Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Wirtschaftlicher Wandel und Strukturpolitik Ein Curriculum-Baustein zur Wirtschaftslehre | APuZ 47/1978 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 47/1978 Artikel 1 Die Bewältigung des Strukturwandels in der Marktwirtschaft Wirtschaftlicher Wandel und Strukturpolitik Ein Curriculum-Baustein zur Wirtschaftslehre Zur Rolle Japans in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der westlichen Industrieländer Internationale Strukturpolitik als Aufgabe

Wirtschaftlicher Wandel und Strukturpolitik Ein Curriculum-Baustein zur Wirtschaftslehre

Friedrich-Wilhelm Dörge

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Aus Politik und Zeitgeschichte, B 47/48, S. 14— 28 Curriculum-Bausteine zur Wirtschaftslehre stellen Unterrichtshilfen für den Lehrer dar. Jeweils ein konkretes Beispiel wird für problemorientierte Lernprozesse hinsichtlich der Lernziele, der Methoden sowie der Lerninhalte unter fachübergreifenden Aspekten didaktisch aufoereitet. Quellentexte, Schaubilder, Statistiken bilden eine . Infothek'für Schüler, die damit selbständig an der Beantwortung wirtschaftstheoretischer und -politischer Fragen arbeiten können. Als Anwendungsbeispiel werden hier der wirtschaftliche Wandel und die Strukturpolitik im Bereich der Textil-und Bekleidungsindustrie gewählt. An Hand einer umstrittenen Anzeigenkampagne der Bundesregierung zu Textilimporten können die Lernenden jeweils die Interessen von Verbrauchern, Beschäftigten, Unternehmern und der Bundesregierung im Rollenspiel vertreten lernen und ihre für die Berufswahlvorbereitung nicht unbedeutenden Folgerungen ziehen.

I. Wirtschaftlicher Wandel und Strukturpolitik als unterrichtliche Aufgabe — Ein Werkstattbericht

I. II. III. INHALT Wirtschaftlicher Wandel und Struktur-politik als unterrichtliche Aufgabe — Ein Werkstattbericht 1. Lernzielbestimmung im Fächerverbund: Problemorientiertes Denken und Verhalten 2. Inhaltliche Schwerpunktbildung: Umstellungsprobleme in der Textil-und Bekleidungsindustrie Problemorientierter Unterrichtsbeginn: Umstrittene Textilimporte 1. Der , Hemden-Streif zwischen der Bundesregierung und der Textil-und Bekleidungsindustrie (Beschäftigte uhd Unternehmer)

2. Analyse der Kontroverse um @

Wirtschaftslehre wird an allgemeinbildenden Schulen in der Regel als Teil integrierter Lernbereiche unter unterschiedlichen Bezeichnungen (Sozialkunde, Arbeitslehre u. ä.) unterrichtet. Wirtschaftsfragen sollten deshalb ebenfalls möglichst als Teilaspekte integrierter Themen in Verbindung mit gesellschaftlichen und politischen Fragen (einschließlich ihrer historischen und geographischen Dimension) behandelt werden. Dieser Aufgabenstellung entsprechend wird hier ein Curriculum-Baustein vorgestellt, der nach dem Baukasten-prinzip als Element an verschiedenen Stellen des Unterrichts eingesetzt werden kann. Er eignet sich besonders für die Sekundarstufe II und für Abschlußklassen der Sekundarstufe I, die bereits über sozial-ökonomische Grundkenntnisse verfügen.

Für die Textilindustrie der Bundesrepublik kostet die Arbeiterstunde einschließlich Lohnnebenkosten 14, 23 DM. Mit diesem Arbeitskostenniveau liegt die Bundesrepublik im Weltvergleich an sechster Stelle, unter den großen Produktionsländern aber an der Spitze. Grafik: Gesamttextil

Curriculum-Bausteine sind als fachdidaktische Hilfe für die nach Alter und Bildungsstand der Lernenden jeweils spezielle Unterrichtsvorbereitung des Lehrenden anzusehen. 1. Lernzielbestimmung im Fächerverbund:

1127t 16666 n 8911" 4149q 51L 9L 7" ALJL/jd Strukturwandel in der Industrie Geschätzte Entwicklung der verarbeitenden Industrie 1973 bis 1985 WACHSTUMSBRANCHEN Zahl der Beschäftigten in 1000 3083 darunter: Maschinenbau Elektrotechnik Chemie Kunststoff-verarbeitung Luftfahrzeugbau " n -3565 XXX && ffftt I STAGNIERENDE BRANCHEN Zahl der Beschäftigten in 1000 1651 darunter: Nahrungsmittelind. Möbel Druckereien SCHRUMPFENDE BRANCHEN Zahl der Beschäftigten in 1000 3373 4 darunter:

Textil, Bekleidung Fahrze塀?

Problemorientiertes Denken und Verhalten Sogenannte Schlüsselqualifikationen dienen als Instrumente zur Erreichung der allgemeinen Lernziele der Selbstentfaltung, Selbstbestimmung und Mitbestimmung der Lernenden. Diese Qualifikationen haben Vorrang vor der Vermittlung von Sachwissen, das ohne einen lebensnahen Bezug bzw. ohne spätere berufliche Aus-und Weiterbildung größtenteils wieder vergessen wird. Die Einübung in problemorientiertes Denken und Verhalten bedeutet für den Lernprozeß:

Die Einfuhr in die Europäische Gemeinschaft wird durch zahlreiche Maßnahmen behindert Protektionismus: Viele Hindernisse

— Fragen: Die Entwicklung eines kritischen Bewußtseins, um sozio-ökonomische Probleme erkennen zu können (herausfinden und beschreiben); — Anschauen: Die Fähigkeit zu unvoreingenommener Analyse der Probleme (Tatbestände, Zusammenhänge, Meinungen);

— Beurteilen: Die Befähigung zu eigenständiger Urteilsbildung bei Interessenkonflikten (Aufstellung von Zielprioritäten, u. ä.); — Entscheiden und Handeln: Die Bereitschaft zum persönlichen Entschluß und die Fähigkeit zu engagiertem Handeln als einzelner oder mit anderen.

Die Schwierigkeiten bei der Anwendung dieses problemorientierten Konzepts liegen vor allem in der richtigen Auswahl geeigneter Beispiele und in der Komposition der aus den Beispielen gewonnenen Erkenntnisse zu einem Lehrgang, der die für die Lernenden notwendigen Sachgebiete umfaßt. 2. Inhaltliche Schwerpunktbildung: Umstellungsprobleme in der Textil-und Bekleidungsindustrie Die Lerninhalte müssen möglichst so ausgewählt werden, daß der Lernende in ihnen gleichbleibende Grundphänomene wirtschaftlichen Geschehens wiedererkennt:

— wirtschaftliches Verhalten (Reflexionen über Bedürfnis und Bedarf bei relativer Knappheit der Mittel);

— wirtschaftliche Veränderung (Formen, Ursachen und Wirkungen des Wandels in Bedarf und Produktion);

— wirtschaftliche Abhängigkeit (Probleme der internationalen Arbeitsteilung mit Geld-und Güterkreisläufen, mit Märkten und Macht-einflüssen, mit Krisen und ihrer Bekämpfung); — wirtschaftliche Ordnung (Maßstäbe ordnungspolitischer Entscheidungen, Steuerungsformen in pluralistischen Wirtschaftsordnungen mit ihren Durchführungsproblemen).

Die fachwissenschaftlichen Erkenntnisse sind der Fundus, aus dem der Fachdidaktiker schöpft. Aber er muß auch immer das Interesse der Lernenden vor Augen haben. Bei Problemen größerer Reichweite, die nur schwer auf den begrenzten Erfahrungshorizont der Lernenden zu beziehen sind, kann der Theorie-Praxis-Bezug am besten durch Fallstudien hergestellt werden, die folgende Bedingungen erfüllen sollten:

— der Wirklichkeit entsprechen, — überschaubar sein und — mehrere Lösungen zulassen.

Von diesen Überlegungen ausgehend ist das Beispiel der deutschen Textil-und Bekleidungsindustrie (TuB) mit ihren Umstellungsschwierigkeiten für die Beschäftigten und die Unternehmen ausgewählt worden. Es soll auf die in der Schulbuchliteratur bisher weitgehend vernachlässigten Probleme des wirtschaftlichen Strukturwandels und der Strukturpolitik aufmerksam machen und hat darüber hinaus mittelbare Relevanz für die Berufswahlvorbereitung der Lernenden. Anzumerken bleibt, daß die fachdidaktische Kommentierung in einem Werkstattbericht mit der hier gebotenen Kürze sich nur auf zentrale Aspekte beschränken kann.

