Die Europäische Sozialcharta. Inhalt, Mängel und Möglichkeiten der Weiterentwicklung
Robert Steiert
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Zusammenfassung
Die nunmehr von elf Mitgliedstaaten des Europarates ratifizierte Europäische Sozialcharta, die am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichnet worden war, ist das wichtigste internationale Abkommen des Europarates auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Die Charta war als Ergänzung zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die die bürgerlichen und politischen Menschen-und Grundrechte absichert, geschaffen worden und entsprang der Erkenntnis, daß die sogenannten klassischen Menschenrechte für sich allein nicht ausreichen, um ein menschenwürdiges Leben zu gewährleisten. Die Europäische Sozialcharta enthält insgesamt 19 Grundrechte, die in 72 Einzelbestimmungen konkretisiert werden. Jeder Staat, der die Charta ratifiziert, muß eine bestimmte Mindestanzahl von Artikeln bzw. Absätzen annehmen. Ein Überwachungsverfahren soll gewährleisten, daß die Staaten die angenommenen Bestimmungen national verwirklichen bzw. einhalten. Die Charta hatte Auswirkungen auf die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten des Europa-rates. Staaten, die die Charta ratifiziert haben, mußten Gesetzesänderungen vornehmen, weil die nationalen Gesetze und Vorschriften den angenommenen Bestimmungen nicht entsprachen. Staaten, die eine Ratifizierung vorbereiten, wie z. B. die Niederlande und Luxemburg, ändern ihre Gesetze bereits jetzt, um eine Ratifizierung zu ermöglichen. Neben positiven Auswirkungen hat die Anwendungspraxis der Charta jedoch auch Mängel aufgezeigt, die die Effektivität beeinträchtigen und eine Weiterentwicklung bzw. Revision erforderlich machen. Eine Änderung ist vor allem in folgenden Punkten notwendig: Konkretisierung einiger Bestimmungen, Aufnahme neuer Zielsetzungen, Verbesserung des Annahmemodus und des Überwachungsverfahrens, Verstärkung der Stellung der Sozialpartner und Änderung des Rechtscharakters der Sozialcharta. Die Weiterentwicklung der Charta, insbesondere die Schaffung einer individuellen Einklagbarkeit einiger der wirtschaftlichen und sozialen Rechte, ist notwendig, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Rechte den gleichen Status und Charakter wie die politischen und bürgerlichen Grund-und Menschenrechte haben sollen.
I. Einleitung
In der jüngsten Zeit hat sich die Diskussion um die Menschenrechte und ihre Realisierung spürbar intensiviert. Charakteristisch ist dabei, daß sie sich nicht auf die politischen und bürgerlichen Menschen-und Grundrechte, die sog. klassischen Grundrechte beschränkt, sie dehnt sich vielmehr zunehmend auf die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte aus.
Die Verlagerung des Schwerpunkts der Diskussion auf die sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte ist auch — jedoch nicht ausschließlich — im Zusammenhang mit der derzeitigen wirtschaftlichen Krisensituation zu sehen, in der die Gefahr besteht, daß Rechte und Grundsätze, deren Einhaltung bzw. Gewährung in einer wirtschaftlich guten Lage selbstverständlich ist, stillschweigend mißachtet werden. Aus diesem Grunde hat jetzt auch in der Bundesrepublik z. B. verstärkt die Diskussion um die Aufnahme eines „Rechts auf Arbeit" ins Grundgesetz eingesetzt.
Die Debatte um eine bessere institutionelle Absicherung wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte und damit um eine Gleichstellung dieses neuen Grundrechtstypus mit den klassischen politischen und bürgerlichen Grundrechten zieht immer weitere Kreise. So hat sich z. B.der luxemburgische Ministerpräsident Thorn auf der Plenarsitzung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates am 25. Januar 1978 zu diesem Problemkreis geäußert, und nunmehr schalten sich auch die Gewerkschaften verstärkt in diese Diskussion ein.
Auf der Suche nach geeigneten Instrumenten zur Absicherung der sozialen und wirtschaftlichen Grundrechte scheint jedoch in Vergessenheit geraten zu sein, daß bereits internationale Verträge bestehen, die diese Zielsetzung in Ansätzen erfüllen. Wenn diese Verträge bisher nicht die Wirkung erzielen konnten, die man ihnen zugedacht hatte, so lag dies meist daran, daß sie keinen unmittelbaren Rechtscharakter für den einzelnen Bürger haben, sondern nur eine zwischenstaatliche Verpflichtung zur Einräumung gewisser Rechte begründen.
Der wahrscheinlich wichtigste dieser internationalen Verträge ist die am 18. Oktober 1961 in Turin von der Mehrheit der Mitgliedstaaten des Europarates unterzeichnete Europä-ische Sozialcharta, die 1964 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde 30 Tage nach der Hinterlegung der fünften Ratifikationsurkunde trat sie am 26. Februar 1965 für das Vereinigte Königreich von Großbritannien, Schweden, Norwegen, Irland und die Bundesrepublik Deutschland in Kraft. Zwischenzeitlich ist sie von weiteren Mitgliedstaaten des Europarates ratifiziert worden.
Die Europäische Sozialcharta umfaßt eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten, angefangen vom Recht auf Arbeit über das Recht auf gerechte, sichere und gesunde Arbeitsbedingungen bis zum Recht auf Schutz der Gesundheit.
In Anbetracht der Tatsache, daß die Forderung nach einer Revision der Sozialcharta nicht nur von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates erhoben, sondern auch von den Gewerkschaften zunehmend aufgegriffen und unterstützt wird, erscheint es notwendig, den Inhalt und Zweck der Europäischen Sozialcharta, die in der Öffentlichkeit relativ unbekannt geblieben ist, in Erinnerung zu rufen. Ausgehend von den Schwachstellen dieses bestehenden Vertrages soll dann der Weg aufgezeigt werden, auf dem die Sozialcharta weiterentwickelt werden müßte, um zum Grundgesetz des Europarates auf dem Gebiet der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte zu werden und damit eine echte Ergänzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zu sein. Ein derartiger Grundrechtskatalog würde dann nicht nur einen neuen Grundrechtstypus absichern, sondern er wäre gleichzeitig Leitfaden für eine weitere Vereinheitlichung und Integration auf sozialpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet, wobei sich die Bedeutung und die Ausstrahlung dieses Vertrages nicht nur auf das Europa der Europäischen Gemeinschaften beschränken, sondern auf das gesamte nichtkommunistische Europa erstrecken würde.
