Etwa bis zum Zweiten Weltkrieg bestand allgemein die völkerrechtliche Überzeugung, daß die Souveränität der Staaten inhaltlich unbegrenzt ist. Was innerhalb der Grenzen eines Staates geschieht, geht hiernach keinen anderen Staat etwas an. So lautete das völkerrechtliche Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates. Erst die ungeheuerlichen Verbrechen des Dritten Reiches, aufgedeckt durch den Nürnberger Prozeß, weckten die Erkenntnis, daß Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine ausschließlich nationale Angelegenheit sind. Die Menschen in aller Welt bedürfen des internationalen Schutzes vor ihren eigenen, allzu mächtigen Staaten.
Die Vereinten Nationen verkündeten am 10. Dezember 1948 eine feierliche Universal Declaration of Human Rights, eine Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die eher politischen als rechtlichen Gehalt hat. Erst 18 Jahre später war es im UNO-Rahmen möglich, rechtsverbindliche Abmachungen zu treffen; sie legten den beitretenden Staaten die völkerrechtliche Verpflichtung auf, einerseits die aufgeführten bürgerlichen und politischen Rechte (Covenant on civil and political rights), anderseits weitergehende wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Covenant on economic, social and cultural rights) zu respektieren und in ihren Ländern zu schützen.
Aber eine internationale Justiz, um die Menschen auch vor Eingriffen und Menschenrechtsverletzungen der eigenen Staaten zu schützen, hat die UNO nicht geschaffen und konnte sie nicht schaffen. Zu verschieden waren und sind die politischen Systeme in West und Ost und zu unterschiedlich die Auslegungen dieser ersten Menschenrechtspakte. So blieb es allein dem Europarat vorbehalten, für die politisch homogene Staatenwelt seiner Mitglieder bereits am 4. 11. 1950 eine Menschenrechtskon-vention ins Leben zu rufen, die eine internationale, d. h. also europäische Gerichtsbarkeit zum Schutz der Menschenrechte der Bürger dieser europäischen Demokratien einsetzte.
Pate gestanden hat bei diesem großen Wurf des Europarates die Europäische Bewegung, the European Movement, jener Dachverband der meisten nationalen Verbände des freien Europas, die sich für das Werden eines europäischen Bundesstaates einsetzen. Der Haager Kongreß, zustande gekommen auf Initiative dieser damals machtvollen Bewegung, forderte 1948 nicht nur die Gründung des Europarates, sondern auch die Errichtung eines Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Unter Vorsitz von Pierre-Henri Teitgen, dem französischen Justizminister, und unter Mitwirkung von Sir David Maxwell-Fyfe, dem britischen Ankläger in Nürnberg, sowie dem angesehenen belgischen Senator Fernand Dehousse wurden durch die Europäische Bewegung Entwürfe ausgearbeitet und dem Minister-Komitee des Europarates im November 1949 vorgelegt. Daraus hat sich dann auf Regierungsebene die Menschenrechtskonvention des Europarates entwickelt.
Das Ziel dieser großen Europäer war, europäische Staaten für die in ihrem nationalen Bereich begangenen Menschenrechtsverletzungen vor einem europäischen Gericht zur Rechenschaft zu ziehen und damit auch den einzelnen Staatsbürgern dieser Staaten-Gemeinschäft die Möglichkeit zu geben, ihren eigenen Staat vor unabhängigen europäischen Richtern zur Verantwortung zu ziehen. Es wäre ein großer Schritt auf dem langen Weg der Über-windung der nationalstaatlichen Souveränität gewesen.
Aber von dieser Idee bis zu ihrer Realisierung ist, wie wir heute nach 30 Jahren feststellen können, ein weiter Weg. Regierungsexperten und hohe Beamte, die letztlich für die Ausarbeitung der Konvention verantwortlich waren, haben es verstanden, den Einbruch in die nationälstaatliche Souveränität so klein wie möglich zu halten. Mit internationalen Verhandlungen ist es wie mit einem Schiffskonvoi im Krie3 ge: das langsamste Schiff bestimmt das Tempo. Und der rückschrittlichste Verhandlungspartner kann den anderen seinen Willen aufzwingen: Ohne Zustimmung aller keine Abmachung!
Dieser Aufsatz setzt sich zum Ziel, das europäische Menschenrechtsverfahren darzustellen und damit auch seine nationalstaatlichen Bremsen, die der Öffentlichkeit weithin verborgen geblieben sind.
I. Grundzüge des Verfahrens
An dem Verfahren der Menschenrechtskonvention sind drei Organe beteiligt: die Kommission für Menschenrechte, der Gerichtshof für Menschenrechte, das Minister-Komitee des Europarates (nachfolgend Kommission, Gerichtshof und Minister-Komitee genannt).
Das Verfahren nach der Konvention gliedert sich in drei Teile: das gerichtliche vorbereitende Verfahren vor der Kommission;
das gerichtliche oder quasi-gerichtliche Entscheidungsverfahren vor a) dem Gerichtshof oder b) dem Minister-Komitee;
das politische Kontrollverfahren durch das Minister-Komitee im Anschluß an Entscheidungen, die Menschenrechtsverletzungen feststellen.
