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Bildungsbilanz 1978 | APuZ 51-52/1978 | bpb.de

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APuZ 51-52/1978 Bildungsbilanz 1978 Geschichtliche Bildung in Familie und Schule -geschichtliches Lernen im Alltag Plädoyer für ein Forschungs-und Entwicklungsprogramm *) Ansätze zu einer Didaktik des fächerübergreifenden politischen Unterrichts Artikel 1

Bildungsbilanz 1978

Hans Dichgans

/ 33 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Eine Rückkehr zum Bildungssystem von 1963 ist weder möglich noch wünschenswert. Aber die Entwicklung der letzten 15 Jahre muß sich als Vorgang von trial and error überprüfen lassen. Die Mehrzahl der Hochschulabsolventen wird auf längere Sicht nur Position und Einkommen eines gehobenen Facharbeiters erwarten können. Wissenschaftliche und praktische Begabungen müssen als sozial gleichwertig anerkannt werden. Nicht auf die Art der Begabung kommt es an, sondern nur auf deren Stärke. Aus den Haupt-schulen muß sich wieder — wie früher — ein direkter Zugang zur Fachhochschule und auch zur Lehrerbildung öffnen, ohne daß dafür förmliche Zertifikate (Abitur) gefordert werden sollten. Die Befähigung zum Studium wäre individuell zu prüfen. Die Anforderungen für das Abitur sollten wieder auf den Stand von 1962 gehoben werden. Das Hochschulstudium sollte geteilt werden: Ein Zwischenexamen nach drei bis vier Jahren sollte zum Diplomtitel führen; ein weiterführendes Studium, das auch den Absolventen der Fachhochschulen offenstehen müßte, nur nach einer strengen Selektion. Auch die Gruppen-universität sollte als Experiment behandelt werden, mit einer Prüfung ihrer Ergebnisse ohne Vorurteil.

Kein Weg zurück Eine Rückkehr zum Bildungssystem des Jahres 1963 ist weder möglich noch wünschenswert Trial and error Im Bildungswesen von 1978 darf es keine privilegierten Besitzstände geben, tabuge-

schützt. Der Zustand von 1973 muß sich ebenso in Frage stellen lassen, wie das dem Zustand von 1963 geschehen ist.

Wachsende Kritik an den Ergebnissen der Bildungsreform bei Schülern und Studenten, Lehrern und Eltern zwingt zu einer nüchternen Prüfung, was sich bewährt hat oder was einer neuen Reform bedarf, im System von trial and error, in einer Haltung, die nicht mit früheren Aussagen recht behalten will, sondern auch Fehlschläge als positive Erkenntnisse, als Beiträge zu möglichem Fortschritt bewertet.

Ruhe an der Bildungsfront?

Vielerorts stößt man auf die Vorstellung, wir könnten und müßten vorerst auf neue Reformen verzichten, weil unser Bildungswesen, durch allzu viele Reformen in Unruhe versetzt, zunächst einmal dringend der Ruhe bedürfe. Das ist jedoch reines Wunschdenken. Ruhe kann sich an der Bildungsfront erst dann einstellen, wenn unsere Jugendlichen das, was mit ihnen im Bereich des Heranwachsens zwischen Kindheit und Berufsleben geschieht, insgesamt als einigermaßen erträglich akzeptieren, wenn die Erfüllung einigermaßen der Erwartung entspricht.

Erwartung und Erfüllung Unsere Bildungsreform hat hohe Erwartungen erweckt. Unser Beschäftigungssystem ist außerstande, diese Erwartungen zu erfüllen.

Wir haben, ohne es zu wollen, eine Mentalität erzeugt, in der nur diejenigen jungen Akademiker, die ihre Diplome in eine Eingangsstelle A 13/A 15 im öffentlichen Dienst oder eine gleich dotierte Position in der Wirtschaft verwandeln können, mit ihrem Los zufrieden sind; in der jedoch Akademiker, die in niederen Ebenen anfangen müssen, mit ihrem Geschick hadern; in der Hauptschüler sich als gescheiterte Existenzen betrachten, abgestempelt mit dem Urteil, sie seien in mehreren wohlwollend angelegten Auswahlverfahren immer wieder als ungeeignet ausgeschieden worden. Es gibt Anzeichen dafür, daß eine wachsende Anzahl von Studenten neuerdings die Lage realistischer bewertet. Aber Vorstellungen von einer gesicherten Hierarchie akademischer Positionen sind hierzulande weiter verbreitet als anderswo, die Enttäuschungen weit schmerzlicher. Diese Mißstimmung läßt sich nicht durch verbale Beschwichtigungen auflösen. Wir müssen vielmehr Bildung und Beschäftigung in der Bundesrepublik planmäßig und überzeugend aufeinander abstimmen.

Akademiker = gehobene Facharbeiter Die Privilegien unserer Akademiker herkömmlicher Art, im Einkommen und im sozialen Prestige, sind in der Bundesrepublik höher als in jedem anderen Lande der Welt. Es ist ausgeschlossen, die Erhöhung, der Abiturienten-quote von 4 °/o (über hundert Jahre nahezu konstant) auf mehr als 20 °/o in zwanzig Jahren durch eine Verfünffachung der Eingangs-stellen A 13, der Stellen der Assessoren etwa, in ein unverändertes Beschäftigungssystem einmünden zu lassen. Im Gegenteil: In allen modernen Industriegesellschaften verringern sich allmählich die Unterschiede der Einkommen. Und in allen anderen Ländern, insbesondere in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und in Frankreich, wissen die Studenten, daß das auch sie betrifft. Ruhe an der Bildungsfront werden wir also nur schaffen, wenn Schüler und Studenten wissen, daß — auch Abitur und Hochschuldiplom in absehbarer Zeit nicht ohne weiteres in höhere Positionen als die des gehobenen Facharbeiters führen, — sie nicht mehr mit den Privilegien rechnen dürfen, welche die vorhergehende Altersgruppe der Jungakademiker in Zeiten der Akademikerknappheit hat erobern können (kein sozialer Besitzstand für die Schicht der Akademiker als Schicht), — der soziale Aufstieg nur von der Leistung, nicht vom Diplom abhängt, — dieser soziale Aufstieg auch dem tüchtigen Praktiker, auch dem tüchtigen Hauptschüler offensteht. Änderung des Bewußtseins Dazu ist eine drastische Änderung des Bewußtseins notwendig. Sie läßt sich nicht durch bloßes Reden erreichen. Entscheidend ist vielmehr das Verhalten des Arbeitgebers Staat, der 70 °/o aller Akademiker beschäftigt. Erklärungen auch des Bundeskanzlers nutzen nichts, solange der Staat sichtbar einem Diplom-Fetischismus huldigt. Die öffentliche Hand muß vielmehr deutlich machen, daß — nur eindeutig erkannte Spitzenbegabungen, die zuverlässig Leistungen weit über dem Durchschnitt erwarten lassen, mit einer bevorzugten Eingangsstelle rechnen dürfen. (Denkmodelle: Ausschreibung einer begrenzten Anzahl solcher Stellen mit einem Wettbewerb nach dem System der „Großen Schulen“ in Frankreich). Mit einer Selektion, die hier wie überall ein mutiges persönliches Urteil über künftige Leistungsfähigkeit sucht, weit über mechanische Auswertung von Schulnoten hinaus; — alle übrigen Absolventen, auch Abiturienten, sich dem offenen Wettbewerb mit Gleichaltrigen minderer Bildungsstufen stellen müssen, einem Wettbewerb, in dem sich der Aufstieg nur nach Leistung vollzieht.

Wenn sich der Staat so verhält, wird die Wirtschaft folgen.

Zielvorstellungen Der gegenwärtige Zustand des Bildungswesens läßt sich nur langsam ändern, wenn chaotische Verhältnisse vermieden werden sollen. Wir bedürfen jedoch langfristiger Zielvorstellungen, damit die heute möglichen Änderungen sinnvoll darauf ausgerichtet werden können. Hier sollen zunächst die Sachprobleme behandelt werden. Die Verfahrensfragen folgen am Schluß.

