Die KPdSU war und ist bestrebt, sich als Partei ohne Alternative zu präsentieren. Sowjetische Kommunisten brüsten sich geradezu damit, daß in der UdSSR seit 1922 keine Opposition mehr existiert Kritik am Kurs der Partei ist unerwünscht und wird oft sogar als Vergehen geahndet. Um so mehr mußte es überraschen, daß sich seit den 60er Jahren in der Sowjetunion Nonkonformisten, Regimekritiker und Rebellen zu Wort meldeten, die Mißstände ihres Landes anprangerten. Man hat diese oppositionellen Kräfte als „Dissidenten" bezeichnet, ein Ausdruck, der zwar nicht sonderlich glücklich gewählt ist, der sich aber inzwischen im Deutschen eingebürgert hat. Im Westen ist eine Vielzahl von Verlautbarungen bekannt, die aus der Feder von Dissidenten stammen und die in der Sowjetunion in Form von Vervielfältigungen kursieren. In der vorliegenden Arbeit wurden insbesondere solche Texte ausgewertet, die programmatische Bedeutung haben. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, die Arbeiten von Roj Medwedjew, A. Sacharow und A. Solschenizyn ausführlicher zu behandeln. Seit 1972 bedrängen die sowjetischen Behörden die Dissidenten immer stärker. Sie inhaftierten viele Regimekritiker, ließen einige ausreisen, wiesen andere aus dem Land. Angesichts der wachsenden Repressalien konzentrierten sich die Dissidenten wieder stärker auf das gemeinsame Anliegen: den Schutz der Menschenrechte. Seit Mai 1976 bildeten sich Helsinki-Komitees, die alle Verstöße gegen den Geist und Buchstaben der KSZE-Schlußakte registrierten. Noch vor dem Amtsantritt des amerikanischen Präsidenten Carter dürfte in der sowjetischen Führungsspitze die Entscheidung gefallen sein, den Spielraum der Dissidenten einzuengen. Man kann dennoch davon ausgehen, daß das kritische Denken in der Sowjetunion nicht mehr völlig erlöschen wird.
I. Opposition ist unerwünscht
Opposition und Dissens hat es in der Sowjetunion immer gegeben. Ende der zwanziger Jahre verschwanden zwar die oppositionellen Strömungen im Untergrund, wurden aber immer wieder stellen-oder sogar streckenweise sichtbar, bis zum heutigen Tag.
Kritik wird auch in den Demokratien von den Attackierten wenig geschätzt, und zwar um so weniger, je berechtigter und massiver sie ist. Was die KPdSU jedoch von demokratischen Parteien unterscheidet, ist die Zwangsvorstellung von der größtmöglichen Einmütigkeit in ihren Reihen und im ganzen Land. Das findet seine Erklärung zunächst und vor allem in der anspruchsvollen Ideologie der Kommunisten, die von der Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung zum kommunistischen Endstadium ausgeht. Das Programm einer demokratischen Partei, die jederzeit die Macht verlieren kann, bleibt relativ. Das Programm der sowjetischen Kommunisten ist absolut.
Die KPdSU gibt vor, als einzige politische Kraft im Land die kürzeste und effektivste Route zu dem vorgegebenen Ziel zu kennen. Nach ihren Vorstellungen sollten Führer und Geführte in geschlossenen Formationen und in wachsendem Gleichklang dem Kommunismus entgegenmarschieren. Die sowjetischen Führer sind geradezu stolz darauf, sich bereits im äußeren Erscheinungsbild vorteilhaft von den Parteien der demokratischen Staatenwelt abzuheben, die in ihren Augen teils korrupte Interessengruppen, teils marodierende Haufen zu sein scheinen
Im Unterbewußtsein aber dürften sich die sowjetischen Politiker ihrer Bevölkerung kaum sicher sein. Wären die Bolschewiki 1917 aus den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung als stärkste Partei hervorgegangen, hätten sie souveräner auftreten und sich eher den Luxus freier Wahlen leisten können. Sie erhielten jedoch nur ein Viertel aller abgegebenen Stimmen
Auch später mußten die sowjetischen Politiker noch mehrfach erfahren, daß ihre Politik nicht nur Zustimmung fand. Es ist bekannt, daß Stalin weder seinem Volk noch seiner Partei noch seinen engsten Mitarbeitern über den Weg traute. Der großen Säuberung in den dreißiger Jahren lag geradezu der Verdacht zugrunde, daß sich die verschiedensten Gruppierungen gegen die Parteiführung verschworen hätten. Natürlich entsprangen diese Befürchtungen dem kranken Hirn Stalins, aber sie zeugten auch davon, wie wenig sich die Parteiführung mit der Bevölkerung einig wußte. * Bis zum heutigen Tag wird die Fiktion der Interessengleichheit zwischen Partei und Bevölkerung aufrechterhalten. Bei den Wahlen zum Unionssowjet im Juni 1974 sollen beispielsweise 99, 79 Prozent aller Wähler für den „Block der Kommunisten und Parteilosen" gestimmt haben. Ein solches Resultat ist weniger ein Beweis der allgemeinen Zufriedenheit mit der politischen Führung als vielmehr ein Hinweis auf den hohen Grad der Zustimmung, den die KPdSU glaubt nötig zu haben, um ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Es wäre allerdings auch vermessen, wollte man in der Sowjetunion eine breite oppositionelle Unterströmung vermuten. Die Unzufriedenheit mit vielen Erscheinungen des sowjetischen Alltags ist sicher groß, der Hang und noch mehr der Zwang zum Konformismus sind größer.
II. Der lange Marsch der Dissidenten durch Gerichte, Lager und Anstalten
Ausgangspunkt der sowjetischen Gegenwart ist der Stalinismus. Gleichgültig, ob man in der Kunst neue Wege gehen wollte, ob man das Rahmenwerk von Partei und Staat modernisieren wollte, immer war man mit den vom Stalinismus gesetzten Normen konfrontiert.
Die Sowjetunion in ihrer heutigen Uniformität ist mehr durch den Despotismus Stalins als durch die Autorität Lenins geprägt worden. Es war auch nicht der Tod Stalins, sondern die Anti-Stalin-Rede Chruschtschows von 1956, die allmählich den Bann löste, der lähmend über der Sowjetunion und dem Weltkommunismus gelegen hatte. Und auch jetzt wagten nur wenige sensible oder zum Nonkonformismus prädisponierte Geister, gegen den Strom zu schwimmen. Selbst die Kommunisten Italiens und Frankreichs, die sich in einer erheblich günstigeren Lage befanden als die Sowjetbürger, brauchten viele Jahre, um sich aus der stalinistischen Prägeform zu lösen. Ob diese Emanzipation heute, ein Viertel-jahrhundert nach Stalins Tod, voll gelungen ist, kann sogar noch bezweifelt werden.
In der nachstalinistischen Periode der Sowjetunion rührten sich zwischen 1956 und 1964 die ersten Nonkonformisten. Man hat diese frühe Welle kritischen Denkens eine „Kultur-Opposition" oder eine „politische Gegen-kultur" genannt. Nach den polnischen Unruhen und der ungarischen Revolte im Jahr 1956 sollen allein in Leningrad 2 000 Studenten gemaßregelt worden sein In dieser frühen Phase des Nonkonformismus bildeten sich die ersten Zirkel von Gesinnungsgenossen, wurden die ersten Untergrundzeitschriften herausgebracht. 1957 erschien in Italien der Roman „Doktor Schiwago" von B. Pasternak; 1962 konnte sogar A. Solschenizyns Novelle 3 „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ die Zensur passieren.
Chruschtschow hatte in der ihm eigenen Impulsivität den Stalin-Mythos zerstört und damit in der kritischen Intelligenz die Hoffnung auf Freiheit geweckt. Zum Schluß seiner Herrschaft allerdings wurde versucht, das Rad, das er in Bewegung gesetzt hatte, wieder anzuhalten oder sogar zurüdezudrehen. Nach dem Sturz Chruschtschows schließlich wurden einige der Reformversuche zurückgenommen. Ein neues Kapitel oppositionellen Denkens begann Binnen kurzem traten in der Sowjetunion Reformkommunisten, Nonkonformisten und Regimekritiker auf. Sie verbreiteten ihre Ansichten im „Samisdat" wandten sich an die westliche Welt und kritisierten die KPdSU mit erstaunlicher Couragiertheit.
Ein Novum für die jüngere Sowjetgeschichte war es, daß sich diese Oppositionellen, die man im Deutschen nach anglo-amerikanischem Vorbild (dissenter, dissident) meistens als Dissidenten bezeichnet, in aller Offenheit zu ihrer Kritik bekannten. Das hatte es seit Ende der zwanziger Jahre in der Sowjetunion nicht mehr gegeben. Von Bedeutung sollte weiter sein, daß zum Kreis oder doch zum Umfeld der Dissidenten Intellektuelle und Künstler von Niveau gehörten.
Es wäre sicher zu einseitig, wollte man in Chruschtschow den Eisbrecher und in Bresh-new sowie Kossygin Kräfte einer neostalinistischen Restauration sehen. Ginzburg und Galanskow waren schon unter Chruschtschow in Lager geschickt, Grigorenko und Bukowskij in psychiatrische Anstalten eingewiesen worden. Unter Chruschtschow schließlich sind die Gläubigen härter bedrängt worden als unter seinem Nachfolger.
