Grundsätze einer freiheitlichen Wirtschaftsund Sozialordnung
Ahlener Programm, Düsseldorfer Leitsätze, Berliner Programm, Hamburger Beschlüsse, Mannheimer Erklärung, Grundsatzprogramm: In den großen programmatischen Aussagen der CDU nehmen Fragen der Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland — der Sozialen Marktwirtschaft — einen zentralen Platz ein. Gerhard Stoltenberg, der schleswig-holsteinische Ministerpräsident, wies auf dem Ludwigshafener Programmparteitag der CDU einleitend auf die besondere Bedeutung der Sozialen Marktwirtschaft für die CDU hin: „Im Selbstverständnis und in der öffentlichen Wertung verbinden sich mit der CDU nur wenige Begriffe so eindeutig wie der der Sozialen Marktwirtschaft."
Der öffentlichen Berichterstattung zufolge konnte man den Eindruck gewinnen, als ob es — nach der Diskussion der Mitbestimmungs-und Vermögensbildungsproblematik im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft auf den vorangegangenen Programmparteitagen — bei diesem Programm zentral um die Rolle von Arbeitszeitverkürzungen im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft gegangen wäre. Dieser Eindruck trügt. Zwar nahm dieses Thema auf dem Parteitag selbst einen breiten Raum ein, was angesichts von einer Million Arbeitslosen auch weiter nicht verwunderlich ist. Doch wird dabei übersehen, daß die CDU schon seit Mitte 1977 über ein von ihrem Bundesausschuß, dem sogenannten „Kleinen Parteitag", grundsätzlich beschlossenes Programm zur Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung mit detaillierten Vorschlägen zur flankierenden Verkürzung der Lebensarbeitszeit verfügt. Hinzu kommt, daß auch in Ludwigshafen völlig unstrittig war, daß Arbeits-Zeitverkürzungen in der Sozialen Marktwirtschaft statthaft sind. Umstritten — und das notwendigerweise — war, welche Art von Arbeitszeitverkürzung, von wem, wann durchgeführt, der Wiedererlangung der Vollbeschäftigung dienlich ist oder nicht (Ziffer 82).
Für die Beschreibung und Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft selbst sind die Ziffern 65 bis 72, in denen die CDU ihre „Grundsätze einer freiheitlichen Wirtschafts-und Sozialordnung" benennt, langfristig bedeutsamer als die Ziffer 82 des Grundsatzprogramms. Auf dem Parteitag waren diese Grundsätze nicht umstritten. Voraufgegangen war jedoch eine besonders intensive Diskussionsphase auf dem Berliner Grundsatzforum der CDU, aber auch in der danach eingesetzten Sonderkommission des Bundesvorstandes der CDU, in der Bundesvorstandssitzung zur Beschlußfassung über das Grundsatzprogramm und in der Antragskommission, die die endgültigen Empfehlungen für den Parteitag aussprach. In allen diesen Gremien spielten die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft eine ganz herausragende Rolle.
Soziale Marktwirtschaft — nicht instrumental gesehen Für die CDU ist die Soziale Marktwirtschaft mehr als eine höchst erfolgreiche Veranstaltung zwecks Wohlstandsmehrung. Die CDU würde an dieser Ordnung auch dann festhalten, wenn sie weniger materiellen Wohlstand hervorbrächte als andere Systeme. Denn: „Es wäre unerträglich, Güter auf Kosten der Freiheit zu gewinnen." (Ziffer 69) Mit diesen Aussagen, die man etwa im „Orientierungsrahmen '85" der Sozialdemokraten vergeblich sucht, stellt sich die CDU bewußt in die Tradition ihres Ahlener Programms und ihrer Düsseldorfer Leitsätze. Die befürwortete Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung wurde in diesen Programmen aufs engste auf die sittlichen und ethischen Grundentscheidungen zu-B rückbezogen. Dieser unmittelbare Bezug der Wirtschaftsund Gesellschaftsordnung auf die Grundwerte, deren Bedeutung als Maßstab und Orientierung für die Ausformulierung der Teilordnungen dadurch sichtbarer wird, ist in den vergangenen Jahren in der Diskussion um die Soziale Marktwirtschaft expressis verbis nicht mehr so deutlich zum Ausdruck gekommen. Es war jedoch ein Irrtum zu glauben, bei der Diskussion um die Soziale Marktwirtschaft genüge der Verweis auf die wirtschaftlichen Erfolge des Systems. Daß die Bedeutung der Sozialen Marktwirtschaft über den wirtschaftlichen Bereich hinausgeht, daß die Soziale Marktwirtschaft ein „wirtschaftsund gesellschaftspolitisches" Programm ist, dies immer wieder — auch in den siebziger Jahren — betont zu haben, gehört zu den bleibenden Verdiensten der CDU. Die Ziffer 61 des Berliner Programms hat dann auch wörtlich (einschließlich des ansonsten durch Chancengerechtigkeit ersetzten Begriffs „Gleichheit der Chancen") als Ziffer 66 Eingang in das Grundsatzprogramm gefunden.
Ein entscheidender zusätzlicher Schritt wurde jetzt im Grundsatzprogramm mit der Formulierung getan: „Dem Bekenntnis zur Demokratie als Organisationsform des Staates entspricht das Bekenntnis zum Markt als Organisationsform der Wirtschaft." (Ziffer 67) Mit dieser Aussage wird zu Recht daran erinnert, daß das freie Spiel von Angebot und Nachfrage mit dem höchsten Freiheitsgrad, zu kaufen oder auch nicht zu kaufen, die Alternative zur autoritären Fremdbestimmung von Bedürfnissen und deren Befriedigung ist. Die Parallele zur Demokratie im politischen Bereich ist von daher geboten und erhellend. Mit der Verankerung der Sozialen Marktwirtschaft in der zum „Menschenbild des Christen gehörenden Idee der verantworteten Freiheit" (Ziffer 65) wird noch einmal ganz besonders der über den reinen wirtschaftlichen Zweck hinausgehende Charakter der Sozialen Marktwirtschaft unterstrichen — ein Gedankengang, der im übrigen besonders auf neuere historische Forschungsergebnisse über die Ursprünge der Sozialen Marktwirtschaft zurückzuführen ist. Sie reichen, wie Philipp von Bismarck berichtet, bis in das Jahr 1938, bis zur Widerstandsbewegung gegen Hitler zurück
Die langfristig wohl wichtigsten Aussagen des Grundsatzprogramms für die Wirtschaftsund Sozialordnung der Bundesrepublik Deutschland sind die Ziffern 67 und 68. In ihnen werden detailliert die Grundelemente beschrieben, die zusammen die wirtschaftliche Ordnungspolitik und die soziale Ordnungspolitik der Sozialen Marktwirtschaft ausmachen. Neben den bekannten marktwirtschaftlichen Ordnungselementen wie z. B. Wettbewerb, dezentrale Steuerung durch Märkte, Machtkontrolle durch Gewaltenteilung werden erstmals in einem Parteiprogramm zusammenfassend auch die sozialen Ordnungselemente beschrieben: „— sozialer Ausgleich und Bedarfsgerechtigkeit; — Hilfe zur Selbsthilfe und private Initiative; — Leistungsgerechtigkeit und Versicherungspflicht; — Dezentralisierung und Selbstverwaltung; — Pluralismus und Minderheitenschutz;
— Tarifautonomie und soziale Partnerschaft; — vorbeugende und produktive Sozialpolitik; — Wahlfreiheit und Gleichwertigkeit der elementaren Lebensbedingungen;
— Generationsvertrag und Gleichberechtigung von Mann und Frau."