II. Die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 1961
Entwicklung Bei der Ausarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde offenbar, daß aufgrund der großen Übereinstimmung die Formulierung und Festlegung der politischen und bürgerlichen Grundrechte, der sog. „klassischen" Grund-und Menschenrechte, keine großen Schwierigkeiten bereitete, daß es aber bei den wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten erhebliche Differenzen gab. Aus diesem Grunde wurden die wirtschaftlichen und sozialen Rechte aus der Menschenrechtskonvention ausgeklammert, um sie in einer eigenen Konvention zü regeln
Von 1953 bis 1961 arbeiteten verschiedene Ausschüsse des Ministerkomitees und der Beratenden Versammlung des Europarates an der Formulierung eines Vertragstextes.
Der im Februar 1958 vom Ministerkomitee vorgelegte Textentwurf diente der vom Europarat in Zusammenarbeit mit der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) für den Dezember 1958 nach Straßburg einberufenen dreigliedrigen Konferenz (Regierungs-, Arbeitgeber-und Arbeitnehmervertreter) als Beratungsgrundlage.
Das vom Ministerkomitee eingesetzte Sozial-komitee erarbeitete dann — unter Berücksichtigung der vorliegenden Vorschläge und Text-entwürfe — einen endgültigen Text für die Konvention.
Nach acht Jahren Vorarbeit war es dann soweit: Am 18. Oktober 1961 wurde die Europäische Sozialcharta von der Mehrzahl der damaligen Mitgliedstaaten des Europarates in Turin unterzeichnet. 1965 trat die Charta in Kraft.
Zielsetzung der Charta Als Ergänzung zur Europäischen Menschenrechtskonvention, die die bürgerlichen und politischen Grundrechte enthält, umfaßt die Europäische Sozialcharta die wirtschaftlichen und sozialen Rechte. Die Sozialcharta stellt somit auf einen neuen Grundrechtsbegriff ab: „Es sollen auf Grund dieser neuen Art von Grundrechten dem einzelnen vom Staat positive Leistungen zugesichert werden, die ihm in den Wechselfällen des Lebens als Daseins-garantie dienen sollen." Die Festlegung solcher sozialer Grundrechte, die vom Staat ein bestimmtes Handeln, eine bestimmte qualifizierbare Leistung verlangen, ist Ziel der Charta.
Die Charta will durch die Erhaltung und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten eine engere Verbindung zwischen den Mitgliedern des Europarates herstellen, „um die Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe sind, zu wahren und zu verwirklichen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern"
„Die Sozialcharta prägt der Gedanke der europäischen Solidarität; denn sie ist ein Versuch, die Haltung der europäischen Regierungen zu harmonisieren, und gleichzeitig ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Überwindung der fundamentalen Divergenzen zwischen Nord-und Südeuropa."
Um dieser Zielsetzung gerecht zu werden, enthält die Charta „die sozialpolitischen Mindestforderungen für ein einheitliches europäisches Arbeits-und Sozialrecht sowie bestimmte Verpflichtungen der Vertragsparteien, die diesen Mindestforderungen entsprechen"
Inhalt Die Europäische Sozialcharta besteht aus einer Präambel, 5 Teilen und einem Anhang. Teil I enthält 19 Absätze, in denen die gleiche Anzahl von Grundrechten generell formuliert wird
Art. 1: Recht auf Arbeit Art. 2: Recht auf gerechte Arbeitsbedingungen Art. 3: Recht auf sichere und gesunde Arbeitsbedingungen Art. 4: Recht auf gerechtes Arbeitsentgelt Art. 5: Vereinigungsrecht Art. 6: Recht auf Kollektivverhandlungen Art. 7: Recht der Kinder und Jugendlichen auf Schutz Art. Recht der Arbeitnehmerinnen auf Schutz Art. 9: Recht auf Berufsberatung Art. 10: Recht auf Berufsausbildung Art. 11: Recht auf Schutz der Gesundheit Art. 12: Recht auf soziale Sicherheit Art. 13: Recht auf Fürsorge Art. 14: Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste Art. 15: Recht der Behinderten auf berufliche Ausbildung sowie auf berufliche und soziale Eingliederung oder Wiedereingliederung Art. 16: Recht der Familie auf sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Schutz Art. 17: Recht der Mütter und der Kinder auf sozialen und wirtschaftlichen Schutz Art. 18: Recht auf Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Ausland Art. 19: Recht der Gastarbeiter und ihrer Familien auf Schutz und Beistand „Während jeder der 19 Absätze dieses I. Teils der generellen Formulierung jeweils eines Grundrechts gewidmet ist, enthält der II. Teil der Sozialcharta für jedes dieser Rechte einen bestimmten Artikel, in dem sich die Vertragsstaaten verpflichten, die für die Durchführung des betreffenden Rechts notwendigen Maßnahmen zu treffen." 8)
Der II. Teil enthält somit eine Präzisierung der in Teil I generell formulierten Grundrechte hinsichtlich der Maßnahmen, die zu ihrer Realisierung durchzuführen sind.
Annahmemodus Teil III regelt den besonderen Modus der Ratifikation der Charta durch die Mitgliedstaaten. Entgegen anderen internationalen Verträgen muß die Charta nicht vollständig angenommen werden; es wurde auch nicht die Möglichkeit des Vorbehalts gewählt, wie dies bei anderen internationalen Verträgen und Abkommen möglich ist. Da in den Vertragsstaaten ein sehr unterschiedliches soziales und wirtschaftliches Niveau bestand, war klar, daß es nicht allen Staaten möglich wäre, die Charta in ihrer Gesamtheit anzunehmen Aus diesem Grunde wurde die Möglichkeit einer teilweisen Annahme, allerdings mit gewissen Einschränkungen, geschaffen.
Aus einem Kern von sieben Artikeln des Teils II sind mindestens fünf anzunehmen. Dieser Kern besteht aus folgenden Rechten: 1. Recht auf Arbeit (Art. 1)
2. Vereinigungsrecht (Art. 5)
3. Recht auf Kollektivverhandlungen, einschließlich Streikrecht (Art. 6)
4. Recht auf soziale Sicherheit (Art. 12)
5. Recht auf Fürsorge (Art. 13)
6. Recht der Familie auf sozialen, gesetzlichen und wirtschaftlichen Schutz (Art. 16) 7. Recht der Gastarbeiter und ihrer Familien auf Schutz und Beistand (Art. 19) Zusätzlich zu den fünf Kernartikeln sind so viele Artikel oder numerierte Absätze zu akzeptieren, daß die Gesamtzahl von mindestens zehn Artikeln oder 45 numerierten Absätzen erreicht wird. Überwachungssystem „Wie für alle bedeutenden völkerrechtlichen Verträge, die der Sicherung der Grundrechte des einzelnen gewidmet sind, gilt auch für die Sozialcharta der Grundsatz, daß es nicht genügt, derartige Rechte international zu formulieren und von den Staaten in verbindlicher Form anerkennen zu lassen. Es ist im übrigen erforderlich, ein internationales Rechtsschutzsystem vorzusehen, das es ermöglicht, die effektive Einhaltung der Vertragsbestimmungen konkret zu überwachen."
