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I. Das Grundsatzprogramm der CDU | APuZ 7/1979 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 7/1979 Artikel 1 I. Das Grundsatzprogramm der CDU II. Grundwerte als Maßstab und Orientierung III. Entfaltung der Person IV. Soziale Marktwirtschaft V. Der Staat VI. Deutschland in der Welt

I. Das Grundsatzprogramm der CDU

Meinhard Ade

/ 15 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Nach mehr als siebenjähriger Vorarbeit und intensiver Diskussion hat die Christlich Demokratische Union Deutschlands auf ihrem 26. Bundesparteitag vom 23. bis 25. Oktober 1978 in Ludwigshafen ihr Grundsatzprogramm verabschiedet. Die Grundsatzdiskussion war im Oktober 1971 eröffnet worden, als der Bundesvorstand der CDU eine Grundsatzkommission unter der Leitung von Richard von Weizsäcker einsetzte und ihr die Aufgabe übertrug, in ihr geeignet erscheinender Form zu den Werten und Zielen der CDU angesichts der Herausforderungen unserer Zeit Stellung zu nehmen. Die Autoren dieser Ausgabe, die an der Erarbeitung des in Ludwigshafen verabschiedeten Programms mitgewirkt haben, zeichnen in ihren Beiträgen die Entwicklung der Grundsatzdiskussion in der CDU seit Einsetzung der ersten Grundsatzkommission nach. Sie erläutern die Kernaussagen der einzelnen Kapitel des Programms und stellen sie in den Gesamtzusammenhang der programmatischen Entwicklung der CDU seit ihrer Gründung. Die Bewertung des Grundsatzprogramms als „Dokument geistiger Erneuerung der CDU in der Opposition" (Heiner Geißler) rechtfertigt Meinhard Ade in seinem ersten Beitrag, in dem er den Stellenwert des Grundsatzprogramms für die Volkspartei CDU beschreibt und sich dabei auch mit dem landläufigen Vorurteil auseinandersetzt, die CDU sei bislang lediglich auf praktisches politisches Handeln ausgerichtet gewesen, sie sei eine „Partei des ausschließlichen Pragmatismus". In seinem zweiten Beitrag beschäftigt sich Ade mit den beiden ersten Kapiteln des Grundsatzprogramms, also mit dem Menschenbild und dem Grundwerteverständnis der CDU, die als Maßstab und Orientierung politischen Handelns dienen. Ausdruck der geistigen Konzeption des gesamten Programms, die sich aus dem personalen Verständnis vom Menschen ergibt, ist auch die Anordnung der folgenden Kapitel. So schließen sich an die Beschreibung des Menschenbildes folgerichtig die Aussagen über die Entfaltung der Person an, die Emil Nutz als die Ausgestaltung der fundamentalen Lebens-bezüge des Menschen in der Familie, in Erziehung, Bildung und Kultur, in Arbeit und Freizeit beschreibt. Bei der Behandlung des Kapitels Soziale Marktwirtschaft hat Ulf Fink die Abschnitte „Grundsätze einer freiheitlichen Wirtschaftsund Sozialordnung" und „Sozialordnung" erläutert und dabei die Kontinuität in den Grundsätzen und die Fähigkeit zur Meisterung neuer Herausforderungen besonders unterstrichen. Der dominierende Einfluß der Neuen Sozialen Frage auf das sozialpolitische Denken der CDU, der durch die Annahme der entsprechenden Ziffern im Kapitel „Sozialpolitik" des Grundsatzprogramms bestätigt worden ist, wird im Zusammenhang besonders offensichtlich. Die Programmaussagen zur Wirtschaftsordnung und zu den öffentlichen Aufgaben sieht Peter Andersen in der ordnungspolitischen Tradition der CDU als Antwort auf die neuen Herausforderungen im ordnungspolitischen Bereich. Unter die zentrale These des Kapitels über den Staat, daß nämlich das Grundgesetz Grundlage für das Zusammenleben in Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit ist, hat Gert Hammer seinen Beitrag gestellt, in dem er besonderes Gewicht auf die Verfassungsentscheidung für die streitbare Demokratie legt. Die Autoren der drei Beiträge zum Programmkapitel „Deutschland und die Welt", Dieter Putz und Henning Wegener, beschreiben u. a. die „ungewöhnliche Kontinuität" der außen-politischen Programmatik der CDU und kommen zu der Feststellung, daß die außenpolitischen Optionen, die von Adenauer getroffen worden waren, bis heute ihre Gültigkeit behalten haben. Dies gilt für die Ziele der Deutschland-und Außenpolitik ebenso wie für die Grundlagen christlich-demokratischer Europapolitik.