Diese Beschreibung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnungselemente der Sozialen Marktwirtschaft ist in mehrerlei Hinsicht bedeutungsvoll: — Die CDU beschreibt die Elemente ihrer Ordnung. Sie ist nicht der Gefahr erlegen, „gebetsmühlenhaft" ihr Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft zu wiederholen, damit aber praktisch nichts anderes als eine Beschreibung der faktischen Wirtschaftsund Sozialverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu verbinden. Der Ordnungs-und Gestaltungswille, den die CDU mit der Sozialen Marktwirtschaft verbindet, wird wieder sichtbar. Soziale Marktwirtschaft ist mehr als ein Name zur Bezeichnung der Wirtschafts-und Sozialverhältnisse des Jahres 1978 der Bundesrepublik Deutschland. Gegen die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zustande gekommene Verhältnisse werden nicht sanktioniert. — Nach der in den sechziger und Anfang der siebziger Jahre verbreiteten euphorischen Einschätzung der Keynesianischen Globalsteuerung — der Prozeßpolitik — hat eine Rückbesinnung auf die Ordnungspolitik stattgefunden. Mit der Benennung der wirtschaftlichen und sozialen Ordnungselemente wird die Soziale Marktwirtschaft zugleich inhaltlich bestimmt. Wer diese Ordnung durch eine „neue" Ordnung ersetzen will, hat die Begründungspflicht. Er muß klären, wie eine Ordnung ohne Machtkontrolle durch Gewaltenteilung, wie eine Ordnung ohne Pluralismus und Minderheitenschutz, ohne Generationsvertrag, Gleichberechtigung von Mann und Frau, ohne private Initiative erfolgreich funktionieren soll.
— Die CDU hat die Konsequenz aus dem gezogen, was Heiner Geißler 1977 auf dem Berliner Grundsatzforum wie folgt beschrieben hat:
„Die Soziale Marktwirtschaft, die Kapitalismus und Sozialismus überwunden hat, beschränkt sich daher nicht auf eine Ordnung des Marktes, sondern sie umfaßt auch die Ordnung der sozialen Leistungen. Ordnungspolitik und Verteilungspolitik sind in der Sicht der Sozialen Marktwirtschaft künstliche Gegensätze; denn auch die Verteilung der Ergebnisse des Marktes für diejenigen, die gar nicht am Produktionsprozeß beteiligt sind — immerhin 50 °/o der Bevölkerung —, muß geordnet sein. Und umgekehrt finden auch im Marktgeschehen Verteilungsprozesse statt. In beiden Bereichen kommt es auf die richtige Ordnung an.
Im sozialen Bereich ist die Ordnung gestört, wenn die Kriterien der Leistungsgerechtigkeit und der Bedürftigkeit nicht eingehalten, sondern rein quantitativ vorhandene Ansprüche ohne Rücksicht auf ihre Berechtigung fortgeschrieben werden. Im wirtschaftspolitischen Bereich ist die richtige Ordnung z. B. nicht vorhanden, wenn der Verteilungsprozeß zwischen Gewinn und Lohn sich nicht an der Leistung, sondern an der Macht der Verbände orientiert.
Ist die Ordnung in einem Bereich gestört, hat dies schwerwiegende Folgen für die Ordnung im anderen Bereich und damit für die Soziale Marktwirtschaft im ganzen.
Die ordnungspolitischen Kriterien im marktwirtschaftlichen Bereich: Wettbewerb, Dezen27 tralisation, Steuerung durch Angebot und Nachfrage, Autonomie der Beteiligten, Eigentum, sind anerkannt.
Im sozialen Bereich sind vergleichbare Kriterien erst in Ansätzen entwickelt und noch nicht zu einem ordnungspolitischen Ganzen zusammengefügt.
Dieses Vakuum empfinden wir heute besonders schmerzlich, weil bisher die Sozialleistungen aus dem gesteigerten wirtschaftlichen Wachstum finanziert werden konnten. Dies ist künftig im gleichen Ausmaß nicht mehr möglich."
Das ordnungspolitische Vakuum im sozialen Bereich ist mit der Ziffer 68 aufgefüllt. Weitere inhaltliche Ausführungen enthält das Kapitel „Sozialordnung" im Grundsatzprogramm.
Soziale Marktwirtschaft — neue Herausforderungen und immaterielle Werte Nicht im Antrag des Bundesvorstandes enthalten und von der Antragskommission auch nicht vorgeschlagen war die Ziffer 70 des Grundsatzprogramms. Diese Ziffer enthält eine Beschreibung von Herausforderungen an die Soziale Marktwirtschaft — Wettbewerbseinschränkungen, Vermögenskonzentration usw. — sowie eine Aussage über die wachsende Bedeutung der Bedürfnisse des Menschen, die über die materiellen hinausgehen. Die Ziffer wurde einem Antrag der Jungen Union folgend vom Parteitag zusätzlich aufgenommen. Der Bewertung, das es sich hierbei um eine marktwirtschaftskritische Betrachtungsweise
Daß der Parteitag den Herausforderungen nicht mit Mitteln außerhalb der Sozialen Marktwirtschaft, sondern möglichst marktwirtschaftskonform gerecht werden wollte, zeigte auch die Abstimmung zu Ziffer 86, auf die im folgenden Kapitel eingegangen wird. Von Interesse dürfte sein, daß der letzte Teil der Ziffer 70 wörtlich dem 2. Absatz der Ziffer 55 der von der Grundsatzprogrammkommission erarbeiteten Fassung des Entwurfs eines Grundsatzprogramms entspricht. Dieser Absatz beschreibt inhaltlich, was in der damaligen Ziffer 56 unter „soziales Wohlbefinden" verstanden werden sollte. Der Begriff „soziales Wohlbefinden" war auf dem Berliner Wissenschaftshearing besonders von Kurt H. Biedenkopf, aber auch von dem Nationalökonom Wilhelm Krelle kritisiert worden.