Wie beim Annahmemodus weist die Charta auch beim Überwachungssystem gegenüber anderen internationalen Abkommen eine Besonderheit auf. „Während [z. B. ] die Menschenrechtskonvention eine Kommission und einen Gerichtshof einsetzt . . ., weist die Europäische Sozialcharta einen im wesentlichen verwaltungsinternen Kontrollmechanismus auf.“
Dieser Mechanismus stellt sich folgendermaßen dar: Im Abstand von zwei Jahren müssen die Regierungen der Vertragsstaaten dem Generalsekretär des Europarates einen Bericht über die innerstaatliche Anwendung der Normen der Sozialcharta abgeben (Art. 21). Diese Berichte werden zuvor den größten nationalen Arbeitgeber-und Arbeitnehmerorganisationen (für die Bundesrepublik die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und der Deutsche Gewerkschaftsbund) vorgelegt, die ihrerseits die Möglichkeit haben, eine Stellungnahme zum Bericht abzugeben; diese Stellungnahme wird dem Generalsekretär des Europarates zusammen mit dem Regierungsbericht zugeleitet (Art. 23).
Die Berichte werden sodann von einem unabhängigen Sachverständigenausschuß geprüft (Art. 25). Das Prüfungsergebnis wird einem Unterausschuß des Regierungssozialausschusses (Art. 27), der aus je einem Vertreter der Vertragsparteien besteht, zugeleitet. Zu den Beratungen dieses Gremiums werden Vertreter von internationalen Arbeitgeber-und Arbeitnehmerorganisationen (die Arbeitnehmer werden durch den Europäischen Gewerkschaftsbund vertreten) eingeladen, die in beratender Eigenschaft teilnehmen.
Weiterhin wird der Bericht der Sachverständigen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zugeleitet (Art. 28). Die Stellungnahmen des Unterausschusses des Regierungssozialausschusses und der Parlamentarischen Versammlung werden dann dem Ministerkomitee vorgelegt (Art. 29), das mit Zweidrittelmehrheit Empfehlungen an die Vertragsparteien beschließen kann.
III. Erfahrungen mit der Europäischen Sozialcharta
Umfang der Ratifizierung Bei ihrem Inkrafttreten am 26. Februar 1965 war die Charta von fünf Staaten (Großbritannien, Norwegen, Schweden, Irland und Bundesrepublik Deutschland) ratifiziert worden.
In der Zwischenzeit haben auch Dänemark, Italien, Zypern, Österreich, Frankreich und Island die Charta angenommen, so daß sie in insgesamt elf Staaten verbindlich ist.
Für die nächste Zeit haben weitere Staaten die Ratifizierung angekündigt
Bis heute hat jedoch lediglich ein Staat — nämlich Italien — alle 72 Einzelbestimmungen angenommen. Insgesamt kann gesagt werden, daß die Charta im Durchschnitt zu ca. 80 Prozent angenommen wurde (von den elf Staaten wurden insgesamt 634 Einzelbestimmungen akzeptiert, bei 11 X 72 = 792 möglichen)
Von der Bundesrepublik Deutschland wurden 1964 67 der 72 Einzelbestimmungen angenommen
Auswirkungen auf die nationale Gesetzgebung der Vertragsstaaten a) Auswirkungen vor der Ratifizierung Die Bestimmungen der Charta veranlassen die Staaten, die die Absicht haben, die Charta bzw. Teile davon zu ratifizieren, ihre Gesetzgebung daraufhin zu überprüfen, ob diese mit den anzunehmenden Bestimmungen der Charta in Einklang stehen. Ist dies nicht der Fall, so ändern die Staaten vielfach die entsprechenden Gesetze, damit die Bestimmungen der Charta angenommen werden können. Als Beispiel können die Gesetzgebung der Schweiz hinsichtlich der Anwendung der Arbeitslosenversicherung auf Ausländer sowie ein luxemburgischer Gesetzentwurf genannt werden, der die Anerkennung des Beamten-streikrechts vorsieht, so daß die luxemburgische Gesetzgebung bei einer Ratifizierung der Charta dem Art. 6 Abs. 4 entsprechen würde b) Auswirkungen nach der Ratifizierung Änderungen der nationalen Gesetze sind auch nach der Ratifizierung festzustellen. Sie wurden von den Staaten zum Teil direkt eingeleitet, da bei der Annahme einer entsprechenden Bestimmung der Charta die Notwendigkeit der innerstaatlichen Gesetzesänderung offenkundig war. Als Beispiele können Anpassungen in Österreich hinsichtlich der Sozialgesetzgebung sowie verschiedene Gesetzesänderungen in Frankreich (Sozialhilfe, Familienzusammenführung von Gastarbeitern etc.) angeführt werden
Zum Teil gehen die Gesetzesänderungen auch auf entsprechende Beanstandungen und Hinweise im Verlauf des Uberwachungsverfahrens zurück. So sind Änderungen der Seemannsgesetze in Dänemark, Norwegen, Schweden, Großbritannien, Zypern und der Bundesrepublik Deutschland vorgenommen worden, um nur eines von vielen Beispielen zu nennen
Im Rahmen des Uberwachungsverfahrens lassen sich ca. 50 Rechtsänderungen aufzeigen, von denen mehr als zwei Dutzend ausschließlich auf die Charta zurückzuführen sind
Der Erfolg Auswirkungen im hinsichtlich der Sinne einer entsprechenden Änderung nationaler Gesetze „ergibt sich [dabei] mehr oder weniger auch aus dem moralischen Druck, der von den Organen des Europarates sowie den verschiedensten Stellen außerhalb dieser Organisation auf die Vertragsstaaten ausgeübt werden kann .. . Die Erfahrung und die Praxis haben gezeigt, daß die Regierungen die Folgen nicht unterschätzen, die sich aus einer Nichtbeachtung der Normen der Sozialcharta ergeben, und sich bemühen, die Gesetzgebungen ihrer Länder an der Charta auszurichten"
IV. Mängel der Europäischen Sozialcharta
Lediglich ein Katalog von Mindestforderungen Der lange und komplizierte Entwicklungsgang des Entwurfes der Europäischen Sozialcharta weist bereits auf die Schwierigkeiten hin, die die Formulierung von wirtschaftlichen und sozialen Grundrechten mit sich brachte — Schwierigkeiten insbesondere deshalb, weil „die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten des Europarates ebenso berücksichtigt werden [mußten] wie die Verschiedenheit der Rechtssysteme der einzelnen Staaten"
Die Normen der Sozialcharta wurden deshalb so abgefaßt, „daß sie das Minimum eines gemeinsamen Standards enthalten, der von allen europäischen Ländern in absehbarer Zeit erreicht werden kann"
Dies bedeutet, daß einige der Bestimmungen der Charta kein fest fixiertes Ziel enthalten, sondern nur allgemeine, unverbindlich anzustrebende Zielsetzungen, die zudem noch durch ihre Formulierung die Möglichkeit einer weiten Auslegung und Interpretation nicht nur erlauben, sondern vielfach geradezu herausfordern Als Beispiel sei hier Artikel 2 Absatz 1 genannt, in dem es heißt, daß sich die Vertragsparteien verpflichten, „für eine angemessene tägliche und wöchentliche Arbeitszeit zu sorgen und die Arbeitswoche fortschreitend zu verkürzen, soweit die Produktivitätssteigerung und andere mitwirkende Faktoren dies gestatten"
Während z. B. bereits 1935 im Rahmen eines Übereinkommens der Internationalen Arbeitsorganisation die Vierzigstundenwoche normiert worden war, konnte man sich bei der Entwicklung der Charta nicht zu einem ähnlichen Schritt entschließen. Vor allem die Gewerkschaften verwiesen deshalb schon bei den Vorberatungen im Rahmen der Ausarbeitung des Textes der Charta „auf den Widerspruch, daß in einem in den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhundert verkündeten Idealprogramm etwas nicht einmal unverbindlich als anzustrebendes Ziel genannt werden soll, was vielfach bereits zur Selbstverständlichkeit geworden ist"
Die Charta insgesamt — dies gilt in verstärktem Maße noch für einige Einzelbestimmun-gen — enthält somit lediglich Mindestforderungen für einheitliche sozialpolitische Ziele; somit „bewegt sich der materielle Inhalt der Bestimmungen der Sozialcharta an der unteren Grenze des sozialen Rechts in Westeuropa"
Bei diesem Charakter der Charta ist es nicht verwunderlich, daß die sozialen und wirtschaftlichen Rechte insbesondere in den Industriestaaten West-und Nordeuropas vielfach bereits weiterentwickelt sind, als sie durch die Charta festgelegt werden.