Das vorbereitende Verfahren vor der Kommission Ein Staat kann einen anderen Staat wegen Menschenrechtsverletzungen nach Maßgabe der Konvention zur Verantwortung ziehen, wenn beide Staaten der Konvention beigetreten sind. Der klassische Fall aus dem Jahre 1967 ist die Beschwerde der skandinavischen Staaten und der Niederlande gegen Griechenland, als sich das dortige Obristen-regime schwere Menschenrechtsverletzungen an der griechischen Bevölkerung zuschulden kommen ließ.
Ob auch der verletzte Staatsbürger selbst ein Verfahren wegen Menschenrechtsverletzung gegen seinen eigenen Staat einleiten kann, war bei der Schaffung der Konvention lebhaft umstritten. Eine Reihe von Staaten stellte sich auf den Standpunkt, daß ein Streit zwischen einem Staatsbürger und seinem Staat wegen Menschenrechtsverletzung eine nationale Angelegenheit sei, die nicht von europäischen Instanzen entschieden werden dürfe. Andere dagegen fanden, daß die Möglichkeit zu einer solchen „Individual-Beschwerde" allein den Rechtsschutz des einzelnen gegenüber seinem allmächtigen Staat garantiere.
Die in Artikel 25 gefundene Lösung trug den nationalstaatlichen Bedenken Rechnung, ohne die fortschrittlich denkenden Staaten zu hin-dem,voranzugehen: Staaten, die bereit sind, sich Individual-Beschwerden zu stellen, haben das in einer besonderen schriftlichen Erklärung zum Ausdruck zu bringen. Nach anfänglichem Zögern haben inzwischen alle Staaten, die der Konvention beigetreten sind, eine solche Erklärung abgegeben — außer Griechenland, der Türkei, Zypern und Malta, aber auch leider Frankreich. Diese fünf Staaten können also einstweilen nicht von ihren Staatsbürgern in einem Menschenrechts-Verfahren gemäß Konvention zur Verantwortung gezogen werden. a) Dies vorausgeschickt, kommen wir zur ersten wichtigen Aufgabe der Kommission: Sie hat nach Eingang einer Beschwerde (Individual-oder Staaten-Beschwerde) zunächst zu prüfen und rechtskräftig zu entscheiden, ob die eingelegte Beschwerde überhaupt zulässig ist oder schon vor Eintritt in das eigentliche Verfahren wegen Unzulässigkeit zurückgewiesen werden muß. Letzteres ist der Fall, wenn die behauptete Menschenrechtsverletzung augenscheinlich gar nichts mit den in der Konvention geschützten Menschenrechten zu tun hat. Oder wenn diese Menschenrechte der Konvention offensichtlich nicht rechtswidrig beeinträchtigt worden sind (letzteres war 1t. Entscheidung der Kommission der Fall bei den Beschwerden von Baader, Raspe und Ensslin wegen menschenrechtsverletzender Isolationshaft: Unzulässig, weil offensichtlich unbegründet). — Ferner ist eine Individualbeschwerde unzulässig, wenn sie sich gegen einen Staat richtet, der die Erklärung gemäß Artikel 25 nicht abgegeben hat, also nur auf Grund einer Staatenbeschwerde belangt werden kann.
Und schließlich der Fall, der in der bisherigen Praxis recht oft dazu geführt hat, die Beschwerde schon zu Beginn als unzulässig zu verwerfen: Der verletzte Staatsbürger hat nachzuweisen, daß er zunächst auf nationaler Ebene alles versucht hat, um sein Recht durchzusetzen. Er muß — wie es im Juristendeutsch heißt — alle Rechtsmittel ausgeschöpft, d. h. die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte bis zur letzten Instanz vergeblich angerufen haben, bevor seine Beschwerde von der Kommission als „zulässig" angenommen werden kann. Seit Inkrafttreten der Menschenrechtskonvention bis Mitte Mai 1978 sind von insgesamt 8 230 registrierten Beschwerden über 8 000 für „unzulässig" erklärt worden. Lediglich 196 waren „zulässig" (2, 4 °/o). Nur um Verfahren und Entscheidung dieser 196 Beschwerden (engl.: petitions, franz.: requetes) geht es nachfolgend. Gleichgelagerte Beschwerden mehrerer Personen oder Staaten aus demselben Anlaß werden zu einem Fall (case, affaire) verbunden. (Die 31 Beschwerden von ostafrikanischen Asiaten, die gegen Großbritannien Beschwerden wegen Verweigerung der Einreise eingelegt haben, sind also nur ein Fall.) Aus diesen 196 Beschwerden = knapp 100 Fällen hat sich in den ersten 25 Jahren seit Einführung der Menschenrechtskonvention eine gewisse Verfahrens-Praxis ergeben.