II. Problemorientierter Unterrichtsbeginn: Umstrittene Textilimporte

1. 2. 3. Fünfjahreszeitraum Land-und Forstwirtschaft Warenproduzierendes Gewerbe insgesamt u. a. Textilgewerbe, Leder und Bekleidung Dienstleistungen 1950 bis 1954 8, 9 51, 7 3, 2 2, 6 39, 4 1955 bis 1959 6, 7 53, 4 2, 4 2, 2 39, 9 1960 bis 1964 5, 1 54, 1 2, 1 2, 1 40, 8 1965 bis 1969 4, 0 53, 1 2, 0 1, 9 42, 9 1970 bis 1974 2, 9 52, 3 1, 6 1, 5 44, 9 Quelle: W. Glastetter, Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum 1950 bis 1975, Berlin 1977, S. 29 f.

Der sektorale Wandel der Produktionsstruktur (Veränderung der Anteile einzelner Wirtschaftszweige an der Gesamtwirtschaft) einschließlich seiner räumlichen Auswirkungen und seiner strukturpolitischen Konsequenzen ist für die Berufswahlvorbereitung besonders aufschlußreich. Deshalb wird im Sinne der exemplarischen Lehre ein entsprechendes Beispiel aus der Textil-und Bekleidungsindustrie (TuB) ausgewählt, das zugleich Verbraucherinteressen betrifft: „Diese komplizierten ökonomischen Zusammenhänge, die unser aller Leben bestimmen, lassen sich nur am konkreten Beispiel erklären." — Einzig und allein aus diesem Grund habe man die Textilwirtschaft als ein möglichst vielen Lesern verständliches Beispiel für strukturelle Anpassungen gewählt (Staatssekretär Bölling zum Meinungsstreit um eine Anzeige des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung, laut Bericht im Handelsblatt vom 19. 7. 1978, S. 14). 1. Der , Hemden-Streit‘ zwischen der Bundesregierung und der Textil-und Bekleidungsindustrie (Beschäftigte und Unternehmer)

Jeder Schüler erhält zu Beginn des Unterrichts den nachstehenden Quellentext, dessen bewußt formale Überschrift erste Neugier weckt. Der Lehrer erklärt das Vorhaben (Lernziele: siehe II. 2.), ohne auf inhaltliche Aspekte einzugehen, und stellt folgende Aufgabe: „Prüft die Anzeige der Bundesregierung sowie die Kritik der Beschäftigten und Unternehmer der Textil-und Bekleidungsindustrie. Stellt Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Beurteilung der angeschnittenen Frage zusammen.“ Aufregung über eine Zeitungsanzeige In einer Anzeigenkampagne der Bundesregierung wurde in Zeitungen der Bundesrepublik im Juli 1978 u. a. die nachstehende Anzeige veröffentlicht (Auszug):

„Frau Müller kauft ein Hemd aus Ceylon. Das sichert ihrem Mann die Arbeit. Arbeitet Herr Müller denn in Asien?

Wenn Frau Müller ihrem Mann ein Hemd kauft, dann knüpft sie an dem roten Faden, der sich durch die Weltwirtschaft hindurch-zieht. Acht von zehn Hemden, die bei uns als Import verkauft werden, kommen aus einem Land der Dritten Welt. Die Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Lateinamerika nehmen dafür unsere Exporte auf, zum Beispiel Textilmaschinen.

Wenn Frau Müller ein Hemd aus Colombo in Sri Lanka (wie sich Ceylon heute nennt) kauft, dann tut sie zweierlei: sie schmückt ihren Mann und sichert seinen Arbeitsplatz. Mit dem Geld für das Hemd kann die Fabrik in Co-15 lombo die Textil-Maschine bezahlen, die Herr Müller in Krefeld zusammenbaut... Früher, vor zwanzig Jahren, als deutsche Männerhemden noch aus deutschen Landen kamen, kostete ein Hemd fast doppelt so viel Arbeitszeit, statistisch. Für sein Hemd muß Herr Müller heute nur noch halb so viel arbeiten. Frau Müller übrigens auch: das Hemd ist pflegeleicht.

An seinem Hemd aus Colombo hat Herr Müller aus Krefeld mitgewirkt. Mit Müllers Maschine schneidert der Singalese Hemden schneller als früher. Und er macht es billiger, als sein deutscher Kollege es könnte oder möchte ... Unseren Landsleuten in der Textilindustrie können diese Hemden aus der Dritten Welt Arbeitsplätze wegnehmen. Das ist die eine Seite. Aber an der einfachen Logik, daß andere Länder unsere Maschinen nur bezahlen können, wenn wir ihre Hemden kaufen, an dieser Logik eines freien Welthandels führt kein Weg vorbei ... Die Arbeitsplätze, die wir langfristig durch Einführen von Konsumgütern verlieren, müssen wir dort wettmachen, wo wir stark sind, wo unsere Arbeit international besonders gefragt ist: Maschinen-und Fahrzeugbau, Elektrotechnik, Chemie. Für einen freien Welthandel müßte bei uns eigentlich jeder eintreten, der bis vier zählen kann: jede vierte Mark nämlich wird bei uns im Export verdient.

Presse-und Informationsamt der Bundesregierung, Postfach, 5300 Bonn"

Nach Veröffentlichung dieser Anzeigen gab es auf Seiten der Textilarbeiter Proteste. So hat z. B. die Gewerkschaft Textil-Bekleidung, Bezirk Minden-Lippe, einen Offenen Brief an den Bundeskanzler gerichtet, den die „Neue Westfälische, Bielefelder Tageblatt" am 14. 7. 1978 auszugsweise veröffentlichte:

Gewerkschaft Textil-Bekleidung protestiert

ImportierteArbeitslosigkeit im Textilbereich bei Hemden

„Die Anzeige hat die Mitglieder unseres Bezirkes erregt und empört ... Wir halten die Anzeige für einen völlig unnötigen, aber auch unverantwortlichen Angriff auf die Arbeitsplätze in der Textil-und Bekleidungsindustrie und darüber hinaus der gesamten Verbrauchsgüterindustrie.

Wem soll denn mit einer weiteren Liberalisierung der Handelspolitik gedient sein? Weder der Näherin in Ceylon, denn die wird doch rücksichtslos von deutschen Importeuren ausgenützt. Auch nicht dem deutschen Arbeitsmarkt, denn die Maschinen-und Fahrzeugindustrie und auch die chemische und elektrotechnische Industrie sind nicht in der Lage, die freiwerdenden Arbeitskräfte aus der Textil-und Bekleidungsindustrie, überwiegend Frauen und Mädchen, aufzunehmen. In diesen Bereichen gibt es nämlich auch Probleme.

Die Verlagerungspolitik ist übrigens in den letzten Jahren hart genug gewesen. In elf Jahren sind mehr als 313 000 Arbeitsplätze in der Textil-und Bekleidungsindustrie vernichtet worden. Das hat im wesentlichen zu der hohen Frauenarbeitslosigkeit geführt.

Unsere Hoffnung setzen wir allerdings auf Sie. Lassen Sie nicht zu, daß in einer Zeit der ständigen Verunsicherung der Arbeitnehmer durch nicht wenige Politiker nun auch noch durch ihre Regierung die Verängstigung hinzukommt. Sorgen Sie bitte dafür, daß in Zukunft anstelle so sinnloser Ausgaben für Anzeigen den sozialen Belangen der Arbeitnehmer mehr Rechnung getragen wird."

Auch der Verband der Textil-und Bekleidungsindustrie hat sich mit Protesten an den Bundeskanzler gewandt. Darüber berichtete das „Handelsblatt — Wirtschafts-und Finanz-zeitung" am 19. 7. 1978: „Hemd aus Ceylon" erregt die Verbands-gemüter „Im einzelnen bezieht sich der Protest der Textil-und Bekleidungsindustrie auf folgende Punkte: 1. Die Anzeige hebe die gesamtwirtschaftlichen Vorteile der internationalen Arbeitsteilung hervor, die niemand leugne. Sie verschweige aber die ungewöhnliche Leistung, mit der sich, auch von der Bundesregierung anerkannt, der Textilsektor in der Bundesrepublik auf diese Arbeitsteilung seit Jahren eingestellt habe. 2. Es sei nicht richtig, den Eindruck zu erwecken, der Textilsektor in der Bundesrepublik sei im internationalen Vergleich schwach, seine Erzeugnisse auf dem Weltmarkt wären nicht gefragt. Das Gegenteil sei der Fall. Wäre die Bundesrepublik sonst der Welt größter Exporteur von Textilien und Bekleidung? fragen die Verbände. Doch davon stehe nichts in der Anzeige.