Der in der Tat recht unglückliche Begriff ist im Grundsatzprogramm nun nicht mehr enthalten. Das Anliegen selbst hat sich die CDU zu eigen gemacht. „Die Menschen brauchen heute mehr und anderes, um zuirieden zu sein. Sie beurteilen wirtschaitlichen Fortschritt auch danach, ob er Raum läßt für das Empfinden, gebraucht zu werden und eine sinnerfüllte Aufgabe zu haben, ob er mit menschenwürdigen Arbeitsplätzen und der Anerkennung persönlicher Leistung und Verantwortung verbunden ist." (Ziffer 70)
Dies auf dem Boden des wirtschaftlich Machbaren formuliert zu haben, ist ein besonderes Verdienst des Kapitels „Soziale Marktwirtschaft" im Grundsatzprogramm der CDU.
Wirtschaftsordnung — Öffentliche Aufgaben
Staatliche Ordnungspolitik Die Kritik am marktwirtschaftlichen System in der ordnungspolitischen Diskussion konzentriert sich neben der mehr gesellschaftspolitisch motivierten Forderung nach einem marxistisch-sozialistischen Wirtschaftssystem immer stärker auf die Frage, wie nach den Krisenerscheinungen im Energie-, Rohstoff-und Umweltbereich und angesichts abnehmender Wachstumsperspektiven unser Wirtschaftssystem am zweckmäßigsten zu organisieren sei.
Die CDU hat sich dieser Diskussion als Partei der Sozialen Marktwirtschaft gestellt. Aufbauend auf ihrer ordnungspolitischen Tradition, deren Grundlegung in den „Düsseldorfer Leitsätzen" vom 15. Juli 1949 erfolgte, hat sie die Kritik an der angeblichen Unfähigkeit unseres marktwirtschaftlichen Systems, die Probleme der Gegenwart und der Zukunft lösen zu können, beantwortet. In der „Mannheimer Erklärung" von 1975 wird dazu festgestellt: „Die Durchsetzung einer freiheitlichen Ordnungspolitik ist in der nachindustriellen Dienstleistungsgesellschaft eine politische Herausforderung, die mit der Durchsetzung der marktwirtschaftlichen Ordnung nach der Währungsreform im Jahre 1948 verglichen werden kann. Unsere Politik zielt darauf ab, so wie damals auch heute die Initiative des einzelnen zu mobilisieren und die Bereitschaft der Bevölkerung zu eigener Leistung und zur Mitwirkung zu wecken. Individuelle Initiative und Leistung sind für die Bewältigung der vor uns liegenden Probleme unerläßlich."
In der Diskussion über das Grundsatzprogramm hat die CDU vermieden, den ordnungspolitischen Utopien ihrer politischen Gegner die reine Negation entgegenzustellen. 'Sie griff die neuen Herausforderungen im ordnungspolitischen Bereich auf und entwikkelte Lösungsmöglichkeiten innerhalb eines funktionierenden marktwirtschaftlichen Rahmens, Damit folgte sie der Aufforderung Heiner Geißlers, der auf dem Grundsatzforum 1977 in Berlin sagte: „In der bisherigen Diskussion ist immer wieder das Bedürfnis ausgesprochen worden, uns schärfer von den anderen Parteien abzugrenzen, uns im Programmtext selbst mit dem Sozialismus auseinanderzusetzen, der These die Antithese gegenüberzustellen. Dazu tritt der Wunsch, unsere eigene Identität möglichst knapp und prägnant darzustellen, die politische Konzeption der CDU gewissermaßen auf eine Formel zu bringen. Dieses Bedürfnis nach Klarheit über die eigene Identität ist allerdings mit Abgrenzungsformeln nicht zu befriedigen.
Uns genügt es nicht, die eigene Position aus der Negation zu formulieren. Wir wissen:
Wer sich darauf einläßt, verliert die Kraft zum Aufbruch. Parteien, die sich aus der gegenseitigen Abgrenzung definieren, wetteifern um den Rückschritt."
Während sich die Grundsatzprogrammkommission in ihren beiden Berichten vom 9. Oktober 1972 bzw. 20. November 1973 in Teilbereichen mit ordnungspolitischen Fragen auseinandersetzte und sich auf die Probleme des Umweltschutzes und der Selbstbestimmung und Mitverantwortung in der Arbeitswelt konzentrierte, griff sie die ordnungspolitische Problematik in ihrem „Entwurf für ein Grundsatzprogramm" von 1976 in ganzer Breite auf: „Die beherrschende Frage der Sozialen Marktwirtschaft lautet bisher: Wie muß eine Wirtschaft funktionieren, damit alle Menschen möglichst sicher und gerecht am Wohlstand teilhaben? Diese Frage behält ihre volle Bedeutung. Sie begegnet uns in der wachsenden internationalen Verflechtung unserer Volkswirtschaft, der weltweiten Bevölkerungsexplosion, der Rohstoffknappheit und der Energieversorgung. Sie stellt sich uns im veränderten Altersaufbau der eigenen Bevölkerung, in anhaltenden Beschäftigungsproblemen und in den Grenzen der Belastbarkeit der Umwelt. Auch die Bedürfnisse der Menschen entwickeln sich fort. Die Soziale Marktwirtschaft hat unzweifelhaft den Freiheitsspielraum des einzelnen erweitert. Sie hat aber auch Erwartungen ausgelöst, die über den materiellen Wohlstand hinausgehen. Die Menschen brauchen heute mehr und anderes, um zufrieden zu sein. Sie beurteilen den wirtschaftlichen Fortschritt zunehmend auch danach, ob er Raum läßt für das Empfinden, gebraucht zu werden und eine sinnerfüllte Aufgabe zu haben, ob er mit menschenwürdigen Arbeitsplätzen und der Anerkennung persönlicher Leistung und Verantwortung verbunden ist."
Die mit dieser Herausforderung einhergehende Notwendigkeit, die Bewahrung der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht als einen statischen, sondern als einen dynamischen Vorgang zu begreifen, fand ihren Niederschlag in der Feststellung der Grundsatzprogrammkommission: „Wohlstand und soziale Sicherung wurden mit der Marktwirtschaft erreicht. Aber sie bleiben nicht für alle Zeiten verbürgt. Krisen der Weltwirtschaft gefährden unser freiheitliches Wirtschaftssystem insbesondere dann, wenn sie mit Fehlentwicklungen im eigenen Land Zusammentreffen."
Die sich daran anschließende Diskussion in der CDU zeigte, daß es der Partei im Bereich ihrer marktwirtschaftlichen Ordnungspolitik vorrangig um die Ansprache derjenigen Bereiche ging, die wirtschaftliche Dynamik fördern und sichern und damit Beschäftigung, Wohlstand und soziale Sicherheit erhalten. Auf dem Berliner Grundsatzforum sagte Kurt H. Biedenkopf: „Wenn staatliches Handeln in erster Linie auf die sichere Teilhabe am Wohlstand gerichtet ist und nicht zugleich die Entfaltung wirtschaftlicher Aktivitäten und Initiativen unterstützt, bleibt das Ergebnis wirtschaftlicher Tätigkeit in der gesamten Volkswirtschaft im günstigsten Falle konstant." Und weiter: „Sobald die tragenden Elemente einer Wirtschaftspolitik nur noch Umverteilung und Ausgleich und nicht auch Förderung von Initiativen und Vorantreiben der Neuerungsprozesse durch eine aktive Wirtschaftspolitik sind, führt dies zur Stagnation."