Dokument geistiger Erneuerung

I. II. III. IV. V. VI. INHALT Das Grundsatzprogramm der CDU — Dokument geistiger Erneuerung (Ziffern 1— 5)

Meinhard Ade Grundwerte als Maßstab und Orientierung (Ziffern 6— 32)

Meinhard Ade Entfaltung der Person (Ziffern 33— 64)

Emil Nutz Soziale Marktwirtschaft Grundsätze und Sozialordnung (Ziffern 65— 72)

Ulf Fink einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung — Öffentliche Aufgaben (Ziffern 73— 97) Peter Andersen Sozialordnung (Ziffern 98— 113) Ulf Fink Der Staat (Ziffern 114— 130) Gert Hammer De?

Auf ihrem 26. Bundesparteitag vom 23. bis 25. Oktober 1978 in Ludwigshafen beschloß die CDU ihr erstes Grundsatzprogramm. Es ist Ergebnis einer siebenjährigen Grundsatzdiskussion, einer der intensivsten und breitesten Programmdiskussionen, die bislang in der Bundesrepublik Deutschland geführt wurden.

Daten Als der Bundesvorstand der CDU am 28. Oktober 1971 eine Grundsatzkommission unter der Leitung von Richard von Weizsäcker einsetzte, erteilte er ihr noch keinen Programm-auftrag. Sie sollte vielmehr in ihr geeignet erscheinender Form zu den Werten und Zielen der CDU angesichts der Herausforderungen unserer Zeit Stellung nehmen. Die Kommission erfüllte diesen Auftrag durch Berichte auf den Bundesparteitagen 1972 in Wiesbaden und 1973 in Hamburg. Für diese Stellungnahmen der Grundsatzkommission entwikkelte sich die Bezeichnung Zwischenberichte. Die Erwartungen der Mitglieder der Partei waren nämlich längst auf ein Grundsatzprogramm gerichtet. Es war überwiegend sogar unbekannt, 'daß der Programmauftrag noch nicht bestand. Besonders die Junge Union, die mit ihrem im Sommer 1973 beschlossenen Grundsatzprogramm vorangegangen war, drängte auf eine Programmdiskussion der gesamten Partei, die zu einem förmlichen Programmbeschluß führen sollte. So groß die Resonanz auf die Berichte der Grundsatzkommission auch war, die Mitglieder der Partei wollten selber diskutieren, selber an der Erarbeitung des Programms mitwirken können. Auch die Mitglieder der Grundsatzkommission beurteilten schließlich die Form ihrer Arbeit als unzureichend. Auf ihre Anregung hin, die sich der Bundesvorstand der CDU in einem Antrag zu eigen machte, beschloß der Eine erweiterte Fassung der hier veröffentlichten Beiträge erscheint — ergänzt um einen dokumentarischen Teil — Mitte März 1979 unter dem Titel „Grundwerte in der Politik“ als Ullstein-Taschenbuch. Herausgeber ist CDU-Generalsekretär Heiner Geißler. Bundesparteitag im November 1973 in Hamburg dann „die Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms der CDU".

Eine dem erweiterten Arbeitsauftrag entsprechende neue Grundsatzprogrammkommission wurde vom Bundesvorstand eingesetzt. Besonderes Merkmal der Arbeit dieser Kommission war eine breite Hinzuziehung unabhängiger Sachverständiger. Etwa 50 Wissenschaftler der verschiedensten Disziplinen erstatteten Gutachten oder berieten die Kommission in Gesprächen. Dieser Dialog mit der Wissenschaft wurde auch nach Veröffentlichung des Kommissionsentwurfes für ein Grundsatzprogramm der CDU im April 1976 fortgeführt. Auf dem Grundsatzforum im September 1977 in Berlin prüften über 500 Wissenschaftler, Vertreter gesellschaftlicher Gruppen und Parteimitglieder den Entwurf im Geiste konstruktiver Kritik Dieser Dialog mit der Wissenschaft nützte nicht nur der Programmarbeit unmittelbar. Durch ihn wurde ein neues Verhältnis der CDU zu den geistigen Kräften in Deutschland eingeleitet, das die Grundlage für die späteren aufsehenerregenden Fach-kongresse, etwa zu den Ursachen des Terrorismus oder zur Bürokratisierung, bildete. Nachdem die CDU lange ihre Vorstellungen selbst publizierte und praktisch nur an ihre eigenen Anhänger vertrieb, ist sie heute mit ihren Ideen und Vorschlägen erfolgreich auf dem Buchmarkt vertreten.