Im wirtschaftlichen Gefüge der Bundesrepublik sei der Textilsektor unentbehrlich, insbesondere auch wegen der immer noch 580 000 Arbeitsplätze, die er zum größten Teil gerade dort stelle, wo sie am nötigsten gebraucht würden. Diese Überzeugung liege doch auch dem von der Bundesregierung mitgetragenen Welttextilabkommen zugrunde. Doch darüber schweige die Anzeige." 2. Analyse der Kontroverse um den Struktur-wandel durch Außenhandel im Textilsektor Nachdem die Schüler die drei Quellentexte gelesen und in Gruppenarbeit der Aufgabenstellung entsprechend diskutiert haben, kann im Plenum der Klasse über die herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Beurteilung des angesprochenen Problemkreises berichtet werden.

Zu den Lernzielen:

Die Auseinandersetzung mit der Zeitungsanzeige und dem kritikreichen Echo soll den Lernenden helfen, die Probleme des Strukturwandels selbständig zu finden und näher zu bestimmen. Es ist dabei besonders für engagierte Schüler schwer (Schülerverhalten), zwischen der Textinterpretation und eigener Stellungnahme zu trennen. Eigene Meinungsbildungen sollen keineswegs unterdrückt werden. Aber die Lernenden müssen ebenso üben, einen vorgelegten Text sachgerecht zu analysieren und zu interpretieren, weil sie dabei sachkundiger werden und sich dann ein besser begründetes Urteil bilden können.

Im Anschluß an diese primär kognitive Analyse wird die stärker affektive Aufgabe der persönlichen Stellungnahme gestellt. Es bleibt dem Lehrer überlassen, Analyse und Bewertung zunächst nicht zu trennen, sondern die Trennung bei den Gruppenberichten mit den Schülern vorzunehmen.

Zu den Lerninhalten: /Die Lernenden können zunächst an Gemeinsamkeiten feststellen, daß es in jedem Text um ein Herrenhemd geht, das aus Ceylon importiert und in der Bundesrepublik Deutschland gekauft wird. Auch die Tatsache, daß die durch Importe und Exporte einzelner Länder verflochtene Weltwirtschaft den Hintergrund der Betrachtungen bildet, bringen alle drei Texte direkt oder indirekt zum Ausdruck. Ebenso sprechen alle von den dadurch ausgelösten Veränderungen, d. h. vom wirtschaftlichen Wandel, und sie bewerten den Wandel, indem sie Folgerungen ziehen.

Diese Gemeinsamkeiten sind weitgehend formaler Natur. Bei den inhaltlichen Aussagen kommt Übereinstimmung in der Betonung langfristiger Änderungen zum Ausdruck: „Früher, vor zwanzig Jahren..."; „In elf Jahren sind...“; „...seit Jahren eingestellt...“. Es kann sich also nicht um kurz-oder mittelfristige Schwankungen der Kapazitätsauslastung, d. h. um Konjunkturprobleme handeln. Vielmehr vollziehen sich einschneidende Umstellungsprozesse, die die Zusammensetzung der Wirtschaftszweige und der Beschäftigung in der Bundesrepublik verändern. Es wird von allen Beteiligten festgestellt, daß die Textil-und Bekleidungsindustrie viele Arbeitsplätze verloren hat, ihr Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten, so läßt sich folgern, gesunken ist. Damit haben die Lernenden Kernpunkte strukturelle» Wandels schon umschrieben, auch wenn der Fachausdruck „Strukturwandel" noch nicht verwendet wird.

Die Unterschiede in den Texten betreffen die Lageanalyse, d. h. Einzelaspekte des wirtschaftlichen Wandels, und die daraus zu ziehenden Folgerungen. Die Bundesregierung betont die Vorteile des freien Welthandels. Er verursache zwar langfristige Umstellungen zwischen den Wirtschaftszweigen, speziell der durch Importe gebremsten Konsumgüterindustrie und der durch Exporte begünstigten Wirtschaftszweige, die vornehmlich der Produktionsgüterindustrie zuzurechnen sind. Aber die durch eine entsprechende Spezialisierung erreichbaren Leistungssteigerungen, z. B. im Maschinenbau (Müllers bessere Maschine), führten durch Ausnutzung von Land zu Land unterschiedlicher Produktionskosten (speziell des Lohngefälles) zur Verbesserung des Lebensstandards (ein Hemd kostet nur noch halb soviel Arbeitszeit und ist pflegeleicht).

Die Unternehmer der TuB verneinen die fortschreitende internationale Arbeitsteilung nicht. Sie haben sich erfolgreich darauf eingestellt und weisen auf ihre Spitzenstellung im Export von Textilien und Bekleidung hin. Aber sie machen auf die mit dem Umstellungsprozeß entstehenden Probleme hinsichtlich der sicheren Versorgung („der unentbehrliche Textil-sektor“) und der vor allem regional bedeutsamen Erhaltung von Produktionsstätten und Arbeitsplätzen aufmerksam.

Die Gewerkschaft Textil-Bekleidung im Bezirk Minden-Lippe hat vorrangig das Schicksal der Arbeitskräfte in ihrem Wirtschaftszweig im Auge. Die bisherige liberale Handelspolitik hatte hohe Verluste an Arbeitsplätzen im Textilsektor zur Folge, ohne daß die entlassenen Arbeitskräfte (vor allem Frauen) in den Produktionsgüterindustrien u. a. Beschäftigung fanden. Eine weitere Liberalisierung der Außenwirtschaft bringe weder den Arbeitern im Entwicklungsland noch den deutschen Arbeitern Vorteile. Anzeigen dieser Art hätten nur negative Folgen. Diese These wird mit den zur Zeit feststellbaren Folgen der Umstellungen belegt: Arbeitslosigkeit und Unsicherheit der Arbeitnehmer.

Der unterschiedlichen Beurteilung der Lage hinsichtlich des wirtschaftlichen Wandels durch freien Welthandel entsprechen unter-17 schiedliche politische Ziele und Maßnahmen. Die Bundesregierung wirbt für konsequente Fortführung des freien Welthandels, weil sie für die exportintensive Bundesrepublik keinen anderen Weg sieht und sich davon die genannten Vorteile verspricht. Sie sieht aber die Notwendigkeit, verlorengehende Arbeitsplätze im Konsumgütersektor in den Produktionsgütersektoren wettzumachen. Das kann als Appell an die Selbsthilfe der Betroffenen, aber auch als Verpflichtung der Regierung zu einer entsprechenden Arbeitsmarktpolitik verstanden werden.

Die Unternehmer betonen ihre erfolgreiche Selbsthilfe im Umstellungsprozeß, leider ohne an dieser Stelle zu sagen, wie sie ihn trotz des Verlustes an Arbeitsplätzen bewältigen konnten, sehen aber Grenzen der Anpassung und machen die Bundesregierung auf Verpflichtungen aus dem Welttextilabkommen aufmerksam, von dem man zwar ohne genauere Kenntnis, doch aus dem Zusammenhang vermuten kann, daß es handelspolitische Regelungen zur Begrenzung von Importen aus Niedriglohnländern enthält.

Die Gewerkschaltssprecher stellen ganz darauf ab, daß den sozialen Belangen der Arbeitnehmer mehr Rechnung getragen werden soll. Sie richten das besondere Augenmerk dabei auf die hohe Frauenarbeitslosigkeit durch den Rückgang der Beschäftigung im Textilsektor. Eine weitere Liberalisierung der Handelspolitik wird mit dem Hinweis auf ihre Nutzlosigkeit für die Beschäftigten im In-und Ausland abgelehnt.

Zusammenfassend ist festzuhalten:

— Der durch die Außenwirtschaft mit Exporten und Importen hervorgerufene Wandel in der deutschen Wirtschaft wird von der Bundesregierung und den betroffenen Interessengruppen in verschiedener Weise beschrieben. — Die politischen Beurteilungen dieses Wandels durch die Bundesregierung und die betroffenen Interessengruppen weichen stark voneinander ab.

— Offen bleiben Fragen nach dem Wie des Anpassungsprozesses der TuB, nach dem Warum der mangelhaften Übernahme von Arbeitskräften durch die Produktionsgüter-industrie und nach dem Inhalt des Welttextilabkommens. — Offen bleibt vor allem eine Antwort auf die Frage, wie der Prozeß der politischen Meinungsbildung und Entscheidung bei so unterschiedlichen Standpunkten weitergeht.