Die Kernziele Die wichtigsten Aufgaben im Bereich des Bildungswesens: 1. Anerkennung der sozialen Gleichwertigkeit der wissenschaftlichen und der praktischen Begabungen. Nicht die Art der Begabung darf maßgebend sein, sondern nur die Stärke. 2. Bekämpfung der Überalterung — Folge unserer weltweit einmaligen Überlänge unserer Ausbildungen.

Formen und Stufen der Begabung Alle Begabungen, starke und schwache, intellektuelle und praktische, müssen einen angemessenen Arbeitsplatz finden und durch eine angemessene Ausbildung dahin geleitet werden. Was auf diesem Gebiet geschieht, muß von der Grundhaltung ausgehen, daß jede Art der Tätigkeit, die der Gesellschaft nützt, menschlich die gleiche Würde hat, von der des Bundeskanzlers bis zu der des Straßenkehrers. Die Unterschiede im Einkommen und in der Befehlsgewalt gehören im System unserer Gesellschaft, das sich im ganzen gut bewährt hat, zum Bereich der Zweckmäßigkeit. Sie sind nicht notwendige Folgen einer vorgegebenen menschlichen Grundstruktur feudaler Art.

Förderung der praktischen Begabung Intellektuelle und praktische Begabung sind für die Gesellschaft gleich wichtig. Aus beiden Zweigen sind tüchtige Minister und erfolgreiche Generaldirektoren hervorgegangen. Die starken Begabungen beider Zweige müssen gleichwertige Chancen zum sozialen Aufstieg finden. Das gehört zum Prinzip der Chancen-gleichheit. Formale Hürden wie Abitur und Hochschuldiplome dürfen daher nur den Zugang zu besonderen Arbeitsplätzen beschränken, bei denen eine formale Bildung dieser Art zu den Erfordernissen der Arbeit gehört. Der Weg in das Bildungswesen für praxis-orientierte Berufe (zum Beispiel Ingenieure, Kaufleute) muß auch den Hauptschülern geöffnet werden, wenn sie angemessene praxis-orientierte Eingangsprüfungen bestehen.

In den seltenen Fällen, in denen sich eine hohe intellektuelle Begabung bei Hauptschülern und Realschülern erst nach dem 10. Lebensjahr zeigt, muß der Übergang zu einer Hochschule auch späterhin möglich sein, aufgrund von Sonderprüfungen, die nur der Feststellung einer hohen Begabung und einer Befähigung für das Studium des speziellen Fachs dienen. Das hat es bekanntlich bereits in der Weimarer Zeit gegeben.

Sanierung der Hauptschule Das ist der einzige Weg, die Hauptschule zu sanieren, die bei der heutigen Praxis zu einer Sonderschule für erwiesenermaßen schwache Begabungen geworden ist.

Verbale Sympathie-Beteuerungen für die Hauptschule müssen nutzlos bleiben, solange akademischer Dünkel den Hauptschülern den Zugang zu Fachhochschulen versperrt.

Auch ein Übergang in die Ausbildung zum Lehrer müßte dem tüchtigen Hauptschüler offenstehen.

Die Fachhochschulen Zum Programm einer systematischen Förderung der praktischen Begabungen gehört auch eine entsprechende Gestaltung unserer Fachhochschulen. Die Vorgänger unserer Fachhochschulen, die Maschinenbau-Schulen, die Berg-, Hütten-und Baugewerkschulen genossen Weltruf. Ihre Zöglinge waren ein begehrter Exportartikel. Der Zugang stand noch bis in die sechziger Jahre auch dem aufgeweckten Hauptschüler offen, der in Handwerkslehre und Berufsschule vorbereitet worden war. Diese Hauptschüler waren oft besser als Gymnasiasten, die mit der mittleren Reife zur Maschinenbau-Schule kamen.

Diese Bildung, so hieß es, werde den veränderten Verhältnissen nicht mehr gerecht. Zugang zu den Fachhochschulen neuer Art haben im Regelfall nur noch Abiturienten von Fach-oberschulen. Das hat den Charakter der Studentenschaft stark verändert. Früher fanden sich in den Ingenieurschulen hauptsächlich tüchtige Praktiker, die nach oben strebten. Heute dominieren dort nicht selten schwache Gymnasiasten.

Wer die Arbeitgeber befragt, ob die graduierten Bergingenieure neuer Art nun sichtlich besser seien als etwa die Steiger der alten Ausbildung, erhält vorsichtige Antworten: was sie an theoretischen Kenntnissen mehr mit-

brächten, werde ausgeglichen durch das geringere Maß an praktischer Erfahrung.

Das Argument, die Neuregelung sei um der europäischen Harmonisierung willen notwendig geworden, überzeugt nicht. Es ist kein Fall bekannt, in dem ein ausländischer Arbeitgeber, der einen tüchtigen deutschen Ingenieur suchte, einen Kandidaten nur deshalb abgelehnt hätte, weil sein Studium nicht den französischen Richtlinien entsprochen habe. Nicht auf den akademischen Grad kommt es an, sondern auf die Leistung.

Wir müssen also den Zugang zu den Fachhochschulen auch den Hauptschulabsolventen wieder öffnen.

Die bereits bestehenden Möglichkeiten, nach der Lehre in die oberste Klasse der Fachhochschule einzusteigen und dann in einem Jahr dort zur Fachhochschulreife zu kommen, löst nicht die Aufgabe. Die Jugendlichen aus der Praxis geraten nämlich dann in einen Wettbewerb mit anderen Jugendlichen, welche die Schule nie verlassen haben und ihnen deshalb verbal meist überlegen sind. Das ist ein ungerechter Nachteil für die praktischen Begabungen. Wir müßten vielmehr für die hohen praktischen Begabungen einen echten Durchgang von der Hauptschule zur Fachhochschulreife schaffen, in dem diese Gruppe unter sich ihre besondere Form von Begabung zur Geltung bringen kann. Einige Länder haben bereits Denkmodelle entwickelt, anknüpfend an bewährte Formen der Techniker-Ausbildung, mit einer Zusatzunterweisung, welche die Ausbildung in der Lehroder Praktikantenzeit ergänzt. Praxisbegleitende Abendschulen, in unserer Studienförderung diskriminiert, liefern in anderen Ländern Fachleute hoher Qualität.

Das Thema „Allgemeinbildung", das dabei auftaucht, wird noch in anderem Zusammenhang zu behandeln sein.

Wir müssen ferner die Lehrstühle an Fachhochschulen für bewährte Praktiker offenhalten. Sie sind in den letzten Jahren allzuoft mit Universitätsassistenten besetzt worden, die niemals selbst an der Werkbank gestanden haben und Praxis nur vom Hörensagen kennen. Auf die Eingliederung der Fachhochschulen in das Gesamtsystem unserer Hochschulen wird noch zurückzukommen sein.

Keine Privilegien für Gymnasiasten Da die Zahl der Spitzenstellungen, die über der Ebene der Facharbeiter stehen, in der Pyramide der Gesellschaft relativ klein ist und bleiben wird, kann die Möglichkeit sozialen Aufstiegs, die den praktischen Begabungen geöffnet werden muß, nur von wenigen in einen vollen Erfolg verwandelt werden.

In einer gerechten Welt darf das nun auch für Gymnasiasten nicht anders sein. Wir haben keinen Anlaß, einen Gymnasiasten mittlerer intellektueller Begabung besser zu stellen als einen Hauptschüler mittlerer praktischer Begabung. Fähigkeit abstrakten Denkens, verbale Gewandheit sind für viele Aufgaben unerläßlich, aber keineswegs für alle. Für andere Aufgaben sind praktischer Blick, Begabung zum Beobachten und zur raschen Reaktion, natürliche Geschicklichkeit wichtiger. Das bedeutet: Gewiß sollen wir die hohen intellektuellen Begabungen nachdrücklich fördern, sogar erheblich mehr, als wir das derzeit tun, aber ebenso die hohen praktischen Begabungen. Dagegen besteht kein Anlaß, etwas Besonderes für mittlere und schwache intellektuelle Begabungen zu tun, die im Bereich des Beschäftigungssystems in Zukunft voraussichtlich in der Ebene der Facharbeiter landen werden; es besteht kein Anlaß, für sie mehr zu tun als für die praktischen Begabungen gleicher Qualität. Alle Jugendlichen müssen durch gute Schulen auf das Leben vorbereitet werden, auf den Einstieg in den Beruf, das heißt auf die Möglichkeit, sich dort von der Eingangsposition aus selbst die speziellen Kenntnisse und Fähigkeiten zu verschaffen, die für die Aufgaben des Arbeitsplatzes notwendig sind. Sie müssen ferner neben der Ausbildung für einen Beruf eine allgemeine Bildung erhalten, die sie befähigt, mit den Aufgaben ihres privaten Lebens fertig zu werden, vom Bereich kultureller Sensibilität bis zum Bereich der Steuererklärung.