Neben dem Dialog mit der Wissenschaft löste der Kommissionsentwurf für ein Grundsatzprogramm der CDU eine breite parteiinterne Diskussion aus. Trotz der Langatmigkeit des Verfahrens — die Programmdiskussion wurde durch die Bundestagswahl 1976, die anschließende Neukonstituierung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sowie durch die Neuwahl der Parteiführung der CDU unterbrochen — erarbeiteten die Mitglieder der CDU mehrere Hundert Stellungnahmen mit Abänderungsund Ergänzungswünschen. Sie wurden durch eine Redaktionskommission des Bundesvorstandes der CDU ausgewertet, die eine Vorstandsfassung des Programmentwurfes vorbereitete. Nach mehreren Beratungen bestätigte der Bundesvorstand der CDU am 8. Mai 1978 abschließend den überarbeiteten Grundsatzprogrammentwurf und veröffentlichte ihn als seinen Antrag für den Bundesparteitag in Lud-wigshafen. Uber 3 300 Anträge, die von den Landes-und Kreisverbänden sowie von den Bundesvereinigungen der CDU zu diesem Entwurf gestellt wurden, bestätigten eindrucksvoll die Bereitschaft der CDU zur erneuernden und argumentativen Auseinandersetzung mit den Problemen unserer Zeit.

Grundsätze ohne Programm Bis zu diesem ersten Grundsatzprogramm galt die« CDU weithin als Partei des ausschließlichen Pragmatismus. „Pragmatismus und Union, das sind gleichsam Synonyme", diese noch vor kurzem geäußerte Formel eines Journalisten gibt exakt das allgemeine Meinungsbild über die CDU wieder. Während die SPD durch ihre Theorie-Orientierung geistigen Reichtum ausstrahle, aber darunter auch bis zur Zerrissenheit leide, sei die CDU ausschließlich auf praktisches politisches Handeln ausgerichtet, mit dem Nachteil mangelnder Ausstrahlungskraft, mangelnder Wahrnehmungsfähigkeit neuer Entwicklungen und Notwendigkeiten, aber auch mit dem Vorteil des klaren Blickes für das politisch Mögliche und für den Bürger Erträgliche. Die CDU selbst hat an diesem Bild über sich mitgewirkt: zunächst — bis noch vor wenigen Jahren — durch ein erstaunliches Desinteresse an der eigenen Geschichte, dann aber auch durch eine Verkürzung der Persönlichkeit Adenauers auf einen pragmatischen , Instinkt-politiker'. So wurde noch die Diskussion über die Notwendigkeit des Grundsatzprogramms häufig mit der beliebten Scheinalternative Person oder Programm bestritten: Ein Programm, zumal ein geschriebenes, könne immer nur unzulängliches Surrogat für eine charismatische Führungspersönlichkeit sein. In den ersten 20 Jahren ihres Bestehens sei Adenauer das Programm der CDU gewesen, darüber hinaus habe sie keiner Programmtexte bedurft. Dieses gängige Urteil mißversteht die Person Adenauer, die Politik der CDU in der Zeit des Wiederaufbaues und übersieht die Notwendigkeiten einer großen Volkspartei.

Die CDU verfügte zwar nie über ein geschriebenes Grundsatzprogramm, aber sie war nicht grundsatzlos. Als sie gegründet wurde, bestanden sehr klare Vorstellungen über die Grundsätze der Politik, über die Richtungsentscheidungen, die gefällt werden sollten und dann auch verwirklicht wurden. Es gab in den Gründungsjahren der CDU eine Fülle von programmatischen Formulierungsansät-B zen, von Entwürfen, die allerdings nicht zu einem beschlossenen Bundesprogramm führten. An der Erörterung solcher Programmtexte beteiligte sich auch Adenauer. So brachte eine neuere Untersuchung zutage, daß Adenauer bei der Erarbeitung beispielsweise des Ahlener Programms aktiv und führend mitgearbeitet hat