Der vom Bundesvorstand der CDU 1977 vorgelegte Entwurf eines Grundsatzprogramms berücksichtigte die Anregungen, die auf dem Berliner Grundsatzforum 1977 gegeben wurden. Der staatlichen Ordnungspolitik wurde die Aufgabe zugewiesen, Eigeninteresse und Gemeinwohl in Einklang zu bringen und den Rahmen des Wettbewerbs zu setzen. Letzteres bedeutet, Wettbewerb kann nur funktionie-ren, wenn die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälscht sind. Einem geordneten Wettbewerb wurde die wichtige Rolle zuerkannt, der Gesellschaft die fruchtbare Austragung von Konflikten zu ermöglichen.
Ein funktionsfähiger und geordneter Wettbewerb erfordert auch eine entsprechende Wettbewerbskontrolle. Schon in den „Düsseldorfer Leitsätzen" von 1949 wird zur marktwirtschaftlichen Ordnung ausgeführt: „Diese Ordnung wird geschaffen durch Freiheit und Bindung, die in der Sozialen Marktwirtschaft durch echten Leistungswettbewerb und unabhängige Monopolkontrolle zum Ausdruck kommen. Echter Leistungswettbewerb liegt vor, wenn durch eine Wettbewerbsordnung sichergestellt ist, daß bei gleichen Chancen und fairen Wettkampfbedingungen in freier Konkurrenz die bessere Leistung belohnt wird."
Die Grundsatzprogrammkommission formulierte in ihrem Entwurf: „Der Staat muß ständig durch eine wirksame Wettbewerbspolitik den Markt erhalten. Jede unkontrollierte Konzentrationsbewegung schränkt diese Vielfalt ein und begünstigt den Ruf nach Investitionslenkung. " Aufgrund der Antragslage zum Bundesparteitag in Ludwigshafen kam die Antrags-kommission zu der Feststellung, daß von der Partei wettbewerbspolitische Grundsätze gefordert wurden, die über die Kontrolle einzelner Konzentrationsbewegungen hinausgehen. Sie schlug deshalb vor, eine Formulierung in das Programm aufzunehmen, nach der bereits „Konzentrationstendenzen in der Wirtschaft entgegengewirkt (werden sollte)". Damit wird eine Politik gefordert, die einen Abbau konzentrationsfördernder Tatbestände (z. B. im Steuerrecht, in der Forschungsförderung etc.)
anstrebt.
Notwendigkeit und Grenzen des Wachstums Breiten Raum nimmt in der parteiinternen Diskussion die Frage nach der Bewertung wachstumspolitischer Zielvorstellungen ein. Bereits im ersten Bericht der Grundsatzkommission vom 9. Oktober 1972 wurde ausgeführt: „Nicht in der Quantität um ihrer selbst willen, sondern in der qualitativen Steuerung des Wachstums liegt die Aufgabe."
Damit war jedoch nicht gemeint, eine beschäftigungsgefährdende Wachstumspolitik zu treiben, was durch die entsprechende Passage im Entwurf der Grundsatzprogrammkommission klargestellt wurde: „Nur mit Hilfe wirtschaftlichen Wachstums lassen sich gegenwärtige und künftige Bedürfnisse besser befriedigen. Die Probleme werden sich verschärfen. Wir werden sie nur durch steigende Ergebnisse wirtschaftlicher Tätigkeit meistern: den Mangel an Arbeitsplätzen durch höhere Investitionen, den notwendigen Strukturwandel mit Hilfe von human orientierter Technologie und Forschung und die Not in der Welt durch wirksamere Hilfe zur Entwicklung und zur Selbsthilfe." Aber die Neuorientierung in der Wachstumspolitik wurde bereits dadurch erkenntlich, daß die Grundsatzprogrammkommission in ihrem Entwurf weiter fortfährt: „Der soziale Fortschritt der letzten Jahrzehnte beruhte, neben der Erhöhung der Produktivität, vor allem auf einer Ausweitung der Produktion. Dabei wurden wichtige Rohstoffe rücksichtslos ausgebeutet und teure Güter verschwendet. Die Grenzen des natürlichen Reichtums müssen künftig seine Nutzung bestimmen und die technologische Entwicklung beeinflussen. Wir brauchen ein qualitatives Wachstum, das in der Produktion hochwertig, im Gebrauch der Produktivkräfte sparsam und stärker auf immaterielle Bedürfnisse ausgerichtet ist. Qualitatives Wachstum zu fördern, ist eine der vordringlichen Aufgaben der Wirtschaftspolitik."
Die Anträge zum Ludwigshafener Parteitag zeigten deutlich, daß die Partei sich intensiv mit dieser Problematik beschäftigt. Uber den vom Bundesvorstand vorgelegten Programm-entwurf hinaus wurde neben einer die um-weltpolitische Problematik behandelnde Passage eine neue Ziffer gefordert, in der wachstumspolitische Perspektiven durch den Hinweis auf die ökologischen Nebenbedingungen relativiert werden sollten. Albrecht Hasinger sagte auf dem Parteitag dazu: „Qualitätsorientiertes Wachstum muß die natürlichen Lebensgrundlagen für die kommenden Generationen bewahren. Wir brauchen alternative Technologien, die die Natur nicht bezwingen, sondern bewahren."
