„Im 20. Jahrhundert haben die Probleme des Krieges das Gewissen der Christen im Hinblick, auf die Fragen der internationalen Organisation geweckt. Wir treten nun in einen neuen Zeitabschnitt ein, wo sich die Welt nach Kontinenten ordnet und wo sich die Christen in neuen Aktionen betätigen müssen .. . ein Anfang ist gemacht, und es ist seitdem sicher, daß das Unternehmen der Schaffung des europäischen Kontinents die Kirchen mit Vorrang angeht." So mahnte der ehemalige Präsident der EG-Kommission Jean Rey, selbst engagierter Christ, die Christen und ihre Kirchen Einer seiner Nachfolger, der derzeitige Kommissions-Präsident Roy Jenkins, forderte vor dem „Internationalen Komitee für soziale Angelegenheiten des Nationalen Rates sozialer Dienste" (NCSS) die karitativen Organisationen zur aktiven Mitarbeit in der EG als „Dritten Sozialpartner" auf. Er beklagte, daß das Konzept der Sozialpartner (Arbeitnehmer/Arbeitgeber) „die Notwendigkeit ignoriert, auch andere Bereiche der Gesellschaft, die außerhalb des Produktionsprozesses stehen, an den einschlägigen Entscheidungen zu beteiligen"
Es hat lange gedauert, bis der offizielle Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland zu einer abgestimmten, über die persönliche Verantwortung der Beteiligten hinausreichenden Stellungnahme zu dem Prozeß der europäischen Einigung fand. Noch 1975, als die Diskussion über die europäische Direktwahl längst in Gang war, beklagte einer der wenigen evangelischen „Europa-Autoren", Harald Uhl, daß unter den 1 500 Stichworten des neuen „Evangelischen Erwachsenenkatechismus" das Stichwort „Europa" vergeblich gesucht würde „Obwohl die Europäische Gemeinschaft seit langem besteht, haben sich die Kirchen, vor allem die EKD, wenig um sie gekümmert", tadelte ein anderer und der Bevollmächtigte der EKD beim Bund, Prälat Heinz Georg Binder, resümierte ein Jahr später: „Der europäische Prqtestantismus hat an Brüssel noch nicht so recht Gefallen gefunden ... Auch die Kirchen können zum Rückzug des Christlichen aus der Gemeinschaft beitragen — durch Nichtstun zum Beispiel", schloß er
Zwischen diesen beiden Äußerungen hatte freilich der Vorsitzende des Rates der EKD, Landesbischof Helmut Claß, vor der Synode der EKD am 6. November 1977 in Saarbrücken erklärt: „Die Zusammenarbeit der Kirchen in den EG-Staaten läßt, obwohl die gemeinsame Arbeit in Brüssel weiterging, immer noch viele Wünsche offen. Wir meinen, daß die Einigung der Völker Westeuropas nicht nur für diese selbst, sondern auch aus der Sicht der Völker Osteuropas und der anderen Kontinente wichtig ist. Niemandem wäre damit gedient, wenn Europa in nationalstaatlicher Zersplitterung verharren würde. Jeder Über-schätzung oder ideologischen Überhöhung eines vereinten Europa gilt es jedoch zu widerstehen. Als Christenheit in einem Lande, das in einer langen europäischen Geschichte enge Bindungen zu Osteuropa hatte, werden wir daran erinnern müssen, daß Europa weiter reicht als die Grenze der Staaten, die sich zu der Europäischen Gemeinschaft zusammengeschlossen haben."
Der Ratsvorsitzende weist ausdrücklich auf die geistigen Grundlagen des neuen Europa hin, zu denen die christliche Botschaft und ihre Auswirkungen gehören: „Die Reformation mit ihrem Verständnis von der Freiheit eines Christenmenschen und der evangelischen Lehre von der Kirche hatte einen weitreichenden Einfluß auf die Anschauungen von Staat und Gesellschaft, die sich in der Neuzeit — auch im säkularen Bereich — entwickelten." Dies veranlaßt den Ratsvorsitzenden zu dem Hinweis, „daß das Besondere unseres geistigen Beitrages im Prozeß europäischer Einigung vor allem darin bestehen muß, an das reformatorische Erbe zu erinnern. Darum werden wir klarzumachen haben: das neue Europa darf nicht als ein geschlossenes weltanschauliches, wirtschaftliches oder politisches System aufgebaut werden. Die Soli-darität der Europäer muß vielmehr in einer offenen Völkergemeinschaft eingeübt und praktiziert werden". Der Protestantismus schulde Europa „die einigende Mitte seiner Botschaft: das Wort vom Kreuz"
Die Europa-Erklärung der EKD
Inzwischen liegt die von vielen geforderte, in Saarbrücken erstmals angekündigte „Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zu den Wahlen zum Europäischen Parlament" vor. Diese Erklärung verdient Beachtung. Sie ist mehr als eine Stellungnahme zu Parlamentswahlen, auch zu Urwahlen. Die Deklaration findet zu einem ausgewogenen, ebenso zurückhaltenden wie klaren Ja zur westeuropäischen Einigung. Darüber hinaus nennt sie Maßstäbe für das internationale., politische Handeln, wie sie in dieser Deutlichkeit bislang kirchamtlich nicht formuliert wurden, auch wenn sie längst in die internationale Konferenzsprache eingegangen waren. Die Stichworte sind Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität. Der Rat der EKD stellt einleitend die Frage: „Wird durch den geplanten Zusammenschluß von Staaten und Völkern erreicht werden, daß der Frieden auf Erden sicherer, die Gerechtigkeit unter den Menschen glaubwürdiger und die Hilfe für die Armen großer wird?“
Die EKD macht durch dieses Verfahren deutlich, daß sie auch den westeuropäischen Integrationsprozeß in einem größeren ethischen, historischen und internationalen Zusammenhang sieht.
Die Grundwerte Frieden, Gerechtigkeit, Solidarität, die das internationale Leben prägen sollen, verdeutlichen das sittliche Anliegen der EKD. Damit weist sie auf die nach ihrem Verständnis christliche Substanz auch internationaler Politik hin.
Die geschichtliche Dimension der Stellungnahme wird durch zwei Aussagen plastisch, in denen sich die deutschen Protestanten ausgesprochen bescheiden geben: Europa sei „in seiner Entstehung und Geschichte nicht ohne die Anstöße und Lebensformen zu denken, die vom Evangelium geprägt sind". Deshalb auch gäbe es gute Gründe, vom christlichen Abendland, von christlicher Kultur und Sitte zu sprechen. Zudem gehöre heute immer noch ein großer Teil der Menschen Europas einer christlichen Kirche an. Dies ist die eine Linie, die die Verfasser der Deklaration ziehen. Die andere Linie enthält einen unüberhörbaren Imperativ. Sie erinnert daran, daß von Europa „die Botschaft der Versöhnung in Jesus Christus in alle Welt" ausging. „Das tatsächliche Verhalten der Kirchen und der Christen hat aber in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein oft nicht der anvertrauten Botschaft entsprochen." Daher gehöre zu Europas Geschichte auch die Schuld, welche die Kirchen auf sich geladen haben. Die „Botschaft von der Versöhnung" müsse deshalb „als Verheißung und Verpflichtung über den Entscheidungen stehen, die aüf uns zukommen". Der Leser dieser Erklärung fühlt sich deutlich an das umstrittene Stuttgarter Schuldbekenntnis erinnert, das zu den ersten öffentlichkeitswirksamen Äußerungen des deutschen Nachkriegsprotestantismus zählt, als der Rat der EKD vor den Vertretern der Ökumenischen Bewegung kirchliches Versagen in den Jahren der Hitlerherrschaft bekannte und so den Weg zu neuem Vertrauen frei machte: „Wir klagen uns an, daß wir nicht mutiger bekannt, treuer gebetet, gläubiger gehofft haben." 6a) Die Stuttgarter Bußaussage war bezogen auf die nationale Geschichte und den begrenzten Zeitabschnitt der Herrschaft des Dritten Reiches. Die europäische Erklärung ist be-. zogen auf die weltweiten Wirkungen europäischer Tradition und auf die gesamte Geschichte Europas.
Entsprechend umfassend sieht die Erklärung auch den europäischen Einigungsprozeß: Die Gründung der EG „ist eine der wichtigsten Leistungen für Aufbau und Sicherung der künftigen Entwicklung unseres Erdteils". Es ist eine der wichtigsten Leistungen, nicht die einzige. Und sie kommt nicht nur den unmittelbar Beteiligten, den „Neun", zugute, sondern sie hat „der künftigen Entwicklung unseres Erdteiles" insgesamt zu dienen. Und darüber hinaus! Denn von ihr soll nicht nur „eine Befriedung und Versöhnung des Kontinents" ausgehen — das ist schon weit genug gegriffen —, sondern „eine vertiefte Zusammenarbeit der Völker". Aus dieser Einsicht heraus sei seinerzeit, als vor 27 Jahren der erste Vertrag in Kraft trat, gehandelt worden.