Adenauer lehnte es allerdings ab, das Christentum für die Politik zu instrumentalisieren — womit seine tiefe Ehrfurcht vor dem Glauben sichtbar wird. Nach einer Programmberatung im Jahre 1946 vermerkte er in einer Aktennotiz: „Diese Herren legten in der Diskussion entschiedenen Wert darauf, in der Präambel des Programms den christlichen Charakter der CDU stärker betont zu sehen. Ich erklärte das nicht für nötig und führte aus, daß mir die Aufführung von religiösen Wahrheiten in einem Parteiprogramm ... unangebracht erscheine" Adenauer lehnte also eine christliche Politik ab. Für notwendig hielt er jedoch eine Politik, die sich an christlich geprägten Werten orientiert, wie ein anderes Zitat zeigt: „Wir haben Vernunft und Gewissen, und beide sind uns von Gott geschenkt... An die Spitze unserer Überzeugungen möchte ich die Erkenntnis und den Glauben stellen, daß jeder Mensch eine unsterbliche Seele hat. Gerade hieraus folgen auch für das politische Leben sehr wesentliche und sehr entscheidende Forderungen, insbesondere das Postulat der persönlichen Freiheit. Dieses Postulat der persönlichen Freiheit schließt in sich die Verneinung der Vergötterung des Staates."

Adenauer hielt also eine auf dem Christentum beruhende Wertbindung der Politik für unerläßlich, um die Wiederholung eines unmenschlichen Regimes, unter welchen weltanschaulichen Vorzeichen auch immer, zu verhindern.

Der Generalsekretär der CDU, Dr. Heiner Geißler, rief auf dem Ludwigshafener Bundesparteitag dieses auch in der CDU selbst teilweise verschüttete Wissen um die eigene Gründungsgeschichte in Erinnerung. Er zitierte aus der Einleitung zum Protokoll des ersten Parteitages der Christlich Demokratischen Union Deutschlands vom 20. bis 22.

Oktober 1950 in Goslar: „Heute, da die Idee der Christlich Demokratischen Union zu einem festen Begriff in der deutschen und internationalen Politik geworden ist, denken nur noch wenige daran, welch eine ungeheuere Aufgabe es war, den Grundsatz durchzusetzen, daß alle echte Politik nur aus festen weltanschaulichen Grundsätzen betrieben werden kann, wenn sie nicht im Weg und in den Zielen irren will. Allzulange hatte die pervertierte Auffassung des Wortes . Religion ist Privatsache'nicht nur das Christentum aus dem öffentlichen Leben verdrängt, sondern auch den Christen den Mut genommen, sich bei der Politik auf das Christentum zu berufen. Es bedurfte erst der furchtbaren Lehre einer antichristlichen Diktatur und eines unmenschlichen Krieges, um zu erweisen, wie unentbehrlich das Christentum auch in der staatlichen Gemeinschaft ist." Und Konrad Adenauer faßte in seinem Vorwort zum Protokoll die Bedeutung dieses Parteitages in einem Satz zusammen: „Goslar war die Besinnung auf die Grundsätze und Ideale unserer Partei." Geißler zitierte diese Sätze auf dem Bundesparteitag, um das Fehlurteil zu widerlegen* „die CDU habe sich in ihrem Handeln und Denken auf einen Tagespragmatismus beschränkt". Heute, wo die CDU das erste geschriebene Grundsatzprogramm beraten und beschließen werde, sei es ihre Pflicht, diesem Fehlurteil entgegenzutreten. Es sei auch deshalb ihre Pflicht, weil dieses Fehlurteil in der Vergangenheit bis in ihr eigenes Denken ein-gesickert gewesen sei

Aus dieser christlichen Wertorientierung entwickelte und fällte die CDU die Grundentscheidungen für das neue Staatswesen Bundesrepublik Deutschland. Es ist wichtig, sie frei von Verfälschungen in Erinnerung zu rufen, weil sie bis heute unser staatliches und gesellschaftliches Leben bestimmen, aber auch, weil der Konsens in Frage gestellt ist, der in den späten fünfziger und in den sechziger Jahren zwischen allen Parteien über diese Grundentscheidungen bestand.

Die wichtigste Entscheidung war ohne Zweifel die Wiederherstellung des demokratischen Rechtsstaates liberaler Prägung. Die demokratischen Parteien waren sich darüber von Anbeginn an einig. In der marxistisch orientierten Publizistik wird diese Entscheidung heute jedoch als Restauration des bürgerlichen Sy-stems diffamiert. Die CDU, als die verantwortliche Regierungspartei, habe die Chance der Neugestaltung, der prinzipiellen politischen Neuordnung Deutschlands im Sinne einer sozialen Demokratie vertan. Ganz im Sinne des marxistischen historischen dialektischen Materialismus wird die Ablösung der bürgerlich-rechtsstaatlichen Demokratie durch die proletarisch-soziale Demokratie für geschichtsnotwendig erachtet und die CDU als die reaktionäre Kraft bezeichnet, die diesen Übergang nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes verhindert habe. Diesem Vorwurf sollte nicht ausgewichen werden. Was bedeuteten 1949 „Wiederaufbau", „Wiederherstellung" oder „Restauration"? Sie bedeuteten die Wiederherstellung der Freiheit von einem Gestapo-Staat, Wiederherstellung der freien Reisemöglichkeit ohne Schießbefehl an den Grenzen, -Wieder herstellung der freien Meinungsäußerung, Wiederherstellung einer freien Presse, Wiederherstellung der Freiheit des Konsumenten, Wiederherstellung der Freiheit der Berufswahl, um nur einige wichtige dieser „restaurativen" Elemente zu nennen, die auch heute noch Garantien unserer Freiheit sind.

