auch zwangsläufig an seine eigene Redaktion.
So ist es trotz mancher berechtigter Vorwürfe an die Adresse von Le Monde kaum möglich, von einem einheitlichen oder gar feindlichen Deutschlandbild zu sprechen. Es sind eher unterschiedliche Deutschlandbilder, die sich zu einem Mosaik zusammenfügen, das die deutsche Wirklichkeit stellenweise verzerrt. Damit wird Le Monde nicht der Maxime gerecht, die sie sich selbst gesetzt hat: „Vorrangige Absicht ist es, den Lesern klare und wahre Informationen zu geben." Doch es ist andererseits mit Sicherheit unsinnig, Le Monde eine systematische Verteufelung der Bundesrepublik vorzuwerfen, wie das (vor allem als Reaktion auf den Genet-Artikel) von der deutschen Presse gelegentlich getan wurde. Hier arbeiteten deutsche Journalisten mit der gleichen selektiven Methode, die sie Le Monde ankreideten: Nur negative Eindrücke werden registriert, die positiven übergeht man als selbstverständlich. So gilt letztlich auch für beide Seiten, was Henri Menudier zu bedenken gibt: „Was wird aus der öffentlichen Meinung, wenn die Presse angesichts schwer begreiflicher Phänomene, die jedoch eine präzise Antwort verlangen, ...den Kopf verliert? Ist nicht zu befürchten, daß all diese Polemik das wechselseitige Vertrauenskapital zerstört, das sich im Laufe der letzten Jahrzehnte angesammelt hat?"