Nicht nur von eigener Einsicht geht die EKD mithin aus, sondern auch vom Selbstverständnis der Gemeinschaft.
Die gesamteuropäische Perspektive, unter der der Rat urteilt, veranlaßt ihn, „Trauer" darüber zu bekunden, „daß unter den in Europa gegebenen politischen Verhältnissen" . . . sich die EG „nur in einer Teilregion Europas" verwirklichen läßt. Ausdrücklich weist er darauf hin: „Die Gemeinschaft muß offen sein für die Verbindung und Zusammenarbeit mit den Völkern Osteuropas. Europa endet nicht an der Elbe." Daß sich die EG — und die Menschen in ihr — abschließen könnten, nennt er ausdrücklich eine „Versuchung". Er fordert deshalb die Menschen in der Europäischen Gemeinschaft auf, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, daß die Europäische Gemeinschaft nur ein Teil des ganzen Europas ist.
Die globale Perspektive der EKD-Erklärung findet ihren stärksten Ausdruck in der Forderung einer weltweiten Entwicklungspolitik „nicht nur im Verhältnis zu den Staaten, die früher einmal europäische Kolonialgebiete waren, sondern für alle Länder der Dritten Weft, die auf die Hilfe der Industrienationen angewiesen sind". Sie sollte zu den „Grundorientierungen einer europäischen Politik" gehören. In diesem Katalog der Grundorientierungen legt der Rat seine Maßstäbe an die gegenwärtigen Realitäten. Er bleibt bemerkenswert nüchtern, ohne auf den Charakter der Mahnung zu verzichten. Gut biblisch akzeptiert er das Eigeninteresse der Mitglieder der EG; aber: im Einzelinteresse muß das Gesamtinteresse bewahrt bleiben; es sei ohnehin nur im Gesamtinteresse gut aufgehoben. Dies gelte auch und vor allem im Blick auf die beitrittswilligen Staaten.
Urchristlicher Tradition, leider in der nationalen Geschichte oft übersehen, entspricht auch die Forderung, die verschiedenen Politiken der Gemeinschaft daran zu messen, ob sie dem „Abbau von Benachteiligungen" dienen: als aktive Regionalpolitik ebenso wie als Sozialpolitik. Die wirtschaftliche und soziale Dimension der EG müßten sich deshalb ergänzen, verlangt der Rat. Es müsse ein „Einklang" gefunden werden zwischen dem Ziel der Wachstumsförderung und der Notwendigkeit, „gerade auch den schwächsten Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu dienen". Ähnlich sei eine „Verminderung des wirtschaftlichen Gefälles zwischen den reichen Regionen und den ärmeren Gebieten" anzustreben. Denn „eine Gemeinschaft, die ihre benachteiligten Regionen vergißt, setzt ihre Zukunft aufs Spiel“.
Der „im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ)" gefundene Weg, gemeinsame Stellungnahmen zu Fragen der internationalen Politik abzugeben, müsse „im Interesse des Friedens und der internationalen Verantwortung fortgesetzt werden". Dieses Gespräch solle „trotz mancher Enttäuschungen" die Völker Osteuropas einschließen. Zum Schluß wird die Erwartung ausgesprochen, daß die Politiker bereit seien, „den Wählern Zukunftsperspektiven für den Weg unserer Völker und für die Menschengemeinschaft auf Erden vor Augen zu stellen".
Mit beachtlichem Nachdruck fordert der Rat die Parteien auf, im Wahlkampf „das europäische Einigungswerk zu fördern". Deshalb kein Wahlkampf allein unter innenpolitischen Gesichtspunkten?
Den dialogischen Ansatz selbstkritischer Selbstbescheidung, wie er im Schuldbekenntnis seinen Ausdruck findet, wahrt die Erklärung auch insofern, als sie ausdrücklich feststellt: Das Europa der Zukunft werde kein einheitliches, auch kein einheitlich christliches, sondern ein plurales Europa sein.
Für und wider die Integration Es hat lange gedauert, bis die evangelische Kirche in Deutschland zu einem klaren Wort zur europäischen Integration fand. 1957 waren die Verträge von Rom unterzeichnet worden. Am 25. März 1950 bereits hatte der französische Außenminister Robert Schuman die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) vorgeschlagen. Ein Jahr später war es bereits zum Vertrag zur Gründung dieser Gemeinschaft in Paris gekommen. Ihr waren heftige innenpolitische Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik vorausgegangen. Noch dramatischer waren diese Diskussionen national wie international geworden, als dem Vertrag über die europäische Verteidigungsgemeinschaft zur Geltung verholten werden sollte, der schließlich an der Französischen Nationalversammlung scheiterte.
In den folgenden Jahren schlugen die Wellen auch innenpolitischer Auseinandersetzungen immer wieder hoch. Zum Beispiel als es um den „Mansholt-Plan" über die Reform der Landwirtschaft in der EG ging, oder um den Beitritt Großbritanniens. Welche Gründe mögen die EKD zu ihrer großen Zurückhaltung gegenüber der westeuropäischen Integration veranlaßt haben? An einzelnen Stimmen, die ein deutliches Ja zur Integration verlangten, hat es nicht gefehlt. So fragte der damalige Bevollmächtigte der EKD bei der Bundesregierung, Bischof Hermann Kunst, 13 Jahre nach der Unterzeichnung der römischen Verträge, 1970, wo der konkrete Beitrag der Kirchen-für eine neue Gestaltung Europas sei. Er beklagte, daß es „an der Solidarität der Denkleistung und an der unmittelbaren Begleitung jener Männer fehle, die in Brüssel sich um die erneute politische Gestaltung Europas bemühen" Kunst sah einen wesentlichen Beitrag der Christen darin, „im Bereich der EG jenen Tendenzen auf das Entschiedenste zu widerstehen, die den eigenen, unmittelbaren, materiellen Fortschritt ohne Rücksicht auf die Probleme der Dritten Welt vorantreiben wollen". Eine christliche Kirche könne nicht schweigend hinnehmen, wenn Entwicklungshilfe im wesentlichen als ein Instrument nationaler Außenpolitik behandelt werde. Außerdem: die Lehre von der Versöhnung und dem Frieden unter den Menschen, in der sich die christliche Kreuzesbotschaft auch politisch relevant äußere, biete für den Dienst der Christen „Chance, Hoffnung und Gewißheit" zugleich. In der EG habe man gelernt, wie der Ausgleich widerstrebender Interessen gesucht werden könne. Diesen Ausgleich dürfe man nicht den Atheisten überlassen. Christen hätten mitzuarbeiten, und: „Die Kirchen müssen auch in ihren politischen und gesellschaftspolitischen Aktivitäten den Schritt über die nationalen Grenzen wagen." Der Glaube an Kreuz und Auferstehung Jesu Christi tauge nur soviel, als er im Dienst bewährt werde — hier im Beitrag zu Europa. Der Horizont der Kirchen müsse nicht nur unmittelbar am ökumenischen Bereich weit sein: er müsse auch Europa gelten.
Die gesamtdeutsche Option Der Horizont, den Kunst verlangt, umschloß auch bei der EKD den weltlichen Bereich. Die Blickrichtung allerdings, die in der EKD vorherrschte, führte nicht zu einer verbindlichen und vernehmbaren Bejahung der Westorientierung der Bundesrepublik — und damit auch der europäischen Integration. Das wäre der EKD als erster und entscheidenden Schritt •weg von ihrer gesamtdeutschen Option erschienen.
Damals aber war die geordnete Mitarbeit der evangelischen Landeskirchen der DDR in den gesamtkirchlichen Zusammen-Schlüssen durchaus noch möglich — sowohl in der EKD als auch in der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). Kirchentage wie die Sitzungen der EKD waren gleichzeitig gesamtdeutsche Ereignisse. Mit der Errichtung der Mauer in Berlin änderte sich das. Man zog sich auf die Möglichkeit örtlich getrennter Synodaltagungen in beiden Teilen Deutschlands zurück. Am Gedanken einer Synode aber hielt man fest, indem man die Abstimmungen, Beratungen und Stellungnahmen in beiden Teilsynoden koordinierte. Schließlich kam es am 10. Juni 1969 doch zur Gründung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR. Die evangelische Kirchen-kanzlei in Ost-Berlin wurde aufgelöst, die vier bisherigen Mitglieder des Rates der EKD aus dem Bereich der DDR erklärten ihre Funktionen und ihre Tätigkeit für beendet. Allerdings nahm der Kirchenbund durchaus nicht Abschied von der gesamtdeutschen Option
Die EKD hat ihrerseits ausdrücklich erklärt, die Entscheidung der Kirchen in der DDR zu respektieren EKD und Evangelischer Kirchenbund der DDR bekennen sich gemeinsam zur besonderen Gemeinschaft der evangelischen Christenheit in Deutschland.