Eine zweite zentrale Richtungsentscheidung bestand in der Westintegration, in der Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Gemeinschaft der freien westlichen Völker. Dies bedeutete nicht nur das Bündnis mit dem Westen zur Aufrechterhaltung der eigenen Sicherheit, zur Verteidigung gegenüber dem östlichen kommunistischen Machtanspruch; die Westintegration war zugleich notwendige außenpolitische Absicherung der innenpolitischen Entscheidung für eine freiheitliche, parlamentarische Demokratie. Die Neutralitätshaltung der SPD in jenen Jahren unter der Führung von Kurt Schumacher, die heute in der SPD wieder Boden gewinnt, zeigt, daß diese Entscheidung nicht selbstverständlich war. Im Gegenteil: Sie brach mit der Tradition eines besonderen deutschen Weges, der sich sowohl vom bolschewistischen System abgrenzte wie von den in der Weimarer Zeit und danach als dekadent geschmähten westlichen Demokratien. Es war eine Entscheidung gegen den deutschen Zeitgeist. Adenauer und mit ihm die CDU zahlten und zahlen noch heute dafür den Preis, verdächtigt zu werden, die deutsche Einheit nicht ernsthaft gewollt zu haben. Die Wirklichkeit ist eine andere:

Adenauer und die CDU wollten die Einheit, aber nicht um den Preis der Freiheit. Vor eine ungerechte und aufgezwungene Alternative gestellt, entschied sich die CDU für die Freiheit eines Teils und gegen die Unfreiheit des ganzen Deutschland.

Im wirtschaftlichen und sozialen Bereich entschied sich die CDU für einen Wiederaufbau durch die Soziale Marktwirtschaft. Soziale Marktwirtschaft bedeutet den Willen, die Freiheit des Wirtschaftens zu verbinden mit der sozialen Gerechtigkeit, mit dem sozialen Impuls. Auch dieser Weg mußte freigekämpft werden. Er wurde fälschlich mit dem Kapitalismus gleichgesetzt, und Kapitalismus galt auch in jenen Jahren nicht viel. Kapitalismus rief die großen Wirtschaftskrisen in Erinnerung, die durch Massenarbeitslosigkeit und soziale Not den Untergang der Weimarer Republik mitverursacht hatten. Die Kriegswirtschaft war eine Planwirtschaft, an die man sich gewöhnt hatte. Freiheit das war Wagnis mit ungewissem Ausgang. Planwirtschaft fand auch die Zustimmung der Alliierten, im Westen besonders der Engländer, weil nach dem Ende des Krieges die englischen Sozialisten die Regierung übernahmen und umfassende Verstaatlichungen Idurchführten. Dagegen setzte die CDU, von Ludwig Erhard geführt, die von deutschen Wirtschaftswissenschaftlern im Widerstand und im Exil entwickelte neue Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft, die durch wirtschaftliche Freiheit ungeheuere Produktivkräfte freisetzte, durch sozialen Ausgleich den inneren Frieden gewährleistete und durch eine dezentrale Wettbewerbsordnung die wirtschaftliche Macht der politischen unterordnete.

Schließlich war die Gründung der CDU selbst eine bahnbrechende Entscheidung für die erste Volkspartei. Wo es vorher Zersplitterung gab — das katholische Zentrum und mehrere protestantisch orientierte Parteien —, wo die Parteien nach Interessen formiert waren — von den wirtschaftlichen über agrarische bis hin zu so absonderlichen Bildungen wie einer Kleingärtnerpartei in der Weimarer Republik —, waren nun erstmals Menschen aus „allen Schichten und Gruppen unseres Volkes" aufgerufen, sich zu einer handlungsfähigen Volkspartei zusammenzuschließen. Damit setzte die CDU im Jähre 1945 einen neuen Anfang in der deutschen Parteiengeschichte. „Als Volkspartei ist sie die Antwort auf die Zerrissenheit der Demokraten in der Weimarer Republik. Freiheit und Menschlichkeit sollen sich nicht wieder in verhängnisvoller Gegnerschaft zwischen sozialen, liberalen und konservativen politischen Strömungen verlieB ren. Konfessionelle Gegensätze sollen überwunden werden.“ Der beispiellose Siegeszug dieser einzigen erfolgreichen Parteigründung nach dem Zweiten Weltkrieg zeigte, daß die Menschen in Deutschland den Aufruf verstanden hatten, „daß die Zeit der Klassenkämpfe und Gesinnungskriege vorbei ist" (Ziffern 1 und 2)

