Zusammenfassung
Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/79, S. 30— 34
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Aus Politik und Zeitgeschichte, B 6/79, S. 30— 34
Durch Frieses Beitrag wird einmal mehr unterstrichen, wie nötig es ist, der Didaktik der Geographie überhaupt erst ein Fundament zu geben. Denn Selbstverständliches ist offenbar immer noch nicht frag-und forschungswürdig geworden, wenn man von „wertfreiem Erkennen", von einer stets und „grundsätzlich" identischen und neutralen Geographie ausgeht, deren Abkunft aus dem Bürgertum („was auch immer darunter verstanden werden soll") schlicht in Abrede gestellt wird. Die Bezugnahme auf „Erkenntnis und Interesse" (Habermas) in der Geographie ist also unabdingbar, so schwierig sie auch im Einzelfall sein mag, wenn man ihre Verflechtung in den Affekthaushalt der Wissenschaft bedenkt.
Erkenntniskritik, Gesellschaftstheorie und Interessenreflexion sollten zur selbstverständlichen Ortsbestimmung der Geographie gehören. Es sollte zum Standardprogramm jeder Einführung in die Geographiedidaktik gehören, nach dem Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse, Wissenschaft und Lebenspraxis, Studium und Beruf, Schüler und Geographieunterricht zu fragen.
Wie weit man freilich noch entfernt ist, den Widerspruch zwischen wissenschaftlichem Studium bzw. Unterricht einerseits und Lebenspraxis andererseits zu verringern oder gar zu beseitigen, zeigt folgendes „Studienziel", das vom Zentralverband der Deutschen Geographen empfohlen wird: „Fähigkeit, in der Situation wissenschaftlichen Erforschens und Uberprüfens geographischer Zusammenhänge klar zwischen wissenschaftlich fundierter Erkenntnis und persönlicher Wertung zu unterscheiden."
Die didaktische Grundfrage könnte und sollte sich auch vom geographischen Neubau her stellen, an dem etwa seit zehn Jahren gearbeitet wird. Da gibt es die moderne Geographie des Menschen, die sich neben bzw. im Altbau der Anthropound Landschaftsgeographie einrichtet. Und es gibt die moderne cur-riculare, sogenannte lernzielorientierte Geographie, die die alte vorcurriculare Geographie verdrängt. Was verbindet eigentlich Curriculares und Vorcurriculares? Welche Verbindung zwischen beiden und welche Konsequenzen daraus zieht „selbstverständlich" der Schulgeographenverband, der sich modern gibt und gleichzeitig 1977 für verdiente Mitglieder die Julius-Wagner-Medaille gestiftet hat? Was waren die Ziele der alten Geographie? Welche Defizite haben zu ihrer Ablösung geführt?
Aus bisher Fraglosem muß also Frag-und Forschungswürdiges werden, um die curricu-
lare Sicht nicht als modische Kuriosität erscheinen zu lassen, sondern als neues, stets zu befragendes Selbstverständnis, das in der Erfahrung eigener Defizite den „hermeneutischen" Zirkel durch Ideologiekritik aufbricht.
Gerade aus der als defizitär erfahrenen Tradition ist die Curriculumdiskussion nach rückwärts zu verlängern. So kann ihr eine größere Argumentationsbasis und der Didaktik überhaupt erst eine Basis gegeben werden. Eine Traditionsauslegung, die sich an * der Emanzipation als erkenntnisleitendem Interesse orientiert und so in einer als notwendig erkannten permanenten Curriculumrevision den Plausibilitätsrahmen und die Per-
spektivgebung für die anstehende Zielorientierung entscheidend mitbestimmt — eine solche Traditionsauslegung ist in der gegenwärtigen Lage der Geographie ein grundlegender Beitrag zur Didaktik. Sie gibt nicht zuletzt auch der Geographie als Teil einer umfassenden Sozialwissenschaft einen gewissen Plausibilitätsrahmen, der verdeutlicht, daß das Fach universitär und schulisch mit derselben Didaktik konfrontiert ist. Meine „Traditionsauslegung als Beitrag zur Geographiedidaktik" ist also vom erkenntnis-leitenden Interesse her „offensichtlich parteiisch", wie Friese mit Recht bemerkt. Sie will und kann freilich nicht die Traditionsauslegung sein; denn diese gibt es nicht. Sie stellt keine „falsche Unterrichtung" dar, sondern eine nur konsequente, die — im Gegensatz zu Friese — ihr Interesse offenlegt.