Im literarischen Bereich und im Rechtswesen allerdings verschlechterte sich die Situation nach 1964 eindeutig. Dennoch ist es eine Tatsache, daß die Dissidenten erst unter Breshnew einen größeren Bewegungsraum erringen konnten. Die Erben Chruschtschows hatten natürlich keine Sympathie für die ungebetenen Kritiker von unten. Wenn sie den Oppositionellen nicht sofort das Handwerk legten, dann nicht, weil sie liberaler oder nachsichtiger waren, sondern weil sie unentschlossen, vielleicht sogar untereinander un-eins waren.
Unmittelbarer Anlaß für die Entstehung des Dissidententums im russischsprachigen Teil der UdSSR war die Verhaftung von Sinjawskij und Daniel im September 1965. Den beiden Schriftstellern wurde vorgeworfen, ihre Schriften unter Decknamen im westlichen Ausland publiziert zu haben. Am 5. Dezember 1965, dem Tag der sowjetischen Verfassung, forderte eine kleine Gruppe von Demonstranten auf dem Puschkin-Platz in Moskau die öffentliche Verhandlung des Prozesses gegen die inhaftierten Literaten Beide wurden im Februar 1966 zu sieben bzw. fünf Jahren Arbeitslager unter verschärften Bedingungen verurteilt. Die Angeklagten hatten sich für nicht schuldig erklärt. Diese Unerschrockenheit vor einem sowjetischen Gericht sowie die Tatsache, daß Dutzende von Nonkonformisten in aller Offenheit für die beiden Schriftsteller Partei ergriffen illustrierten beispielhaft, wie sehr das Selbstbewußtsein innerhalb der kritischen Intelligenz seit den Tagen Stalins gewachsen war. Der Nonkonformismus der Intelligenzija, der sich bislang mehr im Literarischen geäußert hatte, schlug ins Politische um. Man begann zu erkennen, daß die Freiheit der Kunst untrennbar mit der politischen Freiheit verbunden war.
Wehn der Prozeß gegen Sinjawskij und Daniel ein Exempel statuieren sollte, verfehlte er seinen Zweck. Ginzburg stellte Materialen und Protokolle dieses Prozesses zu einem „Weiß-buch" zusammen, das im Samisdat erschien und das, ohne daß es eines Kommentars bedurfte, die Praktiken der sowjetischen Rechtsprechung bloßstellte. Es folgte eine Kette von Prozessen gegen einzelne Dissidenten, die in wachsendem Maße den Widerspruch der kritischen Intelligenz herausforderte.
Im Januar 1968 standen Ginzburg und Galanskow vor Gericht. Ginzburg wurde zu fünf Jahren verschärftem Arbeitslager verurteilt. Sein Verteidiger hatte sogar auf Freispruch seines Mandanten plädiert. Er wurde später sowohl aus der KPdSU wie aus der Anwaltskammer ausgeschlossen. Während des Prozesses versammelten sich Gesinnungsfreunde vor dem Gerichtsgebäude und hielten ausländische Journalisten auf dem laufenden. In Briefen und Petitionen verwandten sich diesmal bereits einige Hundert Sowjetbürger für die Verurteilten. Wiederum erschien ein „Weißbuch“ mit Prozeßprotokollen und Dokumenten Als Herausgeber zeichnete P Litwinow verantwortlich, ein Enkel des früheren sowjetischen Außenministers.
Das Jahr 1968 erschien den Dissidenten als ein erster Durchbruch. In Erinnerung an diese Zeit schrieb Solschenizyn später: „Da strömte der Samisdat wie bei der Schneeschmelze hervor, einige Namen kamen immer wieder auf, neue Namen erschienen bei Protestkundgebungen. Es schien — noch ein wenig, noch eine Kleinigkeit — und wir bekommen Luft." Im April 1968 erschien dank einer Anregung von N. Gorbanewskaja die erste Nummer der „Chronik der laufenden Ereignisse", einer Samisdatzeitschrift, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sehr detailliert die Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion und die Aktivitäten der Dissidenten zu registrieren. Die „Chroink" blieb bis zum heutigen Tag ein Fixpunkt in der sich rasch verändernden Dissidentenszenerie
Der Prager Reformkurs tat ein übriges, um die Hoffnungen der sowjetischen Oppositionellen zu beflügeln. Nicht weniger stimulierend war es, daß sich das Akademiemitglied Sacharow mit seinem Samisdat-Memorandum „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit" vom Juni 1968 zu den Dissi-denten gesellte Bereits im Frühjahr desselben Jahres hatten A. Amalrik und P. Litwinow hoffnungsvoll von einer „Demokratischen Bewegung" gesprochen Das war natürlich eine Überschätzung der eigenen Kräfte. Für eine breite oppositionelle Massenbewegung waren die sowjetischen Verhältnisse noch lange nicht weit genug gediehen. Die KPdSU im Verband mit dem Geheimdienst und den Streitkräften verfügte noch immer über eine einschüchternde Macht. Insgesamt dürften sich etwa 2 000 Männer und Frauen für die Belange der Menschenrechte offen eingesetzt haben
Der Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in die ÖSSR am 21. August 1968 war Reif auf die Blütenträume der Dissidenten. Er mußte den Glauben an eine Evolution in der Sowjetunion nachhaltig erschüttern. Seit 1969 wurde schließlich die sowjetische Repressionsschraube um eine Drehung angezogen. Die Behörden gingen dabei langsam und selektiv zu Werke, manchmal bereit, einen Schritt wieder zurückzunehmen, wenn aus dem In-oder Ausland ein zu kritisches Echo zu hören war.
Um die unbequemen Kritiker zum Schweigen zu bringen, bediente man sich eines breiten Instrumentariums, das von Ermahnungen, Drohungen, beruflichen Schwierigkeiten, Verhaftungen bis hin zu Einweisungen in psychiatrische Anstalten reichte. Die Hartnäckigkeit der Rebellen war damit jedoch nicht gebrochen, wenn sich auch viele Sympathisierende oft ins Privatleben, vielleicht auch in die innere Emigration zurückzogen. Nicht wenige Dissidenten kehrten jedoch aus den Lagern und psychiatrischen Anstalten als noch entschiedenere und kompromißlosere Kritiker zurück. Das erneut am eigenen Leib erfahrene Unrecht bestärkte sie geradezu darin, auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren.
III. Die Differenzierung unter den Dissidenten
Als die Sowjetunion seit 1971 Juden in wachsendem Umfang die Emigration gestattete, nahm der KGB die Möglichkeit wahr, mit'
dem Strom der Auswanderer auch einige Dissidenten mitziehen zu lassen. Schließlich schob man einige als besonders störend empfundene Oppositionelle einfach ins Ausland ab. Fürs erste war den Sowjets mit einer solchen Politik durchaus gedient, weil sie die Reihen der Kritiker merklich schwächte, auf lange Sicht jedoch dürfte die Ausreise oder Ausweisung von Oppositionellen kein wirksames Mittel gegen unorthodoxes Denken sein.
Parallel zum langsamen Vorrücken des KGB konnten die Dissidenten zunächst noch begrenzte Bodengewinne erzielen, etwa mit der Gründung der „Initiativgruppe zum Schutz der Menschenrechte" (1969) oder mit dem „Menschenrechtskomitee in der UdSSR" -(1970) Derartige Gruppierungen hatte es seit Jahrzehnten in der Sowjetunion nicht mehr gegeben.
Für den außenstehenden Beobachter war zunächst der Eindruck enstanden, daß die Dissidenten trotz ihrer verschiedenartigen weltanschaulichen Ansichten an einem Strang zogen. Die politischen Repressalien, die Verletzungen von Grundrechten und die neostalinistischen Tendenzen wurden von den Oppositionellen fast ohne Unterschied verurteilt. Die Einmütigkeit der Dissidenten hörte jedoch in dem Augenblick auf, als man sich nicht mehr mit der Kritik an Mißständen begnügte und man sich Gedanken über eine von allen als notwendig empfundene Erneuerung der Sowjetunion machte. Binnen kürzester Zeit wurden seit Ende der sechziger Jahre von den verschiedensten Seiten programmatische Vorschläge für eine Demokratisierung der UdSSR gemacht.
Es entbrannte unter den Dissidenten ein heftiger Streit darüber, wie die gegenwärtige Stagnation in der Sowjetunion überwunden werden könnte. Die Protagonisten dieser Auseinandersetzung trugen ihre Ansichten mit großer Bestimmtheit, Gradlinigkeit und Eindringlichkeit vor. Sie stützten sich nicht auf akademische Weisheiten oder moderne politologische Theorien, sondern auf ihre eigenen Erfahrungen und Überzeugungen. Dieser in seiner Einfachheit und Unmittelbarkeit fast archaisch wirkende Disput mochte von ferne an die Überlegungen der sieben Perser erinnern, wie sie von Herodot in seinem dritten Buch beschrieben wurden, mit dem Unterschied aller-dings, daß in Moskau kein leerstehender Thron zu besetzen war.