Die CDU hat einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit keine prioritäre Rolle zugemessen. Das geht aus den entsprechenden Passagen des Grundsatzprogramms eindeutig hervor: „Die Schäden der Arbeitslosigkeit gehen weit über den Produktionsausfall hinaus, die menschlichen sind noch größer als die materiellen. Aber die Arbeitslosigkeit ist kein unabänderliches Schicksal. Vollbeschäftigung ist ein wichtiges wirtschafts-und gesellschaftspolitisches Ziel, für das der Staat mit zuverlässigen Rahmenbedingungen und seinen konjunktur-, Wachstums-und strukturpolitischen Instrumenten und die Tarifpartner wesentliche Verantwortung tragen. Zur Erreichung der Vollbeschäftigung müssen alle geeigneten Mittel ausgeschöpft werden. Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung müssen in Einklang stehen mit dem wirtschaftlichen Wachstum und der Vollbeschäftigung. Unverzichtbare Voraussetzungen einer erfolgreichen Beschäftigungspolitik sind eine bedarfsgerechte Förderung der beruflichen Aus-und Weiterbildung und eine solidarische Lohnpolitik unter Einschluß der Vermögensbildung." (Ziffer 82)
Der von den Sozialausschüssen zum Bundesparteitag gestellte Antrag, arbeitszeitverkürzende Maßnahmen in „vielfältiger" Form zur Sicherung der Vollbeschäftigung im Grundsatzprogramm zu fordern, löste eine lebhafte Diskussion aus. Für die Sozialausschüsse sagte Norbert Blüm auf dem Parteitag: „Aus meiner Sicht spielen drei Kriterien eine wichtige Rolle, an denen wir entscheiden sollten, welcher Arbeitszeitverkürzung wir den Vorzug geben. 1. Wir sollten Arbeitszeitverkürzung bevorzugen, die ein Flöchstmaß von Entscheidungen in die Hand des einzelnen geben, ein Höchstmaß von individuellen Wahlmöglichkeiten. 2. Wir sollten Arbeitszeitverkürzungen den Vorzug geben, in denen gleichzeitig auch der Wunsch nach Vermenschlichung der Arbeit, nach Humanisierung berücksichtigt ist. 3. Wir sollten Arbeitszeitverkürzungen bevorzugen, in denen ein Höchstmaß von arbeitsmarktpolitischer Anpassung enthalten ist.
Ich glaube, die Verkürzung der Lebensarbeitszeit erfüllt alle drei Vorzugskriterien."
Unterschiedliche Meinungen bestanden jedoch darüber, ob durch staatliches Handeln, d. h. durch Verkürzung der Lebensarbeitszeit, Arbeitsmarktpolitik betrieben werden sollte. Kurt H. Biedenkopf führte dazu aus: „Die Verkürzung der Arbeitszeit ist also, wenn sie als staatliches Mittel dienen soll, nur durch die Verkürzung der Lebensarbeitszeit möglich. Hierzu sind immer wieder zwei Vorschläge gemacht worden: Vorziehung des Rentenalters und Verlängerung der Ausbildung. Ich halte es für nicht nur problematisch, sondern gerade für das System der sozialen Sicherheit für lebensgefährlich, wenn man dieses System der sozialen Sicherheit jetzt zur Disposition kurzfristiger, konjunkturpolitischer Maßnahmen stellt."
Angesichts der unterschiedlichen Positionen, die sich auf dem Parteitag zur arbeitsmarkt-politischen Relevanz einer Verkürzung der Lebensarbeitszeit ergaben, brachte Gerhard Zeitei für die Mittelstandsvereinigung der CDU einen mit den Sozialausschüssen abgestimmten Kompromißvorschlag ein: „Maßnahmen zur Arbeitszeitverkürzung müssen in Einklang stehen mit dem wirtschaftlichen Wachstum und der Vollbeschäftigung."
Norbert Blüm plädierte für die Annahme dieses Kompromißvorschlags: „Dieser Vorschlag von Herrn Prof. Zeitei beinhaltet keine Denkverbote. Er hält das offen, was wir seit Jahren auch im Zusammenhang mit der Vollbeschäftigung gemacht haben. Wir haben ja auch die 48-Stunden-Woche verkürzt, wir haben die Urlaubszeiten verlängert, wir haben die Altersgrenze flexibel gemacht. Es wird doch wohl niemand im Saale sein, der behauptet, wenn wir das nicht gemacht hätten, wäre die Arbeitslosenzahl heute genauso groß, wie sie ist."
Der Bundesvorstand hat in seinem Entwurf diese Frage vertieft behandelt. Neben der leistungshemmenden Abgabenlast, den strukturellen Defiziten und deren notwendiger Konsolidierung griff er vor allem die ordnungspolitischen Probleme auf, die sich im Zusammenhang mit einer zunehmenden Staatstätigkeit stellen: „Durch die Übernahme eines wesentlichen Teils der Dienstleistungen durch den Staat wird dessen Finanzkraft sowie seine Leistungs-und Steuerungsfähigkeit überfordert. Noch schwerer wiegt, daß dem Staat auf diese Weise wirtschaftliche und gesell-8) schaftliche Macht zuwächst, die zu einer zunehmenden Abhängigkeit des einzelnen von staatlichen und öffentlichen Einrichtungen und damit zu einer Abnahme individueller Freiheiten führt."
Die Anträge zum Bundesparteitag gingen aber über diese Formulierung noch hinaus. Sie forderten vor allem eine Erwähnung der wachsenden Probleme, die eine zunehmende Bürokratisierung mit sich bringt, der dadurch abnehmenden Kontrollmöglichkeiten des Staates durch die Bürger und des durch die Überforderung staatlicher Finanzkraft gestörten Gleichgewichts zwischen den Ansprüchen der Gegenwart und dem Bedarf der Zukunft.
Neben einem Begründungszwang für staatliche Tätigkeit beschloß der Parteitag zudem, die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft auch außerhalb der gewerblichen Wirtschaft wieder stärker zur Geltung zu bringen: „Die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft sind jedoch nicht auf den Bereich der gewerblichen Wirtschaft beschränkt. Sie sind auch in Bereichen wie dem Gesundheits-und Bildungswesen oder dem Umweltschutz anwendbar und verstärkt einzusetzen.“ (Ziffer 96) Zwar kann das Angebot in diesem Bereich nicht über Märkte gesteuert werden, doch kann es dezentral, leistungsbezogen und im Wettbewerb erbracht werden: „Die Verwirklichung dieses Ziels erfordert Initiativen vom einzelnen und von den Verbänden, freien Trägern und genossenschaftlichen Organisationen. Unsere Politik verschafft den Grundsätzen der Subsidiarität, Selbstverwaltung und Selbsthilfe auch in der industriellen Gesellschaft Geltung und sichert den notwendigen Freiraum für Initiative." (Ziffer 96)
Ergänzend dazu beschloß der Parteitag steuerpolitische Grundsätze: „Die steuerliche Abgabenbelastung muß die Prinzipien der Steuergerechtigkeit berücksichtigen und darf die private Initiative und Leistungsfähigkeit nicht ersticken. Ein überschaubar ausgestaltetes Steuersystem soll die Lasten gerecht verteilen. Die Einkommensbesteuerung soll der individuellen Leistungsfähigkeit Rechnung tragen und insbesondere die gesetzlich festgelegten Unterhaltslasten gebührend berücksichtigen." (Ziffer 97)
Für die notwendige Konsolidierung der Haushalte, die nur zusammen mit einer größeren wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit erreicht werden kann, wurde die Forderung nach einer wachstumsfördernden Steuerpolitik in das Grundsatzprogramm aufgenommen.