Eine derartige Traditionsauslegung ist zwar für die Geographie neu und ungewöhnlich, für andere Fächer jedoch nicht. Für die Didaktik der Geschichte z. B. wird sie von Annette Kuhn vorgetragen
Mit demselben Recht und im Interesse derselben sozialwissenschaftlichen Auslegung eines anderen fraglos deutschen Faches wird in der vorliegenden „Traditionsauslegung" betont, daß der Geograph mehr von Riehl, dem Zeitgenossen und ideologischen Gegenspieler von Marx, als etwa von Albrecht Penck oder Ferdinand von Richthofen lernen sollte. Riehl hat nämlich die politisch-gesellschaftlichen Ziele der traditionellen Geographie formuliert, bevor diese im bildungsbürgerlichen Apriori der Landschaft und im fraglosen Selbstverständnis der Anthropogeographie formelhaft erstarrten
Nachdem Riehl mit den eben skizzierten Regieanweisungen also seinen Film über „Land und Leute" gedreht hatte, brauchte man das zum Publikumserfolg gewordene Programm einfach nur abzuspulen. Obwohl die neueren Kopien des Films natürlich Schnitte erfahren haben, sind die Abfolge der Szenen und die Zusammenschau der Dinge insgesamt doch höchst vertraut und mit der liebevoll-harmonischen Aura der „Landschaft" und des „pädagogischen Bezugs" versehen. Auf diese Tradition und Formeln besann sich die Geographie bezeichnenderweise 1961 bei der Schaffung des gymnasialen Oberstufenfachs „Gemeinschaftskunde" (aus den Fächern Geographie, Geschichte, Politik). Besonders Heinrich Newe, der damalige Vorsitzende des Schulgeographenverbandes, übernahm gerne den besagten Riehlschen Film
Wenn die Geographie als Teil einer umfassenden Sozialwissenschaft verstanden wird, ist es nur folgerichtig, Geographie in der Sekundarstufe II in ein „gesellschaftswissenschaftliches Aufgabenfeld" zu integrieren und in der Sekundarstufe I mit den Fächern Geschichte und Sozialkunde zu koordinieren bzw. Geographie in die Gesellschaftslehre zu integrieren. Gerade die Gesellschaftslehre, die in Hessen angestrebt wird, bietet den Ansatz, das Objekt der Geographie zu hinterfragen. An die Stelle der Trennung von Subjekt und Objekt tritt die Subjekt-Objekt-Vermittlung, die im unmittelbaren Zusammenhang mit Erkenntnis und Interesse und mit Selbsterfahrung steht. Uber Welt und Umwelt lernen wir eben nur soviel, wie wir an uns selbst erfahren. Konsequent wird gefragt, „wo und wie Schüler Gesellschaft erfahren und welche Auswirkungen solche Erfahrungen auf ihre Fähigkeit und Möglichkeit zur Selbst-und Mitbestimmung haben"
— wie Defizite und ein entsprechender Leidensdruck bewußtseinsmäßig bzw. affektiv verdeckt wurden und werden;
— welchen Anteil daran die über Jahrzehnte schulisch und außerschulisch vermittelte harmonisch-liebliche Aura der Landschaft hat.