Bei der Beurteilung der Charta muß auch berücksichtigt werden, daß es sich bei ihrem Inhalt teilweise um „Prinzipien handelt, die zwar in den fünfziger Jahren als große Errungenschaft angesehen wurden, die jedoch heute von vielen Staaten als überholt betrachtet werden"
Die Charta setzte zwar eine Harmonisierung des Arbeits-und Sozialrechts in den Vertragsstaaten in Gang, sie war und ist jedoch nicht in der Lage, neue und richtungsweisende sozialpolitische Zielsetzungen vorzugeben. Dies ist auch der Grund dafür, daß man vergeblich nach einer Charta-Bestimmung über heute so bedeutende wirtschafts-und sozialpolitische Probleme wie z. B. die Mitbestimmung, die Vermögensbildung, die Gewinnbeteiligung etc. sucht.
Annahmemodus und Ratifikationsverhalten der Vertragsstaaten Eine — schon erwähnte — Besonderheit der Charta ist, daß sie nicht insgesamt ratifiziert werden muß, sondern daß eine teilweise Annahme — bei Erfüllung gewisser Mindestnormen — möglich ist. Folgerichtig enthält denn auch Art. 20 Abs. 3 eine Klausel, die eine nachträgliche Annahme weiterer Bestimmungen der Charta durch die Vertragsstaaten erlaubt.
Der Annahmemodus der Charta hat auf der einen Seite den Vorteil, daß kein Staat gezwungen ist, sie insgesamt annehmen zu müssen, und daß es damit auch wirtschaftlich und sozialpolitisch weniger entwickelten Ländern ermöglicht wird, zumindest Teile der Charta annehmen zu können und die Charta nicht ablehnen zu müssen, weil sie insgesamt zu hohe Ansprüche und Verpflichtungen für diese Länder bringen würde.
Auf der anderen Seite steht jedoch der Nachteil, daß Bestimmungen, die eine Anpassung der nationalen Gesetzgebung erforderlich machen würden, nicht angenommen werden müssen. In der Praxis hat sich deshalb auch gezeigt, daß die Vertragsstaaten in der Regel nur die Bestimmungen annehmen, denen die nationale Gesetzgebung bereits voll oder weitgehend entspricht. Es ist somit ins Belieben der Staaten gestellt, ob sie darüber hinaus ihre Gesetze ändern, um später weitere Bestimmungen der Charta annehmen zu können. Eine Verpflichtung hierzu besteht jedoch nicht. Hinzu kommt, daß die Staaten offenbar keine besondere Neigung verspüren, nachträglich Bestimmungen anzunehmen, selbst dann nicht, wenn geänderte und angepaßte nationale Gesetze etc. dies erlauben würden. Bis heute hat jedenfalls noch kein Vertragsstaat von der in Art. 20 vorgesehenen Möglichkeit der nachträglichen Annahme zusätzlicher Bestimmungen Gebrauch gemacht
Zur Erläuterung seien hier Beispiele aus der Bundesrepublik angeführt. Unter den Bestimmungen der Charta, die 1964 von der Bundesrepublik nicht angenommen wurden, ist auch Art. 7 Abs. 1, der ein Beschäftigungsalter von mindestens 15 Jahren für Jugendliche vorsieht. Das Mindestbeschäftigungsalter für Jugendliche betrug 1964 in der Bundesrepublik 14 Jahre; Art. 7 Abs. 1 wurde deshalb nicht angenommen. 1976 wurde das Jugendarbeitsschutzgesetz geändert, u. a. wurde in § 7 Abs. 1 das Mindestalter für die Zulassung zu einer Beschäftigung auf 15 Jahre festgelegt Art. 7 Abs. 1 der Sozialcharta könnte nunmehr angenommen werden, da die nationale Gesetzgebung ihm entspricht; die nachträgliche Annahme ist jedoch bis heute nicht erfolgt.
Nach deutschem Recht sind auch in der Zeit des Mutterschutzes Ausnahmen vom Kündigungsverbot möglich, während Art. 8 Abs. 2 der Sozialcharta aussagt, daß „es als ungesetzlich zu betrachten [sei], daß ein Arbeitgeber eine Frau während ihrer Abwesenheit infolge Mutterschaftsurlaub oder so kündigt, daß die Kündigungsfrist während einer solchen Abwesenheit abläuft".
In der Antwort auf eine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Büchner ließ die Bundesregierung 1974 erkennen, daß sie die Absicht hat, „bei einer Novellierung des Mutterschutzgesetzes dem Anliegen der Sozialcharta Rechnung zu tragen" Bis heute ist in dieser Richtung jedoch nichts geschehen. Das wäre vielleicht anders, wenn der Hang größer wäre, nachträglich weiter Bestimmungen der Charta anzunehmen.