Wieviele Gruppierungen oder Strömungen gab oder gibt es unter den sowjetischen Dissidenten? Die westlichen Chronisten aber auch die Dissidenten machen die verschiedensten Angaben. Es wäre zu perfektionistisch gedacht, wollte man jeden Dissidenten gewissermaßen in einem Linneschen System der innersowjetischen Opposition einordnen. Lebende Menschen lassen sich nur mit Mühe für den Gebrauch der Politologen präparieren. Die Geschichte des Dissidententums ist noch nicht abgeschlossen, manches in Fluß. Eine Klassifizierung der Oppositionellen kann heute nur provisorischen Charakter haben.
Im folgenden werden nicht die einzelnen Zirkel und Grüppchen aufgezählt, von denen viele völlig von der Bildfläche verschwunden sind. Vielmehr werden vier Hauptströmungen in der Szenerie der sowjetischen Dissidenten ausgemacht: Reformkommunisten, Sozialisten, Liberale, Christlich-Nationale. Keine dieser vier Gruppierungen stellt eine feste Formation dar. Jede bestand oder besteht aus einer Vielzahl von ausgesprochenen Individualisten, deren Meinungen nicht leicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. *
Am ehesten lassen sich die politischen Vorstellungen einzelner prominenter Dissidenten erfassen, die in einem bestimmten Umfeld meinungsbildend sein dürften. Aus dem Kreis der Reformkommunisten ragt zweifellos Roj Medwedjew dank seiner publizistischen Produktivität und seines behutsamen Reformkurses hervor. Um Solschenizyn hat sich ein Kreis gruppiert, den man als christlich-national bezeichnen könnte. Sacharow, den man zu den Liberalen rechnet, ist allerdings in seinem Lager im besten Falle nur primus inter pares.
Von diesen drei Persönlichkeiten sind große Wirkungen auf die nonkonformistische Intelligenz der Sowjetunion ausgegangen. Sie haben mit ihren Analysen und programmatischen Aussagen eine theoretische Grundlage geschaffen, auf der künftige Reformkräfte aufbauen können. Es ist daher gerechtfertigt, R. Medwedjew, Sacharow und Solschenizyn besonders hervorzuheben, wenn die einzelnen Richtungen der Dissidenten beschrieben werden. Mit einer solchen Personalisierung soll auch der Eindruck vermieden werden, als ob es bereits verbindliche Programme für politische Kreise gäbe.
Es wäre zwar vorstellbar, daß die vier Gruppierungen, die hier skizziert werden sollen, breiteren Zulauf erhielten, falls der politische Druck nachließe. Im Augenblick deutet allerdings nichts auf ein Tauwetter in der Sowjetunion hin. Es wäre auch eine voreilige Schlußfolgerung, wenn man annähme, daß mit den vier Strömungen das gesamte Spektrum der latent vorhandenen oppositionellen Kräfte in der Sowjetunion erfaßt ist. Die Reformkommunisten, die Sozialisten, die Liberalen und die Christlich-Nationalen sind lediglich die Gruppen, die in den letzten Jahren am wenigsten das Licht der Öffentlichkeit gescheut haben und angesichts ihrer moralischen Ziele auch nicht zu scheuen brauchten. Darüber hinaus gibt es sicher noch andere, vielleicht sogar stärkere Kraftfelder.
Würde sich die KPdSU, was heute noch phantastisch anmutet, mit der Artikulierung von Gegenkräften in bestimmten Grenzen abfinden, so könnten beispielsweise die großrussischen Nationalisten und die Nationalisten der nichtrussischen Völker unter Umständen größere Massen mobilisieren als die Reformkommunisten oder Liberalen. Es gibt auch durchaus Samisdat-Dokumente von verschiedenen nationalistischen Zirkeln, allerdings hat sich der Aggregatzustand dieser Gruppierungen noch nicht so verfestigt, daß man sehr viel mehr als Vermutungen äußern könnte.
VI. Roj Medwedjew und die Reformkommunisten
Nur wenige Altbolschewisten, die unter Stalin in Ungnade gefallen waren, haben die Entsta-linisierung erlebt. Noch geringer ist die Zahl derer, die offiziell rehabilitiert worden sind. Diejenigen von ihnen, die sich in der Ära Chruschtschows zu Wort meldeten, waren aus begreiflichen Gründen zunächst an einer schonungslosen Aufdeckung der Stalinschen Untaten interessiert Als sie aber erkennen mußten, mit welcher Halbherzigkeit die Entstalinisierung angepackt wurde, konnten sie nicht umhin, sich auch kritisch mit der sowjetischen Gegenwart auseinanderzusetzen. Seit den 60er Jahren bemühten sich einige konspirative Gruppen, in denen vor allem Studenten zusammengeschlossen waren, zu den Quellen des Leninismus oder sogar zu denen des Marxismus zurückzufinden. Aber erst mit Roj Medwedjew erhielten die Reformkommunisten eine überragende Persönlichkeit, die, Anregungen vieler neokommunistischer Autoren aufnehmend, sowohl die Vergangenheitsbewältigung versuchte als auch einen Entwurf für eine Demokratisierung der Sowjetunion vorlegte. Medwedjew, 1925 in Tiflis geboren, im Geiste des Kommunismus erzogen, von Beruf Pädagoge, wechselte bald auf das Gebiet der Geschichte und Soziologie über. Von 1962 bis 1968 schrieb er, ohne von offizieller Seite gefördert oder ernsthaft gehindert zu werden, die umfangreiche Studie „Vor das Gericht der Geschichte", die bis heute die beste Analyse des Stalinismus aus der Feder eines sowjetischen Autors ist. Der sowjetische Verlag, dem der Verfasser das Manuskript anbot, lehnte den Druck ab. 1969 wurde Medwedjew die Mitgliedschaft in der KPdSU entzogen. Das Stalinismus-Werk erschien nur im Samisdat und im Westen. 1971 schloß Medwedjew „Das Buch über die sozialistische Demokratie" ab. Diesmal stellte er der Bre-shnew-Ära die Diagnose und bot zugleich seine Therapievorschläge an.
Medwedjew war sich der negativen Bilanz des Stalinismus durchaus bewußt. Er rechnete damit, daß dem Terror Stalins 25— 26 Millionen Sowjetbürger zum Opfer gefallen sind Für die Pervertierung von Lenins Revolution seit den dreißiger Jahren machte er vor allem Stalin selbst verantwortlich, nicht die Gesellschaft, nicht das System. Er hielt Stalin auch durchaus für zurechnungsfähig, wenn er auch glaubte, bei ihm Züge von Paranoia feststellen zu können Sein Verdikt: „Keiner der Tyrannen und Despoten der Vergangenheit hat so viele seiner Landsleute verfolgt und vernichtet."
In der Gestalt Lenins schien Medwedjew dagegen die fast notwendige Kontrastfigur zu sehen. Vielleicht war er zu seiner scharfen Abrechnung mit dem Stalinismus überhaupt nur fähig, weil er im Gründer des Sowjetstaates die Verkörperung seiner kommunistischen Ideale sah. Zwar hat er in der jüngsten Zeit durchaus das Vorhandensein einiger dunkler Punkte während der Herrschaft Lenins eingeräumt, aber seine Vorstellung von Lenin blieb immer noch etwas verklärt. Er unterstellt Lenin eine demokratischere Gesinnung, als dieser sie wahrscheinlich besessen hat. Ihm konnte es auch nicht nur darum gehen, den Leninismus vom Rost des Stalinismus zu befreien und die alten Zustände der ersten Revolutionsjahre wiederherzustellen. Ein „Zurück zu Lenin" wäre ohnehin riskant gewesen, denn immerhin hatte Lenin die Entstehung des Terrorsystems unter seinem Nachfolger nicht verhindern können. In seinen politischen Vorstellungen ging Medwedjew, bewußt oder unbewußt, über Lenin hinaus.
Medwedjew blieb davon überzeugt, daß trotz der Monstrosität des Stalinismus die Substanz der Leninschen Ideologie nicht zerstört werden konnte. Der Stalinismus, so betont er immer wieder, sei keine Krankheit mit tödlichem Ausgang gewesen, wohl aber eine sehr ernste Krankheit, die bis zum heutigen Tag in der Sowjetunion noch nicht überwunden sei
Das schlimme Erbe, das Stalin seinen Nachfolgern hinterlassen hat, nannte Medwedjew zeitweise auch „Bürokratismus“. Im „Buch über die sozialistische Demokratie" beschrieb er diesen Bürokratismus als ein System mit autoritärer Führung, das keine Kontrolle und keine Initiative von unten zulasse Medwedjew hielt das harte Regime Lenins und sogar einige Züge von Stalins früher Herrschaft für notwendig und war damit bereit, die Entstehung der sowjetischen Bürokratie als notwendiges Übel in Kauf zu nehmen. Mit dem Persönlichkeitskult um Stalin, also wohl ab 1934, habe der Bürokratismus dann allerdings gefährliche Dimensionen angenommen. Die schrankenlose Macht einer kleinen Schicht von Privilegierten habe „zu einer tiefen bürokratischen Entartung (pereroshdenie) eines beträchtlichen Teils der Spitzen unserer Gesellschaft geführt"
Medwedjew erkannte zwar an, daß nach dem XX. und XXII. Kongreß der KPdSU und nach dem Oktoberplenum des ZK von 1964 der Bürokratismus bekämpft worden sei, allerdings mit bürokratischen Methoden, ohne ausreichende Beteiligung der Bevölkerung und ohne die notwendige Konsequenz. Die breiten Massen, so schrieb Medwedjew, hätten zu Beginn der siebziger Jahre dank ihres gestiegenen Kulturniveaus einen gewissen Einfluß auf die Leitungsorgane der unteren Ebenen ausüben können, kaum jedoch in der Spitze der Machtpyramide. So treffe man in einem Parteikomitee einer Fabrik oder eines Forschungsinstituts erheblich weniger Bürokratismus als in den Verwaltungsapparaten der Kommunen oder der Region.