Aber Gymnasien und Hochschulen dürfen keine Transportbänder für mittlere und schwache Begabungen sein, um diese mit Hilfe eines „Diplom-Bonus" in Positionen zu bringen, die sie im freien Wettbewerb nicht erreichen könnten — Diplom-Bonus durch Eintrichtern von Stoffwissen etwa im Bereich der Integralrechnung oder der Molekularbiologie, das nur dem Bestehen der Prüfung dient und dann in wenigen Jahren vergessen sein wird.

Der soziale Vorteil für Kinder schwächerer Begabung, die auf diese Weise mit kräftigen Hilfen über Hürden gehoben werden, wird nämlich mehr als kompensiert durch den Nachteil, den das für andere, weniger intellektuell, mehr praktisch begabte Kinder mit sich bringt, für Begabungen, die in der Endstellung im Beruf vielleicht nützlicher sind als ein wohlgefüllter Schulsack am Prüfungstage.

Wir sollten nicht den Versuch machen, die Sozialstruktur unseres Volkes durch eine Steigerung der Abiturientenquote von 4 % auf 24 0/o oder gar auf 50 °/o zu verbessern. Es geht vielmehr um die Chancengleichheit für die Nicht-abiturienten. Chancengleichheit, nicht speziell ausgerichtet auf Gymnasien und Hochschulen (diese Zielrichtung bedeutet nämlich eine Privilegierung der intellektuellen Begabungen, das heißt Ungleichheit der Chancen), sondern Chancengleichheit für den Aufstieg im Beruf, mit oder ohne Diplom.

Die Anforderungen für das Abitur In der erst kurz zurückliegenden Zeit, in der die Nachfrage nach jungen Akademikern nicht gedeckt werden konnte, in der wir unsere Schulen mit „Mikätzchen" in Gang halten mußten (die ihre Aufgabe oft vorzüglich erfüllt haben), haben viele Gymnasien auch die Anforderungen für das Abitur gesenkt. Der Vergleich ist schwierig, weil sich das Abitur stark verändert hat. Die Oberstufenreform, die im folgenden Abschnitt noch einmal zu erwähnen sein wird, hat die Anforderungen in manchen Leistungsfächern stark nach oben getrieben. Dort zeigt sich Streß. Viele Gymnasiasten betrachten jedoch die freien Nachmittage als einen gesicherten sozialen Besitzstand. Konzentrierte Hausarbeit, in früheren Generationen ein solides Fundament wissenschaftlicher Ausbildung, scheint selten geworden zu sein.

Insgesamt dürfte das Abitur heute leichter sein als früher. Oberstudiendirektoren, die schon 1962 an Abiturprüfungen beteiligt gewesen waren, haben unabhängig voneinander übereinstimmend geschätzt, daß die Zahl der Abiturienten um ein Drittel bis ein Viertel sinken würde, wenn man die Anforderungen wieder auf den Stand von 1962 brächte. Das würde den Anteil der Abiturienten auf 15— 170/0 reduzieren. Die gehobenen Anforderungen würden auch auf die unteren Klassen zurückwirken und insgesamt die Qualität der Ausbildung steigern.

Schulund Studienzeit Die Bundesrepublik Deutschland fordert für das Abitur im Regelfall 13 Schuljahre. Alle anderen Länder der Welt schreiben 12 Jahre oder weniger vor.

Die These, 13 Schuljahre würden benötigt, um eine unverzichtbare Mindestmenge an Stoff zu behandeln, wird durch die Stoffpläne der neuen Oberstufe widerlegt. Wer die Normen-bücher für die Abiturfächer Mathematik und Biologie durchsieht, stellt fest, daß die Anforderungen etwa auf der Ebene des universitären Vordiploms liegen. Der Beschluß, in der Oberstufe der Gymnasien eine Verringerung der Prüfungsfächer auf vier zuzulassen, durch eine Abwahlentscheidung des Schülers, hat also in diesen Fächern zu einer Überdehnung des Stoffs geführt.

Aber selbst wenn auf diese Weise einzelne Schüler in bestimmten Fächern schon vor dem Abitur mehr lernen als Primaner im Ausland, so ist das für das Studium offenbar ohne Be-B deutung. Wenn diese Kenntnisse Bedeutung hätten, so müßte doch die Studienzeit bei uns entsprechend kürzer sein. Aber das Gegenteil ist der Fall. Die mittlere Studienzeit unserer Studenten beträgt sechseinhalb Jahre, ebenfalls ein Weltrekord. Gewiß steckt in dieser Zahl ein vergleichsweise hoher Anteil von Fällen, in denen auf ein abgebrochenes Studium ein völlig anderes aufgesetzt wurde. Aber auch ohne Wechsel des Studienfachs haben wir überlange Studienzeiten.

Die längste Studienzeit der Welt, aufgestockt auf die längste Schulzeit der Welt, das führt zu einer spektakulären Überalterung. Erfahrungen der EG-Kommission in Brüssel: die deutschen Jungakademiker, die dort beginnen, sind im Mittel fünf Jahre älter als ihre Kollegen aus den anderen acht Ländern. Und die amerikanischen Doktoren der Naturwissenschaft (Ph. D.) sind ebenfalls jünger als ihre deutschen Fachgenossen, ohne deshalb weniger zu leisten, im Gegenteil. Der Vorteil zusätzlicher Kenntnisse, zusätzlicher Fähigkeiten, welche die längere Ausbildung im einen oder anderen Falle bringen mag, wird mehr als ausgeglichen durch den Verlust an Spontaneität und Kreativität, die unvermeidliche Folge des allzu langen Festhaltens in der Position eines Schülers, der sich nur am Gängelband eines Lehrers bewegen darf. Die Kurven der Nobelpreiszahlen in Deutschland einerseits, in den Vereinigten Staaten, aber auch in Großbritannien andererseits zeigen ein betrübliches Bild, das vermutlich auch mit unseren überlangen Ausbildungszeiten zusammenhängt. Sie verwandeln jugendliche Schaffenskraft in Frustration und Resignation.

Der Unterrichtsstoff Diese Problematik führt immer wieder zur Frage nach dem Unterrichtsstoff. Was sollen die Schüler auf dem Gymnasium, die Studenten auf der Hochschule lernen?

Auf dem Gymnasium: lernen, zu lernen. Sie müssen lernen, wie man Fakten sammelt, die man für seine Arbeit braucht. Sie müssen erkennen, was sie auswendig wissen sollten und was sie nachschlagen können, wo und wie. In diesem Zusammenhang wäre es nützlich, das Gedächtnis zu trainieren, das man in jeder Berufsarbeit braucht.

Dann müssen sie lernen, wie man Argumente sammelt, gegeneinander abwägt, wie man sich eine Meinung bildet, im ständigen Bemühen, eigene Vorurteile zu erkennen und auszuschalten, keine Fehler zu übersehen. Kurz: exakt und konzentriert geistig zu arbeiten.

Und dann muß der Gymnasiast lernen, seine Meinung mündlich und schriftlich überzeugend zu vertreten. Wer das alles kann, besitzt die Reife für ein Hochschulstudium.

Ebenso wie das Gymnasium muß auch die Universität sich als eine Einrichtung verstehen, die das Denken und das wissenschaftliche Arbeiten lehrt. Sie ist keine Ballung von Fach-schulen für akademische Berufe. Sie muß neben den fachlichen Aspekten stets auch die allgemeinen geistigen Zusammenhänge ihrer Studien im Auge behalten.