Da sich die Staaten weitgehend die Bestimmungen der Charta aussuchen können, welche sie annehmen wollen, und sie in der Regel nur diejenigen annehmen, denen die nationalen Gesetze bereits entsprechen, ist auch kein Druckmittel dafür vorhanden — auch kein moralisches —, daß die Staaten nach und nach die nationale Gesetzgebung mit weiteren Bestimmungen der Sozialcharta in Einklang bringen. Die Erreichung eines für alle Staaten gleichen Mindeststandards an sozialpolitischen Bestimmungen ist somit allein ins Ermessen der Staaten gestellt bzw. von deren Wohlverhalten abhängig.
Rechtsnatur der Sozialcharta Wesentlich ist die Frage, welche rechtlichen Konsequenzen die Ratifizierung der Sozial-charta mit sich bringt.
Zur Beurteilung ist in erster Linie die Charta selbst heranzuziehen, die in Art. 32 unter anderem Bestimmungen über das Verhältnis zwischen Sozialcharta und innerstaatlichem Recht enthält. Danach „sollen Bestimmungen der Sozialcharta geltende Vorschriften des innerstaatlichen Rechts unberührt lassen, die den geschützten Personen eine günstigere Behandlung als die Sozialcharta einräumen. Es ließe sich daraus das Umkehrargument ableiten, daß ungünstigere Vorschriften des innerstaatlichen Rechts durch günstigere Bestimmungen der Sozialcharta . berührt'— und zwar unmittelbar beeinflußt werden können"
Im ersten Absatz des Anhangs zu Teil III der Sozialcharta ist jedoch klargestellt, daß Einverständnis darüber besteht, „daß die Charta rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters enthält, deren Durchführung ausschließlich der in ihrem Teil IV vorgesehenen Überprüfung unterliegt" Im Klartext: Dieser Passus, der angeblich auf Vorschlag der Bundesregierung eingefügt worden ist, soll „verhindern, daß irgendeine Bestimmung des Abkommens durch Transformation’ oder . Adoption'innerstaatlich in der Weise beachtlich wird, daß sich der Einzelne vor den staatlichen Gerichten auf die Sozialcharta berufen könnte"
Die Europäische Sozialcharta ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der für die ratifizierenden Staaten bindende Wirkung hat. Im Gegensatz zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, deren „soziales Gegen-oder Ergänzungsstück" die Europäische Sozialcharta sein soll, begründet die Charta jedoch „kein unmittelbar geltendes Recht, sondern zwischenstaatliche Verpflichtungen der Vertragsparteien. Der einzelne kann also daraus vor den Gerichten der Mitgliedstaaten oder anderen innerstaatlichen Stellen keine Ansprüche geltend machen"
Die Normen der Europäischen Sozialcharta können somit hinsichtlich ihres Rechtscharakters „nicht mit denjenigen der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11. 1950 verglichen werden, da dort unter bestimmten Voraussetzungen sogar Privatpersonen gestattet ist, gegenüber ihrer eigenen Regierung ein Verfahren wegen behaupteter Verletzung der Rechte vor dem Europäischen Gerichtshof anzustrengen"
Die Tatsache, daß der einzelne Staatsbürger keine Möglichkeit hat, einen Rechtsanspruch aus den angenommenen Bestimmungen der Sozialcharta abzuleiten und diesen Anspruch vor einem nationalen oder internationalen Gericht einzuklagen bzw. diese als Beschwerdeinstanz bei einer Verletzung der in der Charta enthaltenen Grundrechte durch einen der Vertragsstaaten anzurufen, gilt als einer der Hauptkritikpunkte an der Charta.
Effektivität des Überwachungsverfahrens Einer besonders kritischen Überprüfung bedarf das in Teil IV der Charta enthaltene Kontrollverfahren. „Da die Charta lediglich Staatenverpflichtungen enthält, der einzelne also keine Rechte daraus herleiten kann, ist dieses Kontrollverfahren für die wirksame Durchführung der Bestimmungen der Charta von entscheidender Bedeutung." a) Berichtspflicht der Vertragsstaaten Nach Art. 20 haben die Vertragsparteien alle zwei Jahre einen Bericht über die Anwendung der von ihnen angenommenen Bestimmungen abzuliefern. Sieht man einmal davon ab, daß es die Regierungen mit dem Abgabe-termin der Berichte selten genau nehmen so ist festzustellen, daß die Berichte der Mitgliedstaaten nicht immer ausreichend Auskunft über die tatsächliche oder gesetzliche Situation geben. Hinzu kommt, daß verschiedene Begriffe unterschiedlich von den Mitgliedstaaten angewendet werden, so daß es zu zusätzlichen Mißverständnissen bei der Interpretation kommt, zumal eine internationale Auslegung vielfach nicht vorhanden ist, sondern von den Überwachungsgremien selbst erst geschaffen werden mußte b) Zeitdauer des Überwachungsverfahrens Eine weitere Unzulänglichkeit stellt die zeitraubende Abwicklung des Überwachungsverfahrens dar. „Zur Zeit beträgt die Gesamtdauer vom Ende des Berichtszeitraumes bis zur Entschließung des Ministerkomitees rund fünf (!) Jahre." Bis die Prüfung der Berichte abgeschlossen ist, kann sich somit die Situation in den Vertragsstaaten bereits wieder geändert haben, so daß eine mögliche „Mängelrüge" bereits gegenstandslos sein kann. c) Zahl der Kontrollinstanzen Die lange Zeitdauer des Überwachungsverfahrens ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß nicht weniger als vier Kontrollinstanzen am Überwachungsverfahren beteiligt sind, nämlich der unabhängige Sachverständigenausschuß, die Parlamentarische Versammlung, der Unterausschuß des Regierungssozialausschusses (oft auch Regierungsausschuß genannt) und das Ministerkomitee. d) Stellung der Kontrollinstanzen Problematisch ist nicht nur die Zahl der Kontrollinstanzen, sondern vor allem deren Zusammensetzung und mögliche Abhängigkeit.
Der Sachverständigenausschuß und die Parlamentarische Versammlung sind relativ unabhängig. Beim Sachverständigenausschuß könnte indessen die Einschränkung gemacht werden, daß die Mitglieder vom Ministerkomitee ernannt werden, wobei nur die Vertragsstaaten berechtigt sind, letztinstanzlich Kandidaten vorzuschlagen
Bedenklich ist die Stellung des Unterausschusses des Regierungssozialausschusses, insbesondere wegen seiner Abhängigkeit vom Ministerkomitee, das als letzte Instanz die Entscheidung darüber trifft, ob eine Empfehlung an einen Vertragsstaat gerichtet wird, d. h., ob ein Vertragsstaat wegen der Nichteinhaltung angenommener Bestimmungen der Charta „gerügt" wird.
Der Unterausschuß des Regierungssozialausschusses setzt sich aus Vertretern, d. h. aus hohen Regierungsbeamten der Vertragsstaaten zusammen. Die Regierungsvertreter sind nun im Verlauf des Kontrollverfahrens gehalten, „Handlungen oder Unterlassungen anderer Mitgliedstaaten zu beurteilen und damit im gewissen Sinne in die innerstaatliche Kompetenz eines anderen Mitgliedstaates einzugreifen, ein Vorgang, der für Regierungsbeamte ungewöhnlich ist" und dem diese auch geflissentlich ausweichen.