Medwedjew war bemüht, nicht alle sowjetischen Führungsmängel über den Leisten des Bürokratismus zu schlagen. Die Bürokratie war für ihn auch keine unvermeidliche Begleiterscheinung der Einparteienherrschaft, allerdings auch kein rein individuelles Problem. Mit dieser vorsichtigen Einstellung zur Frage des Bürokratismus vermied Medwedjew eine Konfrontation mit der politischen Macht seines Landes. Er stieß nicht alle Mitglieder der KPdSU vor den Kopf und war vor allem der Notwendigkeit enthoben, die Bürokratie als feine neue Klasse zu bezeichnen. Die Thesen von M. Djilas fanden nicht sein Gefallen. Allerdings sah auch er einen Prozeß, der auf die Formierung einer neuen Klasse hinauslaufen könnte. Dieser Prozeß verlaufe langsam und sei durchaus nicht unumkehrbar. Fazit: „Wenn wir auch die Vorstellung von der Bürokratie als einer . neuen Klasse'ablehnen, so können wir nicht leugnen, daß die oberste Bürokratie sich bei uns zu einer bestimmten Schicht oder sogar zu einer Kaste von Leuten mit bestimmten Regeln, Gewohnheiten und mit einer eigenen Sozialpsychologie verfestigt hat."
Medwedjew näherte sich dem Problem des Mehrparteiensystems sehr behutsam. Er schilderte eine Reihe von Strömungen und Unter-strömungen in der Sowjetunion, die Vorläufer von künftigen Parteien werden könnten. Nur die Allmacht der KPdSU hindere die Regime-kritiker daran, sich zu organisieren. Ein gewisser politischer „Pluralismus" in der Sowjetunion erschien ihm für die siebziger Jahre als unvermeidlich.
Eine Oppositionspartei, so schrieb er 1971, würde, auch wenn sie offiziell zugelassen worden sei, nur wenige Sitze bei den Wahlen gewinnen Zu lange hätte die KPdSU alle Mittel der Propaganda besessen. Eine Oppositionspartei würde daher weder für das sozialistische System noch für die KPdSU eine ernsthafte Gefahr darstellen. Allerdings nötige sie allein schon durch ihre Existenz die KPdSU zu einer Selbstbesinnung und zum Konkurrenzkampf. Der Bürokrat alten Stils könnte in einer offenen Auseinandersetzung sehr leicht bloßgestellt werden. Es müßten daher dynamischere Kommunisten auf dem Plan erscheinen, wenn die KPdSU nicht moralisch ins Hintertreffen geraten wolle. Im Ernstfall jedoch würden die traditionellen Bürokraten so sehr um ihre Karriere bangen, daß sie von vornherein alle oppositionellen Regungen bereits im Keim zu ersticken versuchten. So seien die Ereignisse in der ÖSSR 1968 zu erklären.
Medwedjew hielt es 1971 für sehr wahrscheinlich, daß die Parteiführung in der Sowjetunion eher die Schrauben anziehen als lockern würde Allerdings glaubte er, daß selbst eine Politik der Repressalien die überfällige Demokratisierung kaum verhindern, sondern nur verzögern könne.
Das schwächste Glied in der Argumentationskette Medwedjews lag in dessen Annahme, daß die KPdSU von sich aus, gestützt durch die kritische Intelligenz, das Werk der Demokratisierung einleiten und vollenden könne. Ohne Frage wäre dies der reibungsloseste und kürzeste Weg zur Reform, aber Medwedjew konnte wenig anführen, was seine Hoffnung auf die Erneuerungskraft der KPdSU rechtfertigen würde.
Nach seiner Meinung waren noch 1971 die Neostalinisten die aktivste Gruppe in der kommunistischen Partei seines Landes Anfangs hätten Mitglieder dieser Richtung die Rehabilitierung Stalins betrieben. Für die Neostalinisten sei aber nicht so sehr die Nachsicht mit den Untaten Stalins kennzeichnend, sondern vielmehr deren Wunsch nach einer starken Hand in der Führung des Landes. Ihr Programm sei vom Großmachtdenken durchdrungen. Sie plädierten für eine Verstärkung des bürokratischen Zentralismus und für eine deutlichere Distanzierung von der kapitalisti-sehen Welt. 1975 bezeichnete Medwedjew diese Gruppe, der er Suslow, Scheljepin, Semitschastnyj, Trapesnikow und Jagodkin zurechnete, ohne Umschweife als „reaktionär"
Zahlenmäßig ist Medwedjew zufolge die Richtung der Gemäßigten und Konservativen in der Führung der Partei und Regierung am stärksten, eine lockere Formierung ohne klare Konturen und Programm, die von Fall zu Fall entscheide Nicht selten gebe sie dem Druck der Rechten, also der Neostalinisten, nach, so etwa bei der Entscheidung zur Intervention in der CSSR. Die Mitglieder dieser hin-und herschwankenden Mittelgruppe seien schlecht informierte Bürokraten, die vor allem an der Erhaltung der gegenwärtigen Machtverhältnisse interessiert seien und kaum ein Gespür für notwendige Reformen hätten. Als Protagonisten dieser Strömung machte Medwedjew 1975 folgende Politbüromitglieder in der Reihenfolge der offiziellen Etikette namhaft: Breshnew, Andropow, Gretschko, Gromy-ko, Kossygin und Podgornyj
Die schwächste Gruppe innerhalb der KPdSU seien, so schrieb Medwedjew 1971, die Partei-demokraten, die echte Linke seien, Vertreter der wahren Lehre des Marxismus-Leninismus Dieser Richtung fühlte sich der Autor verpflichtet. Er scheint sich, obwohl er aus der KPdSU augeschlossen ist, geradezu als Sprecher dieser Strömung zu begreifen. Das Ziel der Parteidemokraten sei die Demokratisierung der KPdSU und des Landes: mehr Rede-, Presse-, Versammlungsund Organisationsfreiheit. Medwedjew sagte 1971, als er sein Buch abschloß, daß diese Richtung, auf die er seine ganze Hoffnung setzte, in der Parteiführung praktisch nicht vertreten sei. Ihre Anhänger rekrutierten sich vor allem aus den Kreisen der Wissenschaftler. Im Parteiapparat würden diese Kräfte bald in höhere Ämter hineinwachsen. Im Verlauf der siebziger Jahre, so hatte Medwedjew gehofft, könne sich die Strömung der Partejdemokraten zu einer Massenbewegung ausweiten.
Als Verbündete des Demokratisierungsprozesses begrüßte Medwedjew die Technokraten, die sich auf modernes Management verstünden Er rechnete für die siebziger Jahre damit, daß die Bürokratie allmählich von den Technokraten abgelöst würde. Allerdings könnten auch die Technokraten die demokratische Reform nicht ersetzen. 1975 sprach Medwedjew — Zufall oder nicht — nur noch von den Technokraten, als er die dritte Gruppe in der Partei behandelte Diese Technokraten hätten in der jüngeren Zeit an Boden gewonnen. Es seien vergleichsweise junge Leute, frei von vielen jener Vorurteile und Komplexe, die das Verhalten der älteren Generation bestimmt hätten. Diese neuen Kräfte seien sogar „in der unmittelbaren Umgebung Breshnews" zu finden.
Medwedjew sieht offensichtlich der allmählich akuter werdenden Wachablösung im Politbüro mit einiger Erwartung, aber auch mit einiger Sorge entgegen. Vom Nachfolger Breshnews hängt, wie er andeutete, vieles ab. So wie Lenin, Stalin und Chruschtschow das Land jeweils verändert hätten, so könnte der künftige Generalsekretär der Sowjetunion neue Impulse geben. Medwedjew hofft, daß der neue Mann im Kreml den reformkommunistischen Ideen zum Durchbruch verhilft.