Zur begrifflichen Präzisierung Ehe weitere Betrachtungen angestellt werden, soll der Versuch unternommen werden, den wirtschaftlichen Wandel im Lehrer-Schüler-Gespräch begrifflich besser zu erfassen, ohne dabei auf fachwissenschaftliche Perfektion bedacht zu sein:

Wenn sich der Aufbau einer Volkswirtschaft, das Verhältnis der Teile zum Ganzen ändert, die Proportionen sich verschieben, dann versucht der Statistiker, diese Änderung vor allem mit Hilfe von Gliederungszahlen zu erfassen. Er setzt Teilgrößen zur übergeordneten Gesamtheit in Beziehung, berechnet Prozentsätze und verfolgt deren zeitliche Entwicklung oder zeigt deren regionale Unterschiede auf.

Beispiele: Der Anteil der beschäftigten Arbeitnehmer im Leder-, Textil-und Bekleidungsgewerbe an der Gesamtzahl der beschäftigten Arbeitnehmer änderte sich wie folgt:

1975 = 838, 7 : 20 095, 1 (in 1 000)

1976 = 795, 0 : 19 939, 3 (in 1 000)

1977 = 770, 9 : 19 879, 9 (in 1 000)

Quelle: Statistisches Jahrbuch 1978, S. 99.

Wie hat sich der jeweilige prozentuale Anteil verändert?

Der Anteil am Bruttoinlandsprodukt, d. h. an der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung, betrug in der Bundesrepublik: Die Gliederung der Volkswirtschaft wird als Wirtschaftsstruktur bezeichnet. So gibt es Daten zur Arbeitsmarktstruktur, zur sektoralen und regionalen Wirtschaftsstruktur. Die Änderungen der TuB stellen ein sektorales Strukturproblem mit Auswirkungen auf die Arbeitsmarktstruktur und die Regionalstruktur dar. Sie hängen u. a. vom Wandel der Bedarfsstruktur ab. Der Anteil der Ausgaben für Kleidung und Schuhe an den jeweiligen Gesamtausgaben privater Haushalte ging von 14, 6 v. H. (1950 bis 1954) auf 11, 2 v. H. (1970 bis 1974) zurück und betrug bei einem 4-Per-sonen-Arbeitnehmerhaushalt mit mittlerem Einkommen 1977 nur noch 9, 1 v. H.

Die Veränderungen der Gliederungszahlen zeigen den Strukturwandel an. Die Struktur-politik hat die Aufgabe, diesen Prozeß des wirtschaftlichen Wandels den politischen Zielen von Parlament und Regierung entsprechend zu beeinflussen oder zu steuern. Die dabei nötige politische Willensbildung soll an Hand des hier gegebenen Beispiels erarbeitet werden.

III. Auseinandersetzung mit der sektoralen Strukturpolitik: Die Textilindustriepolitik als Anwendungsbeispiel

© Erich Schmidt Verlag Produktivitätsentwicklung in der deutschen Industrie Zunahme des Produktionsergebnisses je Beschäftigtenstunde 1970 -1977 za I-QO) 0 349110 hle nb ild er

Die unterschiedliche Interpretation des gleichen Phänomens durch die Bundesregierung und die betroffenen Interessengruppen schafft einen Spannungszustand, der die Lernenden zu eigenen Stellungnahmen reizt, auch wenn noch nicht alle Einzelfragen vorab geklärt worden sind. 1. Analyse und Beurteilung der Lage, der Zielkonflikte und der strukturpolitischen Maßnahmen Die für die nächste Doppelstunde gestellte Aufgabe lautet:

Stellung „^lehmt zur unterschiedlichen Beurteilung des den Au Strukturwandels durch -

zu ßenhandel, den direkt oder indirekt angesprochenen wirtschaftspolitischen Zielen und zu den Maßnahmen, die zur Problemlösung beitragen sollen. Beachtet dabei die Interessen von Verbrauchern, Beschäftigten und Unternehmern sowie den Standpunkt der Bundesregierung.“

Dahinter steht als Lernziel die Vorstellung, daß die Lernenden die Interpretation der Quellen ergänzen, indem sie vorhandene Kenntnisse nutzen und in Kombination mit weiteren Informationen an der Lösung der Aufgabe arbeiten (Aufzeigen eines Zusammenhangs von Formen, Ursachen und Wirkungen des Strukturwandels). Sie nennen Ziele der Strukturpolitik (Annahme eines Wertes) und bringen ihre Präferenzen bei Zielkonflikten zum Ausdruck (Bevorzugung eines Wertes). Sie können Maßnahmen zur Über-windung der Diskrepanz zwischen gegebener Lage und erstrebten Zielen nennen und zuordnen. Sie beachten die Spielregeln demokratischer Entscheidungsprozesse.

Zum methodischen Vorgehen:

Es wird davon ausgegangen, daß die Lernenden Gelegenheit haben, selbst Informationen zu sammeln und untereinander auszutauschen. Es ist aber ungewiß, ob sie für die Themenstellung notwendige Angaben finden. Das kann den Lehrenden bei der Weiterarbeit in Schwierigkeiten bringen, wenn er nicht entsprechend vorgesorgt, d. h. eine Infothek angelegt hat. Diese Informationstheke hat die Funktion einer kleinen Datenbank, einer Informationszentrale, die jene Informationen enthält, die zur Problemlösung unbedingt gebraucht werden (Sicherstellung des geplanten Unterrichtsverlaufs). Im vorliegenden Fall sind das Quellentexte, Schaubilder, Tabellen u. a., die Sachverhalte und Standpunkte der genannten Gruppen sowie der Politiker enthalten. Auszüge aus Lehrbüchern werden bewußt vermieden. Der Lehrende kann sie jetzt nach selbständiger Problemanalyse durch die Schüler für die Verallgemeinerung der Ergebnisse heranziehen.

Als Sozialform des Unterrichts ist hier das Rollenspiel zu empfehlen, bei dem die Lernenden in Gruppen jeweils die Interessen der Verbraucher, der Beschäftigten, der Unternehmer sowie der Bundesregierung vertreten. Auch die Rolle der Parteien gehört dazu. Sie fehlt hier aus Platzmangel. Der Lehrer kann aber aus den ihm leichter zugänglichen Grundsatzerklärungen der Parteien Informationen für die Schüler zusammenstellen: Die SPD macht sich die Argumente der Gewerkschaften teilweise zu eigen, während die FDP vorwiegend für liberalen Welthandel eintritt.

CDU/CSU setzt sich relativ stark für mittelständische Schutzbegehren ein.

Mit welchen Argumenten die Schüler die gestellte Aufgabe im einzelnen lösen, läßt sich trotz der Vorgaben nicht genau voraussagen. In der Ungewißheit über die inhaltliche Diskussion liegt das nicht geringe Risiko eines Rollenspiels. Um so mehr muß der Lehrer vorab Überlegungen anstellen, wie der Unterricht das erstrebte Ziel einer abgewogenen Urteilsbildung in strukturpolitischen Fragen erreichen kann.

Zu den Lehrinhalten:

Eine kurze Wiederholung der bereits erarbeiteten Ergebnisse dient der Einstimmung und der in diesem Problemfeld besonders wichtigen Abgrenzung. Es wird davon ausgegangen, daß die Notwendigkeit intensiver außenwirtschaftlicher Beziehungen für die Wirtschaft der Bundesrepublik anerkannt ist. Die internationale Arbeitsteilung wird von keiner politisch relevanten Gruppe abgelehnt. Strittig sind dagegen Form, Umfang und Tempo der internationalen Verflechtung.

Da die Lernenden in der Regel nicht innerhalb des Systems der Wirtschaftswissenschaften denken, sondern gern vom vitalen Bezug ausgehen, wird hier für den Beginn der Aussprache der Weg über eher bekannte Interessen der Verbraucher gewählt. Außerdem haben Verbraucherinteressen fundamentale Bedeutung, denn letztlich hat alles Wirtschaften den Zweck, Bedürfnisse der Verbraucher zu befriedigen.

In der Infothek haben die Schüler die nachstehenden ausreichenden Quellentexte gefunden. Als zusätzliche Hintergrundinformation mit aktuellem Bezug ist das kostenlos zu beziehende Heft 173 der Informationen zur politischen Bildung „Wirtschaft 1 — Verbraucher und Markt“ zu nennen (Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn).

Situation und Interessen der Verbraucher Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher (AgV): Protektionismus bezahlen allein die Verbraucher. Noch nie seit der Währungsreform war unsere Wohlstandsentwicklung durch protektionistische Maßnahmen so bedroht wie heute. Immer mehr Industrien versuchen ... ihre eigene Produktion von der ausländischen Konkurrenz abzuschirmen. Wie eine schleichende Seuche weitet sich die gefährliche Neigung aus, eigene Fehler in der Gestaltung der Produktion auf Kosten der leistungsfähigeren Wettbewerber in anderen Ländern zu vertuschen oder zu reparieren. ..