Ohne die Volkspartei, die Klassen und Interessen überwindet, wäre eine stabile demokratische Ordnung in Deutschland nicht zu verankern gewesen und auch für die Zukunft nicht zu erhalten. Die Integration von protestantischem Norden und katholischem Süden Deutschlands, aber auch die Integration mehrerer Millionen protestantischer Heimatvertriebener und Flüchtlinge in ehedem fast ausschließlich katholischen Gegenden, wäre ohne die Union aus Protestanten und Katholiken in der CDU nicht ohne schwerste innere Spannungen möglich gewesen. An den tiefgehenden ökumenischen Wirkungen dieser ersten Volksparteigründung in Deutschland — weit über den politischen Bereich hinaus — läßt sich die geschichtliche Bedeutung dieser Leistung ermessen.

Pragmatismus ohne Perspektive Daß die CDU ohne geschriebenes Programm blieb, war zunächst verständlich. Die Arbeit an Programmen wurde eingeholt und dann überholt durch die Notwendigkeit, Regierungsverantwortung wahrzunehmen. Bevor die Ansätze des Ahlener Programms von 1947 und der Düsseldorfer Leitsätze von 1949, der wichtigsten Programmdokumente aus dieser Zeit, zu einem umfassenden Programm für die gesamte Partei weiterentwickelt werden konnten, bevor im übrigen auch die CDU sich als Bundespartei 1950 in Goslar konstituieren konnte, mußte bereits über die Verfassung, über die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland entschieden werden. Das Bedürfnis nach einem geschriebenen Programm entfiel, weil die CDU in der glücklichen Lage war, die Grundsätze, die sie besaß, in der praktischen Politik verwirklichen zu können.

Der sprichwörtliche Pragmatismus der CDU entfaltete sich in der Tat zu voller Blüte, weil er aus festen Grundsätzen genährt wurde. „Pragmatische Politik heißt doch nicht, auf Nachdenken und Grundlagen verzichten, sondem pragmatische Politik heißt mit dem eigenen Programm eine orientierende Marschroute auf der Grundlage gültiger Werte anzugeben, ohne sich dabei ideologisch zu fixieren; sonst würde man die notwendige Bereitschaft zu Kompromissen verlieren. Ideologische Fixierung führt zur Rechthaberei, zur Unfähigkeit für eine demokratische Politik. In diesem Sinne", so von Weizsäcker, „habe ich Pragmatismus immer als eine notwendige Wohltat verstanden." Das Grundsatzprogramm nimmt die Bejahung eines zielorientierten Pragmatismus bewußt auf: „Politisches Handeln zum Wohl des ganzen Volkes verlangt Führung und die Bereitschaft zum Kompromiß.“ (Ziffer 4)

Das Bedürfnis nach einem Programm hätte aber auch in den folgenden Jahren nur schwer entstehen können, denn das, was die CDU in die Konstruktion der Bundesrepublik Deutschland an Richtungsentscheidungen eingebracht hatte, wurde zunehmend zur Substanz des Konsenses aller demokratischen Parteien, der die sechziger Jahre bestimmte. Nachdem die SPD in ihrem Godesberger Grundsatzprogramm von 1959 als ideelle Quelle ihres Handelns das Christentum und die humanistische Philosophie jedenfalls neben den Marxismus gestellt und ihren Frieden mit der Integration der Bundesrepublik Deutschland in den Westen wie mit der Sozialen Marktwirtschaft geschlossen hatte, gab es für die programmatische Profilierung dieser Grundsätze weder Raum noch Motiv. Was nicht im Streit befangen ist, verliert an Interesse. Es ist in der Gefahr, museal zu werden. •