Aus allen Schriften und Verlautbarungen Medwedjews spricht ein starkes Engagement für die Sache der Demokratisierung. Seine Thesen stehen und fallen jedoch mit einer baldigen, deutlich erkennbaren Reform der KPdSU. Nichts weist aber gegenwärtig auf den prophezeiten Massendurchbruch der Parteidemokraten hin. Eher könnte man den Eindruck gewinnen, daß die Widersacher dieser Reform-kräfte das Feld beherrschen. Raissa Lert, die zum Kreis der marxistisch-leninistischen Dissidenten zählt, hat in der von Roj Medwedjew herausgegebenen Zeitschrift „Das XX. Jahrhundert" stark bezweifelt, daß es in der KPdSU überhaupt eine ernst zu nehmende Gruppe von reformwilligen kommunistischen Führern gibt
Möglicherweise hat auch Medwedjew in jüngster Zeit die Einsicht gewonnen, daß sich das Warten auf einen inneren Wandel der KPdSU qualvoll hinzieht. 1974 schloß er den ihm selbst allerdings unwahrscheinlich anmuten-den Fall nicht aus, daß sich eine neue sozialistische Partei in der Sowjetunion bilden könne, die sich sowohl von den Kommunisten wie den Sozialdemokraten unterscheiden würde
Der Kreis der marxistisch orientierten Dissidenten ist offensichtlich nicht sehr groß. Sicher gibt es in der KPdSU eine Reihe von Frauen und Männern, die ihre Partei in ihrer gegenwärtigen Gestalt nicht für sehr leistungsfähig halten, aber sie schweigen, entweder weil sie offene Kritik für wirkungslos halten, oder aber, weil sie ihre Privilegien nicht aufs Spiel setzen wollen. Sie überlassen es der Handvoll von mutigen Dissidenten, den Kopf aus der Deckung zu heben. Die Vorstellungen der Reformkommunisten haben eine so erhebliche Spannweite, daß man das Gemeinsame dieser Gruppe nur in der Rückbesinnung auf die frühen Ideale von Marx sehen kann. Die Samisdat-Zeitschrift „Das XX. Jahrhundert" versucht sogar, in christliche Kreise hineinzuwirken. Ein marxistischer Autor des Samisdat möchte die sowjetische Gesellschaft nach dem Vorbild der Pariser Kommune, die für ihn der Inbegriff einer unbürokratischen Ordnung ist, umgestalten Andere sehen in der Bildung einer Oppositionspartei oder eines Mehrparteiensystems die beste Garantie gegen den Machtmißbrauch der KPdSU Schließlich wird auch der „Prager Frühling" von 1968 als Vorbild für die Sowjetunion genannt
V. Die Sozialisten
Wenn auch die Sozialisten und Sozialdemokraten unter den sowjetischen Dissidenten nur eine kleine Minderheit darstellen, so verdienen sie doch eine besondere Erwähnung. In ihrer Kritik am Sowjetsystem wagen sie sich weiter vor als die marxistisch-leninistischen Regimekritiker. So begnügen sie sich nicht mit der Kritik an der Bürokratie, sondern weisen manchmal sogar der gegenwärtigen politischen Elite in der Sowjetunion den Charakter einer Klasse zu Das ökonomische System ihres Landes prangern sie manchmal als Staatskapitalismus an.
In den Kreisen der sozialistischen Dissidenten werden allerdings auch die bürgerliche Demokratie und der Kapitalismus in der Regel negativ beurteilt. (Solschenizyns polemische Hiebe gegen den Westen sind in der Dissidenten-szenerie also durchaus keine Einzelerscheinung.) Entsprechend negativ ist auch häufig die Einstellung der Sozialisten zu den Demokraten oder Liberalen unter den Dissidenten, die ihnen zu westlich orientiert erscheinen. Ein Teil der Sozialisten versprach sich von der Einführung wissenschaftlicher Methoden in die politische Praxis eine allmähliche Demokratisierung in der Sowjetunion Ihnen zufolge soll die Intelligenz gewissermaßen die Vorhu(t der neuen Revolution sein.
Der „Sejatel" (Sämann) schlug 1971 die Schaffung eines unabhängigen Organs aus Wissen-schaftlern vor, das die Grundlagen des wirtschaftlichen und politischen Aufbaus erarbeiten und allmählich die Legislative übernehmen sollte Die Exekutive könnte zunächst 'in ihrer alten Form fortbestehen, müsse sich allerdings die Kontrolle durch das wissenschaftliche Gremium und ein weiteres demokratisches Organ gefallen lassen. Die Teilung der Gewalten solle künftig die Kompetenzen der KPdSU oder bestimmter Institutionen einschränken und Übergriffe unmöglich machen.
Hier ist einer der seltenen Hinweise im Samisdat auf die Gewaltenteilung, die doch die wichtigste Voraussetzung für die Demokratisierung ist, wie sie im „Westen" verstanden wird. Die sozialistischen Dissidenten berühren das Problem des Mehrparteiensystems, überstrapazieren es aber nicht. Der „Sejatel"
zielte nach seinen eigenen Angaben auf die Schaffung einer sozialdemokratischen Partei ab, fügte allerdings sofort hinzu, daß nicht an eine feste Organisation gedacht sei. Die Zeitschrift wollte vor allem mit einem klaren Programm den „liberalen" Dissidenten, den Demokraten, den Wind aus den Segeln nehmen.
Die Sozialisten sind alles andere als ein fest-umrissener Kreis von Gleichgesinnten, eher eine vage Gruppierung sehr unterschiedlicher Kräfte. Zu ihnen zählt auch A. Lewitin-Krasnow, der, vom Geist der Bergpredigt kommend, die Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen anstrebt: „Sozialismus — das sind keine Wohnungen, keine Badewannen, keine Traktoren. Sozialismus — das ist vor allem eine innere Umkehr der Menschheit. Das ist die Schaffung eines neuen Menschen, der liebt, der mitfühlend, rein, durchgeistigt ist, eines Menschen, wie er im Evangelium beschrieben wurde. Sozialismus kann nur . Nachfolge Christi'in sozialer Hinsicht sein oder es wird ihn überhaupt nicht geben."
In der westlichen Emigration haben einige Dissidenten den Versuch unternommen, „Linke“ (damit waren sowohl Reformkommunisten wie Sozialisten gemeint) und Liberale unter einem politischen und publizistischen Dach zu vereinen Dabei wurde behauptet, daß die Richtungen der Linken und der Liberalen eigentlich das gleiche Ziel anstrebten, nämlich die Verteidigung und Vertiefung der Menschenrechte. Die Grenzen zwischen Reformkommunisten und Sozialisten sind manchmal fließend, allerdings nicht in dem Maße, daß man von einer gemeinsamen Linken sprechen könnte. Es dürfte nicht einmal leicht sein, alle Sozialisten unter einen Hut zu bringen. Eine tragfähige Allianz zwischen „Linken" und Liberalen ist erst recht schwierig.
VI. Die Liberalen
Die zahlenmäßig stärkste Gruppe unter den Dissidenten bilden die Liberalen, für die die Sache des Sozialismus nicht so entscheidend ist und die die geringsten Vorbehalte gegenüber dem „Kapitalismus" zeigen. Häufig werden sie auch als „Demokraten" bezeichnet. R. Medwedjew hatte vor allem diese Strömung im Auge, wenn er mit einer gewissen Reserviertheit von „Westlern" sprach Andere attackieren sie als Kadetten oder Neokadetten. A. Amalrik nennt sie Liberale, was vielleicht die beste Kennzeichnung ist Allerdings sind sie keine Liberale westlichen Stils, dazu sind sie zu stark in der sowjetischen Umgebung verwurzelt.
Die Vielzahl der Etiketten, die man für diese Schar der kritischen Intelligenz bereithält, verrät bereits etwas von der Vielzahl der Meinungen, die in diesem Lager vertreten werden. Die Liberalen, in der Hauptsache Intellektuelle, neigen zu einem ausgesprochenen Individualismus. Vielen von ihnen dürfte wenig an einem engeren Zusammenschluß liegen. Sie kennen die Zwangsmitgliedschaften in der Sowjetunion und scheinen in jeder Bindung an eine politische Gruppierung bereits eine Gefahr für ihre Freiheit zu sehen.
Die Liberalen haben dank ihrer Aktivitäten die größte Publizität von allen Dissidenten erhalten. Keine andere Strömung hatte einen so großen Zulauf. Das räumte auch R. Medwedjew fast widerwillig ein. 1969 erschien im Samisdat ein „Programm der demokratischen Bewegung der Sowjetunion", das nach eigenen Angaben von Russen, Ukrainern und Balten verfaßt wurde Seiner Substanz nach konnte es nur ein Produkt von liberalen Dissidenten sein. Keiner der Autoren trat allerdings namentlich in Erscheinung. Dadurch war die Wirkung dieses Werks in der kritischen Intelligenz von vornherein begrenzt In Dissidentenkreisen hat man vergeblich versucht, die Herkunft des Dokuments aufzudek-ken Das „Programm" war sehr stark an westlichen Vorstellungen orientiert.
Dieses Programm sah die Gewaltenteilung, ein Mehrparteiensystem, freie Wahlen, ein Verfassungsgericht und die Schaffung einer Union Demokratischer Republiken vor. Für die Wirtschaft offerierte es ein dreigliedriges System mit Staats-, Kollektiv-und Privateigentum. In der Landwirtschaft sollten auch Privathöfe wieder zugelassen werden. Ein Referendum, das unter Teilnahme einer UNO-Beobachter-kommission stattfinden sollte, hatte nach diesem Programm darüber zu entscheiden, welche Nationalitäten aus der Union Demokratischer Republiken ausscheiden konnten. Die einzelnen Nationalitäten hatten sogar ein Recht auf Entschädigung für das Unrecht, das ihnen unter der Herrschaft der Großrussen widerfahren war. In der Außenpolitik wurde die Versöhnung mit den kapitalistischen Ländern und die Selbstbestimmung für die sozialistischen Länder proklamiert.