Das kann und muß sie innerhalb der Fach-vorlesungen tun. Sie löst ihre Aufgabe nicht, wenn sie eine Vielzahl allgemein bildender Vorlesungen anbietet, um einen rein fachlich, praxisorientierten Unterricht in den vorgeschriebenen Fachvorlesungen zu legimitieren. Allgemeinbildung jenseits des Abiturs, das ist keine Frage des allgemein bildenden Stoffs (den sich heute jedermann auch außerhalb der Universität leicht verschaffen kann), sondern eine Frage der geistigen Haltung.

Aber auch im Fachbereich ist der Stoff, der dort auswendig zu lernen ist, nicht das Wichtigste. Die Universität muß den Studenten so vorbereiten, daß ihm die Problematik, der er in der Anfangsstellung seines Berufes begegnet, sofort verständlich ist, daß er den Fach-

gesprächen der älteren Kollegen folgen kann. Er muß weiter wissen, wie er sich die zusätzlich benötigten Informationen verschaffen kann. Das gilt für alle Studienfächer. Die Vorstellung, die Universität könne ihn mit fertigen Lösungen für alle seine späteren Aufgaben versorgen, ist unsinnig. Sie kann ihn nur anleiten, mit welchen Methoden er späterhin seine Lösungen suchen muß. Das bedeutet: Ebenso wie in der Schule kann auch in der Hochschule der Stoff nur beispielhaften Charakter tragen.

Die Frage, wie lange das Studium dauern soll, läßt sich auch für die Universität nicht wissenschaftlich aus der Natur der Gegebenheiten des einzelnen Fachs ableiten, sondern ist Gegenstand einer politischen Entscheidung, nämlich: wieviel Ausbildung soll der Staat auf Kosten des Steuerzahlers dem Hochschulabsolventen sozusagen als Grundausstattung mitgeben und was soll er der späteren Ausbildung am Arbeitsplatz und dem Selbststudium überlassen. Unsere Schulgläubigkeit neigt dazu, den Anteil der selbsterworbenen Kenntnisse in der Erledigung der täglichen Arbeit gröblich zu unterschätzen. Gewiß braucht man zunächst ein Studium, um überhaupt Erfahrungen sammeln zu können. Wer jedoch mindestens fünf Jahre in seinem Beruf gearbeitet hat, für den liegt der Anteil der späterhin persönlich erworbenen Kenntnisse an der Tagesarbeit durchweg bei mehr als 90 °/o.

Aber ein anderes Ziel ist noch wichtiger. Die Aufgaben ändern sich ständig. Die Erkenntnisse vergrößern sich. Die Vorbereitung auf unerwartet neue Lagen gehört deshalb zu der wichtigsten Aufgabe der Ausbildung an der Universität. Die Frage nach der Studienzeit kann also nicht lauten: Wieviel Zeit ist notwendig, um die Studenten mit einer gegebenen Menge von Studienstoff vertraut zu machen, sondern sie kann nur lauten: wieviel und welcher Studienstoff läßt sich sinnvoll in der Zeit der Jahre behandeln, die man einem Schüler und Studenten insgesamt als Studienzeit zumuten kann, bevor er endlich soviel Vertrauen besitzt, daß man ihm einen Arbeitsplatz zuteilt.

Die Allgemeinbildung Wer auf Verkürzung der Schulund Studienzeit drängt, setzt sich dem Vorwurf aus, er wolle abgerichtete, dressierte Fachleute züchten, nur für bestimmte Arbeitsplätze brauchbar, und deshalb der Willkür des Arbeitgebers ausgeliefert, der Ausbeutung.

Nun weiß heute jeder Arbeitgeber, daß sich in seinem Betrieb in den nächsten zehn Jahren vieles ändern wird, daß er bei der Kostspieligkeit von Arbeitskraft Leute braucht, die er rasch versetzen kann, vielleicht sogar zeitweise in zwei Abteilungen zugleich. Er sucht also flexible Mitarbeiter.

Die Vorstellung, daß eine längere Schulund Studienzeit auch größere Flexibilität ergäben, ist abwegig. Die allgemeine Erfahrung geht dahin, daß zwischen dem zwanzigsten und dreißigsten Lebensjahr jedes Jahr die Fähigkeit vermindert, sich vom Studium auf die völlig anderen Aufgaben des Berufsalltags umzustellen, den „Berufschock" zu überwinden, von dem die Psychologen sprechen. Hier wirkt der Verlust an Spontaneität, von dem die Rede war. Aber auch die Bereitschaft, den Arbeitsort zu wechseln, vielleicht gar ins Ausland zu gehen, nimmt mit zunehmendem Alter rasch ab.

Jedenfalls läßt sich Flexibilität nicht dadurch fördern, daß man den Studenten in möglichst viele Töpfe hineinriechen läßt. Wer sein Handwerk gut beherrscht, wer sich dort als tüchtig bewährt hat, erweist sich meist auch in ganz anderen Bereichen als tüchtig. Die Stahlindustrie hat auf den Steuerbühnen ihrer Walzen-straßen gute Erfahrungen mit tüchtigen Bäkkern und Friseuren gemacht.

Flexibilität hängt nicht von der Breite einer Vielzahl von Fachausbildungen ab, sondern von der Kraft der Persönlichkeit. Persönlichkeit läßt sich jedoch nicht schulmäßig ausbilden. Jeder einzelne muß seinen eigenen Weg suchen. Bergsteigen oder Bratsche-Spielen können dabei fruchtbarer sein als Integralrechnung oder französische Grammatik.

Französische Grammatik: Jeder Abiturient sollte Anfangskenntnisse in zwei modernen Fremdsprachen besitzen (wie das in meiner Jugend auch für die Humanisten selbstverständlich war); und dafür könnte man notfalls auf mancherlei anderen Schulstoff verzichten. Aber von den Praktikern, den Absolventen der Fachhochschulen etwa, sollte man keine Sprachkenntnisse fordern. Wer Sprachkenntnisse braucht, wird sie sich im eigenen Interesse verschaffen. Aber es gibt sehr viele Arbeitsplätze, für die man mit der deutschen Muttersprache auskommt.

Die gleiche Überlegung gilt für eine Menge von Prüfungsstoff, der sich bei manchen akademischen Graden in Randgebieten angereichert hat. Wieviel Prozent der deutschen Volkswirte, wieviel Prozent der deutschen Bergingenieure brauchen späterhin das hohe Maß mathematischer Kenntnisse, das unsere Prüfungsordnungen von ihnen fordern? Sollte man nicht Sonderkenntnisse nur von Leuten erwarten, die sich auf besondere Arbeitsplätze vorbereiten wollen? Welchen Stoff muß der durchschnittliche Student aus Sachgründen beherrschen und welcher Stoff dient vorzugsweise dem Prestige des Fachs oder dem Prestige des Professors?

Die Aufgaben des Gymnasiums In einem chancengerechten Bildungssystem sollte der Weg Gymnasium—Hochschule den hohen intellektuellen Begabungen Vorbehalten sein. Im Interesse wirksamer Förderung dieser starken intellektuellen Begabungen darf dieser Bildungsweg nicht mit der Aufgabe belastet werden, unter sozialen Erwägungen mühsam auch mittlere und schwache Begabungen mit Kenntnissen zu versehen, die nur für intellektuell anspruchsvolle Arbeitsplätze notwendig sind.

Welche Anforderungen der Staat für den Zugang zu den Gymnasien, für die Reifeprüfung und späterhin für die Hochschul-Diplome stellen will, läßt sich, wie erwähnt, nicht durch wissenschaftliche Überlegungen ermitteln. Am besten zeigen das die Schwankungen der Zielvorstellungen. Der Bildungsgesamtplan der Bundesregierung von 1970 wollte einmal 50 °/o der Jahrgänge ins Gymnasium holen und die Hälfte davon zum Abitur bringen. Ist nun 50 ’/o „sozialer“ als 25% oder 15 %? Das sollte niemand behaupten. Das soziale Problem stellt sich jeweils an der Grenze, in der Spannung zwischen denjenigen, welche die letzten noch zählenden Plätze erobert haben, und den ersten derjenigen, die leer ausgegangen sind.