Von dieser Beurteilung der nach Meinung der EKD prioritären innerdeutschen Aufgabenstellung ist auch ihre Haltung zum europäischen Integrationsprozeß bestimmt. Es ist eine zurückhaltende Haltung. Die gesamtdeutsche Frage ist eben nicht nur eine latente Fragestellung gegenwärtiger deutscher Politik, sondern auch der Kirchen der Gegenwart.
Die gesamteuropäische Option Ein zweites Motiv legte dem deutschen Protestantismus — deutlich spürbar bis in die Gegenwart — Zurückhaltung auf: es ist die Parallele zur gesamtdeutschen Option, die gesamteuropäische. Man fürchtet, jeh mehr sich die westeuropäischen Staaten zusammenschließen, um so dauerhafter könnten ost-und nordeuropäische, ebenso aber auch süd-osteuropäische Völker aus der europäischen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Dabei ist man nicht nur über eine gewisse westeu-ropäische Exklusivität in Reichtum und Wohlfahrt besorgt, sondern ebenso über ein gewisses Ausgeliefertsein der Ausgeschlossenen an andere Kräfte.
Zur Pflege des gesamteuropäischen evangelischen Anliegens 'wurde die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) gegründet.
Distanz zum Staat Ein drittes Motiv scheint eine Rolle zu spielen, wird aber kaum genannt. Die latente Angst seitens der Kirchen nämlich, man könnte zu stark identifiziert werden mit staatlicher Politik. Die Fehler, die man vor und während der beiden Weltkriege gemacht zu haben einräumt, sollen sich nicht wiederholen. Die Kirchen wollen dem Staat nicht zu nahe gerückt werden. Sie wollen sich nicht wieder eine gedankenlose, weniger theologisch als vielmehr politisch, damals national bestimmte Unterstützung staatlicher Aktivitäten vorwerfen lassen. Das hatte wohl Andre Apel, der Präsident der Evangelischen Kirche der Augsburger Konfession in Elsaß und Lothringen, im Auge, als er bei einer Tagung zu dem Thema „Kirchen für Europa" darauf hinwies, daß die Enttäuschung aus den Erlebnissen der letzten Kriege sich heute gegen die Kirchen wendet: In der Vergangenheit hätten sie sich zu sehr mit den Staaten und den Mächten identifiziert, heute gerieten sie immer wieder in Gefahr, sich zu sehr zu distanzieren
Unverkennbar wirkt sich diese Grundstimmung auch als Realitätsverlust aus: weil man sich von dem distanziert, was in Gang gekommen ist, tritt man lieber für das ein, was zumindest gegenwärtig kaum Chancen hat, Wirklichkeit zu werden. So entgeht man auf Dauer dem Risiko des Vorwurfs, zuviel Applaus gegeben zu haben. Die tendenziell prioritäre Forderung globaler Kommunikationsstrukturen — kirchlich in Gestalt der Ökumene, politisch als Einrichtungen der Vereinten Nationen — mag hier ihre Ursache haben.
Der Rat der EKD hat durch seine Wahlstellungnahme vom Reformationstag 1978 diese Bedenken aufgenommen und zugleich beantwortet. Er bringt die gesamtdeutsche Option der EKD in die europäische Diskussion als wichtiges kirchliches Anliegen ein. Er läßt sich durch sie aber nicht davon abhalten, einen geschichtlichen Prozeß zu bejahen und zu fördern, weil und sofern er auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität hinwirkt. Er ist insofern auch ein Stück „Vergangenheitsbewältigung''mit der konkreten Wirkung, trotz bitterer Erfahrungen und eigener Fehler nicht in Verharrung oder Utopismus zu verfallen. N
Konfessionelle Vorbehalte?
Von welchem Gewicht eine da und dort vermutete protestantische Zurückhaltung gegenüber der westeuropäischen Integration angesichts der römisch-katholischen Dominanz — statistisch wie politisch — ist, läßt sich kaum definitiv entscheiden. Offensichtlich wiederholt sich die Skepsis, die im vorigen Jahrhundert katholische kirchliche Kreise gegenüber dem Deutschen Reich zeigten, heute mit umgekehrtem Vorzeichen, eben als protestantische Bedenken. Deutlich artikuliert wird dies freilich kaum. Es ist ein unzeitgemäßer Vorbehalt, den man angesichts ökumenischer Begegnungen, Hoffnungen — und auch Enttäuschungen — nicht gerne ausspricht.
Pluraler Protestantismus Schließlich sollte nicht übersehen werden, daß innerhalb des westdeutschen Protestantismus die unterschiedlichsten Strömungen vorhanden sind. Ein beträchtlicher Teil des politisch engagierten Protestantismus neigte im Laufe der ersten 20 Jahre der Bundesrepublik der damaligen Opposition zu. Der Eintritt des langjährigen Ratsmitgliedes Gustav Heine-mann in die deutsche Sozialdemokratie verlieh dieser Entwicklung sichtbaren Ausdruck. Diese innenpolitische Opposition stand aber, sieht man von einzelnen engagierten Europäern ab, weit über Godesberg (1959) hinaus, auch zu Europa in Opposition. Erst mit der Übernahme der Regierüngsverantwortung in Bonn 1969 hat sich dies geändert. In den Teilen des Protestantismus, von denen hier die Rede ist, scheint diese Entwicklung noch nicht vollständig vollzogen.
Friedensbedrohung?
Eines der stärksten Motive, das Zurückhaltung gegenüber der europäischen Integration auslöst, kommt aus dem Willen, nichts zu tun und nichts zuzulassen, was den Frieden gefährden könnte. Nicht wenige an der Integrationsdiskussion Beteiligte haben den Vorwurf aufgenommen, der vor allem von Moskau erhoben wird, der europäische Zusammenschluß stelle eine Bedrohung der östlichen Sicherheit dar. „Meint irgend jemand im Ernst, durch die beabsichtigte Aufstockung des gegenwärtigen Sechsereuropa von Brüssel zu einem Zehnereuropa der siebziger Jahre zu einer Friedensordnung zu gelangen, die die beiden Deutschland auch nur einen Millime-ter näher zueinander bringt?" Und immer wieder schlägt die Frage durch: Verhindert dieses Westeuropa nicht das wünschenswerte Gesamteuropa? Im Namen Europas zu sprechen, wenn es sich nur um einen Teil des Kontinents, „und zwar um einen ziemlich kleinen Teil, um nicht einmal 200 von insgesamt 600 Millionen Europäern, handelt" — das sei „eine noch größere Anmaßung als die der Bonner Republik, sich Bundesrepublik Deutschland zu nennen, die immerhin damit begründet werden kann, daß sie fast 60 von den 80 Millionen" Deutschen umfaßt. Der „entscheidende Mangel in beiden Weltlagern sei die fehlende Orientierung am Frieden als gültigem Wertmaßstab aller Politik, die in der gegenseitigen Eskalation der Rüstungen ihren unübersehbaren Ausdruck gefunden hat", klagt man unter den so motivierten Kräften des Protestantismus
Die sehr differenzierte Stellung der evangelischen Kirchen Europas, vor allem aber Deutschlands, umriß bereits 20 Jahre vorher der Kieler Probst Hans Assmussen: „Man muß sagen, daß weder bei den evangelischen Kirchen Europas noch bei den evangelischen Kirchen der Welt ein einheitlicher Wille in dieser Richtung sichtbar wird. Vielmehr zerfallen die evangelischen Kirchen immer deutlicher in zwei Gruppen. Während die einen immer klarer einen Zusammenschluß um Gottes Willen fordern, durch den in Damm gegen den Osten aufgerichtet wird, halten die anderen einen solchen Zusammenschluß geradezu für gefährlich und verwerflich. Diese Scheidelinie geht quer durch die Kirchen, jedoch so, daß im allgemeinen der reformierte Geist mehr dahin neigt, den europäischen Zusammenschluß abzulehnen, während der lutherische Einfluß mehr Verständnis für die Vereinigung Europas aufbringt." Der Lutheraner Assmussen weist darauf hin, daß diese (europäischen) „Stimmungen verknüpft sind mit der Vergangenheit des deutschen Protestantismus. Die Ideologie, daß Preußen berufen sei, als evangelische Vormacht das eigentliche Gegengewicht gegen Rom zu bilden, hat im Unterbewußtsein der evangelischen Kreise Deutschlands tiefe Wurzeln geschlagen." Aber man müßte über die Einflüsse, „die unbewußt aus der alten Zeit zu uns herüberkommen, noch sorgfältig nachdenken, um die feinen Fäden zu entdecken, welche den alten preußischen Gedanken mit jener Theorie des Brückenschlages zwischen Ost und West, welcher heute die evangelische Christenheit Deutschlands so verwirrt, richtig werten und einschät•zen zu können".