Nach dem Motto, die beste Rechtfertigung für eine Politik sei ihr Erfolg, wurden Warnungen yor dem Versanden in einem perspektivlosen Pragmatismus in den Wind geschlagen. Denn Erfolge hatte die CDU schließlich vorzuweisen. Noch ihr Wahlergebnis 1969, das sie durch die Koalition der FDP mit der SPD in die Opposition brachte, war das bis dahin zweitbeste, übertroffen erst durch die Bundestagswahl 1976, bei der die absolute Mehrheit nur knapp verfehlt wurde. Die Weichen zum Verlust der Regierungsverantwortung waren aber im Jahrzehnt zuvor gestellt worden. Welche sachlichen Ziele die CDU in jenen Jahren verfolgte, war weniger klar als ihr Wille, an der Regierung zu bleiben. Dar-an ändert nichts, daß auch die SPD in gleicher Weise die Fortschreibung des Erreichten versprach. Dies war durchaus im Sinne der Bevölkerungsmehrheit. Aber diese Austauschbarkeit der Parteiziele erleichterte den Wechsel, zumal die SPD sich als unverbraucht darstellen konnte. Und daß die Weiterentwicklung des Erreichten nicht alles war, was die Bevölkerung von der Politik erwartete, verstand die CDU erst später.

Volkspartei CDU Politische Ideen und Ziele entstehen vor allem aus Diskussionen, und Diskussionen wiederum entstehen in einer Partei, die viele Schichten, Gruppen und Interessen in sich vereinigt, fast zwangsläufig. Deshalb trug zu dem Verlust an Perspektive bei, 'daß die CDU ihren Charakter als Volkspartei nicht ausreichend weiterentwickelt hatte. Sicher, die Union aus Protestanten und Katholiken bestand. Die Union aller sozialen Schichten und Gruppen der Bevölkerung dagegen war eine Union der Wähler, kaum jedoch der Mitglieder. Helmut Kohl selbst analysiert nüchtern: „In den ersten anderthalb Jahrzehnten war die CDU im modernen Sinn noch gar keine Volkspartei, sondern mehr ein Wahlverein. Schon aus der Struktur ihrer Mitglieder ergab sich, daß in der Basis noch gar nicht die Diskussionsbreite für solche Fragen" — wie ein Grundsatzprogramm — vorhanden war

Viele stellten 1969 die Prognose, die CDU werde den Regierungsverlust nicht lange überstehen. Geißler lenkte vor dem Bundesparteitag in Ludwigshafen den Blick zurück auf die Zäsur des Jahres 1969: „Als wir 1969 in die Opposition gingen, haben uns alle, einschließlich weiter Teile der deutschen Publizistik, den baldigen Verfall vorausgesagt. Damals bekannten sich erst 290 000 eingeschriebene Mitglieder zu uns. Jetzt ist es nur eine Frage von Monaten, bis es 700 000 Mitglieder sein werden. Kein politischer oder gesellschaftlicher Verband in der Bundesrepublik Deutschland hat seit den fünfziger Jahren einen vergleichbaren Zuwachs erlebt. Diese neuen Mitglieder konnten wir nicht mit Ämtern locken. Unsere Attraktivität und unsere Integratiogskraft besteht in geistiger Offenheit. Das Angebot, an der Erneuerung mitzuwirken, wurde verstanden und angenommen. Darauf kann diese Partei stolz sein." Es zeigte sich, daß die Ideen, die dem Handeln der CDU seit 1945 die Impulse gegeben hatten, nicht verschüttet sind.

Es wäre wirklichkeitsfremd, als Grund für die Renaissance der CDU nach 1969 nur das Grundsatzprogramm zu nennen. Zuvor schon sind die Fortschreibung des Berliner Programmes auf dem Parteitag 1971 in Düsseldorf und die Beschlüsse des Hamburger Parteitages zu Fragen der Gesellschaftspolitik wichtige Beweise der wiedergewonnenen Fähigkeit der CDU zur Sachaussage. Die alle Gliederungen der CDU erfassende, breite innerparteiliche Diskussion, die diesen Beschlüssen voraus-ging, wurde zum Modell der Grundsatzprogramm-Diskussion. Das neue Engagement der Partei in anderen Tätigkeitsbereichen, so beispielsweise die Überflügelung der SPD im kommunalen Engagement, ist offensichtlich. Vor allem muß Politik glaubwürdig durch Personen vertreten werden. Aber das Grundsatzprogramm ist Eckstein „einer grundlegenden geistigen Erneuerung der CDU in der Opposition" Es formuliert die Grundüberzeugungen und die Perspektive christlich-demokratischer Politik auf verbindliche und damit für Mitglieder wie Öffentlichkeit nachprüfbare Weise. Es bezeichnet, weshalb Menschen unterschiedlicher Interessen sich zu einer Volkspartei zusammenschließen.