X b) Der Kommission obliegt es alsdann, den Sachverhalt des einzelnen Falles zu klären. Hierzu können Zeugen vernommen oder andere Beweismittel herangezogen werden. Dieser Teil des Verfahrens, bei dem sich Beschwerdeführer und Beschwerdegegner gleichberechtigt gegenüberstehen, verläuft nicht anders als in gerichtlichen Verfahren auf nationaler Ebene. Jedoch ist die Verhandlung nicht öffentlich. Nach Schluß der Beweisaufnahme tritt die Kommission üblicherweise in eine erste Beratung des Falles ein und versucht, sich eine vorläufige Meinung über Bestehen oder Nicht-Bestehen einer Menschenrechtsverletzung zu bilden.
c) Die Kommission soll sich nach der Konvention zur Verfügung der Parteien halten, um eine gütliche Einigung auf der Basis der Respektierung der Menschenrechte zu erreichen. Chancen hierfür bestehen insbesondere, wenn die provisorische Ansicht der Kommission das Vorliegen einer Menschenrechtsverletzung bejaht. Dies wird dem Vertreter des verantwortlichen Staates mündlich eröffnet. Dieser steht jetzt unter dem Druck der Wahrscheinlichkeit, daß sich bei weiterer Fortführung des Verfahrens Gerichtshof oder Minister-Komitee in ihrem Urteil dieser Meinung der Kommission anschließen, was der Öffentlichkeit bekanntgemacht wird. Der Staat hat also ein gewisses Interesse einzulenken und sich mit dem Beschwerdeführer gütlich zu einigen, ohne daß die Öffentlichkeit von dem belastenden provisorischen Votum der Kommission etwas erfährt. — Von den 196 für zulässig erklärten Beschwerden sind bisher nur 14 gütlich geregelt worden.
d) Die Kommission hat dann einen schriftlichen Bericht zu verfassen, in dem sie zunächst den von ihr ermittelten Sachverhalt darlegt und rechtlich begutachtet, ob nach ihrer Meinung eine Menschenrechtsverletzung vorliegt. Dieser Bericht geht an das Minister-Komitee des Europarates und damit auch an die beteiligten Staaten. Der Bericht wird aber nicht dem in seinen Menschenrechten verletzten Staatsbürger übermittelt! Aus alledem ergibt sich, daß der Bericht der Kommission keine Entscheidung in erster Instanz ist, die dann etwa von der zweiten Instanz (Gerichtshof oder Minister-Komitee) bestätigt oder aufgehoben wird. Die Kommission bereitet die Entscheidung nur vor, trifft sie aber nicht selbst.
Bis Mitte Mai 1978 sind dem Minister-Komitee seit Bestehen des Menschenrechtsverfahrens von der Kommission 55 Berichte dieser Art (= 109 Beschwerden) zugeleitet worden
Das Entscheidungsverfahren In den nachfolgenden drei Monaten haben grundsätzlich sowohl die Kommission wie auch die an dem Verfahren beteiligten Staaten (nicht jedoch der einzelne Staatsbürger, der das ganze Verfahren mit seiner Beschwerde in Gang gebracht hat!) gemäß Artikel 48 die Befugnis, die Entscheidung dem Minister-Komitee zu entziehen und dem Gerichtshof vorzulegen. Allerdings setzt das voraus, daß die beteiligten Staaten sämtlich die Jurisdiktion des Gerichtshofes anerkannt haben.
Auch dies ist ein dunkler Punkt der Konvention. Bei der Ausarbeitung der Konvention stellte sich nämlich heraus, daß eine ganze Reihe von Staaten nicht bereit war, einen unabhängigen europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu schaffen und seine Jurisdiktion obligatorisch anzuerkennen. Man hat einen geschickten Kompromiß gefunden, der die Entwicklung für die Zukunft offen ließ: Wer bereit war und ist, die Rechtsprechung eines solchen europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte generell und verbindlich anzuerkennen, konnte und kann dies durch eine schriftliche Erklärung gegenüber dem Europarat aussprechen (Artikel 46). Nach anfänglichem Zögern haben sich dann doch alle Staaten (mit Ausnahme von Griechenland, der Türkei, Zypern und Malta) zu einer solchen Anerkennung entschlossen.
Man könnte nun denken, daß angesichts der Anerkennung der Jurisdiktion des Gerichts-hofes von 17 Staaten fast alle Beschwerdefälle zur Entscheidung eben dieses Gerichtshofes kommen. Doch die Statistik belehrt uns eines anderen:
Vonden erwähnten 55 Fällen, über die die Kommission dem Minister-Komitee berichtet hat, sind nur die Hälfte (27 Fälle = 42 Beschwerden) dem Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt worden. 28 Fälle (= 82 Beschwerden) sind in der Entscheidungskompetenz des MinisterKomitees verblieben. Das Minister-Komitee spielt also im Entscheidungsverfahren eine viel gewichtigere Rolle als die Öffentlichkeit ahnt.