Trotz aller Vorbehalte und Bedenken hat der deutsche Protestantismus jetzt mit seiner Ratserklärung deutliche Sympathie für die europäische Einigung bekundet. Er steht damit innerhalb der protestantischen Kirchen Europas nicht allein, obwohl andererseits auch nicht alle evangelischen Kirchen Europas zu einer deutlichen Haltung gegenüber der westeuropäischen Einigung gefunden haben. Nicht allein ist sie zudem möglich: Die dänischen Lutheraner etwa können angesichts ihrer staatskirchenrechtlichen Verhältnisse kein sie bindendes Votum zu Europa abgeben — eine derartige Stellungnahme behält sich dort der Staat vor.
Deutliches Ja der Briten von Anfang an Am grundsätzlichsten, deutlichsten und vorbehaltlosesten hat sich der Britische Christliche Rat der Kirchen für Europa ausgesprochen — und zwar in einer Vielzahl von Denkschriften, Stellungnahmen und Erklärungen Die britischen Protestanten bejahen Englands Beitritt in die Gemeinschaft am nachdrücklichsten. Von Anfang an hoben sie auf einige Momente der angelsächsischen protestantischen Traditionen ab, die in der deutschen Diskussion kaum erörtert wurden. „Englands Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft, die — auf der Basis einer gemeinsamen Auffassung von Menschenrechten und Menschenfreiheiten — zu ihren Zielen die Beilegung von Feindschaften innerhalb Europas ebenso zählt wie die verantwortungsvolle Verwaltung europäischer Mittel und die Bereicherung des europäischen Beitrages für die übrige Menschheit, muß begrüßt werden als Gelegenheit für Christen, an einer Verwirklichung dieser Ziele mitzuarbeiten", stellt der Rat fest, nachdem er den Bericht seiner internationalen Abteilung entgegengenommen hatte. Die britischen Protestanten erinnern an ihre große Mitgift der Menschenrechte. Sie fordern darüber hinaus „aus Gründen der praktischen Vernunft" den europäischen Zusammenschluß. „Es geht dabei um die ganze Zukunft unseres Landes und die Neueinschätzung unserer Rolle in der Welt ebenso wie um unser zukünftiges Verhältnis zum unmittelbaren Nachbarn." Dabei denken die Briten auch an eine „neue — europäische oder weltweite — Gemeinschaft der Kirchen", die freilich „kaum der Großkirche (weder der östlichen noch der westlichen) des Mittelalters gleichen wird, ebenso wie die neue Staatengemeinschaft, europäisch oder weltweit, kaum dem Römischen Reich ähneln wird".
Auch die Briten fragen nach der „Art der Gemeinschaft“. Denn: „Christen muß es ein Anliegen sein, nicht die bestehende Ordnung zu akzeptieren, sondern beizutragen zur Entwicklung auf ein größeres Ziel hin, das Ziel nämlich, daß sich in der politischen und wirtschaftlichen Ordnung die Brüderlichkeit und der unendliche Wert des Einzelmenschen widerspiegelt, für den Christus gelebt hat, gestorben und wiederauferstanden ist".
Ist das Europa der Gemeinschaft „ein Schritt zur Verwirklichung einer friedvollen und gerechten Gesellschaft für die ganze Menschheit?", fragen die Engländer. Im abstrakten Sinne müsse es hier zwar keine Probleme geben, aber „einen Club zu gründen, kann die Interessen derer schädigen, die nicht zur Mitgliedschaft berechtigt sind". Es ginge um „die verantwortungsvolle Verwaltung des westeuropäischen Wirtschaftspotentials" „zur Bereicherung der ganzen Menschheit" — und „nicht nur zur Vergrößerung unserer Macht und Lebensfreude oder zum Zweck eines effektiveren wirtschaftlichen Wettkampfs". Hier ginge es vor allem um die Dritte Welt
Und unter dem Aspekt des Friedens meinten die Briten bereits 1967: „Eine größere europäische Einheit muß den Weg der Gerechtigkeit verfolgen, sowohl im Hinblick auf die Ost-West-Teilung der Menschheit als auf die zwischen Nord und Süd." Innerhalb Europas selbst müßten Christen zu gewährleisten suchen, daß die EG „sowohl der Mittelpunkt als auch der Rahmen der Einigung und Versöhnung wird". Es handle sich „um die praktische Anwendung einer Methode, eines Prozesses, in dem Menschen und Völker zusammengebracht werden, so daß sie sich gemeinsam und friedlich den ständig sich in der Veränderung begriffenen Gegebenheiten anpassen"
Auffallend ist die — unbeschadet aller historischen Überlegungen — erkennbare Zukunftsorientiertheit des britischen Denkansatzes: Der Christ akzeptiert, daß er die Zukunft nicht voll und ganz kennen kann, aber er akzeptiert auch seine Pflicht, im Bereich des für ihn Sichtbaren zu planen".
Unmittelbar nach dem Eintritt Englands in die Gemeinschaft veröffentlichte der BCC eine neue Stellungnahme: „Großbritannien in Europa". Das entscheidende Leitmotiv war auch hier die Verantwortung der „ungeheueren Kraft zum Guten", die in der EG angelegt sei. „Das Heilen alter Wunden, die Schaffung einer neuen Gemeinschaft, die gemeinsame Bewältigung unserer Probleme und die Möglichkeiten, der ganzen Welt wirksame Dienste zu erweisen — alle diese Faktoren haben uns dazu geführt, die Kirche auf die Notwendigkeit hinzuweisen, alle Vorteile der Mitgliedschaft Englands in der EG voll auszuschöpfen", fassen die Autoren ihr Ja zur EG zusammen
Als im Vereinigten Königreich Mitte der siebziger Jahre erneut die Diskussion um den Verbleib in der Gemeinschaft aufbrach, schaltete sich der BCC, vertreten durch die „Abteilung für internationale Angelegenheiten", erneut in die Diskussion mit einer Studie ein. Er argumentiert vorwiegend politisch, erwähnt erneut die Verantwortung für die Dritte Welt — „es hat Fortschritte gegeben", „das ausschlaggebende Kriterium für Entwicklungshilfe muß der Grad der Armut und Bedürftigkeit des jeweiligen Landes sein" — und setzt sich schließlich mit der Frage auseinander, um welches Europa es ginge. Wenn der Gedanke der Versöhnung weiterhin eine treibende Kraft im Ideengut der Gemeinschaft sein solle, sei es wichtig, „sich den Ländern des Ostens gegenüber offen zu halten". Argwohn gebe es auf beiden Seiten. Die Kernprobleme bei den zu treffenden Entscheidungen über eine Vergrößerung der Gemeinschaft seien „die Probleme der demokratischen Regierungsform und der Menschenrechte".
Die britischen Protestanten machen mit diesem langjährigen, vorbehaltlos bejahenden Europa-Engagement eine Ausnahme. Der deutsche Nachkriegs-Protestantismus hat lange gebraucht, bis er durch die EKD zu einem ähnlich grundsätzlich bejahenden, dennoch kritisch distanzierten Votum zu Europa fand.