Das „Programm" war auf keinen Fall repräsentativ für alle liberalen Dissidenten, höchstens für eine bestimmte Untergruppe. In seiner umfassenden und kompakten Art war es eine Ausnahme. Einzelne Teile des „Programms" findet man allerdings in den verschiedenen Verlautbarungen der Liberalen, so etwa den Vorschlag, ein dreigliedriges Wirtschaftssystem einzuführen. Die Zulassung der Privatwirtschaft wird in der Regel für den Sektor der Dienstleistungen und der Konsum-güterproduktion empfohlen. Nach Meinung von W. Sewernyj seien verstaatlichte Betriebe am ehesten für passive Menschen geeignet, während sich dynamische Persönlichkeiten am besten in der Privatwirtschaft entfalten könnten
In der negativen Einschätzung der gegenwärtigen politischen Führung in der Sowjetunion waren sich die liberalen Dissidenten augenscheinlich im Prinzip einig. Die meisten gingen in ihren Überlegungen mehr oder weniger deutlich von der Existenz einer Parteibürokratie aus, die zum Hemmschuh jeglichen Fortschritts geworden sei. Die politische Elite der Sowjetunion wird gelegentlich auch als herrschende Klasse bezeichnet.
Besonderes Augenmerk verdient A. Sacharow, dessen Ansichten sich durch eine besondere Ausgewogenheit auszeichnen Sacharow, 1921 geboren, einer der Väter der sowjetischen H-Bombe, war mit 32 Jahren Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR geworden — der jüngste Wissenschaftler, dem diese Ehre in der Sowjetunion je zuteil geworden ist und der darüber hinaus nicht einmal zuvor korrespondierendes Mitglied gewesen war. 1958 hatte er damit begonnen, die Führung seines Landes vor den Folgen von Atomtests zu warnen. In den folgenden Jahren konzentrierte er seine Kritik auf die politische Führung der Sowjetunion. Keiner der Dissidenten hatte jemals einen so hohen Rang im sowjetischen Establishment eingenommen wie er. Das verlieh ihm einen besonderen Rang im Kreis der Regimekritiker.
In seinen ersten Samisdat-Verlautbarungen konnte Sacharow noch als Sozialist angesehen werden. 1972 ließ er jedoch für sich nur noch die Bezeichnung eines Liberalen gelten Seine wachsende Enttäuschung über die Starrheit des sowjetischen Regimes läßt sich deutlich an seinen Schriften ablesen. Er ist inzwischen der Meinung, daß sich die No-menklatur (die höchste Funktionärsschicht) von der Bevölkerung losgelöst hat und daß die Zugehörigkeit zu diesem exklusiven Kreis in letzter Zeit erblich wird Für ihn ist die Sowjetunion ein „totalitärer Polizeistaat"
Sacharow wünscht keinen drastischen Umsturz in der Sowjetunion, der nur auf Kosten der breiten Bevölkerung ginge. In einem Zwölf-Punkte-Programm schlug er eine stufenweise Reform in der Sowjetunion vor: 1. Erweiterung der Wirtschaftsreform von 1965, völlige Selbständigkeit der Betriebe.
2. Teilweise Entstaatlichung, vor allem auf dem Gebiet der Dienstleistungen und der Landwirtschaft. 3. Amnestie für politische Gefangene. Erleichterungen im Strafvollzug, Abschaffung der Todesstrafe. 4. Gesetzliche Fixierung des Streikrechts.
5. Gesetzlicher Schutz der Weltanschauung und der Information.
6. Gesetzliche Sicherstellung der Kontrolle der wichtigsten Regierungsbeschlüsse.
7. Gesetzliche Garantie der Freiheit, seinen Aufenthaltsort und seinen Arbeitsplatz in der Sowjetunion zu wählen. . 8. Gesetzliche Garantie des Rechts, die UdSSR zu verlassen und wieder zurückzukehren. 9. Beseitigung von Partei-und Behördenprivilegien.
10. Bestätigung des Rechts einer jeden Unionsrepublik, aus der UdSSR auszuscheiden.
11. Ein Mehrparteiensystem.
12. Freie Konvertierbarkeit des Rubels.
Die liberalen Dissidenten sind in der Regel gegenüber Religionsgemeinschaften tolerant, ganz unabhängig davon, ob sie gläubig sind oder nicht. Sie können sich allerdings nicht mit den Vorstellungen der christlich-nationalen Dissidenten anfreunden, von denen sie befürchten, daß sie das Christentum an die Stelle des Marxismus-Leninismus setzen wollen.
VII. Solschenizyn und die Christlich-Nationalen
1962 hatte der damals 44jährige Alexander Solschenizyn sein brisantes Debüt als Schriftsteller mit seinem Buch „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch". 1974 trat er für die breite Öffentlichkeit auch als politische Leitfigur ins Rampenlicht. Schuld daran war nicht so sehr die gewaltsame Ausweisung aus der Sowjetunion. Sie verlieh allerdings Solschenizyn eine bis dahin unerhörte Publizität und sie lenkte die Aufmerksamkeit auf seine drei Bücher, die zu dieser Zeit dicht aufeinander folgten: „Archipel GULag", „Brief an die Führer der Sowjetunion" und das von ihm herausgegebene Sammelwerk „Unter den Erdschollen hervor" Eine Weile hatte es den Anschein, als überschatte der Ruhm Solschenizyns die gesamte Dissidentenszenerie in der Sowjetunion. über den geistigen Standort Solschenizyns hatte bis dahin einige Unklarheit geherrscht. Man hatte ihn häufig unter die „ethischen Sozialisten" eingereiht Kennern seines Werkes konnte es allerdings nicht entgangen sein, daß er in den Traditionen sowohl des orthodoxen Christentums wie auch des vor-revolutionären Rußland stand. Solschenizyn hatte auch schon früh angedeutet, daß er sich durchaus nicht nur mit der Rolle eines Schriftstellers zufriedengeben wollte. Im „Ersten Kreis" hatte er einem großen Schriftsteller bereits die Bedeutung einer zweiten Regierung zugeschrieben 1974 wurden die Konturen seines politischen Weltbildes deutlicher, aber nicht immer deutlich genug. Vor allem der „Brief an die Führer der Sowjetunion" gab zu Kontroversen Anlaß. Er hatte ihn im September 1973 geschrieben, als gegen ihn und Sacharow eine Propagandakampagne lief, die ihn jedoch, wie er an anderer Stelle schrieb, kaum erreichte und auch nicht sonderlich störte Solschenizyn scheint sich, als er den Brief verfaßte, in einer Art Euphorie befunden zu haben. Der Ton seines Schreibens war herausfordernd, manchmal herrisch, oft erregt.
Die westliche Demokratie besaß für Solschenizyn nicht dieselbe Attraktivität, die sie für einige andere Dissidenten haben mochte. Es scheint allerdings eine Übertreibung Solschenizyns zu sein, wenn er behauptet, daß die nonkonforme Intelligenz der Sowjetunion fast einmütig die Freiheit und das parlamentarische Mehrparteiensystem anstrebe, so daß ein Einwand dagegen beinahe schon als „unanständig" empfunden werde
Der eigentliche Defekt der westlichen Demokratie lag nach Solschenizyns Meinung offensichtlich darin, daß sie ihre Kraft und zugleich ihre Beschränkung nicht von einer übergeordneten Sittlichkeit erhielt, die zwar nicht näher beschrieben wurde, sich aber wohl an christlich-paternalistischen Wertvorstellungen orientierte. Die Freiheiten des Westens sind Solschenizyn zufolge zu einem Selbstzweck geworden und führen in eine Sackgasse: „Der Westen ertrinkt doch wahrhaftig in allen möglichen Arten der Freiheit, darunter auch der intellektuellen Freiheit. Und wie ist es, hat ihn das gerettet? Wie sehen wir ihn heute: abrutschend, mit dahinsiechendem Willen, einer dunklen Zukunft entgegensehend ... Die intellektuelle Freiheit ist ein begehrenswertes Gut, aber sie ist, wie jede Freiheit, kein Wert an sich, sondern nur ein Hilfswert, nur eine vernunftgemäße Bedingung, nur ein Mittel, um ein bestimmtes anderes, höheres Ziel zu erreichen."
M. Agurskij, der zum Freundeskreis um Solschenizyn gehörte, hat als Beispiele für den Mißbrauch der intellektuellen Freiheit im Westen die Willkür der Massenmedien und die Pornographie genannt Im übrigen dürften jedoch viele, wenn nicht die meisten Dissidenten das Ausmaß der Freiheit, das in den demokratisch regierten Staaten herrscht, als Zügellosigkeit empfinden. Darin bilden die Christlich-Nationalen kaum eine Ausnahme.
Wie Solschenizyn ausdrücklich festhält, wäre die intellektuelle Freiheit ein wichtiger Anfang für die Wiedergenesung der Sowjetunion wenn er sie auch sicher nur in bestimmten Grenzen genutzt sehen möchte. Am Mehrparteiensystem glaubt er so dunkle Schattenseiten erkennen zu können, daß er es nicht unbedingt für nachahmenswert hält. Die Parteien in den demokratisch regierten Staaten, meint er, verfolgten zu sehr partikulare Interessen und verfielen damit einem Gruppenegoismus. Das Mehrparteiensystem habe in den letzten Jahrzehnten seine gefährlichen, wenn nicht seine tödlichen Schwächen offenbart. Als Symptome für seinen Verfall nannte er 1. Die unangemessene Investierung von Zeit und Kraft in Wahlkampagnen, verbunden mit einer würdelosen Liebedienerei vor den Massen,
2.den Freispruch eines Mannes, der Dokumente aus dem Verteidigungsministerium gestohlen habe [Anspielung auf Daniel Elisberg], 3. das Zustandekommen von mehr zufälligen Wählermehrheiten aufgrund eines emotionalen Selbstbetrugs, 4. das unverhältnismäßig große Gewicht, das eine kleine Partei in einer Koalition gewinnen könne, 5. die Streiks bestimmter Berufsgruppen, die ihre Ziele durchsetzen, ohne Rücksicht auf die Gesamtlage des Staates zu nehmen, und schließlich 6. die Hilflosigkeit der Demokratien vor einem „Häuflein rotznasiger Terroristen".