Härte und Schmerz dieser Spannung hängen nun von der Lage der Grenze ab. Die Studienstiftung des Deutschen Volkes nimmt nur etwa 2 % der Studenten auf. Noch niemand hat darin eine soziale Härte für die restlichen 98 % gesehen. Das Nichterreichen der Studien-stiftung ist der Normalfall, und er wird als solcher auch gelassen akzeptiert. Wenn jedoch die Grenze der Erfolglosen bei 50 % und darunter liegt, wird der Mißerfolg um so quälender, je kleiner der ausgeschiedene Rest bleibt. Die Stimmung der Hauptschüler zeigt das beispielhaft. Die soziale Qualität einer anvisierten Abiturientenquote läuft also keineswegs mit der Steigerung dieser Kurve parallel, im Gegenteils, sie ist vielmehr dann am größten, wenn die Summe der Enttäuschungen, die mit dieser am Ende voraussichtlich verbunden ist, ihr Minimum erreicht. Enttäuschungen, das sind die Fälle, in denen der Student sich bei Beginn seiner Berufsarbeit mit einer gewissen Verbitterung sagen muß, daß er diesen Einstieg früher und vernünftiger auf einem anderen Wege hätte erreichen können. Diese Erwägung stellt die Brücke zwischen Bildungssystem und Beschäftigungssystem her.

Für alle Jugendlichen eine Allgemeinbildung, die sie lebenstauglich macht. Kostspielige Berufsvorbereitung jedoch nur in einem Maße, das sich vor dem Steuerzahler rechtfertigen läßt und die Erwartungen einigermaßen auf die mögliche Erfüllung ausrichtet.

Prognose der Beschäftigung Wir alle wissen, daß der Bedarf an Akademikern schwer vorauszusagen ist. Das befreit die Politik jedoch nicht von der Notwendigkeit, Vorstellungen zu entwickeln. Wer Steuergelder für den Bau von Universitäten bewilligt, muß sich überlegen, wie viele Studienplätze er finanzieren darf, ohne die Nichtstudierenden allzusehr zu schröpfen und andere Aufgaben des Staates ungebührlich zu vernachlässigen. Bildung ist ja nur eine der Staatsaufgaben, die in die Gesamtheit aller Aufgaben angemessen eingefügt werden muß. Die Politik muß also von Zahlenvorstellungen ausgehen — richtigen oder falschen.

Die Planung muß gewiß auch für möglicherweise steigenden Bedarf vorsorgen. Aber offensichtlich gibt es Obergrenzen.

Im Mai 1976 hatten nur 8 % der Beamten, Arbeiter und Angestellten ein Netto-Einkommen von mehr als 2 200 DM. Das ist das Einkommen eines Assessors, die Untergrenze des Akademikereinkommens also. In dieser Prozentzahl steckt eine beträchtliche Menge von Nichtakademikern. Wie bereits in anderem Zusammenhang erwähnt wurde, ist nicht zu erwarten, daß sich diese Einkommenspyramide im Sinne einer Vergrößerung des Anteils der hohen Einkommen verändern könnte. Im Gegenteil: Dieser Anteil wird sich eher verringern. Wenn also 22 % des Geburtsjahr-ganges zum Abitur kommen, wird weniger als die Hälfte dieser Abiturienten das bisherige Einkommen eines Akademikers erreichen. Diese Größenordnung ergibt sich übrigens auch, wenn man den zu erwartenden Ersatz-und Zusatzbedarf an Akademikern, zu errechnen aus der Statistik der Beschäftigten, mit der zu erwartenden Zahl der Hochschulabsolventen vergleicht. Daraus ergibt sich zugleich das Maß der Enttäuschung, das unser Bildungs-und Beschäftigungswesen jetzt unseren Abiturienten bereitet oder vorbereitet. Sollten wir nicht besser Gymnasiasten und Studenten frühzeitig auf andere, auf die Praxis orientierte Berufswege umlenken, mit der Aussicht, daß praktische Begabungen dort sogar größere soziale Chancen haben? Bei der heutigen Lage des Arbeitsmarktes stößt das auf Bedenken. Studium, das ist heute zuweilen verdeckte Arbeitslosigkeit.

Eine langfristige Planung kann jedoch das Problem der Fehlentwicklung nicht einfach ausschalten.

Die Mechanismen der Lenkung Die Zahl der Bewerber um akademische Arbeitsplätze wird durch Siebmechanismen bestimmt: beim Übergang von der Grundschule zum Gymnasium, beim Abitur, beim Schlußexamen für das Universitätsdiplom. Sie läßt sich also durch die Anforderungen beeinflussen, die für das Bestehen dieser Prüfung gestellt werden, Anforderungen, die sich ja, wie gesagt, nicht wissenschaftlich ermitteln lassen, sondern das Ergebnis einer politischen Willensentscheidung sind.

Die Diplomzeugnisse gehen dann in den Mechanismus der Verteilung von Arbeitsplätzen ein, in die Auswahlentscheidung der Arbeitgeber. Aber diese Zeugnisse gibt es erst nach langen Studienjahren. Der Student muß früher und besser über seine Chancen informiert werden. Wer Lehrer werden will, muß wissen, wie viele Studenten das gleiche Berufsziel haben und wie viele Stellen etwa für seinen Jahrgang verfügbar sein werden. Dann kann er sich ausrechnen, welchen Rang er im Wettbewerb innerhalb seines Jahrgangs erreichen muß, um Aussichten auf eine Stelle zu haben. Reicht es, wenn er zur besseren Hälfte gehört?

Für diese Motivation muß er aber auch frühzeitig erfahren, wie er im Felde seiner Mitbewerber liegt. Die in Amerika üblichen Semesterprüfungen geben darauf eine Antwort. Wir werden ähnliche Informationen bereitstellen müssen. Da das Zahlenverhältnis Lehrer : Schüler hierzulande keineswegs ungünstiger ist als an amerikanischen Universitäten, sollte das auch bei uns möglich sein.

Zu diesen Motivationen aus dem Bereich der überzogenen Erwartungen kommen drei spezielle Motivationen, die unsere Gesetzgebung in der Form des Geldanreizes geschaffen hat: BAFÖG ohne ernstliche Leistungskontrolle (das gibt es in keinem anderen Land der Welt); Dotierung aller akademischen Beamten mit einem Einkommensvorsprung vor den Nichtakademikern, der ebenfalls im internationalen Vergleich groß ist; ein praktisch lebenslänglicher Einkommensvorsprung für die Beamten mit längeren Studienzeiten (ein System, das eine Verlängerung, des Studiums zu einer hoch rentierlichen Investition werden läßt); Lebenszeitverträge schon vor dem 30. Geburtstag (was es auch in keinem anderen Land der Welt gibt). Die Einzelheiten sollen hier nicht erörtert werden. Aber der Zudrang zum Studium beruht auch auf diesen Motivationen. Durch eine Verminderung des Anreizes ließe sich auch die Zahl der Bewerber und damit die Zahl der Enttäuschungen vermindern.

Selektion innerhalb der Hochschulen In der „Mikätzchenzeit" des Akademikermangels haben wir die Ventile, die den Zustrom zu den akademischen Positionen regelten, weit geöffnet. Diese liberale Politik plötzlich auf wesentlich engere Querschnitte umzustellen, stieße auf heftigen Widerstand. Es wird kaum gelingen, die Selektion, ausgerichtet auf den Bedarf an Akademikern herkömmlicher Art, wieder auf die Zulassung zum Gymnasium und auf das Abitur zurückzuverlegen. Aber unser gegenwärtiges System, das diese Selektion erst nach 20 Schulund Studienjahren vornimmt, ist nicht nur höchst unrationell, sondern auch sehr unmenschlich.