Aus der Diskussion der fünfziger Jahre Die ersten Erörterungen der europäischen Einigung unter evangelischen Aspekten fanden Mitte der fünfziger Jahre statt. Das Echo war nicht überwältigend. Schon damals klagte Eu-gen Gerstenmaier — Bundestagspräsident, habilitierter Theologe und als Gründer des Evangelischen Hilfswerkes einer der namhaftesten Sprecher des Protestantismus der fünfziger Jahre —, man könne nicht sagen, daß der deutsche Protestantismus als Ganzes zu den Schrittmachern der europäischen Einigung gehöre. Verantwortlich macht er dafür das „so konservativ, so beharrend bestimmte" evangelische Landeskirchentum, den lutherischen Obrigkeitsgehorsam und die fehlende Prägung durch das westliche Freiheitsbewußtsein („der Kampf zwischen den Kirchen und dem Nationalsozialismus ist nicht geführt worden im Namen der Demokratie, sondern im Zeichen der Freiheit der Kirche") An der programmatischen Entwicklung der europäischen Integration habe sich der deutsche Protestantismus nur sehr zurückhaltend beteiligt; die Einsicht in die Notwendigkeit einer europäischen Weltneugestaltung sei zwar weitverbreitet, einen wesentlichen Beitrag aber habe er „bis jetzt nicht geleistet". Schon damals klagte Gerstenmaier, „daß unter den zahlreichen Verlautbarungen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der -landes kirchlichen Synoden seit 1945 sich kaum eine findet, in der die Einigung Europas als eine geschichtliche, politische, militärische und wirtschaftliche Notwendigkeit unserer Zeit erkannt und als eine moralische Forderung vertreten worden wäre". Man habe es zwar nicht fehlen lassen an Bußbekenntnissen zur sittlichen Problematik des hergebrachten Nationalismus, auch nicht an einer entschiedenen Hinwendung zur ökumenischen Bewegung, aber „namentlich das evangelische Kirchentum" konnte sich nicht dazu entschließen, die Einigung Europas mit dem Verzicht auf nationale Souveränität als Konsequenz unserer geschichtlichen Erfahrung und Einsicht von sich aus klar und bewußt zu vertreten
Als Ursachen dafür nennt Gerstenmaier einerseits die näherliegende aktive Anteilnahme an der inneren Staatsgestaltung, die Teilung Deutschlands (wobei er konfessionelle Vorbehalte als eine „unwahre polemische Zweck-konstruktion" bezeichnet), um dann, allerdings ohne Belege zu liefern, abschließend festzustellen, „die große Mehrheit des deut-sehenProtestantismus hat sich nicht nur über diese Polemik hinweggesetzt, sondern sie hat sich zum Glück für Deutschland und Europa auch erhoben über konfessionellen Kleinmut und geschichtliche Rückständigkeit und sich hinter die politischen Bemühungen gestellt, die darauf gerichtet sind, eine konstruktive Konsequenz aus dem Verlauf der Geschichte in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu ziehen"
Es ist bezeichnend, daß in dem ganzen Heft, das mit Eugen Gerstenmaiers Artikel aufgemacht und dem „Protestantismus in Europa" gewidmet ist, die Frage der europäischen Integration selbst mit keinem weiteren Beitrag gewürdigt wird, obwohl so prominente Autoren wie Anders Nygren, Albrecht Schön-herr, Roger Schutz, Heinz-Dietrich Wendland, Leslie S. Hunter und Günther Jacob mitwirkten. Wußte der europäische Protestantismus nicht mehr zu sagen?
Steven Charles Neill, anglikanischer Bischof, behandelte charakteristischerweise als einziger den Beitrag der europäischen Kirchen zur Ökumene, wenn auch nicht zur europäischen Einigung. Er weist mit Nachdruck darauf hin, daß in den protestantischen Kirchen „der Gedanke an die Einheit, die Una Sancta, lebendig und stark geblieben sei", trotz aller äußeren Trennungen. Protestantismus sei nicht die „spaltende Kraft"; immer seien in der Kirche Männer aufgestanden, die sich in der Verantwortung fühlten, auch die sichtbare Einheit der Kinder Gottes zu suchen, voranzutreiben und wiederherzustellen. Allerdings seien viele der schlimmsten Kirchenspaltungen von Europa ausgegangen. „Darum lastet in besonderer Weise auf den europäischen Kirchen die Verantwortung, nach der Einheit zu suchen." Allerdings bezieht Neill diesen Appell zum Einigungswillen auf die ökumenische Einigung, nicht auf die europäische
Kurz vorher, 1954, hatte Hans Hermann Walz, der Generalsekretär des Deutschen Evangelischen Kirchentages, den „politischen Auftrag des Protestantismus in Europa" abgehandelt. Auch er war zu dem Ergebnis gekommen, daß die Kirche das Leitbild europäischer Einheit nie aufgegeben habe. Selbst bei Luther sei das Corpus Christianum als soziologische Realität stets lebendig geblieben. Der Unterschied zu den Schweizer Reformatoren habe darin bestanden, daß diese auch eine politisch bewirkte christliche Ordnung, die als übergeordnete Einheit Staat und Kirche überdacht, angestrebt hätten. Walz beginnt seine Überlegungen nicht historisch, sondern politisch und plädiert für die Förderung der europäischen Einigung, um den Menschen zu helfen, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Beim Europagedanken gehe es weniger um eine Ideologie als darum, eine Lebensgrundlage und Entwicklungsmöglichkeit für Millionen von Menschen zu schaffen. Man müsse in der Gegenwart den „Wertrelativismus und Ideenpluralismus" für den politischen Bereich bejahen. Aufgabe des Protestantismus sei es nicht, ein politisches Programm zu entwerfen. „Auch wenn andere weltanschauliche oder kirchliche Gruppen politische Programme vorlegen, wird der Protestantismus seine Erkenntnisse vom Wesen des christlichen Glaubens und dem Rang des Politischen darin zu bewähren haben, daß er keine protestantische Politik fordert, sondern sachliche Politik." Die Gegenwart brauche zwar „eine neue Konzeption von Europa, aber nicht eine neue Europa-Ideologie". Der spezifisch protestantische Auftrag im Bereich des Politischen ist und bleibt ein Beitrag zum politischen Ethos
Um die gleiche Zeit unternahmen einige engagierte Protestanten um den Vizepräsidenten des kirchlichen Außenamtes, Gerhard Stratenwerth, einen Vorstoß. Schon damals bedauerte einer der Autoren, daß in den bisherigen Aussprachen und Beratungen über ein künftiges Europa „die situationsmäßigen politischen und wirtschaftlichen Erwägungen und Berechnungen im Vordergrund gestanden" hätten. Ihnen könne aber ein Dauererfolg nur beschieden sein, „wenn zugleich mit ihnen eine metapolitische zukunftsträchtige Wesenheit ergriffen und ihr Drängen nach Verwirklichung vernommen wird"
Die Einigung Europas wird „in erster Linie als sittliche Aufgabe von historischem Rang" gesehen Der Hamburger Theologe Fritz Fischer beschließt seinen geschichtlichen Überblick zu den Auswirkungen der Reformation auf das deutsche und westeuropäisch-amerikanische politische Leben mit der Forderung nach einer wirklichen Begegnung und Zusammenarbeit mit der katholischen Welt ebenso wie mit dem anglikanisch-kalvinistischen und mit dem außerkirchlichen Humanismus. Tatsächlich ist hier eine Thematik angeregt worden, ohne die es zu keiner gemeinsamen Haltung des Protestantismus in Europa zur Integration Europas kommen kann. Fischer nennt eine solche Zusammenarbeit „die Voraussetzung für die Einheit eines christlichen Europas, das in der Form des mittelalterlichen Corpus Christianum nicht mehr hergestellt werden kann, aber in neuen Formen als Aufgabe vor uns liege. Was er unter dem „christlichen Europa" verstand, konkretisierte er nicht weiter. Mit dem Ziel eines solchen christlichen Europas „wird sich gewiß auch in der Gegenwart die große Einigung des Protestantismus kaum herbeiführen lassen".
An den Aussagen des Lutheraners Hans Asmussen über den „theologischen Standort für eine evangelische Stellungnahme zum Europaproblem“ (sic!) werden die inneren Spannungen, die in jenen Jahren den Protestantismus beschäftigen, besonders deutlich. Sie trugen nicht zuletzt dazu bei, daß eine gemeinsame Haltung zu Europa nicht zustande kam, ja sie lähmten sogar eine Weiterverfolgung der Thematik während der sechziger Jahre, so daß sie allmählich gänzlich unterblieb. Auch in diesem Beitrag wird das Problematische fleißig erörtert, die Legitimation einer Stellungnahme gründlich befragt und dann das „historische Erbe“ und die konfessionelle Situation untersucht — mehr nicht, obwohl es die Stellungnahme eines einzelnen ist. Die Zukunftsperspektiven fehlen, sieht man vom Kapitel „Freiheitssicherung" ab.
Es ist nicht auszuschließen, daß die Verengung der „evangelischen Sicht Europas" auf historische Aspekte, geschichtliches Erbe und auf die Schuldfrage der jüngsten Vergangenheit die Verantwortung dafür mittragen, daß es nicht zu einem wirklich zukunftsorientierten Engagement kam. Jedenfalls fehlten in jenen Jahren vollständig die Gesichtspunkte: Wie kann Europa den jungen Völkern helfen, zu Freiheit, Fortschritt und einem besseren Leben zu finden? In jenen Jahren strebten die Völker der „Dritten Welt" (der Begriff war damals noch nicht gefunden) ihre nationale Unabhängigkeit an. Der deutsche Protestantismus fühlte sich stark belastet von der Frage nach der Schuld, die Antwort, die er fand, führte ihn aber nicht voran zum europäischen Handeln.