Zusätzlich muß festgestellt werden, daß die Einschaltung dieses Ausschusses „eine bedenkliche Verwischung des rechtsstaatlichen Grundprinzips [bedeutet], wonach Parteien nicht zugleich Richter sein sollen. In der Tat sitzen im Regierungsausschuß Beamte der für die Verwirklichung der Charta zuständigen nationalen Ministerien gleichsam über sich selbst zu Gericht. Daß dies eine Art defensiver Solidarität der Ausschußmitglieder schafft, hat sich in der ständigen restriktiven Auslegung der Chartabestimmungen durch den Regierungsausschuß gezeigt"
Ebenso bedenklich ist auch die Stellung des Ministerkomitees als entscheidender Kontrollinstanz. Zwischen Regierungsausschuß und Ministerkomitee existieren jeweils auf nationaler Ebene Verbindungen, und es besteht ein gemeinsames Interesse, da beide auf nationaler Ebene für die Verwirklichung der Sozial-charta mitverantwortlich sind. Aus diesem Grunde kann auch „nicht ausgeschlossen werden, daß ein Regierungsausschuß, der den Empfehlungsvorschlägen des Sachverständigenausschusses ablehnend gegenübersteht, Einfluß auf die Ministerbeauftragten über die Regierungen der Vertragsstaaten nimmt und eine Sperrminorität im Ministerkomitee bewirkt, wodurch die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht werden kann"
Die für den Regierungsausschuß festgestellte „Partei-gleich-Richter-Problematik" gilt auch für das Ministerkomitee. Die bisherige Zurückhaltung des Ministerkomitees bei der Abgabe von Empfehlungen beruht dabei sicherlich auch darauf, „daß ihnen auf nationaler Ebene dieselben Beamten zuarbeiten, die auch im Regierungsausschuß sitzen" Hinzu kommt eine gewisse „Tradition der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit: sich nämlich nicht ohne Not, und das heißt nur in Extremfällen, gegenseitig weh zu tun"
Bei der Gesamtbeurteilung der Stellung der verschiedenen Kontrollinstanzen dürfte folgende Aussage deshalb einige Berechtigung besitzen: „Mit Absicht hat man die Kontrolle der Erfüllung der Europäischen Sozialcharta durch die Signatarstaaten einem ausgesprochen politischen Organ, nämlich dem Ministerkomitee des Europarates, anvertraut, das nicht nur in der Ermittlung des Sachverhalts keine volle Freiheit hat, sondern sich vermutlich bei seiner Endentscheidung von politischen Opportunitätsgesichtspunkten beeinflussen lassen wird. Vor allem aber wird es sehr oft so sein, daß keine der im Europarat vertretenen Regierungen ein Interesse daran haben wird, einen anderen Signatarstaat wegen einer Vertragsverletzung durch das Ministerkomitee in dieser Weise verurteilen zu lassen." e) Bisherige Ergebnisse des Kontrollverfahrens Die im vorigen Kapitel geäußerten Bedenken zu den einzelnen Kontrollinstanzen werden gefestigt durch die bisherigen Ergebnisse des Überwachungsverfahrens.
So sind im 1. Überwachungsverfahren vom Sachverständigenausschuß insgesamt 57 Vorschläge für Empfehlungen gemacht worden.
Der Regierungsausschuß empfahl dem Ministerkomitee, keinen der 57 Empfehlungsvorschläge der Sachverständigen aufzugreifen Das Ministerkomitee gab im 1. Überwachungsverfahren keine Empfehlung an die Vertrags-staaten.
Auch die Ergebnisse der weiteren Überwachungsverfahren waren nicht anders: „Bis heute [wurde] noch keine . Verurteilung’ eines Vertragsstaates ausgesprochen, obwohl entsprechende Anträge der unabhängigen Instanzen vorlagen. Lediglich ein diplomatischer Hinweis auf die Rügen der Vorinstanzen kam zustande."
Diese Ergebnisse sind nicht gerade geeignet, die Vermutungen und Befürchtungen hinsichtlich der Stellung und möglichen Abhängigkeit der beiden Instanzen Regierungsausschuß und Ministerkomitee zu widerlegen bzw. zu entkräften.
Im Verlauf der bisherigen Diskussionen „war man überwiegend der Meinung, daß eine Empfehlung des Ministerrates nach Artikel 29 eine ernsthafte Ermahnung eines Mitglied-staates ist, die als internationale Rüge zu verstehen ist" Hierbei griff man auf Erfahrungen zurück, die bei der Überprüfung der Einhaltung der Übereinkommen und Empfehlungen der Internationalen Arbeitsorganisation gewonnen wurden. -„Die Sozialcharta führt nur zur Feststellung, daß in den Mitgliedstaaten dies oder jenes noch nicht den-Normen der Sozialcharta entspricht und empfiehlt den Unterzeichnern, diese oder jene Maßnahme zu ergreifen. Daß solche Empfehlungen auch als Anprangerung empfunden werden, liegt nicht an der . Rechtsnatur der Empfehlungen', sondern an der Überempfindlichkeit von Behörden und Politikern, die Mühe haben zu verstehen, daß sie ihre Sache noch besser machen könnten." Dieses Gefühl der „Anprangerung"
könnte auch einer der Gründe sein, weshalb das Ministerkomitee bisher keine Empfehlungen gab.
Stellung der Sozialpartner Die Sozialpartner, insbesondere die Gewerkschaften, nehmen im Überwachungsverfahren der Europäischen Sozialcharta nur eine untergeordnete Stellung ein. Sie haben lediglich auf zwei Ebenen eine — zudem sehr geringe — Einflußmöglichkeit.
Zum einen besteht auf nationaler Ebene die Möglichkeit, eine Stellungnahme zu dem von der jeweiligen Regierung abzugebenden Bericht über die Anwendung der angenommenen Bestimmungen abzugeben, die dann zusammen mit dem Regierungsbericht dem Sachverständigenausschuß unterbreitet wird. Diese Möglichkeit wurde als „Ersatzform" für das fehlende Individualbeschwerderecht in der Sozialcharta bezeichnet — eine Einschätzung, die auch nicht annähernd erfüllt wurde, insbesondere auch deshalb, weil die Gewerkschaften nur einen geringen Einfluß im Kontrollverfahren haben und diese beschränkten Möglichkeiten bisher nicht konsequent ausnutzten.
Die zweite Ebene der Beteiligung der Gewerkschaften liegt im Regierungsausschuß, wo Vertreter internationaler Arbeitnehmerorganisationen in „beratender Eigenschaft" an den Sitzungen teilnehmen können.