Die Angelsachsen nehmen die Selektion innerhalb der Hochschulen vor. Der Grad des Bachelor läßt sich in höchstens drei Jahren verhältnismäßig leicht erlangen. Aber die Zulassung zum post-graduate-Studium, das zum Master und zum Doktor führt, ist schwierig. 85 °/der amerikanischen Studenten verlassen die Hochschule als Bachelor. Sie haben damit eine Berufsausbildung, die von Arbeitgebern in Staat und Wirtschaft als qualifizierend anerkannt wird. Und sie haben einen akademischen Grad, der sich auf Visitenkarten drucken läßt (wenn man darauf Wert legt). Nun gibt es auch in Deutschland — in den naturwissenschaftlichen Fächern — eine Teilung des Studiums, mit einem Vordiplom nach vier bis fünf Semestern. Wir konzentrieren jedoch die Ausbildung für das Vordiplom auf theoretische Fächer, die keine Qualifikation für den Beruf bringen, und mit dem Vordiplom ist auch kein Titel verbunden. Wer unsere Universität mit einem Vordiplom verläßt, ist als Student gescheitert. Der Vorschlag, unser Hochschulwesen auf das angelsächsische Vorbild umzustellen, stößt auf empörten Widerspruch. Wir hätten traditionell immer die theoretischen Fächer an den Anfang des Studiums gestellt; das Bildungswesen habe sich in den angelsächsischen Ländern insgesamt ganz anders entwickelt, mit dem unsrigen nicht zu vergleichen. Aber ist es wirklich so ganz anders? Haben wir uns nicht bei der breiten Öffnung unserer Hochschulen immer wieder nachdrücklich auf das amerikanische Vorbild bezogen? Und bringt nicht das amerikanische System eine vernünftige Lösung der Aufgabe, die Massenausbildung von der Ausbildung der echten wissenschaftlichen Begabung zu trennen, eine Aufgabe, um die wir uns bisher beharrlich herumdrücken?

Die Selektion am Ende eines ersten Studien-abschnitts gibt es übrigens, wenn auch in ande-ren Formen, ebenso in Frankreich. Die „Licen-ce“, nach drei bis vier Studienjahren relativ leicht zu erreichen, etwa dem Bachelor vergleichbar, beendet für die meisten französischen Studenten die Hochschule. Die Zulassung zu den „Großen Schulen“, die in die akademischen Stellen der höheren Ebene führen, ist dagegen nur in schwer umkämpften Wettbewerben zu erreichen. Die Teilnahme setzt eine Lizenz voraus.

Eine Umstellung auf das französische System würde unser Hochschulwesen jedoch weitaus stärker verändern als eine Umstellung auf das angelsächsische.

Wer die angelsächsische Lösung überheblich abtut, muß sich fragen lassen, ob der angelsächsische Bachelor minder qualifiziert sei als etwa der deutsche Diplom-Kaufmann. In dieser Frage gibt es Erfahrungen: einige Tochter-gesellschaften amerikanischer Konzerne, in Deutschland von Deutschen geleitet, beschäftigen junge deutsche und junge amerikanische Akademiker nebeneinander mit gleichen Aufgaben. Das Urteil: Die Amerikaner sind gewiß nicht schlechter, eher besser als ihre deutschen Kollegen, weil ihre Ausbildung sie näher an die Probleme der Praxis herangeführt hat. Und überdies sind sie wesentlich jünger und aktiver. Wir sollten uns also intensiver mit dem angelsächsischen Modell beschäftigen. Einen Abschluß, den auch die Arbeitgeber als Berufsqualifikation akzeptieren, und einen entsprechenden Titel, das müßten wir einer großen Zahl von Studenten anbieten. Der Wissenschaftsrat hat bereits einige Modelle vorgeschlagen.

Als Titel bietet sich der angesehene „Diplom" -Titel an (der im Ausland weitgehend unbekannt ist). Der Titel Bakkalaureus wird hierzulande als fremdartig empfunden, als Bezeichnung für Akademiker minderen Ranges.

Wer nach dem Diplom weiterstudieren will, müßte sich dann einer scharfen Selektion stellen für ein post-graduate-Studium, das zum Magister-und Doktortitel führen könnte. Damit würde auch der Magister-Titel, der in Deutschland vorerst kaum Prestige gibt, seine Substanz erhalten, und man könnte ihn sogar zusätzlich zum Diplomtitel den Diplomakademikern der bisherigen Ordnung verleihen, soweit sie daran interessiert sind, die Gleichwertigkeit mit dem Master-Titel, die bisher anerkannt war, zu beweisen. Die Fälle, in denen das eine echte praktische Bedeutung hat, sind extrem selten.

Eine solche Neuregelung würde auch die Fachhochschulen sinnvoll in ein Gesamtsystem aller Hochschulen einordnen. Der Diplomgrad könnte dann sowohl an Fachhochschulen als auch an Volluniversitäten erworben werden. Alle Diplomakademiker müßten das Recht haben, an der Eingangsselektion zum post-graduate-Studium, das bei den Voll-universitäten läge, gleichberechtigt teilzunehmen. Dabei könnte es sich entwickeln, daß die Diplom-Akademiker der Fachhochschulen, weil praxisnäher ausgebildet, für bestimmte Arbeitsplätze bessere Chancen haben als ihre Kollegen von den Volluniversitäten. Auch das wäre eine sinnvolle Aufteilung.

Das unsinnige Aufstocken eines vollen Diplom-Studiums auf ein volles Fachhochschulstudium, das heute allzuoft vorkommt, würde entfallen. Zugleich würde sich die Qualität der post-graduate-Ausbildung sofort heben, weil diese Qualität auch von der Intelligenz der Studenten abhängt. Je höher die Intelligenz ist, desto mehr kann der Unterricht bieten. Das wiederum käme der Forderung zugute, die heute unter den Zwängen der Massen-ausbildung leidet. Selbst an die Nobelpreise sollte in diesem Zusammenhang gedacht werden. Die scharfe Selektion, die vor den Beginn des post-graduate-Studiums gesetzt werden sollte, kann allerdings nur dann funktionieren, wenn der oben erwähnte automatische Zusammenhang zwischen Studienlänge und Anfangsgehalt (Beispiel: A 13 für den Diplomingenieur, A 11 für den graduierten Ingenieur) bewußt und sichtbar gelöst wird. Die Besoldungsgruppe des Einganges sollte für beide Gruppen grundsätzlich die gleiche sein. Beförderung dann nur nach der Leistung, ohne Diplom-Bonus. Solange der Staat seine Besoldungsordnung nicht in diesem Sinne ändert, wird der politische Druck auf breite Öffnung auch der post-graduate-Studien siegreich bleiben.

Das Hochschulrahmengesetz Das Hochschulrahmengesetz überträgt in § 8 die Studienreform den Hochschulen, die dabei ständig mit den zuständigen staatlichen Stellen Zusammenwirken sollen. Jede Reform bedarf also der Zustimmung der Hochschulen.

Professoren sind oft konservativ. Sie verteidigen das System, das sie am besten kennen, das altgewohnte. Die Vielzahl der Stunden, die sie in Reformdiskussionen haben verbringen müssen, hat eine deutliche Reformmüdigkeit entstehen lassen, mit einer Komponente von Resignation: Es kommt ja doch nichts Besseres heraus, wahrscheinlich etwas noch Schlechteres. überdies sind Professoren oft Individualisten, die das Unbedingte eines Kampfes für die Wahrheit auch in den Streit über Methoden hineintragen; die von Kompromiß und Konsens meist wenig halten.

Die Legitimation der Studenten ist fraglich. Es fehlt ihnen an Erfahrung, überdies sind die heutigen Wortführer im Grunde nicht betroffen. Die meisten von ihnen werden die Universität verlassen haben, wenn die nächste Welle der Reformen in Kraft tritt — für Studenten, die dann vielleicht ganz anders denken: Die heutigen Studenten der Medizin fühlen sich keineswegs glücklich mit dem System der multiple-choice-Bögen, ohne jede mündliche Prüfung, für das ihre Vorgänger so leidenschaftlich gekämpft haben.

Aber das Hochschulrahmengesetz verleiht den Professoren und den Studenten eine Schlüsselstellung für alle künftigen Reformen. Der Gedanke, das Hochschulrahmengesetz zu novellieren, die Rechte des Staates für den Bereich der Studienreform zu vergrößern, vielleicht mit der Möglichkeit, neue Studienordnungen zu oktroyieren, würde, wenn er sich überhaupt politisch verwirklichen ließe, zunächst wieder zu erbittertem Streit führen, der auf Jahre hinaus alle Studienreformen blockieren müßte. Wir würden dann wieder einmal die Sachprobleme, die dringend einer Lösung bedürfen, auf eine bequeme Weise hinter dem Pulver-qualm einer Schlacht um Zuständigkeiten verschwinden lassen.