Das Ökumenische Zentrum in Brüssel Immerhin entstanden in jenen Anfangsjahren der europäischen Integration allmählich auch im evangelischen Raum eine Vielzahl von Gruppierungen, die europäisches Interesse bekundeten und sich im europäischen Rahmen zusammenschlossen. Für fast alle kirchlichen Aktivitäten, die in den öffentlichen Raum hineinwirken, bildeten sich damals entsprechende europäische Zusammenschlüsse, zum Beispiel für die Evangelischen Akademien, die Studentenseelsorge, die ländliche Jugendarbeit, die Männerarbeit, die kirchlichen Frauenwerke und andere.
Aber diese höchst unterschiedlichen Aktivitäten liefen und laufen unverbunden nebeneinander her. Ihre Wirkungen waren und sind nicht minder unterschiedlich. Sie mögen zwar interne Bande haben, nach außen hin fehlt ihnen die Wirkung und die Verbindlichkeit der Aussagen.
In Brüssel selbst entwickelte sich im Laufe der Jahre die „Kommission von Kirchen bei der Europäischen Gemeinschaft". Ihr Name macht bereits deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die evangelischen Kirchen innerhalb der EG zu kämpfen haben. Nicht alle evangelischen Kirchen gehören ihr an. So fehlen zum Beispiel verschiedene Freikirchen, vor allem aber die lutherischen Protestanten Dänemarks.
Auch der Grad der Sprechfähigkeit und die Legitimation der einzelnen nationalen Vertreter in dieser „Kirchenkommission" sind unterschiedlich. So hat die EKD einen offiziellen Vertreter neben weiteren Mitgliedern dorthin entsandt, nämlich ihren Bonner Bevollmächtigten. Die Vertreter-anderer nationaler Christenräte sind meist weniger deutlich beauftragt. Als ein Zeichen des ökumenischen Ernstes, der diese Gruppierung erfüllt, ist es zu werten, daß in der Person des Bichofs von Luxemburg ein eigener katholischer Beobachter in dieses Gremium dauerhaft eingeladen ist.
Unter demselben Dach wird ein Teil der Seelsorgearbeit für die evangelischen Europabeamten geleistet.
Die personelle Besetzung ist zahlenmäßig allerdings beklagenswert schwach: ein Pastor und eineinhalb Schreibkräfte. Da nimmt die schwache finanzielle Ausstattung kaum Wunder. Im Vergleich zu seinen Möglichkeiten leistet das „Ökumenische Zentrum für Kirche und Gesellschaft Brüssel", das von der Kommission für Kirchen bei der EG gestützt wird, allgemein anerkannte Arbeit.
Das Ökumenische Zentrum versteht sich weniger als offizielle Kirchenrepräsentanz denn vielmehr als Zusammenschluß „Christlicher Laien in führenden EG-Positionen". Es soll zugleich ein Forum „für ökumenische Beratungen darstellen und Ausdruck der christlichen Anteilnahme auf diesem Gebiete sein"
Seine Hauptaufgabe sieht das Ökumenische Zentrum darin, Kontakte herzustellen zwischen dem „Milieu europeen", besonders den Funktionären, und der christlichen „Präsenz" in Brüssel, zum Beispiel den dortigen Kirchen. Zudem will es die europäischen Beamten zusammenführen, die daran interessiert sind, über die theologischen, sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen dessen nachzudenken, was sich in der EG entwickelt. Schließlich will es Hilfe leisten beim religiösen Erziehungsprogramm der europäischen Schule.
Es hat einen Informationsdienst eingerichtet, der in unregelmäßiger Folge erscheint, und ist bemüht, vor allem durch europäische Konferenzen, Diskussionen und Seminare die laufenden Gespräche innerhalb der Kirchen über die theologischen und ethischen Auswirkungen der EG-Politik zu beeinflussen.
Allerdings darf die Kommission von Kirchen in der EG nicht verwechselt werden mit der „Konferenz Europäischer Kirchen (KEK)", einem Zusammenschluß kleinerer und größerer evangelischer Kirchen in ganz Europa. Auch dieses Instrument, das sich vor allem gesamteuropäisch versteht, ist in erster Linie Konferenz und nicht eine Institution. Die gegenseitige Information und Zusammenarbeit ist gesichert dadurch, daß der Generalsekretär der KEK im engen Kontakt zum Ökumenischen Zentrum steht.
Zusammenfassende theologische Überlegungen
Die innere Legitimation, ja die Notwendigkeit aktiver Begleitung des Prozesses der europäischen Einigung ergibt sich aus dem Auftrag der Kirche. Es ist ein zukunftsorientierter Auftrag. Nach vorne zu schauen — das entspricht einer evangelisch bestimmten Grundhaltung. Diese innere Orientierung nach vorne, wie sie dem Christen als Glied des Reiches Gottes zu eigen ist, überträgt sich auch auf sein politisches Denken, Urteilen und Handeln.
Ein politisch geeintes Europa zählt zu den großen „realen Utopien". Das Wissen darum, daß Gottes zukünftiges Reich mit Christen bereits begonnen hat, verpflichtet den Christen zu zukunftsorientiertem Denken und Handeln. Ein politisch geeintes Europa — und darin liegt die Orientierung auf morgen hin — hat größere Chancen, den Frieden zu sichern, etwas mehr Gerechtigkeit herbeizuführen und sozial, regional, international zu einem menschenwürdigeren, verantwortlicheren, von mehr Teilhabe geprägten Dasein der Bürger zu verhelfen. Dies aber sind die entscheidenden biblischen Kriterien für politisches Handeln.
Die großen Ideen der Französischen Revolution von 1789 und der vorausgegangenen amerikanischen Verfassung von 1776 mögen zwar gegen die verfaßten Kirchen zur Geltung gebracht worden sein, ihre inneren Leitideen sind dessen ungeachtet der eigentlich politisch relevante Inhalt biblischer Verkündigung. Dies gilt insbesondere auch für die Idee der individuellen Freiheit in Verbindung mit dem Gedanken der rechtlichen Gleichheit aller Menschen (vor Gott und vor dem Gesetz). Der Frieden muß noch stärker als bisher Grundbestandteil internationaler Politik werden. Ein geeintes, politisch gemeinsam handelndes Europa, selbst aus dem Willen zum Frieden heraus zu einer transnationalen Einheit zusammengeführt, dessen einzelne Partner auf Souveränitätsrechte um des Friedens willen verzichten — ein solches Europa ist eine glaubwürdige Darstellung und Kraft des Friedens. Weil und solange die Politik der europäischen Integration sich als Friedenspolitik versteht, verdient sie theologisches Engagement und die Unterstützung kirchlicher Verkündigung. Sie will dem Menschen dienen, und sie kann es auch.
Um der Versöhnung willen Eine solche Politik setzt den Willen und die Kraft zur Versöhnung voraus. Die Politik der Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich ist Ausdruck der auch politisch wirksam werdenden Fähigkeit zur Versöhnung. Und zwar konkret in Gestalt des vernünftigen Ausgleichs: Zum Beispiel durch die Zusammenführung und gemeinsame Disposition der Schlüsselindustrien von Kohle und Stahl, um ein für allemal feindliche nationale Zugriffe zu verhindern.
Bundeskanzler Helmut Schmidt ist zuzustimmen, wenn er auf dem SPD-Sonderparteitag am 9/10. Dezember 1978 in Düsseldorf davon sprach, daß die EG ein „Symbol des Friedens" geworden sei. Die „Erzfeinde" von einst haben sich durch die Politik der Aussöhnung und der unlösbaren wirtschaftlichen Bindung, eingeleitet von den Christdemokraten Robert Schumann, Konrad Adenauer und Alcide de Gasperi, inspiriert aus christlicher Erkenntnis und historischer Vernunft, derart eng zusammengeschlossen, daß sie zu einer Friedensgemeinschaft wurden, die weit über däs vergleichsweise enge Europa hinaus Symbolkraft hat.
Es wird mitunter die Frage gestellt, ob sich durch dieses sehr mächtige Gebilde „Europäische Gemeinschaft" die Nachbarn, vor allem die Sowjetunion, nicht zu Recht bedroht fühlen könnten; ob im Interesse des Friedens nicht nur unter den EG-Mitgliedstaaten, sondern im gesamteuropäischen Raum diese Politik des Zusammenschlusses nicht besser unterblieben sei.