Sozialordnung
Die Überraschung des Ludwigshafener Partei-tages war, daß es sozialpolitisch keine Überraschung gab. Von vielen mit Spannung erwartet, verlief die Diskussion um die Ziffern 98 bis 113 auf dem Parteitag recht undramatisch. Innerhalb einer guten Stunde faßte der Parteitag Beschluß über die sozialpolitischen Grundsätze der CDU. Dies ist für die CDU ein bemerkenswertes Faktum, denn in der Vergangenheit entzündete sich die Diskussionsfreude der Delegierten gerade an sozialpolitischen Thesen. Sachkundige Beobachter führen dies auf eine besonders intensive Durchdringung sozialpolitischer Themen in den Oppositionsjahren der CDU zurück — die sozialpolitischen Kapitel bekamen bereits auf dem Berliner Wissenschaftshearing sowohl inhaltlich wie formulierungsmäßig recht gute Kritiken. Daß sich eine kontinuierliche Sachpolitik für die CDU lohnt, daß eine solche Politik auch beim Bürger „ankommt", zeigen demoskopische Erhebungen.
Der Union gelang es, von 1973 bis 1978 traditionelle Kompetenznachteile vor allem im Sozialbereich deutlich zu verringern. Im Verlaufe des Jahres 1977 vermochte die Union sogar erstmals auch auf sozialpolitischen Gebieten die SPD als leistungsfähigste Partei abzulösen. Bemerkenswert daran ist vor allem, daß dieser Durchbruch gerade auf jenen Feldern erfolgte, die vom Bürger als besonders wichtig empfunden werden (z. B. Renten, Arbeitslosigkeit). So meinten noch 1972 rund 38 °/o der Bevölkerung, daß die SPD auf dem Gebiet der Beschäftigungspolitik besser sei; nur 25 °/o glaubten dies damals von der Union
Es ist schon ein erstaunlicher Vorgang, wenn sich innerhalb von nur wenigen Jahren die Leistungsprofile der Parteien in den Augen der Bevölkerung so umfassend und tiefgreifend verändern. Denn die Leistungsprofile sind als über Jahrzehnte hinweg gewachsene Meinungen der Bürger nur außerordentlich schwer zu beeinflussen. Als historischer Einschnitt muß deshalb gewertet werden, wenn die Union gerade in den zentralen sozialpolitischen Bereichen neuerdings als leistungsfähiger angesehen wird als die SPD. Schließlich vermochte sich die SPD über Jahrzehnte hinweg in den Augen der Bürger als die Partei des „sozialen Fortschritts" zu präsentieren. Mit dem Jahr 1977 hat sich damit als Legende erwiesen, daß der soziale Bereich gleichsam schicksalhaft Domäne der SPD sein müsse. Das Jahr 1977 hat vielmehr gezeigt, daß sich die Bürger durch eine konsequente und glaubwürdige Sachpolitik unabhängig von gewachsenen Meinungen überzeugen lassen.
Entscheidend aber ist wohl, daß . sich die CDU die Neue Soziale Frage voll zu eigen gemacht hat. Diese neue Sichtweise und Erklärung sozialpolitischer Probleme war im Jahre 1974 vom damaligen Sozialminister von Rheinland-Pfalz und dem jetzigen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler in die Grundsatzprogrammdiskussion eingebracht worden und stand bereits im Mittelpunkt der Mannheimer Erklärung der CDU.. Auch im Kapitel Sozialordnung im Grundsatzprogramm stehen Aussagen zur Neuen Sozialen Frage im Vordergrund.
Neue Soziale Frage „Seit dem 19. Jahrhundert stand die Sozialpolitik im Banne des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit... Den Konflikt gibt es noch. Es sind aber neue soziale Probleme und Konfliktfelder entstanden ... Zu dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit sind Konflikte zwischen organisierten und nichtorganisierten Interessen, Erwerbstätigen und nicht im Berufsleben Stehenden, Mehrheiten und Minderheiten getreten ... Der demokratische Staat läuft Gefahr, sich nur nach organisierten Mehrheiten zu richten. Der Staat als Anwalt des Gemeinwohls hat aber die Aufgabe, die Machtlosen und Minderheiten in der Gesellschaft im Wettbewerb um die materiellen und immateriellen Güter zu schützen. Hier stellt sich die Neue Soziale Frage.“ (Ziffern 99 und 100) Innerhalb von fünf Jahren hat die Neue Soziale Frage ihren dominierenden Einfluß im sozialpolitischen Denken der CDU so gefestigt, daß diese Sätze mit nur einer Gegenstimme beschlossen wurden. Diese Tatsache ist angesichts der Brisanz und Tragweite der mit der Neuen Sozialen Frage aufgeworfenen Problematik bemerkenswert. Immerhin wurde die Neue Soziale Frage von recht unterschiedlichen Denkschulen heftig attackiert: Die einen warfen den Vertretern der Neuen Sozialen Frage vor, die Interessengegensätze zwischen Kapital und Arbeit zu bagatellisieren mit allen daraus folgenden Infragestellungen der im Konfliktfeld von Kapital und Arbeit angesiedelten Regelmechanismen und Institutionen. Die anderen wiederum sahen ganz im Gegenteil die Gefahr einer Infragestellung wirtschaftlichen Denkens. Neue Sozialausgaben könne man sich unmöglich leisten, die alten seien kaum zu bezahlen. Weltfremd sei es, zu glauben, man könne sozialpolitische Besitzstände in Frage stellen
Das notwendige Instrumentarium zur öffentlichen Beurteilung der Prioritätenfrage hat die CDU entworfen, und zwar in den gegenüber der Mannheimer Erklärung neu formulierten Ziffern 98, 107 und 109. In diesen Ziffern werden einmal die primären Aufgaben der Sozialpolitik benannt: „Zu den wichtigsten Aufgaben einer am Menschen orientierten Sozialpolitik gehört es, — Schutz vor Armut und Not, — sozialen Ausgleich vor allem für die Familie, — individuelle Sicherheit durch Absicherung und Vorsorge gegen Wechselfälle des Lebens, — Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen zu gewährleisten." (Ziffer 98)
Zum anderen werden die Handlungsprinzipien der Neuen Sozialen Frage mit dem Schwerpunkt Konzentration der Leistungen auf die wirklich Hilfsbedürftigen und vorbeugende Sozialpolitik beschrieben: „Die Neue Soziale Frage erfordert eine neue soziale Politik. Sie ist soziale Ordnungspolitik. Ihre Handlungsprinzipien sind:
— Die sozialen Leistungen müssen auf die wirklich Hilfsbedürftigen konzentriert werden. — Durch eigene Leistung oder Aufopferung für die Gemeinschaft erworbene Rechtsansprüche verdienen besonderen Schutz.
— Die sozialen Leistungen müssen humaner und wirtschaftlicher erbracht und so geordnet werden, daß ihre soziale Wirksamkeit erhöht wird.