Woran liegt es, daß sich der Gerichtshof trotz seiner weitgehenden Anerkennung noch nicht durchgesetzt hat gegenüber dem alternativ zuständigen Minister-Komitee? Es liegt an der eigentümlichen Regelung des schon erwähnten Artikel 48, der selbst dann, wenn die beteiligten Staaten den Gerichtshof anerkannt haben, noch einen besonderen Antrag einer Regierung (oder der Kommission) verlangt, um die Entscheidung dem Minister-Komitee zu entziehen und dem Gerichtshof zuzuweisen. Und in der Tat hat die Regierung, der von einem Bürger eine Menschenrechtsverletzung vorgeworfen wird, nur zu oft ein Interesse daran, die Entscheidung lieber bei dem ihr näherstehenden Minister-Komitee zu belassen, als dem unabhängigen Gerichtshof zu überantworten. Darüber später mehr Kritisches. a) Das Verfahren vor dem Gerichtshof weist alle Züge eines unabhängigen richterlichen Verfahrens auf. Es ist öffentlich. Der Bericht der Kommission wird im Zeitpunkt der Eröffnung der mündlichen Verhandlung veröffentlicht. Sein Inhalt — ermittelter Sachverhalt und rechtliche Beurteilung — wird vom Gericht gewürdigt, bindet es aber nicht. Die Richter könnten auf Grund eigener Beweisermittlung einen anderen Sachverhalt zugrunde legen als die Kommission. Tatsächlich ist aber das Gericht bisher noch nie in eine Zeugenvernehmung eingetreten. Gelegentlich hat es sich zwar Urkunden vorlegen lassen, um den Sachverhalt zu überprüfen. Obwohl in der Konvention nicht vorgesehen, ist die Kommission zur alleinigen Tatsachen feststellenden Instanz geworden, während der Gerichtshof — wie ein Kassations-oder Revisionsgericht — sich auf die rechtliche Beurteilung des von der Kommission ermittelten Sachverhalts beschränkt.
Es dürfte eine große Genugtuung für die Kommission sein, daß der Gerichtshof weitgehend auch die rechtliche Beurteilung der Kommissionsberichte geteilt hat: In neun Fällen (= 20
Beschwerden) haben Gerichtshof und Kommission das Bestehen von Verletzungen der Menschenrechte bejaht. Dagegen hat der Gerichtshof in neun Fällen (= 11 Beschwerden) auf Nicht-Verletzung erkannt, unter denen sich nur zwei Fälle befanden, in denen die Kommission abweichend eine Verletzung sah. Trotz weitgehender Übereinstimmung im Ergebnis gibt es aber hier und da Unterschiede in der Auslegung der einzelnen Menschenrechte der Konvention u. a. m. b) Das Verfahren vor dem Minister-Komitee weist demgegenüber kaum Züge eines gerichtlichen Verfahrens aus. Es findet unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Der Beschwerdeführer, sofern ein Staatsbürger, ist weder in persona noch durch einen Anwalt vertreten, wohl aber sein Gegner, der Staat, der sich wegen dieser Menschenrechtsverletzung zu verantworten hat. Auch die Kommission ist nicht vertreten, wenngleich ihr Bericht die Basis der Beratung abgibt, über den Verlauf der Verhandlungen erfährt niemand etwas — außer den Verwaltungen der Mitgliedstaaten des Europarats —, denn das Verhandlungsprotokoll wird nicht veröffentlicht.
Nach der Konvention bedarf es zu einer Entscheidung, die eine Menschenrechtsverletzung feststellt, einer Zweidrittelmehrheit der anwesenden Staatsvertreter; bei (gegenwärtig) Mitgliedstaaten müssen also 14 für eine Verletzung stimmen. (Im Gerichtshof genügt die einfache Mehrheit der anwesenden Richter.) Der Spruch des Minister-Komitees wird in Gestalt einer Resolution bekanntgegeben, aber ohne jegliche Begründung. Sollte bei dieser Gelegenheit der Kommissionsbericht zur Veröffentlichung freigegeben werden, so kann man, wenn der Spruch des Minister-Komitees mit der Beurteilung des Kommissionsberichtes übereinstimmt, vermuten, daß sich das Minister-Komitee den Gründen des Berichtes anschließt.
Es gibt keine zusammenhängende Verfahrens-ordnung, wengleich ein paar notdürftige Regeln vom Minister-Komitee aus der Praxis heraus festgelegt worden sind: z. B. über den Vorsitz, der von dem an sich präsidierenden Staat abgegeben werden muß, wenn er an dem Verfahren beteiligt ist; über das (bestätigte) Stimmrecht von Delegierten solcher Staaten im Minister-Komitee, die zwar dem Europarat, aber noch nicht der Menschenrechtskonvention angehören.
Der von der Kommission ermittelte Sachverhalt wird vom Minister-Komitee ungeprüft hinge- nommen. Es hat zwar — ebenso wie der Gerichtshof — auf das Recht zu weiterer Beweis-erhebung nie verzichtet. Aber praktisch ist gar nicht daran zu denken, etwa vor dem Minister-Komitee eine Zeugenvernehmung durchzuführen. In der rechtlichen Beurteilung ist das MinisterKomitee der Ansicht der Kommission, daß eine Menschenrechtsverletzung nicht vorliegt, in 16 Fällen (= 18 Beschwerden) gefolgt. Obgleich jedoch die Kommission in 7 Fällen (= 58 Beschwerden) eine Menschenrechtsverletzung als erwiesen angesehen hat, konnte sich das Minister-Komitee nur in 2 Fällen (= 5 Beschwerden) entschließen, diesem Votum zu folgen. Im Minister-Komitee finden also — wen wundert es? — die Interessen der Staaten, die sich wegen Menschenrechtsverletzung zu verantworten haben, aber ihr Vorliegen bestreiten, eine wesentlich stärkere Berücksichtigung als vor dem Gerichtshof.