Jede Einschränkung des freien internationalen Warenaustausches vermindert die Angebotsvielfalt und die Qualität; und die Preise steigen in dem Maße, in dem die Importe behindert werden ... Immer schwieriger wird es für die Bundesregierung, die Grundsätze eines freien internationalen Handels zu verteidigen. Die Erkenntnis, daß wir einen wesentlichen Teil unseres Wohlstandes einer weltweiten Arbeitsteilung verdanken, droht gegenüber der Kurzsichtigkeit der Protektionisten aller Art ins Hintertreffen zu geraten ...

Vor allem müssen sich die Verbraucher selbst intensiv mit der Gefahr des Protektionismus auseinandersetzen, um diejenigen Bereiche der Politik und die Politiker zu unterstützen, die ihre Interessen konsequent gegen diese schleichende Seuche verteidigen". (Verbraucherpolitische Korrespondenz der AgV, 4. 7. 1978, S. 2 f.).

Für die Verlängerung des Welttextilabkommens: „In der Frage, ob das Ende 1977 auslaufende Welttextilabkommen verlängert, geändert oder beendet werden soll, spricht sich die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucher für eine Fortsetzung des Abkommens unter Berücksichtigung wünschenswerter Verbesserungen aus. Sie betrachtet die bestehenden Regelungen im großen und ganzen als vertretbaren Kompromiß zwischen Verbraucherverlangen nach preiswerter Importware einerseits und dem Schutz der inländischen Produktion und der Erhaltung von Arbeitsplätzen andererseits ..." (a. a. O., 25. 1. 1977, S. 4).

Auswertungsaspekte:

Die Lageanalyse enthält die Klage über eine Verschlechterung der Versorgungslage der Verbraucher durch Importbeschränkungen. Ihr Ziel ist eine preisgünstige, qualitativ gute, vielfältige und ausreichende Versorgung. Als wirtschaftspolitische Maßnahmen entsprechen dem Ziel bei gegebener Lage:

— eine liberale Handelspolitik, die ein preisgünstiges und vielfältiges Konsumgüterangebot bei internationalem Wettbewerb ermöglicht, aber einen Mindestschutz heimischer Erzeuger nicht ausschließt;

— binnenwirtschaftliche Maßnahmen, die die Leistungsfähigkeit der Hersteller in der Anpassung an den differenzierter werdenden Bedarf erhöhen und dabei auch die Sicherheit der Versorgung beachten.

Situation und Interessen der Beschäftigten in der Textil-und Bekleidungsindustrie Standpunkte zum Textilimport:

„Wir gehen davon aus, daß die Kolleginnen und Kollegen unserer Textilindustrie An-B spruch auf den gleichen Schutz der Regierung haben wie die Beschäftigten andere Industriezweige ... Der Bundeskanzler hatte während des Bundestagswahlkampfes 1976 in Albstadt vor Textilarbeitern versichert, , daß es auch in zehn, zwanzig und mehr Jahren in der Bundesrepublik noch eine lebensfähige vitale Textilindustrie geben muß'. Herrn Böllings Anzeige aber säte Mißtrauen ... Frage an den Staatssekretär Bölling: Wo sind die versprochenen Ersatzarbeitsplätze geblieben? ... Um Mißverständnisse oder Unterstellungen von Anfang an zu verhindern, sei unsere Bereitschaft zu Opfern ausdrücklich unterstrichen. Die Arbeitnehmer in der Textil-und Bekleidungsindustrie haben bereits einen unverhältnismäßig hohen Beitrag geleistet. Die Last der notwendigen Entwicklungshilfe muß auf die gesamte Gesellschaft gleichgewichtig verteilt werden, aber nicht für den Aufbau von Monostrukturen, sondern von gemischten Industrie-strukturen." (Gewerkschaftszeitung „textil-

bekleidung", Heft 9/78, S. 3 f.).

In der gleichen Ausgabe der genannten Zeitung berichtet der Hauptvorstand der Gewerkschaft Textil-Bekleidung über das durch technischen Wandel erschwerte Ringen um Erhaltung und Sicherung der Arbeitsplätze in der schon mehrere Jahre andauernden konjunkturellen Rezession und der strukturellen Krise im Textilsektor. In einer gemeinsamen Aktion europäischer TuB-Gewerkschaften habe man gegen den drohenden Abbruch der Verhandlungen über ein neues Welttextilabkommen in Brüssel protestiert. Wo Betriebs-einschränkungen und -Schließungen nicht verhindert werden konnten, habe die Gewerkschaft für die betroffenen Beschäftigten durch den Abschluß von Sozialplänen Beträge in Millionenhöhe herausgeholt (a. a. O., S. 13 ff.).

Vorausschauende Strukturpolitik:

Der vom DGB-Kongreß 1978 gebilligte Leitantrag zur Wirtschaftspolitik enthält ein Maß-nahmebündel, das von gezielter Wachstums-förderung mit beschäftigungssichernder Finanzpolitik über Verkürzung der Lebensarbeitszeit und sozial kontrollierte Produktivitätsentwicklung, die einen umfassenden Schutz der Arbeitnehmer vor unsozialen Folgen des technischen Wandels bieten soll, bis zur sturkturpolitischen Einflußnahme mit Strukturentwicklungsanalysen und -entwicklungsplänen reicht:

„Durch eine vorausschauende Strukturpolitik müssen künftige Veränderungen der in-und ausländischen Nachfrageströme sowie der Wandel der wirtschaftlichen, technischen und organisatorischen Produktionsbedingungen transparenter als bisher gemacht werden.

Strukturelle Beschäftigungsungleichgewichte in einzelnen Branchen, Regionen und für bestimmte Bevölkerungsgruppen müssen rechtzeitig erkannt werden, damit ihnen beschäftigungspolitisch vorgebeugt werden kann. Der Gesamterfolg der Strukturpolitik muß an der Zahl und Qualität der Arbeitsplätze orientiert werden." (Vorschläge des DGB zur Wieder-herstellung der Vollbeschäftigung, Düsseldorf 1977, S. 9.)

Auswertungsaspekte:

Die Lageanalyse enthält die große Sorge um die Arbeitsplätze in der langfristigen strukturellen Umstellungskrise, die auf Importdruck sowie auf technischen Wandel zurückzuführen ist und durch konjunkturelle Schwächen verstärkt wird. Die Ziele der Einzelgewerkschaft und des DGB sind auf die Besserung der Beschäftigungslage konzentriert. Das darauf ausgerichtete Maßnahmenbündel umfaßt die solidarische Selbsthilfe durch Sozialpläne und das ganze Spektrum der Konjunktur-und Strukturpolitik mit drei besonderen Akzenten: — Absicherung gegen zu starken Import-druck; — Absicherung gegen unsoziale Folge des technischen Wandels;

— vorausschauende Strukturpolitik durch planvolle politische Steuerung des Struktur-wandels im Interesse der Beschäftigten.

Situation und Interessen der Textil-und Bekleidungsunternehmen Als Ergänzung zur Veranschaulichung der Situation genügen in der Infothek einige Kurzberichte über Kurzarbeit und Konkurse. Noch weniger bekannt sind für die Lernenden Formen der Selbsthilfe einzelner Unternehmen und zusammenfassende Branchenstandpunkte.

Als zusätzliche Hintergrundinformation für Arbeitnehmer-und Unternehmerinteressen ist das Heft 175 der Informationen zur politischen Bildung „Wirtschaft 2 — Arbeitnehmer und Betrieb“ der Bundeszentrale für politische Bildung zu nennen.

Pressemeldungen (Uberschrilten):

Nino AG drosselt die Kapazitäten — Zweite Schrumpfwelle buntgewebter Bettwäsche — Ein Anzughersteller weniger — Der langsame Tod aller Textilunternehmen — Nur Mode macht Umsätze — Zell-Schönau legt 300 Webstühle still.