Darüber hinaus besteht noch die Möglichkeit, daß die Gewerkschaften an Sitzungen von Ausschüssen der Parlamentarischen Versammlung, insbesondere des Sozial-und Gesundheitsausschusses, teilnehmen; diese Möglichkeit ersetzt jedoch nicht eine direkte Beteiligung im Kontrollverfahren.
Vergleicht man die Stellung der Sozialpartner im Uberwachungsverfahren der Übereinkommen der IAO mit der bei der Sozialcharta, so wird die untergeordnete Stellung der Sozial-partner im Kontrollverfahren der Sozialcharta überdeutlich.
Der mangelnde Einfluß der Sozialpartner dürfte einer der wesentlichen Gründe sein, weshalb insbesondere die Gewerkschaften — sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene — bisher kein allzu großes Engagement in Sachen Sozialcharta gezeigt haben.
V. Ansatzpunkte zur Weiterentwicklung der Sozialcharta
Im folgenden Kapitel soll aufgezeigt werden, wo die Europäische Sozialcharta ergänzt und weiterentwickelt werden muß, um als internationaler Vertrag die Bedeutung zu erlangen, die ihr zukommt.
Inhalt der Bestimmungen Der Inhalt einiger Bestimmungen der Charta ist zu präzisieren, d. h. es sind klar und eindeutig formulierte Zielsetzungen vorzugeben, die eine mehrdeutige Interpretation nicht mehr zulassen. Diese Forderung ist insbesondere deshalb unabdingbar, weil vier Kontrollinstanzen existieren und somit vier Auslegungsmöglichkeiten einer Bestimmung gegeben sind.
Neben einer präziseren Formulierung muß auch Wert darauf gelegt werden, daß die Bestimmungen der Charta nicht nur Mindestforderungen enthalten, die auf dem Wege eines Kompromisses auf dem untersten möglichen Level zustande kommen.
Die Charta darf von ihrem Inhalt her nicht nur der Zielsetzung der Harmonisierung durch Ausgleich von Divergenzen zwischen Nord-und Südeuropa dienen, sondern sie muß auch Ansätze zu einer Weiterentwicklung der Sozialpolitik für alle Staaten bieten. Andernfalls besteht die Gefahr, daß der Umgang mit der Charta für einige Staaten lediglich eine Pflichtübung darstellt, und zwar in der Form, daß international festgeschrieben wird, was national auf sozialpolitischem Gebiet bereits erreicht oder sogar schon überschritten wurde.
Weiterhin müßte der Inhalt daraufhin überprüft werden, ob nicht einige Bestimmungen, insbesondere einige Einschränkungen, wie z. B. beim Vereinigungsrecht in Art. 5 für Polizei und Streitkräfte, überholt sind und aufgehoben werden müßten.
Aufnahme neuer Bestimmungen In den 13 Jahren seit dem Inkrafttreten der Charta hat sich die Sozialpolitik weiterentwikkelt, neue wirtschaftliche und soziale Grundrechte werden diskutiert bzw. spielen national eine bedeutende Rolle, insbesondere auch in der Politik der Gewerkschaften.
Dieser Entwicklung müßte die Sozialcharta Rechnung tragen durch die Aufnahme neuer Grundrechte, die den Vertragsstaaten neue Zielsetzungen vorgeben.
Annahmemodus /Auch beim Annahmemodus könnten Änderungen vorgenommen werden.
Es wurde aufgezeigt, daß die Staaten zumeist nur die Bestimmungen annehmen, die sie bereits erfüllen. Danach besteht keine Möglichkeit, auf die Staaten einzuwirken, weitere Bestimmungen anzunehmen bzw. ihre nationalen Gesetze abzuändern, damit eine Annahme weiterer Bestimmungen möglich wird.
Es wäre deshalb ratsam, in modifizierter Form einen Vorschlag aufzugreifen, den die Parlamentarische Versammlung bei den Beratungen zur Erarbeitung des Textes der Charta eingebracht hatte. Die Parlamentarische Versammlung schlug damals vor, die Staaten zu verpflichten, innerhalb eines Zeitraumes von fünf Jahren alle Bestimmungen der Charta anzunehmen; dieser Vorschlag hatte damals keinen Erfolg
Der Annahmemodus müßte so geändert werden, daß die Staaten danach verpflichtet sind, in regelmäßigen Zeitabständen eine bestimmte Anzahl weiterer Bestimmungen anzunehmen. Auf diese Weise hätten die Stauten noch die Möglichkeit auszuwählen, welche Bestimmungen nacheinander angenommen werden. Auf der anderen Seite wäre jedoch sichergestellt, daß die Rechte der Charta in einem bestimmten Zeitraum in allen Vertragsstaaten realisiert wären. Die Zielsetzung der Charta würde somit in einem vorgegebenen Zeitraum erfüllt; heute hingegen liegt der Zeitpunkt, in dem alle Rechte der Charta in den Vertrags-staaten umgesetzt sind, irgendwo in der Zukunft und ist absolut vom Wohlwollen der Staaten abhängig. Änderung des Rechtscharakters Die Hauptkritik richtete sich bisher immer wieder gegen den Rechtscharakter der Bestimmungen der Charta und gegen das Uberwachungsverfahren. Folglich gilt es hier, durchgreifende Verbesserungen anzustreben.
Die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit der Charta ist — insbesondere im Vergleich zu ihrem Gegenstück, der Europäischen Menschenrechtskonvention — auf die Tatsache zurückzuführen, daß die Charta lediglich zwischenstaatliche Verpflichtungen der Vertrags-staaten begründet und keine unmittelbaren, gerichtlich durchsetzbaren Rechtsansprüche für den einzelnen Bürger. Genau hier muß eine Weiterentwicklung ansetzen.
Zumindest einige der in der Charta enthaltenen sozialen Grundrechte sind „in subjektive — national und international einklagbare — Rechte umzuwandeln"
Wenn die wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte den „klassischen" Menschenrechten gleichgestellt werden sollen, so ist es unabdingbar, daß sie ebenfalls einklagbar werden. Eine — relativ unverbindlich gehaltene — Verpflichtung der Vertragsstaaten, diese Rechte zu gewähren und in die nationale Gesetzgebung einzubauen, reicht nicht aus, um dem Anspruch der Gleichstellung der sozialen Rechte mit den Menschenrechten gerecht zu werden. Gerade auch in konjunkturell schwierigen Zeiten muß sichergestellt sein, daß wirtschaftliche und soziale Grundrechte nicht nach Belieben zurückgenommen oder außer Kraft gesetzt werden können, somit lediglich als eine Art „Schönwetterveranstaltung" anzusehen wären.
Dies ist offensichtlich nur dann gewährleistet, wenn derartige Rechte bei einem Gericht — und zwar national wie international — eingeklagt werden können. In diesem Sinne gilt es, den Rechtscharakter der Bestimmungen der Charta weiterzuentwickeln.