Die Welt der Hochschulen läßt sich also vorerst nur verändern, wenn Professoren und Studenten mitziehen. Der Staat kann hier nicht befehlen, aber er darf gewiß mitreden. Soll er mitreden?

Diese Frage ist zu bejahen. Die Universitäten sind zerstritten, der natürliche Individualismus der Professoren wurde schon erwähnt. Wenn überhaupt etwas erreicht werden soll, muß der Staat, gestützt auf die öffentliche Meinung, die Rolle eines Meinungsführers übernehmen. Bisher hat er sich davor gedrückt. Als sich deutlich zeigte, auch in der Form von Studentenunruhen, daß die Verwandlung unserer Elite-Universitäten in Massenhochschulen tiefe Reformen des Unterrichts notwendig machte, hat der Staat keineswegs den Unterricht reformiert, sondern nur die Strukturen vieler (keineswegs aller) Universitäten geändert und im übrigen die Universitäten ermahnt, sich selbst zu reformieren. Die Erfolge überzeugen nicht. Die Studenten haben zum Thema Studienreform erstaunlich wenig beigetragen, von ihrem Kampf für günstigere Benotung abgesehen. Im übrigen galt und gilt ihr Kampf vorzugsweise ihren Machtpositionen, der Form also, nicht dem Inhalt.

Wenn es jedoch gelänge, die politischen Parteien zu einem Konsens über konkrete Zielvorstellungen der Studienreform zu bringen, und dafür die Unterstützung der öffentlichen Meinung zu gewinnen, könnten die Hochschulen sich iner solchen Bewegung kaum entziehen.

Studienordnung Am dringlichsten sind neue-Studienordnungen für die Fächer, bei denen wir heute schon mehrere akademische Grade nebeneinander haben, Grade der Universitäten und Grade der Fachhochschulen, die letzteren deutlich minder bewertet. Das führt dann, wie erwähnt, zu einer Vielzahl von Fällen, in denen auf das Fach-hochschulstudium noch ein vollständiges Universitätsstudium aufgesetzt wird (was es in dieser Form in keinem anderen Lande der Welt gibt).

Hier läge also die oben vorgeschlagene Gleichschaltung der Fachhochschulen mit der ersten Stufe der parallelen Universitätsstudiengänge (bis zum ersten Examen, welches das bisherige Vorexamen ersetzt) am nächsten.

Wer das für plausibel hält, muß sich allerdings gerade in diesem Punkt auf einen besonders intensiven Widerstand der Traditionalisten gefaßt machen. Eine solche Reform bleibt jedoch der einzige Weg, um die Fachhochschulen sinnvoll in das Gesamtgefüge unserer Hochschulen einzuordnen; sie ist zugleich ein zweckmäßiges Mittel, in die Ausbildung für Studenten, deren große Mehrzahl am Ende praktische Tätigkeiten übernimmt, frühzeitig und gründlich Anschauung von Praxis einbringen. Und diese Anschauung ist auch für die kleinere Minderheit wichtig, die später lebenslang in der Theorie ihres Faches arbeitet.

Die Verwaltung der Hochschulen Das Denkmodell trial and error muß auch für die Veränderungen gelten, welche die Bildungsreform in unseren Hochschulen vorgenommen hat. Fast alle Professoren sind der Ansicht, daß der enorm gestiegene Aufwand an Zeit, die sie heute den Verwaltungsproblemen ihrer Universität widmen müssen, vor einer nüchternen Kosten-Nutzen-Analyse nicht bestehen kann. Es mag Professoren geben, denen Verwaltung ein spielerisches Vergnügen macht. Sie sind jedoch selten. Verwaltung, das war in der alten Humboldt-Universität Sache des Kurators, eines Beamten hohen Ranges, der am Ort der Hochschule die Rechte des Staates wahrnahm und zugleich aus seiner guten Personal-und Lokalkenntnis heraus die Interessen der Universität im Ministerium vertrat. Das hat mehr als hundert Jahre vorzüglich funktioniert.

Die Wissenschaft arbeitete in Räumen und mit einem Service, wie es etwa der Staat zur Verfügung stellt und wie es etwa der Gast im Hotel als gegeben vorfindet.

In den ersten Jahren nach dem Krieg wurde dieses bewährte System in einer Welle von Mißtrauen gegen jegliche Form staatlichen Einflusses beseitigt. Die Ideologie totaler Freiheit der Hochschulen erreichte ihren Höhepunkt in der Forderung nach Globalhaushalten: Hunderte von Millionen D-Mark, die nach dem Belieben der Hochschule verteilt werden sollten.

Daß die Finanzminister das nicht akzeptieren konnten, lag auf der Hand. An die Stelle der alten eingespielten Hochschulaufsicht traten Erlasse der Finanzminister und der Kultusminister, formuliert von Beamten, durchaus wohlwollend, aber in fernen Städten lebend, mit dem Tagesgeschehen der Universitäten zu wenig vertraut. Da Aussprachen von Ministern und Beamten mit drittelparitätischen Gremien der Universitäten oft zu rüden Szenen führten, sank in den Hauptstädten die Neigung zu solchen Gesprächen, und der Verkehr wickelte sich in Erlassen ab, die man in der alten württembergischen Verwaltung scherzhaft „Befeh-lerle“ nannte. Die Eroberung der totalen Autonomie erwies sich als Pyrrhussieg.

Die Universität sollte dem Staat geben, was des Staates ist. Wer die Geldmittel aufbringen und gegenüber dem Steuerzahler verantworten muß, wird sich in jedem Falle den notwendigen Einfluß verschaffen. Eine offen-ehrliche Regelung ist dabei besser als der Umweg über eine Vielzahl von Ministerialerlassen.

Eine Neuregelung ist aber auch um der Sache willen notwendig. Die Unterverteilung von Geld, die Zuteilung von Hilfskräften und Apparaten kann nicht einer Mehrheitsentscheidung von Interessenten überlassen bleiben. Ein solches System muß in einigermaßen vergleichbaren Fällen stets zur Gleichmacherei, zum Gießkannenprinzip tendieren, weil diese Lösung menschliche Friktionen am leichtesten vermeidet. Die Gesellschaft ist jedoch daran interessiert, daß der tüchtige Professor größere Möglichkeiten erhält als der schwache. Die Verteilung muß aus der Selbstverwaltung heraus auf neutrale Stellen verlagert werden, in denen der Sachverstand der Fachleute mitarbeitet, ohne jedoch den Interessenten freie Hand zu lassen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft zeigt, wie man das machen kann.

Experiment Gruppenuniversität Was nun die Autonomie der Hochschule anlangt, wie immer man sie bemessen will: für die Entscheidungen innerhalb des autonomen Bereichs gibt es zwei Modelle, — die Vorherrschaft der Ordinarien, — die Drittelparität auf der Basis gleicher Rechte für Ordinarien, Assistenten und Studenten, modifiziert nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das den Hochschullehrern in gewissen Bereichen ein Übergewicht sichert.

Beide Modelle arbeiten bis heute in der Bundesrepublik nebeneinander. Universitäten in Nordrhein-Westfalen, die keinen Konsens über eine neue Satzung erreichen konnten, leben bis heute mit dem alten System, und dort gibt es Gremien, in denen neben 70 Professoren nur 4 Studenten sitzen, eine Minimalgruppe, deren Gewicht bei Abstimmungen kaum zählt. Sie können nur durch überzeugende Argumente wirken (zu denen zuweilen auch ein Hinweis auf die allgemeine Stimmung der Studenten gehört). Es zeigt sich, daß sie mit guten Argumenten auch Einfluß haben, nicht anders als ihre amerikanischen Kommilitonen, die ja überhaupt nur beratende Stimmen besitzen.

In allen freiheitlichen Ländern bedürfen Hochschulen des Konsens einer tragfähigen Mehrheit der Studenten. Das gilt für die Bundesrepublik Deutschland ebenso wie für die Vereinigten Staaten und Japan. Es handelt sich nur darum, wie dieser Konsens hergestellt wird.