In den 7 minus 2 = 5 Fällen (gleich 53 Beschwerden), in denen die Ansicht der Kommission über das Vorliegen von Menschenrechtsverletzungen vom Minister-Komitee nicht bestätigt worden ist hat letzteres einen dritten Weg eingeschlagen, der in der Konvention nicht vorgesehen ist und den der Gerichtshof nicht praktiziert: Im operativen Teil der abschließenden Resolution, in dem eigentlich entweder auf Verletzung oder auf Nicht-Verletzung erkannt werden müßte, heißt es einfach: „No further action is required /II n’y a pas lieu de prendre d'autres mesures = Es ist nichts weiter zu veranlassen." Bisweilen, aber keineswegs immer, heißt es vor dieser Formel, daß die für eine Entscheidung erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht wurde. Wie immer dieser Beschluß zu interpretieren ist, jedenfalls steht fest, daß das Verfahren gemäß der Menschenrechtskonvention beendet ist.
Das politische Nachverfahren vor dem Minister-Komitee zur Beseitigung menschenrechts-verletzender Zustände.
Wir haben es hier mit einer eigentümlichen, aber höchst beachtenswerten Schöpfung der Menschenrechtskonvention zu tun. Sie beruht darauf, daß es ja auf europäischer Ebene — anders als im nationalen Bereich — keine Vollstreckungsorgane’ gibt. Die Konvention verpflichtet den verurteilten Staat, die Entscheidung des Gerichtshofs (Artikel 53) oder des Minister-Komitees (Artikel 32, Abs. IV) zu respektieren. Der Staat hat also den menschen-rechtsverletzenden Zustand zu beseitigen, soweit das im Rahmen seiner nationalen Rechtsordnung möglich ist. So mußte z. B. — um eine neuere Entscheidung zu nennen, den Fall Golder — die Anordnung der britischen Gefängnisverwaltung aufgehoben werden, die dem Strafgefangenen untersagte, wegen eines gefängnisinternen Vorgangs, der ihn belastete, Kontakt mit seinem Anwalt aufzunehmen.
Kann der durch die Menschenrechtsverletzung eingetretene Schaden nicht« oder nur unvollständig beseitigt werden (z. B. ein rechtskräftiges, die Konventionen verletzendes Urteil eines nationalen Gerichts), so hat der Gerichtshof (und analog wohl auch das Minister-Komitee) dem Verletzten eine angemessene Entschädigung zuzubilligen.
Einerlei, wer die Entscheidung gefällt hat, Minister-Komitee oder Gerichtshof, allein das Minister-Komitee hat die Ausführung der erforderlichen Maßnahmen zu überwachen; hierzu soll es dem verurteilten Staat eine Frist setzen. Würde der Staat sich weigern, den Spruch auszuführen, oder wären die von diesem getroffenen Maßnahmen unzureichend, so wäre das Minister-Komitee mangels Vollstreckungsmöglichkeiten am Ende mit seinem Latein; es könnte höchstens den Bericht der Kommission und seine eigene Einstellung zu der völkerrechtswidrigen Haltung des betroffenen Staats veröffentlichen und damit diesen unter den Druck der öffentlichen Meinung setzen. Vorgekommen ist ein solcher Fall noch nicht (wenn man von dem Fall des griechischen Obristen-Regimes absieht, der Griechenland vorzeitig veranlaßt hat, aus dem Europarat auszuscheiden und die Menschenrechtskonvention zu kündigen). Trotz sicherlich bestehender Unzufriedenheit der jeweilig verurteilten Staaten und trotz innerem Widerstreben, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, gehen die Staaten aber doch immer einem für sie peinlichen Konflikt aus dem Wege. Auch das Minister-Komitee ist an einer solchen Auseinandersetzung wenig interessiert, da sie die Konvention in ihrem praktischen Wert in Frage stellen würde. So haben sich in diesem politischen Verfahren unter Ausschluß der Öffentlichkeit Minister-Komitee und betroffene Staaten unter Respektierung der nationalen Souveränität immer noch irgendwie arrangiert, sei es, daß Gesetze geändert, Verordnungen erlassen, Verwaltungsakte aufgehoben oder dem verletzten Staatsbürger Schadensersatz zugesprochen wurde.
Mit dem Vorwurf der Menschenrechtsverletzung konfrontierte Staaten, die auf Grund des belastenden Berichts der Kommission mit einer für sie negativen Entscheidung des MinisterKomitees rechnen müssen, versuchen durch Ankündigung von Sofortmaßnahmen den Stein des Anstoßes zu beseitigen. Treffen sie hierbei auf Sympathie bei den anderen Mitgliedstaaten des Europarats, so ist es möglich, daß dieses politisch denkende Organ den nach seiner Meinung vorherrschenden Zweck der Konvention, menschenrechtsverletzende Zustände für die Zukunft zu beseitigen, als erfüllt ansieht und das Verfahren — wie oben geschildert — mit der Formel abschließt: „keine weiteren Maßnahmen erforderlich". Dem betroffenen Staat bleibt nun die Veröffentlichung des ihn belastenden Berichtes der Kommission erspart. Aber vielleicht ist dies nicht so ganz im Interesse des beschwerdeführenden, in seinen Menschenrechten verletzten Staatsbürgers, dem die öffentliche Genugtuung versagt bleibt.