Nur acht Monate, so fuhr Solschenizyn fort, habe es in Rußland die Demokratie gegeben, zwischen der Februar-und der Oktoberrevolution von 1917. Sie sei gescheitert, weil man der ungewohnten Freiheit nicht gewachsen gewesen sei. Heute sei die Sowjetunion noch weniger für ein Mehrparteiensystem geeignet als damals Die parlamentarische Demokratie hätte heute, würde sie eingeführt, wohl so wenig eine Überlebenschance wie vor 60 Jahren. ,
Solschenizyn lehnte die Revolution als untaugliches Mittel in der Politik ab. Er setzte seine Hoffnung auf Reformen, die es erlaubten, langsam und in Etappen den schweren Druck von seinem Land zu nehmen. Ihm erschien ein autoritäres Regime in der Gestalt etwa der Sowjets, wie sie bis Juli 1918 bestanden hätten, als geeignetster Ausweg aus der gegenwärtigen Situation Die KPdSU könne dabei durchaus einen Großteil ihrer Macht behalten, allerdings sollten auch Parteilose im Staatsapparat Aufnahme finden. An die sowjetische Führung richtete Solschenizyn den dringlichen Appell, die Ideologie des Marxismus-Leninismus aufzugeben: „... Soll sie doch wie eine Wolke von unserem Land abziehen . . ." Der Marxismus solle nicht verboten werden, wohl aber seine staatliche Unterstützung verlieren. In einem freien Wettbewerb der Ideen könne er dann zeigen, wie widerstandsfähig er gegenüber Argumenten sei.
Weiter forderte Solschenizyn, den ohnehin nutzlosen Bestrebungen nach Weltherrschaft abzuschwören, alle Energien auf eine gründliche innere Reform zu konzentrieren und vor allem den Nordosten der Sowjetunion zu erschließen. Er wünschte volle Freiheit für alle ideologischen, ethischen und religiösen Strömungen — nicht aber für Parteien, was ihm wohl als verfrüht, vielleicht sogar als verfehlt erschien. Keinen Zweifel ließ er daran, daß nach seiner Meinung nur das Christentum das Werk der Erneuerung in der Sowjetunion übernehmen könne. Den Gedanken an eine Staatsreligion oder auch nur an eine Privilegierung des Christentums wies er von sich Solschenizyn plädierte schließlich auch für die Freiheit der Gerichte, für die Freiheit der Kunst, für den ungehinderten Druck von Büchern wissenschaftlicher und künstlerischer Natur.
Das Bündel von Solschenizyns Reformvorschlägen mutet erstaunlich oder sogar befremdlich an. In einer Entgegnung auf den „Brief an die Führer der Sowjetunion" meinte L. Kopelew, das Programm Solschenizyns erinnere an die Heldin von G 8gols „Heirat", die von einem Mann träumte, der die Nase des ersten Freiers, die Figur des zweiten und das Gemüt des dritten haben sollte Der „Brief an die Führer der Sowjetunion" hat unter den Dissidenten eine heftige Polemik ausgelöst, in der sich auch Medwedjew und Sacharow kritisch zu Wort meldeten.
Tatsächlich sind viele Aussagen Solschenizyns anfechtbar, sogar falsch, allerdings schießen manche seiner Kritiker ebenfalls übers Ziel. Hinter der Polemik vor allem gegen den „Brief an die Führer der Sowjetunion" stand möglicherweise die Sorge, daß viele Gedanken Solschenizyns in breiten Bevölkeruhgsteilen der Sowjetunion auf fruchtbaren Boden fallen könnten Der Autor des „Archipel GULag" hatte in den Augen seiner Opponenten fast die Gestalt eines Propheten angenommen, der mit seinen Anrufen zur nationalen Selbstbeschränkung ungewollt einem großrussischen Chauvinismus Vorschub leistete. Einige Dissidenten beschworen sogar schon die Gefahr, daß es in der Sowjetunion, wenn eine krisenhafte Situation herangereift sei, zu einem „historischen Kompromiß" zwischen Kommunisten und den Christlich-Nationalen kommen könnte
Auch im Westen urteilt man seit 1974 häufig sehr abfällig über den einst so geschätzten Autor der „Krebsstation" und des „Ersten Kreises". Manchen galt Solschenizyn schon als Reaktionär. W. Brandt erwähnte einmal indigniert „Mystiker in der säkulären Gestalt rückwärts gewandter Nationalisten" womit er eigentlich nur Solschenizyn gemeint haben dürfte. Viele waren von Solschenizyn, den man für ein politisches Neutrum oder sogar für einen heimlichen Sozialisten gehalten hatte, tief enttäuscht, als er 1974 sein politisches Credo vorgetragen hatte. Als einer der wenigen „Linken" hat H. Böll versucht, seinen sowjetischen Schriftstellerkollegen in Schutz zu nehmen
Vielfach wird Solschenizyn als prinzipieller Gegner der Demokratie gesehen. In Wirklichkeit hatte er nur davor gewarnt, im parlamentarischen System den einzigen Ausweg zu sehen Dem Einwand, daß sefne Vorschläge im besten Fall doch nur Zukunftsmusik seien, konnte er mit dem Hinweis begegnen, daß letzten Endes auch keine Anzeichen darauf hindeuteten, daß eine demokratische Republik westlichen Stils möglich sei
Intellektuelle, die nicht in die Gesellschaft integriert sind, neigen dazu, Utopien für realistisch zu halten. Das galt für die Schriftsteller, Denker und Revolutionäre des zaristischen Rußland genauso wie für einige Dissidenten der Sowjetunion. Solschenizyn ist Moralist, der jedoch, wie oft befürchtet wird, bereits mit einem Bein auf dem Boden der Politik steht. Die Staatsverfasssung erscheint ihm als zweitrangig („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist"), entscheidend ist in seinen Augen die innere Freiheit. Gefährlich sei das sowjetische System nicht, weil es undemokratisch, sondern weil es verlogen sei und Anspruch auf die Seele erhebe
Vor dem moralischen Rigorismus Solschenizyns wird kein Staat bestehen können — heute und morgen nicht. Die Aufrufe zur Umkehr seines Landes werden sicher verhallen wie die radikalen Forderungen engagierter Christen in Deutschland nach 1945.
Auf der Seite Solchenizyns stehen nicht nur Mitarbeiter des von ihm herausgegebenen Sammelbandes „Unter den Erdschollen hervor", unter denen sich I. Schafarewitsch befindet, der ein korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in der UdSSR ist. Auch W. Ossipow, der ehemalige Herausgeber der Samisdat-Zeitschrift „Wet-sche", hat eine Lanze für Solschenizyn gebrochen
Nicht zu verkennen ist eine gewisse Verwandtschaft zwischen den Vorstellungen Solschenizyns und dem Programm der „Allrussischen sozial-christlichen Union zur Befreiung des Volkes“, einer Organisation, die von 1964 bis 1967 im Untergrund tätig war
Dieses Programm, in das u. a. Einflüsse von N. Berdjajew, W. Röpke und M. Djilas eingegangen sind, sah im Kommunismus einen aus der Art geschlagenen Abkömmling des materialistischen Kapitalismus Während aber der Kapitalismus sich von seinen negativsten Begleiterscheinungen befreit und einen hohen Lebensstandard erreicht habe, sei der Kommunismus völlig unfähig zu einer inneren Reform. Das sowjetische Regime sollte nach dem Willen der „Allrussischen sozial-christlichen Union“ in einem nach Möglichkeit unblutigen Coup d’tat gestürzt werden
Die Mitglieder dieser Geheimorganisation strebten eine theokratische Staatsordnung an, ohne Parteien, mit kommunaler Selbstverwaltung und legaler Opposition. Alle Parteien wurden verdächtigt, den Willen der Bevölkerung zu verfälschen und zu monopolisieren Die Gesellschaft sollte ohne die Mittlerfunktion der Parteien in direktem Kontakt mit den obersten Organen des Staates stehen. Vorge-sehen war die Trennung von vier Gewalten: der Legislative, der Exekutive, der überwachenden Macht (bljustitelnaja wlast) und der Judikative
Dieses Programm wollte durchaus nicht andere politische Programme von vornherein aus-schließen. Erst nach dem Sturz des Kommunismus sollte die Entscheidung über eine künftige Verfassung des Landes fallen
Solschenizyn unterscheidet sich natürlich in vielem von der „Allrussischen christlich-sozialen Union". In mindestens drei Punkten dürften jedoch die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und dem Programm deutlich sein: in der Abneigung gegen das Parteienwesen, in der Annahme, daß nur das Christentum die Basis für eine Erneuerung der Sowjetunion sein kann, und schließlich in dem unterschwelligen Glauben, daß die Russen von Natur religiös sind.