Für unser System Drittelparität, das zweite der hier praktizierten Modelle, gibt es in der übrigen Welt nirgendwo eine Parallele. Auch dieses Modell muß sich jetzt dem Denkansatz trial and error stellen. Hat es sich bewährt? Leisten die drittelparitätischen Universitäten mehr als die älteren Systeme? Arbeiten sie demokratischer? Gibt es dort mehr Meinungs-freiheit? Ich habe noch niemanden gefunden, der diese Frage bejaht hätte.

Demokratie kann nur funktionieren, wenn die Demokraten sich in den großen Zielen einig sind. Wird jedoch formale Demokratie zum Kampfplatz, auf dem demokratische Mechanismen nur dazu verwandt werden, unliebsame Entscheidungen zu verhindern und Machtpositionen zu sichern, so müssen Zusammensetzung und Arbeitsweise der Entscheidungsgremien so verändert werden, daß sie fruchtbar wirken, mit vernünftigem Zeitaufwand.

Der Einwand, das sei undemokratisch, geht fehl. Herrschaft des Volkes kann nur einen Souverän anerkennen, die Gesamtheit aller Wahlberechtigten dieses Volkes. Welche Entscheidungen das so bestellte Parlament an autonome Gremien delegiert und in welchen Formen, ist in jedem Fall eine demokratische Entscheidung.

Gewiß gibt es im Bereich der Universität Interessengruppen. Aber das gibt es in allen Lebensbereichen: bei den Beamten, bei den Rentnern, bei den Soldaten ebenso. Demokratie als Ganzes kann nur überleben, wenn sie Gesamtinteressen über die Gruppeninteressen setzt.

Akademische Freiheit In freiheitlichen Gesellschaften vollzogen sich die Meinungskämpfe an den Universitäten stets heftiger und lautstärker als anderswo. Das ist gut so, solange man einander zuhört und solange Versuche zur Unterdrückung der Meinungsfreiheit notfalls gewaltsam bekämpft werden. Auch das gehört zum System „akademische Freiheit“.

Akademische Freiheit ist also wichtig. Zu dieser Freiheit gehört es, daß Studenten die Möglichkeit haben, sich auch außerhalb ihres Fachgebietes umzusehen und zu betätigen, hochschulpolitisch, auch allgemein politisch. Sie sollten gewiß nicht so stark mit speziellen Studienaufgaben ihres Fachs belastet werden, daß sie für „Allotria" (wie Theodor Heuss gesagt hat) keine Zeit finden.

Aber besteht ernstlich die Gefahr in dieser Richtung? Die deutschen Universitäten arbeiten nur an 22 Wochen im Jahr mit vollem Lehrprogramm an je vier Tagen in der Woche. Montags morgens und Freitags nachmittags stehen die Parkplätze der Studenten leer. 88 volle Arbeitstage im Jahr. Die Bundesrepublik hat die kürzesten universitären Unterrichtszeiten der Welt.

Nun liegen gewiß die Universitäten an den übrigen Wochen nicht still. Zuweilen sieht man Licht in Labors, das abendliche Forschungsarbeit anzeigt (übrigens hierzulande weit seltener als etwa in den Vereinigten Staaten). Wo es viele harte Prüfungen gibt, bei den Medizinern und bei den Ingenieuren etwa, zeigt sich auch der Streß. Aber viele Anfangs-semester betrachten die vorlesungsfreie Zeit unbefangen als Ferienzeit. Soweit sie in diesen Ferien arbeiten, dient der Ertrag überwiegend der Finanzierung von Wohlstand: von Autos und Reisen.

Das alles ist ihnen gegönnt. Aber kann es ein Studentenprivileg geben mit der Begründung, sie bedürften in besonderem Maße der Freizeit, um politisch zu diskutieren und Wahlzettel verteilen zu können? Mehr Freizeit als gleichaltrige Arbeiter? Eine solche These kann man doch wohl nur als feudalistisch werten. Daß Studenten im ganzen härter angespannt wären als Arbeiter hat noch niemand behauptet. Wenn wir von den jungen Arbeitern erwarten, daß sie sich ihre Allgemeinbildung in Volkshochschulen erwerben, daß sie Politik in ihrer Freizeit betreiben, so muß das gleiche auch für Studenten gelten, für die noch dazu Möglichkeiten dieser Art breiter und leichter zu erreichen sind.

Die Regelstudienzeit Es ist schwer zu verstehen, wieso der emotionale Kampf gegen Regelstudienzeiten mit dem Argument „akademische Freiheit“ bestritten werden soll.

Universitäten kosten viel Geld. Geld, das anderen möglichen Verwendungszwecken entzogen werden muß. Man mag sagen, daß die zusätzlichen Kosten zusätzlicher Semester geringer sind als die Durchschnittskosten. Das trifft jedoch nur für die völlig inaktiven Studenten zu, nicht für die Fälle, in denen Labor-und Seminarplätze in Anspruch genommen werden. Auch die soziale Versorgung der Studenten, vom Mensa-Essen angefangen, kostet Geld. Und abgesehen davon sollen die Regelstudienzeiten ja auch die schreckliche Über-alterung unserer Studenten bekämpfen, die nicht nur die Allgemeinheit, sondern auch sie selbst schädigt.

Alle Universitäten der übrigen Welt arbeiten praktisch mit dem System der Studienjahre. Wir sollten dieses System nicht allzu rigoros verwirklichen. Aber wir sollten klarstellen: den Steuerzahler kostet die Finanzierung der Regelstudienzeiten schon so viel Geld, daß jeder Student, der länger studieren will, die dadurch entstehenden Kosten, selbst voll tragen müßte.

Konsens der politischen Kräfte Die notwendige, vorsichtige Reform der Bildungsreform läßt sich tragfähig nur dann erreichen, wenn sie von einem breiten politischen Konsens der Regierung und der Opposition getragen wird. Ein Versuch, die Schwierigkeiten durch eine Änderung des Grundgesetzes mit Erweiterung der Bundeskompetenz zu lösen, bleibt aussichtslos.

Der zweite Abschnitt der Bildungsreform, der vor uns steht, erfordert alle unsere Kräfte. Wir dürfen sie nicht durch einen nutzlosen Kampf auf dem Schlachtfeld des Föderalismus schwächen. Neue Lösungen lassen sich keinesfalls rasch verwirklichen. Im Augenblick läßt sich nicht einmal die überlange Gymnasialzeit verkürzen, weil der Arbeitsmarkt die unvermeidliche Folge einer Verkürzung, zwei Jahrgänge von Abiturienten im Jahr des Systemwechsels aufzunehmen, nicht lösen könnte. An den Hochschulen werden sich die Studienzeiten rascher verkürzen lassen. In jedem Falle muß eine langfristige Planung in diesem Sinne sofort beginnen.

Jede solche langfristige Planung begegnet dem Einwand, dazu müsse man mehr wissen, mehr wissen etwa über die Entwicklung der Wirtschaft, über künftige Zahlen von Arbeitsplätzen und die Erfordernisse, die diese Arbeitsplätze stellen werden. Aber schon Immanuel Kant hat gewußt: Die Notwendigkeit zu Handeln geht durchweg über das Maß der Erkenntnisse hinaus. Damit müssen wir leben. Die Antwort des Bildungswesens kann nur lauten: Erziehung zur Flexibilität, auch zur Flexibilität der Erwartung.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Hans Dichgans, Dr. iur. und Assessor, geb. 1907; Verwaltungsund Wirt-schaftsjurist; bis Kriegsende Ministerialrat beim Reichskommissar für die Preisbildung; dann in Direktoren-Stellungen in mehreren Großbetrieben; seit 1955 Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsvereinigung Eisen-und Stahlindustrie in Düsseldorf, am Ende seiner aktiven Laufbahn Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie in Köln. Mitglied des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments von 1961 bis 1972. Vorsitzender des Arbeitskreises Hochschule und Wirtschaft der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände. Veröffentlichungen u. a.: Erst mit 30 im Beruf?, Stuttgart 1965; Das Unbehagen in der Bundesrepublik, Düsseldorf 1968; Vom Grundgesetz zur Verfassung, Düsseldorf 1971; Die Welt verändern, Düsseldorf 1974.