Derartige Fragen, die sich in beliebiger Zahl fortsetzen lassen, zeigen, wie sehr die Fachdidaktik in die Erziehungs-und Gesellschaftswissenschaft einbezogen ist bzw. einbezogen Werden sollte und von einer entsprechenden Forschung zu tragen ist. Es geht also um eine erziehungswissenschaftliche Grundlegung der* Geographiedidaktik, wofür der Verfasser den Versuch unternommen hat, einen ersten perspektivischen Beitrag zu leisten
Friese geht auf die Gesellschaftslehre nicht ein. Er erwähnt bzw. zitiert sie nur als „ein neues Einheitsfach", das seine Geographie einverleiben will. Sein erkenntnisleitendes Interesse ist offenbar nur gekennzeichnet von der „Forderung nach eigenständigem Fachunterricht sowohl in der Sekundarstufe I als auch in der Sekundarstufe II". Weder die Gemeinschaftskunde der sechziger Jahre noch die Gesellschaftslehre der siebziger Jahre führte hier also zu einem didaktischen Impuls. Fachegoistische Verbandspolitik verhinderte eine längst fällige Didaktik. So geht eher ein Kamel durchs Nadelöhr als die Geographie in die Gesellschaftslehre.
Bei der Erwähnung der Gesellschaftslehre weist Friese auf einen Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hin. Diesem Hinweis sollte man nachgehen, nicht nur weil der Artikel „Erdkunde mangelhaft" von Fick, dem Vorsitzenden der hessischen Schulgeographen, geschrieben ist und vier Tage vor der hessischen Landtagswahl (8. 10. 1978) veröffentlicht wurde. Uber diese? Politikum hinaus gibt er auch einen höchst bemerkenswerten Aufschluß über die Allianz zwischen der Verbandsgeographie, die ihr Fach nicht an die Gesellschaftslehre verlieren will, und der FAZ als bildungsbürgerlichem Organ, das gegen die Gesellschaftslehre entsprechende Privilegien verteidigt und dabei Aktivitäten etwa des „Hessischen ElternVereins" oder des Forums „Mut zur Erziehung" unterstützt. „Schulpflicht bedingt staatliche Schulaufsicht, und das ist auch curriculare Kompetenz". Mit diesem erkenntnisleitenden Interesse und Curriculumverständnis, das offenbar als Merksatz zum fachlichen überleben geschrieben ist, hat man sich in Deutschland „etabliert", was bis 1945 im „Geographischen An-zeiger" und ab 1949 in der „Geographischen Rundschau" als den Organen des Schulgeographenverbandes dokumentiert ist. Um das „politische Herrschaftsinstrument“ im Geographieunterricht zu erkennen, braucht man also nicht erst die mündliche Mitteilung von Prof. Janka (Prag) über die Geographiedarstellung der Tschechoslowakei 1939 heranzuziehen (so wichtig diese im einzelnen sein mag). „Kritische Zeitgeschichte der Schulgeographie" (A. Schultze) wird im Jubiläumsheft zum dreißigjährigen Bestehen der „Georgraphischen Rundschau" (H. 1, 1979) zwar in der Schlagzeile verkündet, tatsächlich aber nicht gebracht.
Um 1970 hat sich bekanntlich die bildungspolitische Lage in der Bundesrepublik verändert, so daß Peter Schöller, der damalige Vorsitzende des Zentralverbandes der Deutschen Geographen, 1971 erklärte: „Entweder gelingt der Durchbruch zu neuen raumwissenschaftlichen Prinzipien im Unterricht oder aber, wenn dies nicht gelingt, wird der Geographie-unterricht zugleich durch andere Fächer in der Schule ersetzt werden."
Mit der Wendung von der bildungsbürgerlichen Landschafts-und Anthropogeographie zur (in England bereits „klassisch" gewordenen) liberalkapitalistischen Angewandten Geographie, mit der technologischen Wendung
Friese trägt im Verbandsinteresse sehr ausführlich die „moderne" Geographie in ihren instrumentalen und kognitiven (bezeichnenderweise nicht affektiven) Zielen vor. Auf den ersten Blick mag dies eindrucksvoll erscheinen, dieses raumwissenschaftlich konstruierte Lehrgebäude. Wenn es die Schüler betreten, beginnt es jedoch zu wackeln und stürzt ein. Denn Lehrziele sind keine Lernziele. Sie „ergeben sich" auch nicht einfach als solche. Ein signifikantes Beispiel für ein solches Defizit ist die Wahrnehmung. Sie wird nur im Rahmen der instrumentalen Lernziele genannt, nur raumbezogen von der Objektseite her. Der Schüler selbst bleibt ausgespart. Wenn die Unterrichts-„Gegenstände" (jene „Wirkungsgefüge", „Modelle" und „Ordnungssysteme" der Konstruktionsgeographen) derart einseitig gesehen werden, wie ist es dann wohl um die Erreichung von „Selbstbestimmung" und „Mitwirkung" als dem angegebenen Ziel bestellt? Die Diskrepanz zwischen dem hehren Ziel, dem alten Präambel-Pathos einerseits und der gegenständlichen Stoffvermittlung andererseits lebt offenbar trotz Curriculum-Diskussion weiter.