Der Gerichtshof, eben kein politisches, sondern ein richterliches Organ, hat demgegenüber daran festgehalten, daß über eine Beschwerde wegen Menschenrechtsverletzung auch dann entschieden werden muß, wenn gleiche Verletzungen in Zukunft wegen neuerer, vom Staat getroffener Maßnahmen nicht mehr zu erwarten sind. So z. B. in der Staaten-Beschwerde Irland/Großbritannien, in der der britische Generalstaatsanwalt frühzeitig bekannt-gab, daß die fünf früher angewandten Verhör-methoden, die Anlaß zu der Beschwerde gegeben hatten und später im Urteil als Verletzungen der Konvention angesehen wurden, ein für allemal durch entsprechende Regierungsanordnungen abgeschafft seien.
II. Kritische Überlegungen
Kritik an der Konvention und an der Praxis des Menschenrechtsverfahrens, die nach 25 Jahren sicherlich bei aller Anerkennung des Erreichten gerechtfertigt ist, könnte an vielen Punkten ansetzen. Idi möchte mich im Rahmen dieses Aufsatzes auf den wichtigsten Punkt beschränken: die Berufung des Minister-Komitees zur Jurisdiktion in Menschenrechtsfällen.
Es wurde zuvor dargelegt, daß sich in der bisherigen Entscheidungspraxis von Gerichtshof und Minister-Komitee eine unterschiedliche Tendenz in der Zielsetzung entwickelt hat: Der Gerichtshof will Recht sprechen, d. h. er will über den Antrag des Beschwerdeführers entscheiden und gegebenenfalls dem in seinen Menschenrechten verletzten Staatsbürger öffentlich Genugtuung gegenüber den verantwortlichen nationalen Behörden verschaffen. Dem Minister-Komitee ist dagegen primär nicht so sehr an einer Entscheidung über eine Individualbeschwerde gelegen, als vielmehr daran, durch ein internes Arrangement mit dem verantwortlichen Staat zu erreichen, daß ein Zustand, der zu Menschenrechtsverletzungen führen kann, für die Zukunft beseitigt wird. Beides sind begrüßenswerte Ziele, die im Rahmen der ursprünglichen Motive der Konvention liegen.
Ich bin der Ansicht, daß die Verquickung beider Zielsetzungen in der Kompetenz des Minister-Komitees abwegig ist und besonders bei Individualbeschwerden zur bedenklichen Benachteiligung der in ihren Menschenrechten verletzten Staatsbürger führt. Er kann bei Ausschluß des Gerichtshofs nicht mehr erwarten, im Dunkel des Minister-Komitees mit gleicher Überparteilichkeit gegenüber dem zur Verantwortung gezogenen Staat behandelt zu werden und öffentlich Genugtuung zu erhalten, wie das bei dem öffentlichen Verfahren vor dem Gerichtshof der Fall wäre. Dagegen möchte ich keinen Zweifel darüber belassen, daß ich die Rolle des Minister-Komitees im Rahmen des Nachverfahrens zur Ausführung eines Urteils und damit zur Beseitigung eines menschenrechtsverletzenden Zustandes uneingeschränkt bejahe.
Warum ist das Minister-Komitee völlig ungeeignet, eine rechtsprechende Aufgabe wahrzunehmen? Die Konvention erwähnt die Kompetenz des Minister-Komitees zur Jurisdiktion im Menschenrechtsverfahren nur ganz verschämt im Artikel 32. Kein Wort findet sich über das Verfahren, das gerade bei einem solchen politischen Organ, das mit richterlichen Aufgaben betraut wird, schwere Probleme aufwirft.
Hört der Laie vom Minister-Komitee oder liest er besagten Artikel 32, so denkt er, daß in diesem Komitee also 21 Minister über diese Menschenrechtsstreitigkeiten beraten und in quasi-richterlicher Eigenschaft unabhängig von außenpolitischen Erwägungen über Sachverhalt und rechtliche Beurteilung entscheiden Aber die für den Europarat zuständigen Außenminister sind (wenn überhaupt) angesichts ihrer sonstigen wichtigeren Verpflichtungen nur zweimal im Jahr für einen Tag in Straßburg, und dann haben sie andere Sorgen, als vertieft über komplizierte Menschenrechts-beschwerden zu verhandeln. An ihrer Stelle tagen laufend die beim Europarat akkreditierten Botschafter der Mitgliedstaaten als „Ständige Vertreter“. Unter den Hunderten von Tagesordnungspunkten, die von ihnen an 60 bis 80 Sitzungstagen im Laufe eines Jahres beraten werden, befinden sich auch einige wenige, die Beratung und Entscheidung von Menschenrechtsbeschwerden zum Gegenstand haben. Dies geschieht, wie bei allen anderen Verhandlungspunkten auch, nach Maßgabe der Weisungen, die ein jedes Außenministerium seinem Ständigen Vertreter erteilt. Der Spruch des sogenannten Minister-Komitees ist also im Grunde eine Entscheidung der 21 Außenministerien — oder noch genauer: der in diesen Ministerien für Europarat und Menschenrechtskonvention weisungskompetenten Beamten. Diese sichern sich natürlich ab, indem sie bei anderen juristisch kompetenten Beamten (meist des Justizministeriums) Rat einholen oder auch einer evtl. Stellungnahme des Ständigen Vertreters Beachtung schenken. Doch formell bleibt der Minister verantwortlich, auch wenn er und seine nächsten Mitarbeiter von den einzelnen Beschwerdefällen und den im Namen des Ministeriums herausgehenden Weisungen nur in Ausnahmefällen etwas erfahren. Man kann also m. E., wenn die Worte noch irgendeinen Sinn haben, das Minister-Komitee kaum als ein quasi-gerichtliches Organ der Rechtsprechung bezeichnen.