Verbesserung des Überwachungsverfahrens Die Forderung nach Verbesserung des Überwachungsverfahrens hängt eng mit der nach der Änderung des Rechtscharakters der Bestimmungen der Charta zusammen.
Das derzeitige zeitraubende, über vier Kontrollinstanzen gehende Überwachungsverfahren wird spätestens dann unbrauchbar, wenn ein Teil der Bestimmungen der Charta einklagbar gemacht wird. Noch weniger als die Zeitdauer des Verfahrens könnte dann die Tatsache akzeptiert werden, daß in einem Teil der Gremien diejenigen international über sich selbst zu Gericht sitzen, die national für die Durchführung der Bestimmungen und Gewährleistung der in der Charta enthaltenen Grundrechte zuständig und verantwortlich sind.
Eine Verbesserung des Überwachungsverfahrens scheint jedoch auch dann notwendig, wenn eine Änderung des Rechtscharakters der Bestimmungen der Charta vorerst nicht erreicht wird. Das derzeitige Verfahren hat sich in den abgelaufenen Überwachungszyklen in vielen Punkten als unzulänglich erwiesen, daran ändert auch die Tatsache nichts, daß in einigen Vertragsstaaten Gesetzesänderungen durchgeführt wurden, weil einzelne Bestimmungen nicht hinreichend mit der Charta übereinstimmten.
Die Änderung des Kontrollverfahrens ist allein schon aus „allgemeinen rechtsstaatlich-demokratischen Erwägungen" geboten
Zu denken wäre dabei unter Umständen an eine einzige Kontrollinstanz, möglicherweise in der Form einer paritätisch besetzten Kommission, ähnlich wie im Rahmen der IAO. Ohne ein neues Kontrollverfahren scheint es unmöglich zu sein, die Bedeutung der Charta für die Sozialpolitik der Vertragsstaaten zu erhöhen.
Stellung der Sozialpartner Die Tatsache, daß die Sozialpartner bisher nur sehr sporadisch und unzulänglich von ihren Möglichkeiten Gebrauch machten, ist sicherlich auf ihre untergeordnete Rolle zurückzuführen. Aus diesem Grunde ist es unumgänglich, die Stellung der Sozialpartner zu verbessern
Schon vor einer grundsätzlichen Änderung und Weiterentwicklung der Charta sollten deshalb folgende Maßnahmen durchgeführt werden:
1. Die Sozialpartner können den Kontrollgremien Verstöße gegen die Charta auch außerhalb der Stellungnahme zum Bericht der jeweiligen Regierung über die Einhaltung der Bestimmungen anzeigen. Die angezeigten Verstöße müßten dann unverzüglich geprüft und entschieden werden.
2. Die Sozialpartner erhalten in jedem Falle ein Vorschlags-, besser noch ein Mitbestimmungsrecht bei der Ernennung der unabhängigen Sachverständigen.
3. Die Sozialpartner erhalten mehrere Sitze im Regierungsausschuß, und zwar mit Stimmrecht, nicht nur mit beratender Funktion.
Diese Sofortmaßnahmen erscheinen notwendig, wenn den Sozialpartnern ein Anreiz gegeben werden soll, sich stärker als bisher um die Sozialcharta zu kümmern. Die Europäische Sozialcharta hat in der Zeit ihres Bestehens sicherlich Auswirkungen auf die Sozialpolitik der Vertragsstaaten gehabt, Auswirkungen vornehmlich im Hinblick auf eine Harmonisierung und eines Abbaus der Divergenzen zwischen Nord-und Südeuropa.
Der Charta hat jedoch der zündende Funke gefehlt, „der die Bereitschaft erzeugen könnte, die mehr oder weniger zufälligen Unterschiede in der nationalen Sozialgesetzgebung zugunsten einer Gesamtregelung für Westeuropa aufzugeben"
Daß die Charta in der Vergangenheit nicht die Bedeutung erlangt hat, mit deren Zielsetzung sie einmal geschaffen wurde, liegt sicherlich überwiegend an den Schwachstellen, die sich in der Zeit ihres Bestehens gezeigt haben. Eine Weiterentwicklung der Charta und die Eliminierung der aufgezeigten Schwachstellen ist deshalb unumgänglich, ja dringend notwendig. Kritik an der Sozialcharta und Ansätze zu einer Weiterentwicklung wurden auch auf einem Symposium des Europarates „Die Europäische Sozialcharta und Sozialpolitik heute" vorgetragen, das vom 7. bis 9. Dezember 1977 in Straßburg durchgeführt wurde
Die Ergebnisse dieses Symposiums wurden für die Parlamentarische Versammlung des Europarates vom stellvertretenden Vorsitzenden des Sozial-und Gesundheitsausschusses, dem Bundestagsabgeordneten Peter Büchner, in einem Bericht zusammengefaßt und zu konkreten Empfehlungen aufgearbeitet Auch in diesem Bericht und den darin enthaltenen Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der Sozialcharta nehmen die Notwendigkeit einer Revision des Kontrollmechanismus, die Änderung des Rechtscharakters der Bestimmungen der Charta und die Aufnahme neuer wirtschaftlicher und sozialer Grundrechte eine zentrale Stellung ein.
Die bereits von mehreren Seiten geforderte Weiterentwicklung oder Revision der Sozial-charta sollte auch für die Gewerkschaften der Anstoß sein, sich intensiver als bisher — und zwar sowohl national wie international — um die Sozialcharta zu kümmern. Ziel muß es sein, daß die Gewerkschaften national ihren Einfluß auf die Regierungen geltend machen, damit die Sozialcharta so weiterentwickelt und verbessert wird, daß sie ein funktionsfähiges Instrument internationaler Sozialpolitik und eine echte Ergänzung der Europäischen Menschenrechtskonvention auf dem Feld der wirtschaftlichen und sozialen Grundrechte wird. Die Weiterentwicklung der Charta ist notwendig, sie darf jedoch nicht wieder den gleichen, langen Zeitraum in Anspruch nehmen, wie er bei der Ausarbeitung der Charta festzustellen war. Bei der Weiterentwicklung müssen dieses Mal auch neue Ziele gesetzt werden, die für die Sozialpolitik aller Vertragsstaaten richtungweisend sind. Nur so kann sie den Anspruch erfüllen, weittragende Bedeutung für alle Staaten Westeuropas zu erlangen und die Integration Gesamteuropas auf sozialem Gebiet voranzubringen.
Robert Steiert, Dipl. -Volksw., geb. 1948 in Neustadt/Schwarzwald; Studium der Volkswirtschaftslehre in Freiburg; Sekretär beim Gewerkschaftsvorstand der Gewerkschaft der Polizei; zuständig für Besoldungs-, Wirtschaftsund Finanzpolitik, Internationale Vertretung.
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