— Es ist besser, die Entstehung sozialer Übel zu verhindern, als sie nachträglich zu beseitigen. Deshalb müssen bereits in den Planungen die wirtschaftlichen und sozialen Gesichtspunkte berücksichtigt werden." (Ziffer 107)
Die Bedeutung dieser Ziffern, besonders der Ziffer 98, ist offenkundig. Die Legitimationsgrundlage wird wieder in Anknüpfung an die wesentlichen Ziele sozialen Engagements gesucht; eine schlichte Fortschreibung der Besitzstände — auch wenn es sich um sog. „soziale" handelt — genügt diesen Anforderungen nicht. Die Sozialpolitik ist aufgefordert, künftig mit den vorhandenen Mitteln sehr viel wirtschaftlicher und sozial effizienter umzugehen. Mehr Wirtschaftlichkeit auch im Sozialbereich ist notwendig, um die allgemeine Wirtschafts-und Finanzkrise mit überwinden zu helfen. Mehr Wirtschaftlichkeit im Sozialbereich ist aber vor allem notwendig, um bisher vernachlässigte sozialpolitische Ziele und Personengruppen besser erreichen zu können. In der heutigen Situation, in der die Finanz-und Wirtschaftsprobleme immer bedrückender werden, wird der Zwang zu Prioritätsentscheidungen unausweichlich. Bisher konnte sozialer Fortschritt aus dem Wachstum bezahlt werden; jetzt muß sich das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit zum ersten Mal in Zeiten knapper Mittel bewähren.
Es wäre verfehlt, die wirtschaftlichen und finanziellen Herausforderungen an die Sozialpolitik nur als Bedrohung zu empfinden; diese Herausforderungen sind auch eine Chance. In einer solchen Situation kann das Bewußtsein für die vorrangigen sozialen Aufgaben bei breiten Schichten der Bevölkerung wieder geschärft werden. Dabei dürfte eines unbestritten sein: Solange es noch Menschen in unseB rer Gesellschaft gibt, die materiell, aber auch immateriell Not leiden, ist es verfehlt, Sozialleistungen auch den Bürgern zukommen zu lassen, deren Leistungsfähigkeit dies nicht unbedingt gebietet. Zumal zum Mangel an materiellen Gütern oft noch ein viel größerer Mangel an sozialer Integration hinzukommt. Die Solidarität, auf der unser Sozialsystem nicht zuletzt aufbaut, verlangt, daß denen zuerst und ausreichend geholfen wird, die dieser Hilfe auch wirklich bedürfen.
Manchen mag verwundern, daß mit Ausnahme kurzer Hinweise in den Ziffern 98, 101 und 109 sonst keine Hinweise auf das Thema . Armut in der Industriegesellschaft'im Grundsatzprogramm enthalten sind, obwohl nach Analysen von Heiner Geißler aus dem Jahre 1975 dieses Thema in der Öffentlichkeit besonders eng mit der Neuen Sozialen Frage verknüpft wird. Die Erklärung ist relativ einfach. Die Meßlatte „Armutsniveau" ist bereits in den ersten Studien Geißlers immer als ein Hilfsmittel zur Beurteilung herangezogen worden, welche Gruppen als unterprivilegiert zu gelten haben. Da „Armut" im Anschluß an die Sozialhilfe relativ definiert wird, ist neben der absoluten Zahl der „Armen" vor allem interessant, welche Gruppen besonders betroffen sind. Konsequenterweise werden dann im Grundsatzprogramm gleich die Problemgruppen benannt, z. B. alte Menschen, Behinderte, ausländische Arbeitnehmer und ihre Kinder — und es wird auch gesagt, was zu tun ist, um zu helfen.
Die CDU beschreibt die Neue Soziale Frage nicht dahin gehend, daß der alte Konflikt Ka-pital/Arbeit durch den neuen Konflikt Orga-nisierte/Nichtorganisierte abgelöst ist. Der Konflikt Organisierte/Nichtorganisierte wird vielmehr als einer der großen neuen Konflikte dargestellt. Als weiterer großer Konflikt wird z. B.der Konflikt zwischen Produzenten und Nichtproduzenten genannt. Wie stark die Bedeutung dieses von Geißler als Generationen-und Geschlechterkonflikt
Generationenvertrag „Nicht länger kann davon ausgegangen werden, daß die erwerbstätige Generation wie früher selbstverständlich bereit ist, zugunsten der Kinder und alten Menschen Verzicht zu leisten. Die sinkende Geburtenrate und die wachsende Isolierung sowie materielle Not vieler alter Menschen sind dafür wichtige Indizien. Der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Deutschland ist gegenwärtig so stark, daß diese Generation zwar nicht unerheblich entlastet wird, dadurch aber der künftigen Generation fast kaum mehr zu bewältigende Finanzierungslasten für die Altersrenten auferlegt werden. Diese Entwicklung ist so ausgeprägt, daß man fast den Eindruck gewinnen könnte, als ob von der heutigen Generation deshalb so anklagend auf die Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital hingewiesen würde, um um so unbehelligter die künftigen Generationen ausbeuten zu können."
Die Formulierung, daß „beide Leistungen als ebenbürtige Leistungen" zum Generationen-vertrag anerkannt werden sollen, ist von entscheidender Bedeutung vor dem Hintergrund der für 1984 verfassungsrechtlich gebotenen Gleichstellung von Mann und Frau im Rentenrecht. Welches Gewicht die CDU einer unzweideutigen Aussage gerade in dieser Frage beimißt, wird daran deutlich, daß sie an zwei anderen Stellen diese Aussage noch einmal aufgreift und unterstreicht: „Die Frau muß frei entscheiden können, ob sie ihre persönliche Entfaltung entweder in der Familie oder in einer außerhäuslichen Berufstätigkeit oder in der Verbindung von Familie und außer- häuslichen Berufstätigkeit finden will... Hausfrauentätigkeit und Kindererziehung sind Berufstätigkeit und müssen als solche anerkannt und sozial abgesichert werden. Familienleistungen der Frau müssen ebenso als Beitrag zum Generationenvertrag anerkannt werden wie Beitragszahlungen aus Erwerbseinkommen.“ (Ziffer 110) Und: „Andererseits erbringen Familien, die ihre Kinder zu Hause erziehen oder pflegebedürftige Angehörige aufgenommen haben, damit eine Leistung für die Gemeinschaft. Familienleistungen müssen als Beitrag zum Generationenvertrag anerkannt werden. Aufgabe des Staates ist es, den unterschiedlichen Lebensbedingungen durch entsprechende soziale Leistungen Rechnung zu tragen, insbesondere bei Mehrkinderfamilien." (Ziffer 38)
Die CDU hat mit diesen programmatischen Aussagen ihren klaren politischen Willen zu erkennen gegeben: — sich nicht mit einer Reform der Hinterbliebenenrente (Witwen-bzw. Witwerrente) zu begnügen und * — die Erziehung der eigenen Kinder und die Pflege kranker Angehöriger als vollwertigen und eigenständigen Beitrag in der gesetzlichen Rentenversicherung anzuerkennen.