Textilperle in neuem Glanz:

„Daß die deutsche Textilindustrie keine sterbende Branche ist, beweisen Jahr für Jahr die stolzen Erfolge der Girmes-Werke AG, Oedt bei Krefeld, des mit den modernsten Maschinen arbeitenden Textilunternehmens. Es erzielte gute Zuwachsraten beim Verkauf von Teppichböden, Möbelstoffen und Dekosamt (Heimtextilien) sowie bei Samt und Cord für Bekleidung. Interessant ist, daß Girmes heute trotz starker Ausweitung der Produktion fast die gleiche Belegschaftszahl von rund 3 500 hat wie vor 40 Jahren.“ (6. 7. 1977 und 8. 7. 1978)

Hoher Exportanteil bei Gütermann-Nähiaden: „Der Export erreicht gegenwärtig rund 40% das Umsatzes. Die Auslandsunternehmen, wie z. B. in Lateinamerika und Spanien, sind ent-standen, um hohe Handelsschranken zu überwinden. — In der Revolution durch den synthetischen Nähfaden hatte Gütermann eine Schrittmacherfunktion. Die schnelle Weiterentwicklung durch Rationalisierungsinvestitionen hat zum Abbau der Beschäftigten von 3 500 auf 3 000 geführt.“ (18. 8. 1977)

Hemden-Absatz floriert:

„Seidensticker GmbH, Bielefeld, steigerte den Umsatz bei befriedigender Ertragsvorlage um 27 °/o. Die Geschäftsführung führt die günstige Entwicklung nicht zuletzt auf konsumnahe Preise für die Seidensticker Markenartikel zurück. Vom gesamten Produktionswert der Gruppe wird 4O°/o von den eigenen Betrieben erbracht, 40 °/o als Fertigware importiert und 20 % von in-und ausländischen Zwischenmeistern gefertigt. Seidensticker sprach sich für eine liberale Importpolitik aus und warnte vor Restriktionen. Die Möglichkeiten, sich in den Importstrom einzugliedern, seien viel größer als die Gefahren.“ (18. 8. 1977 und 1. 7. 1978)

Wie lange kann unsere Textil-Industrie gegen Subventionen konkurrieren?:

„Die Bundesrepublik muß als bedeutendes Ex-portland Waren aus anderen Ländern kaufen. Die Import-Quote darf aber nicht einseitig zu Lasten der Textil-Industrie gehen. Derartige Opfer sind für die Textilindustrie nicht tragbar. Denn: Die durch Staats-Zuschüsse künstlich heruntermanipulierten Preise gefährden unsere Industrie und ihre Arbeitsplätze. Um nicht mißverstanden zu werden: Die deutsche Textil-Industrie verlangt keine Abriegelung der Bundesrepublik gegen Textil-Importe. Sie hält es aber nicht für zumutbar, gegen subventionierte Preise ankämpfen zu müssen. Freie Marktwirtschaft bedeutet Wettbewerbs-gleichheit für alle. Unsere Textil-Industrie ist in der Lage, gegen die ganze Welt zu konkurrieren. Gegen Staats-Zuschüsse und politische Preise konkurrieren kann sie auf die Dauer nicht.“ (Textilverband Westfalen in der Broschüre „Textil-Industrie heute — Probleme und Antworten", Münster 1977)

Hohe Tarifabschlüsse sichern keine Arbeitsplätze: „Bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage der Textilindustrie sind die Lohnerhöhungen der letzten Jahre so beträchtlich, daß die Textilindustrie konsequent durch Rationalisierung diese weiteren Kosten einsparen muß. Preiserhöhungen zum Ausgleich erlaubt der Markt nicht. Zwischen Lohnhöhe und Sicherung von Arbeitsplätzen besteht ein enger Zusammenhang, überhöhte Lohnsteigerungen nutzen den Arbeitnehmern wenig, weil ihre Arbeitsplätze gefährdet werden.“ (Textilverband Westfalen a. a. O.) Wer lenkt, der teilt auch zu:

„Der Staat, der Investitionen sanktioniert, anregt oder gar erzwingt, muß dann auch für alle Folgen geradestehen, die sein Eingriff verursacht ... Wer die Investitionen dirigiert, muß die Produktion vorherbestimmen, muß den Konsum lenken, muß aber auch den Ex-und Import kontrollieren... Am Ende steht die staatliche ZentralverwaltungsWirtschaft." (Ausschuß für Information und Öffentlichkeit der niederrheinischen Textilindustrie e. V., [Hrsg. ], „Kompass 5“, Mönchengladbach 1976, S. 9)

Auswertungsaspekte:

Die Lageanalyse ergibt als Form des Struktur-wandels im Textilsektor einen Rückgang der Zahl der Betriebe und der Beschäftigten, während die Ausstattung mit modernen Maschinen zunimmt (Faktorsubstitution: verminderte Arbeitsintensität, erhöhte Kapitalintensität). Teilweise sind Produktionsstätten im Ausland errichtet worden.

Als Ursachen, die zur Umstellung zwingen, werden vor allem Billigimporte durch . geringere Produktionskosten (z. B. niedrige Löhne), aber auch durch staatliche Zuschüsse angeführt. Hinzuzufügen ist die hier aus Gründen der Überschaubarkeit vernachlässigte Veränderung der Währungsrelationen, durch die deutsche Importeure in fast allen Ländern der Welt preisgünstiger einkaufen können. Daneben wird die Entwicklung der Lohnkosten in der Bundesrepublik angeführt. — Auf den Absatzmärkten registrieren die Unternehmer bei teilweiser Sättigung des Grundbedarfs der Verbraucher eine verstärkte Nachfrage nach höherer Qualität und nach Spezialitäten (z. B. Freizeitkleidung, Heimtextilien).

Hauptwirkungen:

Erhöhte Arbeitsproduktivität vor allem der auf Massenproduktion eingestellten Textilindustrie; der Zug zu höherer Qualität und Spe-zialitäten-Fertigung mit Umsatzerfolgen im In-und Ausland; die Arbeitsplatzverluste und die nicht allgemein befriedigende Ertragslage des Wirtschaftszweiges, die durch Wettbewerbsverzerrungen mancher Exportländer zu erneuter Existenzgefahr für die deutsche Textilindustrie werden kann. — Die Fähigkeit, neue Arbeitsplätze zu schaffen, ist in den exportintensiven Wirtschaftszweigen aus ähnlichen Gründen und durch weltweite konjunkturelle Schwächen begrenzt.

Als Ziel der Textil-und Bekleidungsindustrie ist ein Wettbewerb unter gleichen Startbedin-B gungen anzusehen, der die Chance, Leistungsgewinne zu erzielen, bewahrt.

Dem entsprechen folgende Maßnahmen: Selbsthilfe durch weitere Rationalisierung und durch Anpassung an sich ändernde Daten auf den Beschaffungs-und Absatzmärkten, Staatshilfe durch Abwehr nicht leistungsgebundener Importkonkurrenz unter Berufung auf das Welttextilabkommen und Erhaltung einer hinreichenden Binnenproduktion sowie Förderung der Forschung und der Anwendung neuer Technologien in der Textil-und Bekleidungsindustrie, aber Ablehnung einer Strukturpolitik mit staatlicher Investitionslenkung. 2. Mögliche und tatsächliche politische Entscheidungen zum Strukturwandel durch Außenhandel Die Gegenüberstellung der Interessenstandpunkte durch „Rede" und „Gegenrede“ im Rollenspiel mit einer Zusammenfassung der Zwischenergebnisse bei der Beurteilung der Lage, der Wahl der Ziele und der Maßnahmen hat die Gemeinsamkeiten und vor allem die Unterschiede deutlich gemacht. Nun muß der demokratische Entscheidungsprozeß verdeutlicht werden. Dazu wären die Einbeziehung der Interessen anderer Wirtschaftssektoren (z. B.des Handels und der exportintensiven Wirtschaftszweige) und die Haltung der Parteien darzustellen. Das ist hier aus Platzmangel nicht realisierbar und wäre auch in der Schule in diesem Zusammenhang zu umfangreich. Entsprechende Hinweise müssen genügen, wodurch Grenzen des Bemühens um Praxisbezug erkennbar werden.

Es ist möglich, in der Klasse eine Meinungsbildung und Entscheidung durch simulierte Parlamentsdebatte und Abstimmung durchzuführen, um so zu zeigen, daß es in dem Konflikt keine errechenbare Bestlösung gibt. Dazu sind Anträge zu formulieren, die einen Kompromiß zwischen den unterschiedlichen Interessen darstellen oder sich ganz auf die Meinung der einen oder anderen Gruppe stützen. Das Lernziel hierzu lautet: Der Lernende kann wirtschaftspolitische Ziele aufstellen und ihre angestrebte Verwirklichung mit Hilfe von Maßnahmen unter Bezug auf die Lageanalyse erklären. Er kann argumentativ für seine (Kom-promiß-) Konzeption eintreten und in Solidarität mit anderen die Mehrheit zu gewinnen versuchen. Der Lehrende hat hierbei nur eine beratende Funktion. Er hält sich mit seiner persönlichen Meinung zurück, um die Meinungsbildung in der Klasse nicht zu beeinflussen. Nach abgeschlossener Meinungsbildung kann in einer dritten oder vierten Doppelstunde von Schülern, die eine entsprechende Hausaufgabe übernommen haben, an Hand von Informationen, die in der Infothek anfangs nicht zur Verfügung standen, über die Grundzüge der staatlichen Strukturpolitik unter besonderer Berücksichtigung der Außenwirtschaftspolitik berichtet werden. Der Katalog von Zielen und Maßnahmen der Bundesregierung und der EG wird jeweils zur Debatte gestellt und immer wieder auf das Beispiel der Textil-und Bekleidungsindustrie bezogen.