Weitere Kritikpunkte aufzulisten, ist wohl nicht nötig. Denn an dieser Stelle sollte klar geworden sein, daß man das Unterrichtsgebäude und die Didaktik nicht nur vom Fach, vom vermeintlichen Objekt her, aufbauen kann. Man braucht die Grundlage der Subjekt-Objekt-Vermittlung im Interesse der Schüler und damit des angegebenen Ziels „Selbstbestimmung". Friese braucht sie offenbar nicht. Sein erkenntnisleitendes Interesse ist es eben, daß sich die Geographie von der Sekundarstufe I bis zur Sekundarstufe II durchkonstruiert.
Was Friese zu lesen gibt, ist ein für die politische Strömung nach der „Tendenzwende" bezeichnendes Dokument, das die sogenannte Konsolidierung
Hards Themenstellung mag zunächst sehr polemisch erscheinen. Sie ist jedoch gerechtfertigt und wird es erneut durch Frieses vorstehende Bemerkungen. Denn diese enthalten wichtige Hinweise über Zutaten und über eine Gebrauchsanweisung für hochgradige Weiß-wäscherei und entsprechenden Opportunismus. Einmal braucht man zur Traditionsauslegung eine Geographie, die in ihrer Erdschwere „wertfrei" und „grundsätzlich" objektiv und da-mit stets mit sich selbst identisch ist. Zum anderen paßt man sich an das jeweils herrschende System an und stellt sich als Saubermann und Saubermacher zur besonderen Verfügung. Nachher wäscht man sich ohnehin wieder rein
Was es mit der Sauberkeit und mit der mehrfach von Friese angeklagten „Einseitigkeit" auf sich hat, wird besonders in der Schlußbemerkung deutlich. Da sollte auch restlos klar-werden, warum die „Einseitigkeit" auf den Kläger selbst zurückfällt. Denn vollends steigert sich der Schulgeographenpräsident in die Pose eines Saubermanns hinein, wenn er — den Bundespräsidenten zitierend — dem Verfasser folgende Sätze warnend mit auf den Weg gibt: „, Die Lehrer dieses Landes haben sich an die Verfassung zu halten, und die Länderregierungen haben die Pflicht, die Voraussetzungen dafür zu schaffen . ..'Und das gilt auch für Unterrichtsgestaltung, Lehrinhalte und Lehrerbildung."
In einer Zeit, in der Angst, Konformitätsdruck und Denunziationsstimmung zum Bildungserlebnis geworden sind, haben derartige Verlautbarungen einen eindeutigen Stellenwert, der nicht kommentiert zu werden braucht.
Karlheinz Filipp, Dr. phil., geb 1941 in Weißkirchlitz/Böhmen; Studium der Geographie, Geschichte, Politik und Pädagogik; seit 1975 Professor für Erziehungswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Geographiedidaktik an der Universität Hamburg. Veröffentlichungen zur Siedlungs-und Sozialgeographie, zur deutschen Landes-'künde sowie über das Verhältnis von politischer Bildung und Geographie-didaktik; letzte Buchtitel: Geographie im historisch-politischen Zusammenhang. Aspekte und Materialien zum geographischen Gesellschaftsbezug, Neuwied und Berlin 1975; Geographie und Erziehung. Zur erziehungswissenschaftlichen Grundlegung der Geographiedidaktik, München 1978.
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