Die wissenschaftlich übliche Betrachtungsweise, eine Volkspartei daran zu messen, ob ihre Mitgliederstatistik die soziologische Struktur der Bevölkerung wiedergibt, ist unzureichend, denn sie sagt nichts darüber aus, was eine Volkspartei zusammenhält. Im Kommissionsentwurf für das Grundsatzprogramm hieß es deshalb zutreffend: „Die CDU ist weder Sammlungspartei noch Wahlverein. Als Volkspartei besteht sie ihre Aufgabe, weil in ihr eine einigende Kraft wirkt, die tiefer und stärker ist als der Interessenwiderstreit unter ihren Mitgliedern." Die Qualität einer Volkspartei ergibt sich also „nicht in erster Linie aus der Zusammensetzung ihrer Mitglieder oder Wählerschaft, so wichtig diese auch sein mag. Zentral ist die Perspektive einer Partei, die Politik, die sie formuliert und durchsetzt. Erst diese macht sie zur Volkspartei."

Weil die Volkspartei Menschen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und Interessen auf gemeinsame, im Wege des Kompromisses festgelegte Ziele verpflichtet, mißt ihr die CDU selbst grundsätzliche Bedeutung für den Bestand und die Weiterentwicklung einer freiheitlichen Staats-und Gesellschaftsordnung zu. Denn die „Volkspartei beginnt eben dort, wo das Klassendenken am Ende ist. Diese Einsicht entspricht dem Denken und Fühlen des Bürgers. Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland wollen weder rechte noch linke Parteien, weil sie sich weder als links noch als rechts verstehen. Nur in hochpolitisierten Randbezirken der Gesellschaft verlieren Menschen ihre Persönlichkeit an die totale Parteilichkeit. Der Bürger widersetzt sich dem. Wer sozial ist, will deshalb noch lange nicht links sein. Wer patriotisch ist, will deshalb noch lange nicht rechts sein. Vor allem aber will der Bürger er selbst sein. Diesem Anspruch des Bürgers kann nur eine Partei genügen, die selbst unmittelbar vom ganzen Menschen ausgeht und nicht von Kollektiven oder Rollen ... Der am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben beteiligte Mensch läßt sich nicht auf die Rolle des homo oeconomicus verkürzen, läßt sich nicht definieren als produzierendes Wesen. Gesellschaftliche Leitbilder, die einseitig auf die Produktionssphäre fixiert sind und diese zudem noch mit den überkommenen Kategorien von Arbeit und Kapital umschreiben, taugen nicht zur Erklärung der sozialen Wirklichkeit."

Als Volkspartei ist die CDU imstande, das Verständnis vom Menschen, nicht ideologische Theorien über Systeme, zum Ausgangspunkt ihrer Politik zu nehmen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. CDU Grundsatzdiskussion — Beiträge aus Wissenschaft und Politik, hrsg. von R. v. Weizsäcker, Bonn 1977 (in der Folge zitiert als: Grundsatzforum).

  2. Konrad Adenauer und die CDU der britischen Besatzungszone 1946— 1949 (Herausgeber Konrad-Adenauer-Stiftung), Bonn 1975, S. 40 ff.der Einleitung von Helmuth Pütz.

  3. Zitiert nach Werner Weidenfeld, Konrad Adenauer und Europa, Bonn 1976, S. 95.

  4. A. a. O., S. 99.

  5. Protokoll des 26. Bundesparteitages der CDU, S. 114 (In der Folge zitiert als: Protokoll).

  6. Die kursiv gesetzten Texte bzw. die Ziffernangaben ohne weiteren Hinweis beziehen sich hier und in der Folge immer auf das Grundsatzprogramm der CDU.

  7. Herder-Korrespondenz Nr. 11/1977, S. 557.

  8. Evangelische Kommentare Nr. 12/1978, S. 737.

  9. Protokoll, S. 114 f.

  10. Ebenda.

  11. Ziff. 122.

  12. Geißler in: Rheinischer Merkur vom 7. 4. 1978.

  13. Ders., a. a. O.

Weitere Inhalte

Meinhard Ade, Dr. jur., geb. 1944, Studium der Rechtswissenschaften und wiss. Politik in Freiburg, Kiel und Wien; 1973— 1977 Sekretär der Grundsatzkommission bzw. Grundsatzprogrammkommission der CDU, jetzt Leiter des Büros des Generalsekretärs der CDU.