Staatssekretär Klaus Bölling antwortet: Der Text der umstrittenen Anzeige stehe nicht im Widerspruch zu politischen Aussagen der Bundesregierung. Die großen Anstrengungen und Erfolge der Textil-und Bekleidungsindustrie zur Bewältigung des importbedingten strukturellen Anpassungsprozesses würden nicht übersehen. Die Anzeige sei vielmehr Teil einer Serie gewesen, die sich mit wichtigen innenpolitischen Problemfeldern beschäftigt habe, deren Lösung entscheidend von außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig sei. Dazu gehöre auch die Anpassung einzelner Wirtschaftszweige an die veränderten internationalen Wettbewerbsverhältnisse. Eine Alternative für solche Anpassungsprozesse gäbe es nicht. Denn wenn ein Land, in dem jeder vierte Arbeitsplatz vom Export lebe, seine Grenzen gegenüber den Einfuhren aus anderen Ländern verschließe, werde es bald nicht mehr exportieren können und sich selbst Schaden zufügen (Bericht im Handelsblatt, a. a. O.)

Leitlinien der Strukturpolitik der Bundesregierung Der Bundesminister für Wirtschaft, Graf Lambsdorff, hat zur Einbringung des Jahreswirtschaftsberichts am 23. 2. 1978 im Bundestag u. a. erklärt:

„Die Bundesregierung wird weiterhin konsequent an einer nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen orientierten Strukturpolitik festhalten ... Der Staat kann den Anpassungsprozeß (der Unternehmen) nur flankieren. Massive staatliche Eingriffe zugunsten einzelner Branchen müßten zwangsläufig eine Kettenreaktion von Eingriffen in anderen Bereichen auslösen. Sie enthielten den Keim der Auflösung unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung, die auf dezentralen Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte aufgebaut ist und sie führten ... am Ende keineswegs zu besseren Resultaten als wir sie trotz aller Unvollkommenheit bisher erreicht haben.

Was der Staat aber kann und muß, ist, dazu beizutragen, 1. durch einen zukunftsorientierten und umweltfreundlichen Ausbau der Infrastruktur die Voraussetzungen für mehr arbeitsplatzschaffende Investitionen zu verbessern; 2. in der Wirtschaft die Entwicklung und Anwendung marktorientierter Neuerungen zu erleichtern; 3. die Mobilität von Arbeit und Kapital zu verbessern und — soweit notwendig und gesamtwirtschaftlich vertretbar — Anpassungsprozesse durch flankierende Maßnahmen zu unterstützen;

4. dafür die nötige Transparenz der Struktur-prozesse zu verbessern."

Für eine solche Politik stehen der Bundesregierung (auf die Abgrenzung gegenüber Maßnahmen der Bundesländer kann hier nicht eingegangen werden) und — soweit zuständig — der Europäischen Gemeinschaft drei Möglichkeiten zur Verfügung: — Erhaltungsmaßnahmen, die nur in Ausnahmefällen, z. B. zur Sicherung der Energie-versorgung (Verstromungsgesetz zugunsten der deutschen Steinkohle) oder bei gravierenden Marktstörungen (Marktzerrüttungsprinzip), z. B. durch Dumpingimporte, eingesetzt werden;

— Anpassungsmaßnahmen, die bevorzugt zur Erleichterung der Umstellung auf neue (umweltfreundliche) Technologien oder in selteneren Fällen zum befristeten Anpassungsschutz vor Importen ergriffen werden; — Gestaltungsmaßnahmen, die zur Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen, z. B. durch Ausbau der Infrastruktur mit besseren Nahverkehrsmitteln, Fernwärmenetzen u. ä. dienen.

Maßnahmen dieser Art müssen im Zusammenhang mit allgemeinen konjunkturpolitischen Maßnahmen, z. B.der Kredit-und Finanzpolitik zur Verbesserung der Beschäftigungslage, gesehen werden. Letztere können Umstellungsprozesse sehr erleichtern.

Die Beschäftigten und die Unternehmer der TuB können also nicht auf einen absoluten Erhaltungsschutz rechnen. Aber ein partieller Schutz ist möglich, soweit Billigimporte die Existenz vieler Betriebe gefährden. Daneben kann auf befristeten Anpassungsschutz gedrängt und spezielle Hilfe zur Erleichterung der Umstellung erbeten werden. Da die Umstellung bei Rationalisierungsmaßnahmen vielfach zum Beschäftigungsproblem wird, können Rationalisierungsabkommen der Tarifparteien sozialen Schutz bieten. Aber hier muß der Staat an Hand seiner durch die Strukturberichterstattung verbesserten Transparenz ergänzend mit Gestaltungsmaßnahmen eingreifen: regionale Förderungsprogramme durch Ausbau der Infrastruktur und Gewährung von Subventionen für Ansiedlung neuer oder Ausweitung vorhandener Industriebetriebe. Auch die Technologiepolitik (Förderung von Forschung und Entwicklung nicht nur in Großunternehmen) gehört hierzu.

Die Europäische Gemeinschaft (EG) und das Welttextilabkommen (WTA)

Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft hat der 1968 abgeschlossene Abbau der Binnenzölle zu einer starken Intensivierung des Handels geführt. Der gemeinsame Außenzoll war in den sechziger Jahren in mehreren Etappen durch weltweite Vereinbarungen des Allgemeinen Zoll-und Handelsabkommens (GATT)

durchschnittlich um ein Drittel gesenkt worden. Seitdem sind aber neue Tendenzen zum Schutz heimischer Produktion vor den zunehmenden Importen vor allem aus Entwicklungsländern erkennbar geworden.

1973 wurde im Rahmen des GATT ein multilaterales Allfaserabkommen, das WTA, abgeschlossen. Es erlaubt, die Einfuhr von Drittlandserzeugnissen, die Marktstörungen hervorrufen, auf eine bestimmte Höhe zu begrenzen. Auf dieser Grundlage wurden zahlreiche bilaterale Abkommen zwischen Textilexportländern und der EG geschlossen (Selbstbeschränkungsabkommen). Aber für ihre Einhaltung fehlte eine entsprechende Kontrolle.

Die Importe stiegen sprunghaft (von 1973 bis 1977 jährlich im Durchschnitt um 22°/o). Es kamen immer mehr Länder hinzu, die besonders auf dem deutschen Markt Absatz suchten.

In dieser Situation drangen die Verbände der TuB, vor allem in Frankreich, auf verstärkten Schutz, am liebsten nach dem Muster der Agrar-Marktordnungen. Aber die Kommission der Europäischen Gemeinschaften trat gleichzeitig in eine noch laufende Verhandlungsrunde des GATT ein (Tokio-Runde). Sie sollte zu einer weltweiten Harmonisierung der Zölle auf niedrigerem Niveau führen und keine Ausweitung der GATT-Regeln für Schutzklauseln zulassen. Deshalb ist der Kompromiß, der als Ergebnis langer internationaler Verhandlungen gefunden wurde, vom Ministerrat der EG gebilligt und sowohl von der deutschen Regierung als auch von Gewerkschaften und Unternehmen der TuB begrüßt worden.

Der Vertragstext des von 42 Ländern unterzeichneten WTA gilt für weitere vier Jahre, also bis 1981. Zusätzlich wurden mit insgesamt 30 Ländern bis 1983 gültige Sonderregelungen getroffen über Textileinfuhr-Genehmigungen und Höchstmengen (Selbstbeschränkungen). Die Sonderregelungen beinhalten geringere Importzuwachsraten für den euro-B päischen Markt als das alte Abkommen. Die Einhaltung soll durch ein Kontrollsystem sichergestellt werden.

Die Bundesrepublik, die bisher größter Importeur von Textilien aus Drittländern war, erhält im Rahmen eines Lastenausgleichssystems geringere Importzuwachsraten als die anderen EG-Länder. Ein Importstopp gegenüber einzelnen Ländern ist nicht möglich, da er gegen die GATT-Prinzipien (keine Diskriminierungen) verstößt und sofort Vergeltungsmaßnahmen gegen deutsche Exporte zur Folge hätte.