Fällt dieses politische Organ also Entscheidungen, bei denen die rechtliche Beurteilung hinter politischen Erwägungen zurückstehen muß? Sicherlich nicht. Denn die Konvention verpflichtet als völkerrechtlicher Akt die Regierungen und alle ihre Beamten, ihren Vorschriften auch im Rahmen der Aufgabenstellung für das Minister-Komitee korrekt nachzukommen.
Und doch ist eben ein Beamter im Außenministerium, auf den die entscheidende Weisung zurückgeht, kein unabhängiger Richter. Da er tagaus tagein in seiner Arbeit von den politischen Interessen seiner Regierung, von der Rücksichtnahme auf gute Beziehungen zu den benachbarten oder befreundeten Regierungen ausgeht, gerät er in einen Interessenkonflikt, wenn er begründete Argumente des Beschwerdeführers oder unzureichende Thesen der sich rechtfertigenden Regierung eines befreundeten Staates objektiv zu würdigen hat. Bewußt oder unbewußt können sich in seine Weisung Motive einschleichen, die außerhalb einer rein rechtlichen Beurteilung liegen — umso mehr, als ja doch der Zweck des Verfahrens vor dem Minister-Komitee nicht so eindeutig auf das gleiche Ziel gerichtet ist, das den Gerichtshof bestimmt: die Entscheidung über die konkrete Beschwerde.
Ein typisches Indiz dieser Art ist die Tatsache, daß sich Delegierte im Minister-Komitee gerade in umstrittenen Fällen bisweilen bei der entscheidenden Abstimmung über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Menschenrechtsverletzung der Stimme enthalten. Das ist nach der Allgemeinen Geschäftsordnung dieses Komitees, die nicht auf richterliche Entscheidungen zugeschnitten ist, zulässig. Mitgliedern des Gerichtshofes wie überhaupt jeder Art von Kollegialgerichten ist eine solche Stimmverweigerung versagt. Weisungen zur Stimmenthaltung mögen im Rahmen des Nachverfahrens zur Ausführung eines Urteils des Gerichtshofs und zur Beseitigung eines menschenrechtsverletzenden Zustandes, sofern sachbezogene Motive zugrunde liegen, nicht zu beanstanden sein. Rechtsprechende Beschlüsse im Entscheidungsverfahren jedoch, die auf Stimmenthaltungen beruhen, weil ihretwegen die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht erreicht wurde, müssen im Zwielicht stehen. Und gleiches gilt für Weisungen, „mit der Mehrheit zu stimmen" — im normalen Verfahren des Minister-Komitees Ausdruck kooperativer Haltung.
III. Vorschläge zur Reform
Sie erscheinen mir nicht angebracht, soweit es sich um die Artikel 25 und 46 handelt, d. h. um die Bereitschaft, sich Individualbeschwerden zu stellen, oder um die Anerkennung der Jurisdiktion des Gerichtshofs. Hier sollte die Entwicklung abgewartet werden, bis sich die noch fehlenden Regierungen unter dem Druck der öffentlichen Meinung ihrer Völker zur Abgabe der entsprechenden Erklärungen bereit finden. Es kann nur darum gehen, diese öffentliche Meinung auf allen nur möglichen Wegen von der Notwendigkeit dieser uneingeschränkten Anwendung des europäischen Menschenrechtsverfahrens zu überzeugen.
Anders steht es mit der Rechtsprechung des Minister-Komitees, die alternativ neben dem Gerichtshof nach der Konvention zugelassen ist. Es gibt keinen Grund, sich auf Dauer mit dieser pflaumenweichen Alternativregelung des Artikels 48 zufriedenzugeben.