VIII. Die Dissidenten auf dem Rückzug
Seit 1972 rückten die sowjetischen Behörden den Dissidenten stärker zu Leibe. Immer mehr Regimekritiker und Nonkonformisten zogen es vor, ins Ausland zu gehen. Andere, wie Solschenizyn, wurden zwangsweise exiliert. Die in der Sowjetunion verbliebenen Dissidenten unterlagen immer neuen Einschüchterungsversuchen oder Repressalien.
Ein besonderes Beispiel für das unaufhaltsame Zurückdrängen des Einflusses von Oppositionellen bot Leningrad, wo unter der Ägide des ehrgeizigen G. Romanow offensichtlich der Nonkonformismus bereits im Keim erstickt werden soll. Hier verlor beispielsweise 1974 E. Etkind, dem nichts Handfestes zur Last gelegt werden konnte, fast über Nacht seinen Lehrstuhl, seinen Professorentitel und die Mitgliedschaft im Schriftstellerverband Im besten Fall konnte man dem Gemaßregelten etwa vorwerfen, daß er Kontakt zu J. Brodskij oder Solschenizyn gehabt hatte.
Angesichts des wachsenden Drucks von oben gaben die Dissidenten die Diskussion über die politischen Programme mehr oder weniger auf und wandten sich einer näherliegenden Aufgabe zu: dem Schutz der Menschenrechte. Die Schlußakte von Helsinki kam den Dissidenten als moralische Hilfe in ihrem Abwehrkampf gegen die Übergriffe des sowjetischen Regimes wie gerufen. Im Mai 1976 wurde in Moskau von elf Bürgerrechtlern die „öffentliche Gruppe zur Förderung der Erfüllung der Abmachungen von Helsinki in der UdSSR" gegründet, deren erklärtes Ziel es war, die Verletzung der in Helsinki als schutzwürdig angesehenen Menschenrechte und Grundfreiheiten (Korb 1, Prinzip VII) sowie Verstöße gegen die im dritten Korb der Schlußakte anvisierte Zusammenarbeit zu registrieren und den Regierungschefs der KSZE-Teilnehmer-84 Staaten wie auch der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen Es wurde angeregt, die krassesten Verstöße gegen die Menschenrechte von internationalen Kommissionen prüfen zu lassen. Weitere Helsinki-Gruppen entstanden in der Ukraine, in Georgien und Litauen Insbesondere das Moskauer Komitee machte in einer Reihe von Dokumenten auf die Verfolgung von Dissidenten, die Haftbedingungen in Lagern und Gefängnissen, den Mißbrauch der Psychiatrie, auf Fälle von Familientrennung und ähnliche Verstöße aufmerksam.
Um die Jahreswende von 1976/77, also noch vor dem Amtsantritt des neuen amerikanischen Präsidenten Carter, scheint auf hoher Parteiebene die Entscheidung gefallen zu sein, den Aktivitäten der Dissidenten sehr enge Grenzen zu setzen oder sogar ein Ende zu machen Am 24. Dezember 1976 wurden in Kiew (das bei den beginnenden Repressalien eine Vorreiterrolle übernahm) und am 4. Januar 1977 in Moskau bei Mitgliedern der Helsinki-Komitees-Hausdurchsuchungen durchgeführt, bei denen belastendes Material gesucht und nach Aussage der Betroffenen teilweise unterschoben wurde
Ab Februar 1977 wurden dann A. Ginzburg, Ju. Orlow, A. Schtscharanskij (Moskauer Gruppe), M. Rudenko und O. Tichyj (ukrainische Gruppe) verhaftet. Schtscharanskij wurde sogar Spionage für die USA vorgeworfen. Er hätte dementsprechend mit den höchsten Strafen, die die Sowjetunion kennt, belegt werden können. Breshnew hielt es im März 1977 für angebracht, zum Problem der Dissidenten Stellung zu nehmen Er trennte die Schafe von den Böcken: Kritiker würden an sich durchaus nicht als gefährlich empfunden, diejenigen aber, die sich gegen das sozialistische System auflehnten, die sich auf antisowjetische Aktivitäten einließen, Gesetze verletzten oder sich der Unterstützung durch das Ausland versicherten, würden strafrechtlich verfolgt.
Die Wirklichkeit erwies sich jedoch als problematischer, als es die Worte des sowjetischen Generalsekretärs vermuten ließen. Es war nur zu leicht, Andersdenkenden antisowjetische Agitation und Propaganda vorzuwerfen oder sogar einen Zusammenhang zwischen einem Kritiker und ausländischen „subversiven Zentren“ zu konstruieren. Das zeigte sich in den jüngsten Gerichtsverfahren gegen die Dissidenten. Rudenko und Tichyj, beide von der ukrainischen Helsinki-Gruppe, wurden am 1. Juli 1977 zu sieben bzw. zehn Jahren Lagerhaft und zu je fünf Jahren Verbannung verurteilt. Zwei weitere Mitglieder der ukrainischen Helsinki-Gruppe erhielten im März 1978 ähnlich hohe Strafen.
Im Mai 1978 diktierten die sowjetischen Behörden Orlow sieben Jahre Arbeitslager und fünf Jahre Verbannung zu. Diesmal äußerte man im Westen scharfe Kritik am sowjetischen Vorgehen. Das Schicksal A. Schtscharanskijs hätte die Entspannungspolitik noch stärker gefährden können. Der amerikanische Präsident Carter hat bestritten, daß zwischen dem Beschuldigten und dem CIA eine Verbindung bestanden habe Schtscharanskij erhielt im Juli 1978 eine Strafe von drei Jahren Gefängnis und zehn Jahren Arbeitslager. Ginzburg wurde zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt. Die hohen Strafen sollten für das In-und Ausland signalisieren, daß die Forderungen der Dissidenten als unannehmbar angesehen wurden.
Technisch ist es für die sowjetischen Behörden nicht schwer, die Dissidenten, deren Namen und Adressen bekannt sind, zum Schweigen zu bringen. Die Zahl der Regimekritiker, die bereit sind, für ihre Ziele Kopf und Kragen zu riskieren, ist ohnehin stark zusammengeschmolzen. Selbst wenn man aber die Dissidenten völlig ausschalten würde, gäbe es keine Garantie dafür, daß nicht neue Regime-kritiker nachwüchsen. Erst in jüngster Zeit haben Arbeiter versucht, eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen
Sehr schwierig, wenn nicht unmöglich dürfte es für die sowjetische Führung sein, der latenten Unruhe in einigen Nationalitäten Herr zu werden, es sei denn, man kehrte zu stalinistischen Methoden zurück. Das wurde im April 1978 wieder deutlich, als dem Vernehmen nach eine größere Menschenmenge in Tiflis dagegen demonstrierte, daß " im neuen Verfassungsentwurf Georgiens der Hinweis fehle, wonach Georgisch die Staatssprache ist
Wie weit man auch künftig den Spielraum der Dissidenten einengen mag, es spricht vieles dafür, daß das kritische Denken in der Sowjetunion nie mehr völlig ausgelöscht werden kann. Selbst wenn der Vorhang ganz über die Dissidentenszene fallen sollte, wäre über kurz oder lang mit einer neuen Generation von Dissidenten zu rechnen. Das Beispiel eines Sacharow, R. Medwedjew oder eines Solchenizyn wird nicht ohne Folgen im Geistesleben der Sowjetunion bleiben.
Mehr als zehn Jahre haben die Systemkritiker offen ihre Ansichten vertreten. Manche ihrer Vorstellungen mögen naiv sein, was sich daraus erklärt, daß die Dissidenten in ihren politischen Überlegungen an einem Nullpunkt beginnen mußten. Ihnen fehlte jede politische Literatur, die ihnen eine Alternative zur Herrschaft der KPdSU hätte eröffnen können. Sie hatten nur die bedrückenden Erfahrungen aus der Zeit Stalins, Chruschtschows und schließlich auch aus der unmittelbaren Gegenwart. Anders als in Spanien und in Portugal konnten die oppositionellen Kräfte nicht an die Tradition früherer Parteien anknüpfen. Von den Menschewisten und Sozialrevolutionären ist in der Erinnerung der sowjetischen Bürger kaum mehr als eine ungenaue Erinnerung geblieben. In den letzten zwölf Jahren aber haben die Dissidenten eine reiche Literatur mit Reformvorschlägen vorgelegt, die für kommende Dissidenten zum Ausgangspunkt neuer Überlegungen und Wege werden können.
Heinz Brahm, Dr. phil., geb. 1935 in Viersen; Wissenschaftlicher Direktor im Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln. Veröffentlichungen u. a.: Trotzkijs Kampf um die Nachfolge Lenins, Köln 1964; Pekings Griff nach der Vormacht, Köln 1966; Der Kreml und die CSSR 1968— 1969, Stuttgart 1970; (Hrsg.), Opposition in der Sowjetunion, Düsseldorf 1972; Der sowjetisch-chinesische Konflikt, in: Osteuropa-Handbuch, Sowjetunion. Außenpolitik, Bd. 2, Köln—Wien 1976.
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