Außer einer reichlich falsch verstandenen Kreuzestheologie, die wissentlich — aber dem Nächsten gegenüber nicht verantwortlich — das Leiden, die Selbstaufgabe, den Freiheitsverzicht geradezu sucht, gibt es kaum ernst zu nehmende Gründe dafür, sich auf eine solche Argumentation einzulassen. Die Europäische Gemeinschaft, die zweifellos in ihrer Finalität mehr sein möchte — und auch mehr sein soll — als eine reine Wirtschafts-, Geld-, Zoll-und Wohlstandsunion, wirkt, weil und solange dies durch den Willen vom Frieden motiviert ist, als Friedenselement — vor allem nach Osten hin.
Sie wird wohl auch insofern inspirierend wirken, als sie verdeutlicht, daß durch Verzicht auf traditionell Eigenes — wie zum Beispiel nationale Souveränitätsrechte — Neues, Größeres, Wertvolleres gewonnen werden kann, kann.
Um des Friedens willen Carl Friedrich von Weizsäcker ist zuzustimmen, wenn er sagt, der Weltfriede sei die Lebensbedingung des technischen Zeitalters und in diesem Sinne „unvermeidlich". Denn nur unter dieser Bedingung könne die Menschheit im technischen Zeitalter weiterbestehen, andernfalls käme es zu einem gewaltsamen Ende. Aus dieser Erkenntnis überall dort die Folgerungen zu ziehen, wo die Völker sie ziehen können, ist Aufgabe konkreter Friedenspolitik. Und dort, wo es, wie etwa in Westeuropa, zu einem entsprechenden friedensbestimmten Zusammenschluß gekommen ist, dafür Sorge zu tragen, daß der internationale Umgang aus Friedenswillen und Friedensverantwortung miteinander praktiziert wird — darauf hinzuwirken, dafür einzustehen, ist Aufgabe christlicher Verkündigung und vernünftigen politischen Handelns gleichermaßen. Die Beurteilung dieses Willens sollte eines der wesentlichen Kriterien einer christlich bestimmten Wahlentscheidung sein.
So leisten Christen, als einzelne wie durch die verfaßten Kirchen, ihren Beitrag zur Evolution des Friedens dort, wo es ihnen möglich ist! So handeln sie aus Hoffnung und auf Hoffnung hin. Sie beschränken sich dabei nicht auf eine Interpretation des Menschen und der Welt, in der er gegenwärtig lebt, sondern sie tragen zugleich zur Veränderung der Lebensbedingungen in dieser Welt bei.
Um der Gerechtigkeit willen Wirkliche Friedenspolitik kann sich nicht auf die Stabilisierung des Bestehenden zurückziehen. Eine Politik des Friedens ist zugleich Politik der sozialen Befriedung. Sie verändert und überwindet nationale und religiöse Grenzen — nicht usurpatorisch, sondern diakonisch! Politisch so, daß sie an der Beseitigung des Trennenden arbeitet. Ausdrücklich macht Jesus dies durch das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter deutlich In Verbindung mit dem Ziel, mehr Gerechtigkeit, mehr Gleichheit der Chancen und so dauerhafteren Frieden herbeizuführen, liegt hier die innere Motivation zur europäischen Regional-und Sozialpolitik. Solche Politik gilt eben nicht nur einzelnen Menschen, auch nicht nur bedrängten, vergessenen, zu kleinsten Minderheiten zusammengeschrumpften Gruppen, sondern insbesondere auch ganzen Regionen. Zu Recht erwähnt deshalb die EKD-Europa-Erklärung die Regionalpolitik. Sie aktiv zu gestalten, ist nicht nur Aufgabe politischer Vernunft, sondern zutiefst moralische Motivation. Die großen Probleme eines Ausgleiches zwischen den Regionen, vor allem einer Verbesserung der Lebensbedingungen der dort geborenen Menschen, sind nur durch die Bildung übernationaler handlungsfähiger Einheiten lösbar.
Die Europäische Gemeinschaft hatte diese Aufgabe von Anfang an im Auge. Ihr Regionalfonds soll sie vollziehen. Er kann Ausdruck einer tief christlich motivierten Politik sein — ähnlich wie der Lastenausgleich in der Bundesrepublik oder die Wiedergutmachung zwischen der Bundesrepublik und Israel. Ähnliches gilt für die Gruppen der Gesellschaft, die besonderer Stützung bedürfen. Zu erwähnen ist hier der große Kreis der Behinderten, ebenso die zunehmend größer werdende Gruppe der Gastarbeiter und die in den gegenwärtigen Jahren besorgniserregend an-29) wachsende Zahl unter-oder unbeschäftigter Jugendlicher. Für sie steht der Europäischen Gemeinschaft erstrangig der Sozialfonds zur Verfügung. Auch er kann Ausdruck eines stark christlich motivierten Strebens nach mehr sozialer Gerechtigkeit sein.
Die Probleme, um die es in diesem Zusammenhang geht, sind international. Sie können international eher gelöst werden als national, sofern nur der Wille dazu vorhanden ist. Ihn zu stärken, ist das mindeste, was auch evangelischer Verkündigung aufgetragen ist.
Die vielleicht größte Herausforderung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt in dem Verlangen und in dem Streben nach internationaler Solidarität: die jungen Völker haben sie nötig; die Völker Europas sollten sie anstreben. Ein großer Teil unter ihnen hat ihre Bedeutung erkannt und ist bemüht, den Notwendigkeiten zu entsprechen. Dies gilt auch für die Europäische Gemeinschaft. Zwar laufen die Interessen oft einander entgegen — zum Beispiel bei dem Import vieler Agrarprodukte, ebenso aber auch industrieller Erzeugnisse —, die Notwendigkeit intensivierter gegenseitiger Öffnung wird aber nicht bestritten, ebensowenig die Notwendigkeit, das weltwirtschaftliche Ordnungssystem auf die Entwicklungsländer hin zu modifizieren. Dies alles sind Aufgaben und Herausforderungen auch und in erster Linie an die Europäische Gemeinschaft. Das Abkommen von Lome ist nur eines von vielen hier anzuwendenden oder neu zu schaffenden Instrumenten.
Dabei eine Politik zu machen, die den Nächsten auch als Glied eines fernen Volkes in seiner kollektiven Verflochtenheit erkennt und daraus wirksame Schlüsse für den handels-und entwicklungspolitischen Umgang miteinander zieht, ist Aufgabe zukunftsorientierter, auf Gerechtigkeit, Frieden, Menschenwürde und optimierte Freiheit angelegte christliche Verkündigung. Nicht die Vertrags-aushandlung kann Aufgabe und Inhalt christlicher Aussagen sein, wohl aber die Vertrags-gestaltung. Diejenigen, die die politische Verantwortung tragen, auf die entscheidende Inhalte hin anzusprechen — dies ist und bleibt Pflicht biblisch-orientierter, dem Menschen dienender Predigt und Rede.
Der Christ weiß, das er den neuen Flimmel und die neue Erde nicht herbeiführen wird. Er weiß aber zugleich, daß nicht alles beim alten bleiben kann. „Gott will, daß allen Menschen geholfen werde“ (1. Tim. 2, 4). Er macht ernst mit der Tatsache, daß er hineingenommen ist in das große Friedensreich Christi, dessen Spuren in dieser Welt sichtbar werden. Und zwar jetzt schon! Aus geschichtlicher Verantwortung Die Zukunftshoffnung der Christenheit gründet in den der Vergangenheit, im Erfahrungen und in der Auferstehung. Insofern geht Kreuz in das werdende gemeinschaftliche Europa auch die Tradition ein, im Guten wie im Belastenden. Die Europäische Gemeinschaft ist auch eine Schuldgemeinschaft — ihre Glieder sind der Welt viel schuldig geblieben und an ihr schuldig geworden.
Daraus erwächst für sie ein besonderes Maß weltweiter Verantwortung. Zu vollziehen ist sie nur durch die praktizierte Versöhnung, den politischen Ausgleich im Weltmaßstab.
Die Antwort ist aktives Engagement für den Frieden.