Wir hatten gesehen, daß diese Bestimmung insoweit notwendig und sinnvoll ist, als vereinzelte Staaten nicht bereit waren und sind, die Jurisdiktion des Gerichtshofs anzuerkennen. Hier muß faute de mieux das MinisterKomitee einspringen. Bedenklich an der Regelung des Artikels 48 ist aber (um den wichtig-9 sten Fall herauszugreifen), daß ein Staat, der von seinem Staatsbürger wegen Menschenrechtsverletzung belangt wird, die Entscheidung beim Minister-Komitee belassen kann, obgleich er den Gerichtshof generell anerkannt hat. Das kommt hin und wieder vor. Denn Staaten, die von ihren Staatsbürgern wegen Menschenrechtsverletzung belangt werden, haben bisweilen ein schlechtes Gewissen oder sind sich oft ihrer Sache gar nicht ganz sicher. Und dann fühlen sie sich beim Minister-Komitee viel besser aufgehoben als beim Gerichtshof. Die oben angegebenen Zahlen zeigen ja nur zu deutlich, daß die im Minister-Komitee vertretenen anderen Regierungen viel mehr Verständnis für den angegriffenen Staat haben als die unabhängigen Richter des Gerichtshofs. — Ein Korrektiv besteht allerdings insofern, als die Kommission stets den Fall von sich aus vor den Gerichtshof bringen kann. Leider tat sie das selten — jedenfalls in der ferneren Vergangenheit: Bis Ende 1973 sind dem Gerichtshof in den 15 Jahren seines Bestehens von Kommission oder Parteien nur 11 Fälle zugeleitet worden. Ein Wandel kündigt sich an: In den anderthalb Jahren seit dem 1. 1. 1977 sind es bereits 10 Fälle.
Man sollte daher nach Möglichkeiten suchen, wie man den Gerichtshof stärker ins Spiel bringen kann, oder richtiger gesagt: wie man das Minister-Komitee von der Entscheidung über Individualbeschwerden weitgehend ausschalten kann. Das könnte theoretisch durch Abänderung des Artikels 48 der Konvention mittels eines Protokolls der 21 Mitgliedstaaten des Europarats geschehen. Praktisch ist das schwer zu realisieren, weil ein solches Protokoll von allen 21 Parlamenten ratifiziert werden müßte — ganz abgesehen davon, daß mit Sicherheit bei den 21 Regierungen keine geschlossene Bereitschaft zu einer solchen Abänderung besteht.
In Frage kommt dann schon eher, sich mit Artikel 48 abzufinden, aber unter den Staaten, die eine stärkere Einschaltung des Gerichtshofs anstelle des Minister-Komitees wünschen, eine formlose, interne Absprache zu treffen — des Inhalts, daß sich die Beteiligten verpflichten, Individualbeschwerden durch Antrag nach Artikel 48 vor den Gerichtshof zu bringen. Zu einer solchen Absprache wären sicherlich zunächst nur wenige Regierungen bereit. Aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung, zu der die Parlamentarische Versammlung des Europarats und die nationalen Parlamente ihr gerüttelt Maß beitragen könnten, mag sich der Kreis der an einer solchen Absprache beteiligten Regierungen laufend vergrößern.
Wenn aber auch dieser Weg angesichts der Europa-Verdrossenheit und des Desinteresses für dieses europäische Menschenrechtsverfahren und vor allem mangels Bereitschaft der kompetenten Ministerien, staatliche Rechte aufzugeben, verbaut sein sollte, dann bliebe noch die Möglichkeit, daß die Kommission von sich aus (oder auf Grund einer Empfehlung der Parlamentarischen Versammlung oder des Minister-Komitees) im Rahmen des Artikels 48 stärker als bisher von ihrem Recht Gebrauch macht, Beschwerdefälle vor den Gerichtshof zu bringen. Das könnte und sollte m. E. in allen Fällen von Individualbeschwerden geschehen. Mit ihnen sollte das Minister-Komitee grundsätzlich nicht mehr befaßt werden, es sei denn, daß der beteiligte Staat den Gerichtshof nicht anerkannt hat. (Anders bei Staaten-Streitigkeiten, bei denen bisweilen in heiklen Fällen weniger eine klare Rechtsentscheidung als vielmehr die vorsichtige, auf politischen Ausgleich bedachte Handlungsweise des MinisterKomitees vonnöten ist.)
Seit der Schlußakte der Helsinki-Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa stehen die Menschenrechte und ihr Schutz stärker denn je im Interesse der internationalen Politik. Ohne auf die Problematik der Menschenrechte einzugehen, die naturgemäß in Ost und West, in Nord und Süd inhaltlich verschieden beurteilt und interpretiert werden (die vor 30 Jahren beschlossene Menschenrechts-Deklaration der UNO ändert daran nichts!), eines kann man mit Fug und Recht sagen: Wer mit den Menschenrechten ernst machen, sie also nicht nur zu Zwecken der ideologischen Auseinandersetzung benutzen, sondern im eigenen Bereich wirkungsvoll schützen will, der kann nicht an der Straßburger Menschenrechtskonvention des Europarates vorübergehen. Am 3. September 1953 in Kraft getreten, blickt sie auf eine 25jährige erfolgreiche Praxis zurück. Ihrem gerichtsförmlichen Verfahren, dem sich z. Z. in Europa 21 Staaten unterwerfen, haben andere internationale Organisationen, einschließlich der UNO, nichts Ebenbürtiges entgegenzustellen, soweit es um einen wirksamen Schutz der Staatsbürger vor ihren allmächtigen Staaten geht.
Um diese einmalige Konvention in ihrem Bestand zu sichern, sollten die Staaten des Europarates bemüht bleiben, die noch vorhandenen Mängel des Verfahrens zu beseitigen und die Menschenrechte selbst ständig in ihrem Inhalt den politischen und sozialen Ansprüchen und Erfordernissen unserer Zeit anzupassen.