Zur Textilindustriepolitik in Entwicklungsländern Das WTA und die von der EG mit zahlreichen Entwicklungsländern getroffenen Sonderregelungen sollen u. a. davon abhalten, empfindliche und sozial bedenkliche Monostrukturen aufzubauen, deren einseitige Abhängigkeit von den Märkten in den Industrieländern immer wieder zur offenen oder versteckten Subventionierung ihrer Textilimporte verleitet. Extrem hohe Einfuhrsteigerungen aus wenigen lieferstarken Niedrigpreisländern wurden abgebremst. „Beim Entwicklungsprozeß in der Dritten Welt ist zu unterscheiden zwischen entwicklungsfördernden Industrien, die mit der Wirtschaftsfähigkeit und -entwicklung des Landes in Einklang stehen, und zwischen den im Verhältnis zum Aufnahmeland exogenen Industrien, die ausschließlich für die Ausfuhr nach den Industriemärkten produzieren und auf oft schockierenden anomalen Lohnbedingungen und sozialen Verhältnissen basieren, die den internationalen Normen nicht entsprechen. Die Gemeinschaft kann die Entwicklung derartiger Industrien nicht mehr unterstützen, sondern muß zu der echten entwicklungsfördernden Industrialisierung beitragen. Für die. Textilindustriepolitik auf europäischer Ebene bedeutet dies u. a.: Verlagerung bestimmter Produktionen oder Verarbeitungen in die dritte Welt und Berücksichtigung und Hinnahme eines gewissen Wachtums der Produktionen der Drittländer zu Bedingungen, die effektiv zu ihrer Entwicklung beitragen. Die außenwirtschaftlichen Maßnahmen (Subventionen für die Ausfuhr von Fabriken und für Industrieinvestitionen) und die innergemeinschaftlichen Aktionen (Ausbildungs-, Umstel-lungs-, Umstrukturierungsbeihilfen) müssen genau aufeinander abgestimmt werden.“ (C. Cheysson, Mitglied der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, am 27. 10. 1977 in Roubaix). 3. Die Kette der Probleme reißt nicht ab Die Auswertung der Texte zu den politischen Entscheidungen kann analog zur schon beschriebenen Arbeitsweise in der Klasse erfolgen. Wenn dabei aufmerksame Schüler dieser nach Harmonie klingenden Darstellung der Maßnahmen auf Bundes-und EG-Ebene entgegenhalten, daß wieder einmal die Bürokratie durch einen zusätzlichen Kontrollapparat aufgebläht wird und das Problem der Schaiiung neuer Arbeitsplätze für entlassene Arbeitskräfte noch keineswegs gelöst ist, dann hat der Lehrer Gelegenheit, Probleme der strukturellen Arbeitslosigkeit und das Bürokratieproblem zu einem der nächsten sozialwissenschaftlich integrierten Themen zu machen. Darüber hinaus sind Meldungen wie „Athen sucht einen Ausweg aus der Textilexport-Klemme. Gegenmaßnahmen gegen EG-Restriktionen gefordert" (23. 8. 1978) oder „Bonn zum Schmuggel koreanischer Hemden und tschechischer Hosen. Mißbräuchlicher Bezug von Textilien aus der DDR" (8. 9. 1978) geeignet, das Erlernte auf die Beurteilung der Weiterentwicklung des keineswegs endgültig gelösten Problems der sektoralen Strukturpolitik im Bereich der Textil-und Bekleidungsindustrie anzuwenden.

Ob und inwieweit die Schüler durch die Arbeit mit diesem Curriculum-Baustein eine hinreichende Kompetenz in Grundfragen des Strukturwandels und der Strukturpolitik erlangt haben, könnte die systematische Arbeit mit einem Lehrbuch und die analoge Anwendung der Arbeit mit Fallstudien auf genannte oder andere Beispiele wie Agrarwirtschaft, Energie-wirtschaftlich u. ä. zeigen. Aber dafür braucht der Lehrer im Schulalltag Hilfe durch weitere Curriculum-Bausteine, Fallstudien u. a., denn in „Heimarbeit" kann er solche Vorbereitung nur in Ausnahmefällen bewältigen. Die oft geforderte Verbesserung der Kooperation zwischen Hochschule und Schule hat hier ein weites Betätigungsfeld. Ansätze dafür sind vorhanden. 4. Literaturhinweise H. Adam, Brauchen wir eine neue Wirtschaftspolitik? Köln 1977.

H. Berg, Internationale Wirtschaftspolitik, UTB 563.

F. W. Dörge, Curriculum-Bausteine zur Wirtschaftslehre, in: Gegenwartskunde-Zeitschrift für Gesellschaft, Wirtschaft, Politik; Heft 1/78: Sparen — Eine Tugend, Heft 2/78: Preisempfehlung — marktkonform?, Heft 3/78: Mehr Lebensqualität durch Änderungen im Ernährungsverhalten?, Heft 4/78: Besseres Waren-angebot durch Warentests?

F. -W. Dörge, Wirtschaft im Wandel — Struktur, Prozeß, Politik, Frankfurt 1978.

F. -W. Dörge, H. Steffens (Hrsg.), Fallstudien zur Verbraucherbildung, Heft 1— 4, Ravensburg 1974— 77.

H. F. Eckey, Strukturorientierte Konjunktur-politik, Köln 1978.

P. W. Fischer, Strukturpolitik soll Arbeitsplätze sichern, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5/77, S. 5— 17.

H. Friedrich, Globalsteuerung, Wettbewerbs-politik und Investitionspolitik, München 1978. V. Hauff, F. W. Scharpf, Modernisierung der Volkswirtschaft — Technologiepolitik als Strukturpolitik, Frankfurt 1975.

H. Heidermann (Hrsg.), Wirtschaftsstruktur und Beschäftigung, Bonn 1976.

F. J. Kaiser (Hrsg.), Die Stellung der Ökonomie im Spannungsfeld sozialwissenschaftlicher Disziplinen, Bad Heilbrunn 1978.

H. Kohn, F. Latzeisberger, Steuerprobleme in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 18/77.

R. Mauer, Technischer Fortschritt und Wachstumsprobleme der Textilindustrie, Opladen 1973.

J. H. Müller, Regionale Strukturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1973.

W. Neugebauer, „Wirtschaft", Bd. 1: Unterricht in Wirtschaftslehre, Bd. 2 Curriculumentwicklung für Wirtschafts-und Arbeitslehre, München 1976/77.

H. -R. Peters, Grundzüge sektoraler Wirtschaftspolitik, Bern 19752.

R. Schörken (Hrsg.), Curriculum „Politik" — Von der Curriculumtheorie zur Unterrichts-praxis, Opladen 1974.

G. Voss, Sektorale Strukturpolitik — Anspruch und Praxis, Köln 1977.

W. Wunden, Die Textilindustrie der Bundesrepublik Deutschland im Strukturwandel, Ba-sel/Tübingen 1969.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Friedrich-Wilhelm Dörge, Dipl. -Volkswirt, geb. 1921 in Haldensleben; Studium der Volkswirtschaft an der Universität Hamburg; Leiter einer Forschungsgruppe für Wirtschaftspädagogik und politische Bildung an der Hochschule für Wirtschaft und Politik, Hamburg (bis 1971); Professor für Wirtschaftswissenschaft und Didaktik der Wirtschaftslehre an der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe, Abteilung Bielefeld, sowie an der Universität Bielefeld; Mitglied des Verbraucherbeirats beim Bundesminister für Wirtschaft. Veröffentlichungen u. a.: Wirtschaftsund Sozialpolitik — Modellanalysen politischer Probleme (Hrsg, zusammen mit H. -D. Ortlieb), Opladen 1 9694; Wirtschaftsordnung und Strukturpolitik — Lehrbuch zur Wirtschaftspolitik (Hrsg, zusammen mit H. -D. Ortlieb), Opladen 19702; Qualität des Lebens — Ziele und Konflikte sozialer Reformpolitik didaktisch aufbereitet, Opladen 1973; Fallstudien zur Verbraucherbildung (Hrsg, zusammen mit H. Steffens), Ravensburg 1974— 77; Wirtschaft im Wandel — Struktur, Prozeß, Politik, Frankfurt/Berlin/München 1978; Curriculum-Bausteine zur Wirtschaftslehre, in: Gegenwartskunde — Zeitschrift für Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Bildung, Heft 1— 4, 1978.