Ein zweiter Aspekt in die Gegenwart gehobener Vergangenheit ist der der Einbringung verpflichtender Traditionen. Die hier gegebenen Aktivposten sollten nicht deswegen liegen bleiben, weil es auch Defizite gibt. August Winnig hat recht, wenn er als den eigentlichen Ursprung Europas „das Bekenntnis zum Kreuz" nennt. Dieses Bekenntnis habe die Vielheit der Völker zwischen Nordmeer und Mittelmeer zur geistigen Einheit verwandelt. „Es schuf den geistigen Raum, in dem sie alle zuhause waren, und verband sie zu einer Gemeinschaft, die es vorher nicht gab. Ohne diese Gemeinschaft hätte nie ein Europa werden können." Deshalb steht das Kreuz über Europa als das Zeichen, in dem allein es leben kann
Selbstverständlich ist Europa das Ergebnis der Synthese zwischen Christentum und Hellenismus. Ihr dankt es die Einheit europäischer Geistigkeit, die weit über die trennenden Entwicklungen hinaus wirksam blieb — bis in die Gegenwart. In jedem Fall aber ist dieses Europa das Ergebnis der Wirkung kirchlichen Lebens und Handelns. Die abendländische Kirche steht am Anfang Europas. Die großen Leitideen christlicher Theologie — auch im Dialog mit dem Hellenismus — sind die der Personalität und Individualität. Wenn man dies den Kern allen Liberalismus nennen möchte, der längst seinen ideenmäßigen — und auch politisch wirksamen — Siegeszug durch die ganze Welt angetreten hat, so ist dieser Liberalismus Ergebnis christlicher Verkündigung. Die Anerkennung des einzelnen ließ jahrhundertelang — unter den Nachwirkungen einer sehr aristokratisch-aristotelischen Staatsphilosophie — auf sich warten. Renaissance, Reformation und Französische Revolution brachten sie aber unauslöschhch ans Tageslicht. Häufig mußten sich diese Ideen gegen ein organisiertes, institutionell dem antiken Organisationsschema -ver haftetes Kirchenwesen durchsetzen. Letztlich aber ist auch die Französische Revolution nicht ohne die biblische Botschaft denkbar — zumindest in ihren substanziellen Gehalten.
Die Fähigkeit zur Reform Vor allem aber hat die europäische Fähigkeit zur andauernden Reform einen zutiefst biblischen Ursprung. Daß keine Weltkultur, die der europäischen vorausging, eine vergleichbare Kraft der Selbsterneuerung, der Veränderung und der Verbesserung entfaltet hat, ist dem Tatbestand zu danken, daß die christliche Verkündigung auf Wiederentwicklung angelegt ist, und zwar bereits in den biblischen Schöpfungsberichten, die die anhaltende Veränderung, Neuordnung, Verbesserung der Verhältnisse zur großen Aufgabe des dem Herrn verantwortlichen Menschen macht.
Die Zukunft ist der wertvollste Gehalt christlicher Vergangenheit.
Diese exklusiv europäische Entwicklung der Reformfähigkeit ist begründet in der christlichen Eschatologie, mag diese auch noch so oft in kirchlichen Dogmatiken auf die letzten Seiten verbannt worden sein, die von den „letzten Dingen" handeln. In diesem Zusammenhang sind die immer wieder aufkommenden christlichen Reformbewegungen ebenso zu erwähnen — man denke nur an die Geschichte des Mönchtums — als auch unter europapolitischen Gesichtspunkten, die großen europäischen Utopien, wie sie Thomas Moore oder der Herzog von Sulley oder Gottfried Wilhelm Leibniz formuliert haben.
Ihren stärksten Ausdruck schaffte sich diese Grundhaltung in den Anfängen der protestantischen Reformation. Luthers Gedanke über die Kirche als eine Gemeinschaft, die der ständigen Erneuerung bedürfe (ecclesia semper reformanda), übertrug sich unbeschadet aller bitteren Erfahrungen, die man bei den Bauernaufständen von 1525 gemacht hatte, auf die Grundeinstellung weiter protestantischer Kreise zum Politischen schlechthin. So sehr man im Luthertum interessiert war an einer Festigkeit der Verhältnisse, so obrigkeitshörig man auch wurde, diejenigen, die von evangelischem Denken geprägt waren — und cs waren die meisten, die hoheitliche Verantwortung trugen —, brachten diese Grundhaltung des Willens auf Veränderung hin ein. Wie anders ist es zu erklären, daß protestantische Länder kaum blutige Revolutionen erlebten — und dennoch fortschrittlich handelten! Die Mündigkeit der Welt Der Protestantismus hat einen bedeutungsvollen geistigen Beitrag zur gegenwärtigen Gestaltung Europas geleistet. Die reformatorischen Ideen verbreiteten sich weit über den evangelisch konfessionellen Raum hinaus. Uber die Französische Revolution und den französischen Laizismus haben sie stark in den romanischen Raum hineingewirkt.
Das gilt selbst für Entwicklungen, die da und dort heftig beklagt werden. Man denke etwa an die Emanzipation des Profanen. Es war Luther, der mit seiner Zwei-Regimenten-Lehre den Anstoß zur großen Verselbständigung des Politischen gegenüber allen kirchlichen Ansprüchen gegeben hat. Damit hat er den Prozeß der Loslösung in Gang gesetzt, der im nachkonstantinischen Zeitalter über tausend Jahre hinweg gebremst worden ist, aber nicht mehr aufgehalten werden konnte. Auch wer den Begriff der „Mündigkeit der Welt und des Menschen" für sehr mißverständlich, schillernd, irreführend hält, wird dennoch zugeben müssen, daß die damit umschriebene Bewußtwerdung der Welt im frühen 16. Jahrhundert, in der Reformation ihren Ursprung hat. Gerade dieses Selbstverständnis aber ist charakteristisch für das Europa der Gegenwart.
Daß die wirtschaftlich-industrielle Entwicklung Europas ohne den Beitrag Calvins und ohne das lutherische Berufsethos nicht denkbar ist, hat Max Weber längst deutlich genug bewiesen.
Ebensowenig wird bestritten, daß Leibniz, Kant und Schleiermacher elementare Grundlagen für die europäische Philosophie der Gegenwart lieferten — wobei ihre Ideen weit über den protestantischen Raum hinauswirkten.
Erst recht ist die moderne demokratische Staatlichkeit ohne Protestantismus nicht zu denken — vor allem dank der Mitgift aus dem angelsächsischen Raum, wie die Formulierung der Menschenrechte —, seit einer Generation anerkannter internationaler Besitz und für viele, einzelne wie Gruppen, einzige politische Hoffnung.
Sehr praktische, die Kirchen unmittelbar betreffende Überlegungen kommen hinzu. Das Europa der Römischen Verträge ist längst in Aktion. Neue Strukturen, neue Rechtsrealitäten, neue staatskirchenrechtliche Beziehungen haben sich entwickelt. Je mehr Sozialpolitik Europa betreibt, um so größer wird die Notwendigkeit, das Verhältnis auch der kirchlichen Diakonie zu den europäischen Institutionen rechtlich zu regeln. Im eigenen Interesse wie um der inhaltlichen Gestaltung der Brüsseler Sozialpolitik willen ist kirchliches Engagement geboten.
Brüssel weiß dies. Kommissionspräsident Roy Jenkins hat mit gutem Grunde deshalb verlangt, daß auch die Kirchen die Möglichkeit haben sollten, nicht nur an der Formulierung neuer Politiken im Diskussionsstadium teilzunehmen, sondern auch an ihrem Vollzug. Ausdrücklich sprach er vom dritten Sozial-partner. In ihm haben die freien kirchlichen Verbände — in Deutschland Karitas und Diakonie — ihren Platz neben den weltanschaulich neutralen Organisationen. Längst hat es sich in Brüssel eingebürgert, daß die dortigen Fonds den privaten Trägern unter den gleichen Bedingungen wie den öffentlichen bei der Finanzierung helfen.
Um der Kirche willen Für die Kirchen und ihre Gremien erwächst daraus die Notwendigkeit, sich auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft sprechfähig zu machen. Notwendig ist daher ein diakonischer Rat der evangelischen Kirchen innerhalb der EG. Bis dahin aber ist noch ein langer Weg. Zu unterschiedlich sind die Strukturen karitativer Tätigkeit in den einzelnen Mitgliedstaaten, zu differenziert die rechtlichen Beziehungen zwischen Staat und Kirche einerseits und kirchlichen Wohltätigkeitsorganisationen andererseits, zu sehr weicht das Verständnis vom Auftrag ab und zu oft wird die Beurteilung der Möglichkeiten organisierten diakonischen Einsatzes falsch eingeschätzt.
Für die Kirchen selbst wie auch für die Brüsseler Institutionen ist es, je mehr sie mit den Kirchen zusammenarbeiten, notwendig, sich an Modellvorstellungen, die beschleunigt zu entwickeln sind, an Gesetzgebung und Verwaltung zu orientieren. Sie aber fehlen bis heute. Denn es gibt noch nicht einmal eine Synopse, die es erlaubt, die einzelnen nationalen Modelle miteinander zu vergleichen. Woran soll man sich orientieren? An den partnerschaftlich-subsidiären Regelungen der Bundesrepublik, an der staatszentralistischen Praxis Frankreichs, an den karitativ-subsidiären Verfahren Italiens oder den staatshoheitlich bestimmten Englands?
Das sogenannte soziale Europa verlangt nach einem diakonischen Europa als Gesprächspartner. In einem „Europa mit menschlichem Antlitz" darf das Europa der Diakonie nicht fehlen.