Partnerrente Nachdem die CDU bereits auf ihrem Mannheimer Parteitag ein umfangreiches und detailliertes Programm „Frau und Gesellschaft" verabschiedet hat, unterstreicht sie mit den Formulierungen des Grundsatzprogramms die Bedeutung der Aufgabe, der Frau auch faktisch vollen Anteil am politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zu sichern. Ihre Hauptaufgabe sieht die CDU darin, wirkliche Wahlfreiheit zu gewährleisten: „Die Frau muß frei entscheiden können, ob sie ihre persönliche Entfaltung entweder in der Familie oder in einer außerhäuslichen Berufstätigkeit oder in der Verbindung von Familie und außerhäuslicher Berufstätigkeit finden will." (Ziffer 110) Um Wahlfreiheit für alle Frauen zu sichern, geht es der CDU nicht nur darum, durch Bildungspolitik und gleiche Löhne bei gleicher Leistung die Bedingungen im Erwerbsleben zugunsten der Frau zu verbessern; sie sieht ihre Aufgabe ebenso darin, der Frau, die sich zu Hause um ihre Kinder und Angehörigen kümmern will, dies ohne unzumutbare Nachteile zu ermöglichen. Die außerordentlich unbefriedigende wirtschaftliche Situation der älteren Frauen in der Bundesrepublik Duetschland ist vor allem darauf zurückzuführen, daß das Sozialversicherungssystem von ihren Leistungen als Hausfrau und Mutter praktisch kaum Notiz nimmt. Frauen wie Männer erhalten regelmäßig nur dann eigenständige Sozialversicherungsanwartschaften, wenn sie in einem sozialabgabepflichtigen Arbeitsverhältnis stehen. Einzige Ausnahme: das unter der Regierungsverantwortung der CDU 1969 verabschiedete Arbeitsförderungsgesetz, das auch nicht erwerbstätigen Ehefrauen einen eigenen Rechtsanspruch auf Weiterbildungs-und Umschulungsmaßnahmen einräumt. Die Erziehung der Kinder und die Führung des Haushalts werden sozialversicherungsrechtlich nicht als eine der Erwerbstätigkeit gleichwertige Tätigkeit angesehen, obwohl diese Tätigkeiten der Frau in vielen Fällen dem Mann erst die Vollerwerbstätigkeit ermöglichen. „Die Selbstverständlichkeit, mit der eine Hausfrau für ihre Familie unentgeltlich tätig ist, darf nicht übersehen lassen, daß hier Dienste bereitgestellt werden, die von hohem ökonomischen Wert sind." So schätzt der amerikanische Ökonom Colin Clark die Wert-schöpfung in den privaten Haushalten auf mehr als 40 °/o der in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ausgewiesenen Wert-schöpfung. Trotzdem wird die Dienstleistung der Hausfrau auch in den Sozialproduktsberechnungen nach wie vor vernachlässigt. Würde man die in den Haushalten verrichteten Arbeiten berücksichtigen, so würde dementsprechend das Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland z. B. für das Jahr 1973 statt auf 926 Mrd DM auf rund 1, 3 Billionen DM zu beziffern sein. Die familiären Erziehungs-und Hausarbeitsleistungen wären dann nach dem . Verarbeitenden Gewerbe'der zweitwichtigste Posten für die Entstehung des Sozialproduktes.
Hier setzt das bereits auf dem Mannheimer Parteitag beschlossene Modell der „Partnerrente" ein. Die Schaffung eigenständiger Alterssicherungsansprüche für alle Frauen dient der Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Zugleich wird damit aber auch ein wichtiger Beitrag zur Erhaltung des Generationenvertrages geleistet. Pluralität und Selbstverantwortung „Leben ohne Wagnis verödet. Wir wollen nicht die Absicherung gegen alle Risiken des Lebens von der Wiege bis zur Bahre verschreiben." Und: „Die Tendenz zur Einheitsversicherung lehnen wir ab. In einer freiheitlichen Sozialordnung muß der einzelne auch auf dem Gebiet der sozialen Sicherung möglichst viele Wahl-und Entscheidungsmöglichkeiten haben." (Ziffer 111)
Mit diesen Aussagen setzt sich die CDU nachdrücklich für mehr Freiheit, Pluralität und Selbstverantwortung in der sozialen Sicherung überall dort ein, wo dies möglich und geboten ist. Daß sie dabei auf die bewährten Institutionen der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland nicht verzichten will und sehr wohl sieht, daß bestimmte Risiken nur kollektiv getragen werden können, macht sie in Ziffer 111 eindringlich deutlich.
Die CDU vertritt im Grundsatzprogramm konsequent die Auffassung, daß es ein Irrtum wäre, zu glauben, daß die Lösung aller sozialer Probleme durch staatliche Institutionen in jedem Falle effizienter, geschweige denn immer humaner sei. Im Gegenteil: Der einzelne, die Familie und die freien Träger sind dazu oft viel besser in der Lage.
Es muß nachdenklich stimmen, wenn nach übereinstimmender Meinung deutscher und amerikanischer Wissenschaftler der gesamte medizinische Fortschritt der letzten Jahre und Jahrzehnte durch Faktoren wie Überernährung und psychologischen Streß, Zigarettenkonsum und Luftverschmutzung, Alkoholmißbrauch und Bewegungsarmut wieder aufgewogen worden ist.
Gerade weil die staatliche Finanzkrise so drastisch die Grenzen finanzieller Möglichkeiten in greifbare Nähe gerückt hat, kommt es künftig verstärkt darauf an, mit Mut und Phantasie alle jene Kräfte zu fördern, die einem Wiedererstarken der Selbstverantwortung des einzelnen dienen. Die Wiedererweckung und Förderung des sozialen Engagements des einzelnen, der Familie und der freien Träger erfordern gezielte staatliche Hilfen. Wenn heute vielerorts z. B. beklagt wird, daß die Familie „erziehungsunfähig" sei und der Sorge für ihre älteren Familienangehörigen nicht mehr nachkomme, so liegt das doch eben gerade daran, daß der Staat die Familie im Stich gelassen hat.
Ohne einen familiengerechten Wohnungsbau, Spielplätze, Service-Häuser für alleinstehende Mütter, Familien-, Mütter-und Kindererholung, soziale Sicherung für die Hausfrau, Pflege-und Erziehungsgeld muß es doch nicht verwundern, wenn die sozialen Aufgaben der Familie nicht hinreichend erfüllt werden und wenn dann der Ruf nach mehr staatlichen Institutionen unüberhörbar wird. Dabei ist eine solche Entwicklung inhuman und zudem ungewöhnlich teuer.
Eine neue Sozialpolitik kann menschlicher und wirtschaftlich vernünftiger zugleich sein. Dies ist die Botschaft des Abschnitts Sozialordnung des Grundsatzprogramms.